Georg Simmel: Rembrandt
Ein kunstphilosophischer Versuch
Leipzig: Kurt Wolff 1916. VIII, 205 S.
Zum Abschluss
Schöpfertum
und Gestaltertum Die Leistungen der Geistesgeschichte
werden von einem Gegensatz durchzogen, den man als Schöpfertum
und Gestaltertum bezeichnen kann.
Bei einer gewissen Ausspannung
der Begriffe zwar gibt es jenseits der reinen Nachahmungen kein
Menschenwerk, das nicht gleichzeitig gestaltend und schöpferisch
wäre.
Wie es uns nicht gegeben ist, körperliche Substanz zu
erschaffen, alles äussere Tun vielmehr gegebene physische
Elemente umlagert, umformt, so gibt es auch kein geistiges Tun
und Wirken, das nicht die Gegebenheit irgendwelcher geistiger
Materialien voraussetzte.
Andererseits aber ist das noch nicht
Dagewesene, jedenfalls die aus der nicht deduzierbaren
Eigenkraft des Individuums erfolgte Umgestaltung oder
Weiterbildung des Gegebenen eben ein Schöpfertum, in all solchem
Wirken liegt ein Element, durch das alles Vorgefundene und
Überlieferte um ein gewisses Mass vermehrt wird, und das mit
diesem Vorgefundenen und Überlieferten, von ihm
weitergebildeten, die Einheit des Werkes ausmacht.
Diese
eigentümliche Kombination macht den Menschen zum historischen
Wesen.
Das Tier wiederholt schlechthin, was seine Gattung von je
und je getan hat; gerade deshalb fängt jedes Individuum von vorn
an, da, wo auch dessen Vorfahren angefangen haben.
Der Mensch,
gerade weil er nicht nur wiederholt, sondern Neues schafft, kann
nicht jedesmal von neuem anfangen, sondern braucht ein gegebenes
Material, gegebene Antezedenzien, an denen oder auf Grund derer
sich seine Leistung als Neuformung vollzieht.
Wir würden aber
nicht historische Wesen sein, wenn wir absolut schöpferisch
wären, unser Wirken schlechthin Neues schüfe — damit wären wir
sozusagen überhistorisch — noch wenn wir ohne Schöpfertun uns
absolut an das Gegebene und etwa seine nur mechanische
Umstellung, seine Umformung im engsten Sinne hielten.
Historisch
aber nennen wir eine Existenz, die zwar Neues und erst ihr
Eigenes schafft, aber auf Grund und als Fortbildung, Formgebung
eines schon Vorhandenen und Überlieferten — die organische
Synthese von Schöpfertum und Gestaltertum, die wir leben.
Diese allgemeine einheitliche Grundlage
anerkennend, dürfen wir nun doch innerhalb der Produktivität
menschlicher Individualitäten die wesentlich gestaltenden von
den wesentlich schöpferischen scheiden — so schwer es sein mag,
die Scheidung nach objektiven Kriterien zu vollziehen.
Vielleicht sind solche Kriterien überhaupt nicht auffindbar,
sondern man kann nur durch Hinweis auf einzelne Beispiele den
einen und den andern Charakter klarlegen. Sieht man
Volksindividualitäten daraufhin an, so ist gar kein Zweifel,
dass die klassisch griechische als eine gestaltende gelten muss
— womit selbstverständlich an das unvergleichlich schöpferische
Genie ihrer Geistigkeit nicht gerührt, sondern nur dessen
besondere Äusserungsart charakterisiert werden soll.
Von der
indischen, wie von vielen späteren westeuropäischen
Spekulationen hat man den Eindruck, dass sie sich in den Grund
der Dinge einbohren und aus ihm eine neue Welt wachsen lassen
wollen, die dann freilich mit der gegebenen Welt übereinstimmen
soll.
Dem Griechen aber ist die gegebene Welt der unverlierbare
Stoff, in dessen gedanklicher und künstlerischer Formung sich
sein geistiges Bemühen erschöpft.
Dabei braucht er weder
Empirist noch Naturalist zu sein, denn er begnügt sich
keineswegs mit der gegebenen Welt, sie ist ihm die Materie, die
υλη,
die er gedanklich und künstlerisch formt, damit sie seinem
allbeherrschenden Bedürfnis nach anschaulicher Geschlossenheit
und in sich harmonischer Vernunft entspreche.
Im Gegensatz aber
zu der Souveränität nicht nur, sondern verächtlichen und
verneinenden Unbekümmertheit gegen das Gegebene, mit der die
hieratische Kunst Ostasiens und Ägyptens ihre Phantasiegebilde
hinsetzt, bleibt der Grieche immer der Sohn der Erde; und dies
nicht allein, weil die Gegebenheit der nie ganz verlassene Stoff
seiner formenden Tätigkeit ist, sondern weil das nun Geformte
selbst in das Gegebene hineingestellt wird oder selbst den
Charakter einer Gegebenheit tragen soll.
Die Platonischen Ideen,
ebenso logische Bedeutung wie fordernde Norm des Irdischen,
bilden doch eine überhimmlische Welt, die die Seele in ihrer
vorirdischen Existenz als eine gegebene schaut, um von ihr aus
das Irdische denkerisch und praktisch zu gestalten. Selbst der
Liebesaffekt ist für Plato keine eigentliche Spontaneität der
Seele, sondern entsteht, indem das irdisch Gegebene an das im
Ideenreich gegebene Urbild der Schönheit erinnert.
Die Sehnsucht
der klassisch-griechischen Denker oder vielmehr ihr
unerschütterlich dogmatisches Zentrum ist das Sein, die feste,
in sich ruhende Substanz.
Unter dieser Voraussetzung versteht es
sich, dass ihre schöpferische Tätigkeit eben nur Formgebung sein
kann. Und selbst ihre dramatische Poesie offenbart diesen Zug,
wenn sie sich die immer neue Aus- und Umformung der immer
gleichen überlieferten Sagenstoffe zur Aufgabe macht.
Darum
kennt ihr Drama auch keine eigentliche Schuld. Das Tragische ist
ihnen die Gegebenheit: dass der Mensch so und so ist, dies und
dies tut oder leidet, und das Problem ist nur, wie seine Kraft
und sein Ethos dieses Gegebene formt und wie der Dichter es zum
Gebilde macht.
In den uferlosen, unplastischen Grund der niemals
»gegebenen« Freiheit, aus dem die Schuld unmittelbar hervorgeht,
steigen sie nicht herab. Das Freiheitsproblem ist ihnen
überhaupt nicht in seiner Tiefe aufgegangen, weil sie
allenthalben auf dem Boden des Seins und der gegebenen Welt
stehen, die der Geist durch Formung bestimmt.
So viele und höchste schöpferische
Kraft nun auch diese Formung voraussetzt, so kann man doch eine
andere Wesensart im spezifischen Sinne schöpferisch nennen,
diejenige, deren produktive Kraft Stoffe und Formen ihrer
Gebilde in engerer Einheit hervorbringt.
Man möchte mit einer
gewissen Paradoxie sagen: aus dem Nichts — weil man hier eben
nicht wie bei den klassischen Gebilden eine vorbestehende
Gegebenheit fühlt, über die jetzt erst die neue schaffende Form
kommt.
Natürlich ist in jedem Falle das Hineinnehmen gegebener
Daseinsstücke nicht ausgeschlossen, so wenig wie die Naturtreue
des Kunstwerks: der Unterschied des geistigen Wollens, der
Intention wird davon nicht berührt.
Ebenso versteht es sich von
selbst, dass kein historisches Wesen die absolute, begrifflich
reine Verkörperung der einen Seite ist, dass nicht nur Übergänge
und Mischungen, sondern auch Fraglichkeiten und Mehrdeutigkeiten
der Zuweisung an die eine und die andere oft an den Realitäten
eine Unentschiedenheit oder Versöhnung zwischen jenen zeigen,
von der sie als Prinzipien nichts wissen. Sie stossen aber auch
— und das ist besonders belehrend — in einzelnen Individuen zu
Hemmung und Kampf zusammen.
Michelangelo war gewiss der
vollkommenste Typus des Schöpfers: die von seinen Gestalten
bevölkerte Welt ist ausschliesslich in seinem Geiste erwachsen.
Allein er formte sie nach den Normen der klassischen Tradition,
und diese übten den Zwang, an dem das Ungestüm seiner
Schöpferkraft sich fortwährend brach, in dem es sich, zu
tragischem Konflikt, eingeengt fühlte: die klassische Formgebung
legte ihm ein ihm im Innersten fremdes Gesetz auf, nicht nur
weil er eine gotische Seele war, sondern prinzipiell, weil diese
Formen überhaupt den eminenten Ton einer vorbestehenden
Gesetzlichkeit tragen, der der Freiheit des Schöpfertums
widerspricht. Die Kraft seines Genies hat den Werken dennoch
Einheit errungen.
Denn wie Frieden eine Einheitsform heterogener
Elemente ist, so ist es auch der Kampf.
Was man von je an
Michelangelos Gestalten empfunden hat: dass die Gewalt einer von
innen vorbrechenden Leidenschaft gegen die Strenge der Form anringt, dass eine an sich formlose Dynamik in den Bann
klassischer Gesetzlichkeit des Umrisses gestellt wird und dass
als Einheit des Ganzen der Moment der Machtgleichheit der
Parteien erfasst ist — dies ist auf das Subjekt hin angesehen
nichts anderes als die gleichzeitige Herrschaft des
antagonistischen Paares: Schöpfertum und Gestaltertum.
Raffael
aber lässt von diesem Dualismus nichts spüren. Von vornherein
ist sein Problem die Umformung des Gegebenen in eine Welt des
Schönen, deren Ungestörtheit von undurchbrechlichen, weil
selbstverständlichen Gesetzen gewährleistet ist; die einzelnen
Gestalten erscheinen wie aus den allgemeinen Formprinzipien
entwickelt, wie im logischen Schluss sich aus zwei allgemeinen
Vordersätzen ein determinierterer Schlusssatz ergibt.
Das Schöpfertum nun, in dem
angedeuteten engeren Sinne, entzieht sich der analytischen
Beschreibung mehr als das Gestaltertum. Denn sein Erzeugnis hat
nicht angebbare Elemente, aus denen es erwüchse, sondern steigt
als unmittelbare Einheit aus dem tiefsten, zeugenden Grund der
Persönlichkeit auf.
Hier ist kein Gesetz irgendwelcher
vorbestehender Formen, das über eine gegebene Welt käme (mögen
diese Formen ihrerseits auch erst vom Geist erzeugt sein), kein
nur substanzieller allgemeiner Grund der Dinge, den die
Gestaltung zur Klarheit und Vernünftigkeit brächte, wie es in
der Klassik der Antike, der Renaissance und auch Goethes
vorliegt.
Hier spricht vielmehr das Leben in dem absoluten
Sinne, in dem es nicht mehr in irgendeinem Gegensatz zur Form
steht, sondern als Sein selbst, mit seiner nur diesem
verhafteten, nicht ablösbaren Form entspringt.
Bei den grössten
Vertretern dieses Typus, bei Shakespeare und Rembrandt (auch der
späte Beethoven gehört dazu, aber die Sonderart der Musik würde
seine Herbeiziehung in der jetzt fraglichen Richtung allzusehr
komplizieren) sehen wir die Gebilde nicht durch einen Sinn oder
eine Form hindurch, die sich jenseits dieser individuellen
Verwirklichung ausdrücken liesse.
Othello als Verkörperung der
Eifersucht oder Macbeth als die des Ehrgeizes anzusehen, wäre
nicht sinniger, als dass der Turm des Strassburger Münsters dazu
da wäre, das abstrakte geometrische Dreieck zu verkörpern.
Nicht
von Shakespeare und Rembrandt als Persönlichkeiten her gesehen
oder als Ausdruck ihrer Werthöhe, sondern um der immanenten Art
ihrer Gebilde willen, muss man sie als Schöpfer im Gegensatz zu
den Gestaltern charakterisieren.
Man mag hier, nur zu
verdeutlichendem Symbol, die verschiedenen Vorstellungen über
die göttliche Macht heranziehen. Man stellt sich diese
einerseits als die schlechthin schöpferische vor: die Substanz
des Daseins wie seine Formen und Schicksale sind durch
Schöpfertat Gottes aus dem Nichts entsprungen.
Da nun aber
dieses Entstehen aus dem Nichts dem Denken eine kaum
überwindliche Schwierigkeit bietet, so setzt man, andrerseits,
das substanzielle Sein als ein von Ewigkeit bestehendes, an dem
die göttliche Macht die Formung zu der gegebenen Welt vollzöge.
Dort ist die unmittelbare Existenz des ganzen Daseins, in dem
sich Stoff und Form überhaupt nicht scheiden, der Beweis für ein
göttliches Schöpfertum, weil diese Existenz doch eine absolute
Ursache fordert — hier weisen die Gesetzlichkeit und
Zweckmässigkeit, die Schönheiten und Harmonien des Weltbaues auf
einen Baumeister hin, der den rohen, bloss daseienden Stoff so
sinnvoll geformt habe.
Dies sind ersichtlich die religiösen
Verabsolutierungen des Gegensatzes, der hier für das Kunstgebiet
in Frage steht.
Wenn man nun das Schöpfertum in diesem
bestimmten Sinne erfasst — im weiteren ist, wie gesagt,
natürlich auch das Gestaltertum schöpferisch — so ist es
eigentlich nur eine Zusammenfassung alles bisher Vorgebrachten,
dass Rembrandt auf diese Seite des Gegensatzes gestellt wird.
Das Prinzip des Lebens wie das der Individualität, in der
Bedeutung, die ihnen hier zuerkannt wurde, wehrt sich gegen die
Scheidung der Form von der Seinstotalität, selbst dann, wenn
diese Form nichts Überliefertes, sondern völlig originale,
eigene Produktion ist; es genügt, dass sie innerhalb des Werkes
jene Betonung hat, die sie als ein wenn auch nur ideell
Allgemeines von dem Dasein dieser einzelnen Gesamtgebilde
abtrennbar macht.
Wo dies der Fall ist, scheint immer über einen
gegebenen Stoff, der mehr oder weniger willig ist, die Form zu
kommen und so erst das individuelle Gebilde erzeugt zu werden,
während dieses dem Schöpfertum in unmittelbarer Einheit
erwächst.
Dies scheint historisch mehr dem germanischen Geist zu
eigen, womit freilich begreiflich wird, dass er für die anders
gerichtete Sinnesart manchmal etwas Unförmiges, ja Stilloses
hat, da ja Stil immer ein formal Allgemeines ist, das der realen
Einzelheit das Gesetz ihrer Erscheinung auferlegt.
Und zugleich
begreifen wir damit einen der Gründe, aus denen das germanische
Wesen dem Aussenstehenden unzugängig ist. Denn ersichtlich
erleichtern allgemeine Formen des Tuns und Bildens das
Eindringen in die Gebilde. Der Punkt, an dem der
Rembrandtischgermanische Individualitätssinn sich mit seinem
Schöpfertum tief verbindet, liegt in der Ablehnung der
allgemeingültigen — oder was dasselbe ist, für sich gültigen —
Form.
Dass Shakespeare und Rembrandt den klassizistisch
gerichteten Zeiten vielfach als Barbaren erscheinen, ist die
künstlerische — und als solche den Grundgegensatz ebenso
heraushebende wie doch auch mildernde und versöhnende —
Metamorphose eines fundamental germanischen Zuges, der auf den
Fremden unleugbar als eine gewisse Ungeschicklichkeit und
Formlosigkeitkeit wirkt; auf den Mangel an jenen allgemeinen
Formen, die gewissermassen als Brücke zu der einzelnen Realität
funktionieren können, gründet sich jene Einsamkeit und
Schwerzugängigkeit des germanischen Geistes, die sich in seinem
Verhältnis zu der übrigen Kulturwelt immer von neuem erweist.
Die Gegensätzlichkeiten in der Kunst
Die Gegensätze: zwischen dem
klassischen und dem Rembrandtschen Stil, ebenso wie zwischen der
Kunst der objektiven Religion und der subjektiven, scheinen das
Bild einer Gegnerschaft, einer inneren Feindseligkeit, eines
positiven Sich-Ausschliessens mit sich zu bringen; an so
entgegengesetzten Polen menschlicher Möglichkeiten steht beides,
als stellte es einen Jeden nur vor die Wahl, sich für das eine
oder für das andere zu entscheiden.
Hier besteht nun ein höchst
wirkungsvoller Unterschied zwischen den grossen Geistesgebieten.
Innerhalb der Theorie wird jeweils nur eine Wahrheit anerkannt;
es mag verschiedene gleichberechtigte Wege zu ihr geben, aber
jede definitive Festsetzung erfolgt unter unbedingtem Ausschluss
jeder andern Beantwortung der aufgeworfnen Frage.
Das praktische
Verhalten, durch Gefühl und Willen bestimmt, folgt manchmal der
gleichen Form, eine mögliche Entscheidung radikal abzulehnen,
wenn eine andere getroffen ist; manchmal aber versuchen wir,
zwei logisch einander widersprechende Wege dennoch gleichzeitig
zu begehen, oder Mischung und Kompromiss zwischen ihnen zu
erreichen, oder, den einen Entschluss verwirklichend, erkennen
wir wenigstens den andern als gleichmöglich und gleich
berechtigt an.
Viel eigenartigere Deutung aber verlangen die
Gegensätzlichkeiten der Kunst. Für den Schöpfer ist das Problem
nicht diskutabel, da er eben der Schöpfer je einer Seite des
Gegensatzes ist.
Aber eine Wertentscheidung scheint nicht nur
von dem subjektiven, verantwortungslosen Geschmack des
Beschauers getroffen zu werden, sondern wir meinen mit einer
Entscheidung doch auch ein, wenn auch von einseitiger Betonung
nicht freies, so doch seiner Intention nach objektives Urteil zu
fällen.
Allein die allerentschiedenste Einseitigkeit in der
Empfindungsweise und Stilrichtung des Kunstwerks enthält dennoch
nicht das Parteimässige, die Gegensätzlichkeit Betonende, mehr
oder weniger Aggressive, das jenen andern menschlichen
Äusserungen eigen ist. Eine grosse Kunst mag so radikal wie
möglich eine Gesinnung, einen Stil vertreten — sie ist nie ein
Exklusives, das seinen Gegensatz, indem es ihn abweist, doch
fordert, sondern irgendwie liegt die Ganzheit des Lebens in ihm,
die alle Gegensätzlichkeiten übergreift.
Das ist die logisch gar
nicht fassbare und dennoch unleugbare Möglichkeit der Kunst:
dass sie aus dem tiefsten, ja singulärsten Einzigkeitspunkt der
Persönlichkeit quillt, als dessen Ausdruck, und dennoch diese
Sonderheit als Gefäss des schlechthin Allgemeinen und
All-Einheitlichen empfinden lässt; jene Einseitigkeit verrät
einen Lebensstrom, dessen sie, wie jede andere der gleichen
Schicht, eine Welle ist.
Hierzu gibt es wohl nicht viele
Analogien: jeder Nationalcharakter etwa, insofern er
weltgeschichtliche Bedeutung hat, trägt in seiner Partikularität
das schlechthin übereinzelne Menschentum, und dies ist eben die
Bedingung weltgeschichtlicher Bedeutung.
Man könnte auch an
Religionen denken und das Absolute, das ihre jeweilige
historisch-eigenartige Bedingtheit zu Lehen trägt.
Dennoch hat
die Religion hier eine der Kunst gegenüber ungünstigere Form.
Der eigentliche Grund ihres Wesens und Werdens als eines
Gebildes ist das Absolute, sie steigt aus dem schlechthin
Über-Einzelnen auf und mündet in ihm.
Wo immer sie nun als
partikulare auftritt, in den Relativitäten des Lebens Partei
ergreift, sich mit einer Wirkung oder Eigenschaft offenbart, die
eine andere ausschliesst, fällt sie irgendwie von ihrem letzten
Sinne ab; die Übereinzelheit und die Einzelheit zu vereinen,
bedeutet für sie Verengerung, weil ihr Boden die erstere ist.
Für die Kunst dagegen, die in der letzteren ihre Wurzel hat,
bedeutet deshalb dieselbe Vereinigung eine Erweiterung; für jene
immerhin eine Art Abkehr von ihrer definitiven Bedeutung, für
diese ein Auf-sie-Zugehen.
Wie man die Gesamtwerte anderer
Gebiete also auch dem künstlerischen gegenüber einschätzen mag:
seine Möglichkeit, in der vollsten Eigenheit des Stiles, der
Künstlerpersönlichkeit, des einzelnen Werkes, eine Ganzheit des
sinnvollen Daseins widerspruchslos und als wäre überhaupt keine
Zweiheit vorhanden, zum Ausdruck zu bringen, scheint von allen
grossen Geistesgebieten nur diesem gegeben zu sein.
Hier liegt
vielleicht eine der tiefsten Symbolisierungen der Lebensstruktur
überhaupt durch die Kunst.
Ich erinnere an die Erwägung, mit der
diese Blätter begannen.
Das Leben eines jeden seiner Träger hat
seine Ganzheit nicht in der Summe seiner einzelnen Momente (man
wüsste auch nicht, wie diese Addition sich vollziehen sollte);
sondern jeder Augenblick ist das ganze Leben, dessen Wesen es
eben ist, bald schwächer, bald stärker zu sein, so oder anders
gefärbt, diesen oder jenen Inhalt verwirklichend.
In jede dieser
jeweiligen Gestaltungen aber ist immer das ganze Leben gegossen,
es gibt nicht ein Leben jenseits seiner einzelnen Momente,
sondern immer nur das eine und ganze, so sehr seine unaufhörlich
wechselnden Formen ihrer begrifflich ausdrückbaren Bedeutung,
ihrem abgelösten Sachsinne nach einander widersprechen oder
zusammenhanglos nebeneinander stehen mögen.
Und dies eben
überträgt sich in seinen künstlerischen Ausdruck (was natürlich
nur für jene Schicht höchster Allgemeinheit gilt, die den
Gegensatz von spezifischer Bejahung und Verneinung dieser
Lebensauffassung durch die einzelnen Kunststile selbst noch
umschliesst).
Nur dass, weil es sich hier um ein Teilgebiet und
eine aus dem Lebensprozess auskristallisierte Gegenständlichkeit
handelt, die Formung des Lebens in das einzelne Kunstwerk hinein
eine mehr oder weniger vollkommene sein kann, und dies um so
entschiedener, als »das Leben« hier einen weiteren,
überindividuellen Sinn hat.
Wenn die inhaltliche und
funktionelle Unterschiedenheit der Lebensmomente sie nicht
hindert, das jeweilige ganze Leben ihres Trägers darzustellen,
so kann jeder Kunststil, in allen angebbaren Zügen von jedem
andern unterschieden, doch ein Gefäss sein, dessen besondere
Form die Ganzheit des Lebens in sich aufnimmt.
Die Andeutung
dieser Perspektive wird genügen, um die aufgezeigten Kontraste
der Kunststile dem Verdacht einer gleichsam feindseligen
Wertrangierung zu entrücken.
Wo das, wie ich zugebe, logisch
dunkle Verhältnis besteht, dass jede der Parteien das ganze
Leben, wenn auch nicht in begrifflich-numerischem Sinne dasselbe
Leben enthält, da ist es zwar geboten, sie zu scheiden, aber
nicht, zwischen ihnen zu entscheiden. |