Georg Simmel: Rembrandt
Ein kunstphilosophischer Versuch
Leipzig: Kurt Wolff 1916. VIII, 205 S.
2. Kapitel:
Die Individualisierung und das Allgemeine
Typik und
Repräsentation Das dargelegte Verhältnis von Leben und
Form macht klar, wieso die Porträtgestalten der Renaissance
immer als irgendwie typisch wirken, während die Rembrandtschen
den Eindruck individueller Einzigkeit machen.
Die Normen, nach denen
Erscheinungselemente rein als solche zu einem Optimum
künstlerischer Anschaulichkeit geformt werden, sind
unvermeidlich allgemeiner Art, sie sind gewissermassen den
Naturgesetzen analog, die sehr mannigfaltig individualisierten
Erscheinungen dennoch ein gleichmässiges Verhalten bestimmen,
insoweit diese, mit all ihren Verschiedenheiten, dem Gesetz
dieselbe Bedingung der Anwendbarkeit bieten.
So ist es für das griechische
Formgefühl, wie es sich in der Dichtkunst nicht anders als in
der bildenden Kunst ausspricht, bezeichnend, dass im frühen
Hellenismus zwar eine Fülle neuer metrischer Formen entstehen,
die aber sehr rasch wieder der Herrschaft des Hexameters und des
Distichons Platz machen.
Ein geringer Vorrat von Formen, die
sich als das Allgemeine sehr mannigfacher Inhalte und
Gefühlsfärbungen bieten, ist dem Griechen schliesslich doch
sympathischer, als dass sich um die verschiedenen Stoffe herum
jeweils individuelle und deshalb unvermeidlich immer neue Formen
bilden.
Die Elemente werden in der Klassik so
gestaltet, als ob sie in einem typischen Beschauer den in
Hinsicht der Charakteristik, Schönheit, Deutlichkeit günstigsten
Eindruck hervorrufen sollten.
Dieses Als-ob soll anzeigen, dass sein
Inhalt keine bewusste oder gar abstrakt- prinzipielle Absicht
des Künstlers erfordert.
Ein sehr allgemeiner Zug der
Mittelmeervölker offenbart sich vielleicht auch hier: ihr
Verhalten auf die Gegenwart eines Zuschauers einzurichten.
Noch heute ist es ein recht charakteristischer Unterschied, wenn
man in Deutschland und wenn man in Italien etwa einen Arbeiter,
der allein über Feld geht und sich unbeobachtet glaubt, singen
hört.
Der Deutsche singt nicht nur »für
sich«, sondern wie aus einer inneren Stimmung heraus, einer
fröhlichen oder sentimentalen oder schlechthin nur bewegten, die
sich bloss verlautbaren will, so dass es ihm — etwas krass
ausgedrückt — gar nicht so sehr darauf ankommt, wie es klingt.
Der Italiener dagegen singt auch in solchen Augenblicken wie für
ein Publikum und als ob er auf dem Podium stünde.
Im italienischen Barock gewinnt dies,
wie so manche tiefe und vitale seelische Züge, den
veräusserlichend übertreibenden und zugleich
rationalisierenderen Ausdruck: in der Klage der Kunsttheoretiker
über die populäre Verbreitung des Porträtierens, da es doch
dessen Aufgabe sei, durch die Darstellung besonders
ausgezeichneter Persönlichkeiten einen veredelnden Einfluss auf
die Betrachter zu üben! Die ganze Breite der stilistischen
Erscheinungen wird von diesem Grundzug her gefärbt.
Man sehe einen italienischen Schrank
oder eine Truhe der Renaissance neben deutsch-gotischen Möbeln.
Dort steht eine Palastfassade im
Kleinen vor uns, es herrscht der Geschmack von Völkern, die
grossenteils im Freien leben und die ihre nach der
Öffentlichkeit hin gerichtete Repräsentation auch in die Formen
der Inneneinrichtung übertragen.*
* Dass die Fassade
des Profanbaues sich architektonisch verhältnismässig spät
ausbildet, jedenfalls erst von der christlichen Zeit an und
mit vollem Übergewicht über den Hofbau erst im Barock, ist
der Erfolg nebenherlaufender Motive, die im Wesentlichen
praktischer Natur sein dürften.
Die Formen eines gotischen Schrankes
dagegen vertragen keine Vergrösserung über die Masse des Zimmers
hinaus — ausser etwa in dem von dem eigentlich Strukturellen
gelösten Masswerk —, sie entziehen sich durchaus dem, was man
öffentliche Wirkung nennen könnte und was doch nicht nur eine
numerische, sondern auch eine qualitative Bedeutung hat und der
Tektonik der Renaissance in ihren kleinsten Werken zukommt.
Aus dem Begriff der »Gemütlichkeit«,
den die Romanen bekanntlich nicht einmal sprachlich besitzen,
redet, nur etwas ins Kleine gezogen, eben diese Richtung auf
personale Intimität, den äussersten Gegensatz der auf
Gesehenwerden und Repräsentation gehenden — wobei diese letztere
unleugbar, in den guten Fällen, die Aussenseite einer bestimmten
Art heroischer Grösse und Weite ist, die in jener nicht so
leicht unterkommt.
Zudem stammt aus diesem Zuge ein
gewisser Mangel der germanischen Völker an jenen ästhetischen
Sinnlichkeitswerten, auf die die romanischen sich gezüchtet
haben.
Auch für die griechische Kunst scheint
mir dies gegenüber dem germanischen Prinzip (so selten dies
ausserhalb Rembrandts ganz rein zum Ausdruck kommt) bedeutsam zu
sein.
Der Mensch der griechischen Statue hat
den Stolz seiner Schönheit und das Bewusstsein, diese Schönheit
dem Beschauer gegenüber zu repräsentieren.
Sobald die Oberflächenerscheinung, mit
der als seinem Resultat das Leben sich nach aussen hin bietet,
das selbstgenugsame Material der künstlerischen Formung wird,
ist die Interessenrichtung auf den Beschauer hin entschieden.
Dieser ideelle Zuschauer ist ein
ausschlaggebendes Moment des ganzen klassischen Stiles.
Man vergleiche etwa eine italienische
Grablegung mit einer Rembrandtschen.
In der letzteren ist zwar jede
Erscheinung ganz individuell* und man wüsste kein Formgesetz zu
nennen, das gleichmässig über allen stünde.
* Über den
eingeschränkteren Sinn der Individualisierung grade in
seinen religiösen Bildern gegenüber dem Porträt ist an
späterer Stelle zu sprechen.
Ihre Einheit aber liegt darin, dass
eine jede ganz und gar in dem Aktus und der ihm zukommenden
Empfindung aufgeht, mit ihrem ganz unvergleichlichen Aussehen
will doch keine als etwas für sich Seiendes dastehen.
Bei den Italienern dagegen teilt zwar
jede mit jeder den formalen Typus, aber dessen besonderes Wesen
ist, dass jede für sich schön sein soll.
Dass Sich-verlieren an den Vorgang wie
an das über das blosse Sein hinausgehende Gefühl findet hier
seine Schranke an dem ästhetischen Eigenwert und der Betontheit
des Individuums, die von ihm sozusagen nie vergessen wird und
die ideell immer von dem, was es fühlt und worin es sich
einordnet, gesondert bleibt.
Jeder Teilnehmer z. B. auf der
Raffaelschen Grablegung ist nicht nur für den Vorgang da,
sondern auch, von sich aus, für den Beschauer; damit aber stellt
er sich diesem zugleich gegenüber, als jemand, dessen
Betrachtung sich auch lohnen soll, der Anerkennung fordert, der
auf sich hält: das Gegenübersein und das Für-sich-sein gehören
zusammen.
Rembrandts Menschen dagegen denken
niemals an den Zuschauer und eben deshalb nicht an sich selbst.
Die Proportion von Selbstbehauptung und
Selbstaufgabe, die jedes menschliche Dasein irgendwie bestimmt,
steht bei ihnen zwischen der untypischen Individualität und der
Hingabe an das Geschehen und seine inneren Reaktionen, während
in dem italienischen Werk jene Elemente in der stilgleichen,
allgemein gesetzlichen, den Beschauer voraussetzenden Formung
einerseits und dem stolzen, repräsentativen Aufsichhalten und
Sichzurückhalten des Einzelnen stehen.
Nur freilich ist die letztere
Ausgestaltung jener Grundproportion mit einer gewissen Würde und
Vornehmheit ausgestattet, die den Rembrandtschen Menschen
abgeht.
Nicht als ob sie das Gegenteil dieser
Eigenschaften in irgendeinem positiven Sinne zeigten; sie werden
nur überhaupt von der ganzen Polarität von Vornehmheit und
Unvornehmheit nicht berührt.
Denn diese, so wie sie für die
Renaissancefiguren in Frage kommen, hängen durchaus von der
realen oder ideellen Gegenwart eines Gegenüberstehenden ab, oder
vielmehr, diese Vornehmheit besteht selbst, obgleich ein
personales Verhalten, in einer eigentümlichen Mischung von
Reserve und Repräsentation jenen gegenüber, von stolzem
Sich-abheben und gleichzeitigem Von-ihm-gesehen-,
Von-ihm-anerkannt-werden-müssen.
Eine ganz andere Bedeutung wieder hat
der an den Porträts von Frans Hals bemerkte Zug, dass der
Dargestellte fast überall zu einem nicht dargestellten Dritten
in Beziehung stehe.
Denn dieser Dritte steht durchaus im
idealen Raume des Bildes selbst, weshalb man denn auch die
besondere Begabung des Hals für Gruppenporträts gerade mit
diesem Zuge in Verbindung gebracht hat — als würde in ihnen eben
nur das sonst unsichtbare Korrelat des Einzelnen sichtbar
gemacht.
Der ideelle Zuschauer in der
klassisch-romanischen Kunst ist zwar auch nicht etwa das
lebendig davorstehende Individuum (denn dieses hineinzuziehen,
was immer eine Art Koketterie mit ihm bedeutet, ist einer der
rohesten, unkünstlerischen Effekte), sondern steht wieder in
einer ganz eigenen transzendentalen Schicht: er ist weder ein
Einzelner innerhalb des Kunstwerks wie bei Hals, noch ein
Einzelner ausserhalb des Kunstwerks wie im letzteren Falle,
sondern ein schlechthin Allgemeines, jener »Idee« des
Dargestellten verwandt, von der sowohl dessen empirische
Wirklichkeit wie künstlerische Darstellung einzelne Ausformungen
sind.
Vielleicht ist jene charakteristisch
klassische Menschenauffassung dem Gefühl verknüpft: dass
Gleiches nur durch Gleiches erkannt wird.
Denn dies kann darauf führen, dass das Individuelle auf ein
allgemein Menschliches zurückgebracht werden müsse, damit in dem
Beschauer eben dieses in Wirksamkeit trete und das Verständnis
vermittle.
Wo der ideelle Zuschauer ein
bestimmender Faktor ist, tritt das Individuelle vor der
Verallgemeinerung zurück: als gäbe es ein allgemein
Menschliches, in dem sozusagen freier Verkehr herrscht, d. h. in
dem die einzelnen Teilgebiete, z. B. der Typus des Beschauers
und der des Gegenstandes, sich ohne weiteres gegenseitig
verstehen; während dies aufhört, sobald die unter dieser Schicht
gelegenen, dem Individuellen zu liegenden Schichten in Frage
kommen.
In jener Vorstellung von der Erkenntnis
des Gleichen durch das Gleiche treffen sich fundamentale Züge
der griechischen Weltanschauung: ein Aristokratismus, bei dem
der vornehmen Abschliessung des Kreises seine innere Parität
entspricht; ein metaphysisch-monistisches Grundgefühl; und eine
Einstellung auf sinnlich-naive Anschaulichkeit, für die die
Beziehungen der Dinge von äusserer Gleichheit getragen sein
müssen.
Ist damit jenes Prinzip zutiefst im
Griechischen verwurzelt, so wird dessen durchgängiges Streben
auf Typisierung begreiflich, auf die denkerische und
künstlerische Herausarbeitung des Allgemeinen, auf dessen Boden
das Subjekt die Zugehörigkeit zu andern Subjekten oder Objekten
gewönne.
Auch ist hier noch einmal, mit einer
leichten Akzentverlegung, des vorhin angedeuteten Zuges der
Mittelmeervölker zu gedenken.
Wer sich mit seinem Tun oder Sein dem andern darstellen will,
sei es in mehr akuter, sei es in mehr chronischer Form, fällt
leicht in ein typusmässiges Verhalten.
Denn ein solcher will, auch ohne
besondere Betonung durch Eitelkeit, etwas vorstellen — und
dieses Etwas ist von vornherein nicht die blosse, genau in sich
selbst begrenzte Individualität, sondern geht darüber hinaus,
ist, als ein Etwas, etwas Transpersonales, begrifflich so
Ausdrückbares, wie die reine Persönlichkeit es nie ist.
Allenthalben ist zu bemerken, dass der
Mensch, wenn er sich andern gegenüber darstellen will, den nur
für sich seienden Persönlichkeitspunkt überschreitet, dass er
sich als Träger einer Leistung, Repräsentant einer Idee, eines
irgendwie Allgemeineren gibt.
Er schmückt sich (was keineswegs als
minderwertig, sondern als Ausdruck einer besonderen
Lebensattitude gelten darf) mit einem weiteren, jenen
Persönlichkeitspunkt umgebenden Kreis, der eben eo ipso etwas
Allgemeineres bedeutet, auch wenn der Inhalt seiner Absicht
schliesslich nur das Ich ist.
Das ethisch Bedeutsame dieser
griechischen Anschauungsweise ist, dass wenn der Mensch etwas im
begrifflichen oder im soziologischen Sinne ausserhalb seiner
Gelegenes repräsentiert: Schönheit und Würde, Stärke und
Eigenart seines Kreises, — dass ihm dadurch Freiheit und
Verantwortung nicht abgenommen wird.
Dies alles spiegelt sich, in
metaphysischer Übertragung, in Platos Idealismus.
Die Einzeldinge stellen hier etwas
Allgemeines dar, sie sind nicht einfach sie selbst; wie der
Mensch in der griechischen Plastik weiss, dass er angesehen wird
und darum etwas zu repräsentieren hat, so haben es die
Einzeldinge, haben ihre ganze Bedeutung von der Idee her, die
eben sie repräsentieren.
Der Hauch von Schauspielertum, den man
am Griechischen empfinden könnte und der die Dialogform der
Platonischen Schriften bestimmt, hängt mit dieser Struktur
zusammen.
Es besteht eben zwischen dem
Sich-füreinander-Darstellen und der Typisierung des eigenen
Bildes ein tiefer Zusammenhang, der begreiflich in die idealen
Gestaltungen des Menschen überhaupt übergeht und dessen
Herrschaft in der Klassik zu der Behauptung geführt hat, der
Porträtist müsse sein Modell zu einem »Typus« emporheben oder
umstilisieren — eine Behauptung, die bei der
griechisch-romanischen Lebensdirektive zu Recht besteht, als
schlechthin allgemeine, sachlich-künstlerisch notwendige aber
eine irrtümliche Einseitigkeit ist.
Rembrandt hat eben — mindestens dem
Masse nach als erster — das Individuelle als künstlerisches
Gebilde der Zufälligkeit enthoben, ihm das gegeben, was mit dem
vielleicht nicht ohne weiteres deutlichen Ausdruck der
»Notwendigkeit« bezeichnet wird, ohne dies durch die
Verallgemeinerung zu einem Typus zu erkaufen.
Die von Kant gelehrte Solidarität von
Notwendigkeit und Allgemeinheit mag für theoretische
Behauptungen gelten; er selbst hat sie schon in durchaus
fragwürdiger Weise in das Ethische übertragen; denn der
behaupteten allgemeinen Gültigkeit einer sittlich notwendigen
Maxime für alle Subjekte überhaupt, stehen doch wohl — wie schon
ein früherer Zusammenhang erwähnen liess — die sittlich
notwendigen Handlungen gegenüber, die aus der prinzipiellen
Einzigkeit des Individuums quellen und die als allgemeine
Gesetze nichtig wären.
Noch einseitiger aber ist die
Übertragung jener Korrelation in den künstlerischen Bezirk.
Hier hat Rembrandt deutlich gemacht,
dass aus dem innersten Leben einer Person heraus ihre
Erscheinung zu einer überzeugend notwendigen Form entwickelbar
ist, die diese Entwicklung keineswegs aus einer allgemeinen
Gesetzlichkeit entlehnt.
Sie ist vielmehr mit dieser
Individualität so schlechthin eins, dass ihre Wiederholung in
einer andern wohl als zufällige möglich ist, als prinzipiell
allgemeine aber ein Wort ohne Sinn ist.
Zwei Erfassungen des Lebens
Wenn nun das Rembrandtsche
Begreiflichmachen einer Persönlichkeit ein anderes Ziel und
einen andern Weg hat als jenes durch den Typus vermittelte, so
spiegelt sich in diesem Unterschied der ganz weitreichende
zwischen den beiden Arten, wie wir überhaupt einen Menschen
kennen.
Die eine unterstellt ihn allgemein
seelischen Begriffen: er ist klug oder dumm, grossartig oder
kleinlich, gutmütig oder boshaft usw. Dies ist, in steigernder
Verfeinerung, der Weg wissenschaftlich-psychologischer
Erkenntnis.
Allein genau genommen erweitert sich
meine seelische Kenntnis damit nicht. Ich muss alle diese
Verfassungen und Zustände schon kennen, und was ich erfahre ist
nur, dass sie sich noch einmal an diesem Menschen in der und der
Kombination verwirklichen.
Ich kenne damit diesen Menschen nicht
von ihm selbst her, aus ihm selbst heraus, sondern meine
Kenntnis seiner fliesst aus Begriffen, die ich bereits
mitbringe.
Dass diese Art des Kennens bei all
ihrer Bedeutung und Unentbehrlichkeit dennoch eine sekundäre
ist, zeigt die einfache Erwägung, dass ich doch nur aus einem
unmittelbaren, mit Begriffen nicht fixierbaren Wissen um den
Menschen erst überhaupt erkennen kann, welche mir schon vorher
zugängigen Begriffe denn auf ihn anwendbar sind.
Von diesem unmittelbaren Wissen ist das
erste Stadium schon in dem Augenblick gewonnen, in dem — kurz
ausgedrückt — der Mensch ins Zimmer tritt.
Wir wissen in diesem ersten Augenblick
nicht dies und das, keine jener angedeuteten Kategorien von ihm,
aber doch unendlich viel, ihn selbst, sein Unverwechselbares.
Die körperliche Unverwechselbarkeit, an
diese erste Gegenwart geheftet, ist davon ein Symbol und
vielleicht mehr als ein Symbol.
Und es gibt eine kontinuierliche
Entwicklungsreihe des Kennens, die sich an diesen ersten
Augenblick ansetzt und in dessen Art verbleibt, die dieses
erste, gar nicht auseinanderlegbare Wissen nur vertieft und
vermehrt, ohne dass es sich damit um bestimmte Teile vermehrte.
Es bleibt auch weiter etwas ganz
Einheitliches, diese singuläre Individualität Spiegelndes, und
sein Tiefer- und Weiterwerden hat gar keine Beziehung dazu, dass
auch die andere Kenntnisreihe, die nach angebbaren einzelnen
Qualitäten, vielleicht ihrerseits ebenfalls fortschreitet.
Worauf es hier ankommt, ist nicht das
Unbezweifelte: dass der Mensch eine Individualität ist, die
nicht aus der Summe seiner angebbaren Eigenschaften
zusammenzusetzen ist, — sondern dass die Erkenntnis eben dieser
Individualität gleichsam mit einem besonderen Organ erfolgt, das
mit den Organen für die Erkenntnis der beschreiblichen
Eigenschaften gar nicht zusammenfällt.
Rembrandt muss dieses Organ in
erstaunlicher Ausbildung besessen haben.
Aus seinen Porträts leuchtet uns, der
Art nach, vor allem das entgegen, was wir von einem Menschen
beim ersten Anblick als ganz Unaussprechbares wissen, als die
Einheit seiner Existenz.
Denn nur die Totalität des Menschen —
die Rembrandt als den Totalverlauf seiner Schicksale anschaulich
macht — ist das Einzige, alles Einzelne an ihm ist ein
Allgemeines.
Auf das letztere aber richtet sich im
Wesentlichen das italienische Porträt.
Indem es den Menschen als einen Typus
oder auch als eine Mehrheit von Allgemeinheiten fasst, stellt es
ihn dem Zuschauer oder ihm den Zuschauer mehr gegenüber, während
das Erfassen der Totalität in höherem Masse ein
Sich-einschmelzen, Sich-einfühlen, in sich schliesst, das im
Augenblick der Betrachtung die Subjekt-Objekt-Einstellung in der
grösseren Ungeschiedenheit der Intuition untertauchen lässt.
Aber hierin liegt freilich, was den
klassischen Stil im eminenten Sinne gerade als Stil überhaupt
bestimmt.
Denn Stil bedeutet doch immer eine
allgemeine Formgebung, die an einer beliebigen Zahl
mannigfaltigster Erscheinungen gleichmässig wirksam wird, eine
Einheit des Lebensgefühles, das allen diesen Mannigfaltigkeiten
entquillt, sobald sie jener Formgebung unterstehn.
Indem nun die klassische Kunst die
Erscheinungen unter der primären Kategorie ihres
Betrachtetwerdens gestaltet, gewinnt sie an dem ideellen
Zuschauer einen terminus ad quem, dessen Überindividualität und
Typik die verschiedensten Erscheinungen in die Gleichheit eines
Form-prinzips münden lässt.
Darum erscheint, noch abgesehen von dem
Wie des Stiles, die klassische Kunst der germanischen gegenüber
als »stilisiert« schlechthin.
Vermittels dieser Zusammenhänge
entwickelt sich aus dem klassischen Prinzip der reinen Form, d.
h. der immanenten Gesetzlichkeit der Oberflächenelemente, des
Lebensstadiums, das das Werden hinter sich abgeschnitten hat —
aus ihm entwickelt sich der Charakter der Typik, des Generellen,
der das Renaissanceporträt (von einer nachher zu behandelnden
Einschränkung abgesehen) bezeichnet.
Es ist noch hinzuzunehmen, dass die
Form als solche überhaupt überindividuellen Wesens ist; wie der
Allgemeinbegriff zu dem ihm unterstehenden Einzelnen, verhält
sie sich zu der Vielheit der materiellen Existenzen, die mit all
ihrer Verschiedenheit in sie eingehen und deren Gleichheit sie
bildet: wo immer das Prinzip der Form führt, geht der Weg
jenseits des Individuellen.
Dies Prinzip kommt damit ganz
konsequent an den Punkt, den die Bautheoretiker der
Hochrenaissance bezeichnen: die architektonische Schönheit müsse
sich ein für allemal aus überall gültigen Massverhältnissen der
materiellen Massen herstellen lassen.
Dem Prinzip des Lebens ist diese, aus
rein Materiellem entwickelte und schlechthin allgemeine Form
innerlich ganz entgegengesetzt.
Darum geht, wo eben dieses Prinzip die
Führung hat, der Weg umgekehrt auf die Individualität zu.
Während die Form als solche der
Abstraktion und damit der Verallgemeinerung verhaftet ist, ist
das Leben an individuelle Gestaltung gebunden.
Natürlich kann man auch einen Allgemeinbegriff des Lebens oder
des Lebendigen bilden, aber in ganz anderem Sinn und Mass hat
das Individuum sein Leben für sich, als es seine Form für sich
hat.
Die Form ist nicht an die Wirklichkeit
angenietet, sie hat eine ideelle Gültigkeit, die von beliebig
vielen Wirklichkeiten aufgenommen werden kann; das Leben aber
ist schlechthin nur wirklich und hat deshalb in jeder seiner
Reihen diejenige Einzigkeit, die jedes Stück Wirklichkeit als
Wirklichkeit besitzt.
Es ist ganz unsinnig, dass dieselbe
Existenz zweimal sein sollte, während dieselbe Form an zwei oder
wie viel Existenzen immer bestehen kann.
Soll ein menschliches Phänomen aus dem
Lebensprozess heraus verstanden werden — statt aus der
rationalen oder anschaulichen Logik des geschlossenen
Erscheinungskomplexes selbst —, so kommt es eben aus einer
absoluten Einmaligkeit und Einzigkeit der Existenz; diese
Existenz mag ihre Form (oder, was in dieser Hinsicht
gleichsteht, ihre Inhalte) mit Unzähligen teilen, sie mag und
muss in ihre Lebensströmung unzähliges aufgenommen haben, was
andere, was die Weltinhalte ihr bieten, — dies alles
eingerechnet, ist sie nun doch diese eine, ihrer Zeitlichkeit
von einem unvertauschbaren Punkt des Daseins zu einem andern
unvertauschbaren sich streckend.
Ihre Form und ihre Inhalte mögen, wie
gesagt, vergleichbare sein, aber ihr Prozess steht jenseits der
Alternative von Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit, er hat
die Einzigkeit des reinen Werdens, das gar nicht durch
Qualitäten, die sind oder werden, auszudrücken ist.
Dass in den Rembrandtschen Gestalten
der Lebensprozess selbst anschaulich wird, das ist der Sinn
ihrer »Individualität«, nicht aber ein an einzelnen Inhalten
aufweisbares qualitatives Anders- oder Besonderssein; denn dies
ist eine durchaus relative und zufällige Individualität.
Sähe aber eine Existenz auch in einem
oder allen Stadien genau so aus wie eine andere, so wäre sie
dennoch, mit all ihren Voraussetzungen, Hergeleitetheiten,
Entlehnungen, als Lebensprozess, als Werdenswirklichkeit eben
diese einzige Strömung.
Die empfundene individuelle Einzigkeit
eines resultierenden So-aussehens, des Oberflächenphänomens
eines Lebens ist nur das Synonym oder Symbol dafür, dass sein
Werden in ihm investiert ist, dass der Lebensprozess, als
solcher ein einreihiges, unverwechselbares, schlechthin nur in
sich seiendes Geschehen, das in diesem Gegebenen eigentlich
Angeschaute ist.
Anmerkung über die Individualität der
Form und den Pantheismus
Gewiss war die Renaissance
pantheistisch gesinnt. Allein eigentlich passte das nicht ganz
zu der Selbstgenügsamkeit, der souveränen Eigenwertigkeit der
Formen.
Denn so überindividuell die Form ins
Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit ist, so ist sie doch im
Verhältnis zur undifferenzierten Seinstotalität etwas
Individuelles, gerade durch ihren Ausschluss von Kontinuität und
Bewegtheit ist jede Form aufs schärfste, unberührbarste von
jeder anderen geschieden.
Der Pantheismus der Stoiker war über
diesen Widerspruch hinweggekommen, weil in ihm wohl noch eine
mythisch-hylozoistische Haltung nachwirkte, für die jeder
Daseinsteil, den wir (gleichviel mit welcher subjektiven
Willkür) als »ein Ding.' ansehen, beseelt ist.
Indem die Stoiker nun eine göttliche
Weltseele als Grundkraft in allem Dasein voraussetzten,
verschwamm ihnen der Gegensatz zwischen dem Individualcharakter
der einzelnen Erscheinung und der Gesamtbeseelung des Alls,
zwischen der Summe der einzelnen Beseeltheiten und der Einheit
der Weltseele — wie wenn, in Rousseaus Ausdrucksweise, die
volonté de tous mit der volonté générale zusammenfiele.
Jedes Stück des Universums erschien
ihnen für sich beseelt, organisch, wertvoll, gerade weil die
einwohnende Kraft der Weltseele seine Form bestimmte.
Für die Renaissance nun war der
Pantheismus vielleicht mit der Inthronisierung der Form dadurch
vereinbar, dass die pantheistische Göttlichkeit noch nicht in
ihrem vollen Gegensatz zu dem christlichen Gott empfunden wurde.
Der Gott, der Person ist, also selbst
noch etwas von Form und Individualität hat, ist mit der
Einzelheit der Weltgebilde vereinbar; er mag so mächtig und so
einheitlich gedacht werden wie man will — er hat die Welt, er
ist nicht die Welt.
Erst wenn er ganz in ihr oder sie ganz
in ihm aufgegangen ist, ist seine Einheit von vornherein
Welteinheit und gestattet keine absolute Sonderung ihrer
Elemente, nicht jenes Für-sich-sein, das einzelne
Wirklichkeitsstücke gerade von ihrer Form zu Leben tragen, auch
wenn ihre Materien als kontinuierlich in sich verbunden gedacht
werden.
Giordano Bruno, der schlechthin als der
Philosoph der Renaissance gilt, scheint mir an diesem Punkte
vielmehr das Grundgefühl des Barock zum Ausdruck zu bringen: die
Auflösung der in ihrer Besonderheit sinnvollen Form zugunsten
eines Gesamtzusammenhanges; dieser allein ist das Einheitliche
und Absolute, innerhalb dessen jedes Element nur in der Relation
zu den anderen eine Bedeutung erhält.
Für Bruno gehen alle Erscheinungen, die
sich als festgeformte bilden, dennoch ineinander über, die
Phantasie kann alles aus jedem gestalten, sogar das begrifflich
Entgegengesetzte, z. B. das Schöne und das Hässliche, berührt
sich, indem ein jedes ein Minimum hat, an dem es mit dem Minimum
des andern zusammenfällt.
Der Rechtsgrund der Phantasie, wenn
sie, alle vorbestimmenden Regeln verachtend, jede individuelle
Gestaltung in jede andere überführt, ist deren innere
Verwandtschaft, ist die in der göttlichen Einheit wurzelnde
Wesensidentität.
Hier also hat der Pantheismus die
Entwicklung genommen, die die Existenz und den Sinn der
gesonderten Formen der Dinge zwar nicht von vornherein verneint
— wie es dann auf seiner höchsten Stufe, bei Spinoza, geschieht
— aber sie doch erweicht, miteinander mischt, ihre Sonderrechte
durchbricht, sie nur in der Relation zu und innerhalb der
zentralen, unterbauenden und umfassenden Einheit anerkennt.
Gegenüber der Unbefangenheit, mit der
der Stoizismus die göttliche Alleinheit sich in die individuelle
Form hineinleben liess, gegenüber der Formenstrenge der
Hochrenaissance, deren Pantheismus damit vereinbar scheint, weil
in diesem noch die theistische, irgendwie individualisierende
Gottesvorstellung nachwirkt — ist nun bei Bruno die dem Barock
entsprechende Stufe erreicht.
Bei Rembrandt handelt es sich nicht um
ein Gesamtleben, das die Formen auflöst und ihnen doch in
irgendeinem Sinn äusserlich ist, sondern um das rein
individuelle Leben.
Die Formen verschwinden nicht in der
Einheit des kosmischen Lebens, wie das Einzelne im Allgemeinen,
sondern das einzelne Leben löst von innen die Form auf, diese
ist jetzt das Allgemeine und verschwindet als solches (umgekehrt
wie dort) in der Individualität.
Der Tod
Der Ausdruck der Zusammengehörigkeit
zwischen dem Lebensprinzip und der Individualistik, und ihres
gemeinsamen Gegensatzes zu der klassischen Art der
»Zeitlosigkeit« schliesst noch ein Element ein, dessen Beziehung
zu all diesen Motiven höchst bedeutsam, aber nur wie von fernher
mit Worten zu erfassen ist: den Tod.
Ich sprach oben von dem zeitlich
abgelaufenen Leben der Persönlichkeit, das Rembrandt an der
Schicksalsprägung ihrer Züge — das Nacheinander in das
Mit-einemmale ihres Anblicks hineinzaubernd — fühlbar macht, und
dass unter seinen Porträts Jugendlicher, die dazu weniger Stoff
geben, nur einige Titusbilder den Lebensverlauf wie in der
Drehung der Zeit, im Vorblick, enthalten und entfalten.
Dennoch, ein Punkt der Zukunft, der
überhaupt das Leben erst zu einer Ganzheit macht, und zwar
gerade indem er es abbricht, wohnt in allen tiefsten
Rembrandtporträts: der Tod.
Von vornherein muss das hierüber zu
Sagende seine völlige Unerweislichkeit zugeben.
Nicht nur im Sinne einer Hypothese, die
vielleicht auch nie zweifelsfrei bewahrheitet wird, aber
prinzipiell doch dessen fähig ist.
Solche Deutungen gehören einer ganz
anderen Schicht an, in der das Gelingen, statt in der
Erweislichkeit, vielmehr in einer unmittelbaren Zustimmung
liegt.
Dies wird wohl für die Deutung eines
Kunstwerkes dann eintreten, wenn eine Mehrzahl
auseinanderliegender Eindrücke von diesem vermöge des neu
aufgebrachten Begriffs als miteinander harmonisch und
einheitlich zueinandergehörig empfunden werden.
Dies kann natürlich, wo etwa es
geschieht, nur als Tatsache festgestellt, nicht aber von dem
logischen Zwang jenes Begriffes her deduziert werden.
Unter diesem Vorbehalt also scheint mir
das Moment des Todes, das in allem Lebendigen enthalten ist, in
dem Bilde des Menschen, wie Rembrandt es fasste, nachdrücklicher
und herrschender fühlbar zu sein, als irgendwo sonst in der
Malerei.
Eine bestimmte Empfindung für das
Verhältnis von Leben und Tod scheint mir bei ihm zu bestehen —
dessen theoretischer Ausdruck ihm freilich sehr ferngelegen
hätte — und die tiefste Einsicht in die Bedeutung des Todes zu
enthalten.
Diese hängt, wie ich überzeugt bin,
durchaus daran, dass man die Parzen-Vorstellung abtue: als wäre
in einem bestimmten Zeitmoment der Lebensfaden, der sich bis
dahin als Leben und ausschliesslich als Leben fortspann,
»abgeschnitten«; als wäre es zwar dem Leben bestimmt, an
irgendeinem Punkte seiner Bahn dem Tode zu begegnen, aber erst
in diesem Augenblick überhaupt in Berührung mit ihm zu kommen.
Statt dieser Vorstellung scheint es mir
ganz zweifellos, dass der Tod von vornherein dem Leben einwohnt.
Zwar gelangt er zu makroskopischer
Sichtbarkeit, sozusagen zur Alleinherrschaft erst in jenem einen
Augenblick.
Aber das Leben würde von der Geburt an
und in jedem seiner Momente und Querschnitte ein anderes sein,
wenn wir nicht stürben.
Nicht wie eine Möglichkeit, die
irgendwann einmal Wirklichkeit wird, steht der Tod zum Leben,
sondern unser Leben wird zu dem, als was wir es kennen,
überhaupt nur dadurch geformt, dass wir, wachsend oder
verwelkend, auf der Sonnenhöhe des Lebens wie in den Schatten
seiner Niederungen, immer solche sind, die sterben werden.
Freilich sterben wir erst in der
Zukunft, aber dass wir es tun, ist kein blosses »Schicksal«, das
Sterbenwerden ist nicht einfach eine Vorwegnahme, eine ideelle
Vorschattung unserer letzten Stunde, — obgleich wir es
sprachlich freilich nur als Zukunft, d. h. als ein nicht
Wirkliches zu benennen pflegen, weil es erst in jener Stunde für
unsere Praxis wichtig wird, — sondern es ist eine innere
Immer-Wirklichkeit jeder Gegenwart, ist Färbung und Formung des
Lebens, ohne die das Leben, das wir haben, unausdenkbar
verwandelt wäre.
Der Tod ist eine Beschaffenheit des
organischen Daseins, wie es eine von je mitgebrachte
Beschaffenheit, eine Funktion des Samens ist, die wir so
ausdrücken: dass er einst eine Frucht bringen wird.
Diese Art nun, den Tod zu empfinden,
scheint mir aus Rembrandts Auffassung des Menschen da zu
sprechen, wo er diese aus den letzten Tiefen herausgräbt.
Nicht in einem elegischen oder
pathetisch betonten Sinne.
Denn dieser gerade entsteht, wo der Tod
als eine dem Leben wie von aussen drohende Vergewaltigung
erscheint, als ein Schicksal, das an irgendeiner Stelle unseres
Lebensweges auf uns gewartet hat, unvermeidlich zwar der
Tatsache nach, aber nicht aus der Idee des Lebens heraus
notwendig, sondern ihr sogar widersprechend.
Wird so der Tod vorgestellt als eine
dem Leben unverbundene Macht über dies Leben selbst, so bekommt
er das Grausige, Beklagensmässige, gegen das man entweder
heroisch rebelliert, oder dem man sich lyrisch unterwirft, oder
mit dem man innerlich nichts zu tun hat — wie dies allenthalben
in den »Totentänzen« dargestellt wird; das im seelischen Sinne
Äusserliche dieser Auffassung des Todes symbolisiert sich
treffend damit, dass hier der Tod auch als ein räumlich
ausserhalb seines Opfers stehendes Wesen sichtbar wird.
Anders aber, wenn der Tod unmittelbar
mit und in dem Leben als ein Element dieses selbst empfunden
wird.
Nun sind wir nicht mehr vom Tode
»bedroht« wie von einem von fernher auf uns zukommenden Feind
oder auch — Freund, sondern der Tod ist von vornherein ein
character indelebilis des Lebens.
Darum ist hier auch sozusagen gar nicht
viel von ihm herzumachen, er ist eben von unserem ersten Tage an
in uns, nicht als eine abstrakte Möglichkeit, die sich
irgendwann einmal verwirklichen wird, sondern als das einfache
konkrete So-sein unseres Lebens, wenngleich seine Form und
gleichsam sein Mass sehr wechselnde sind und erst im letzten
Augenblick keine Täuschung mehr zulassen.
Wir sind nicht »dem Tode verfallen«;
all solches kann nur aufkommen, wo das funktionelle und
immanente Element des Todes zu etwas Substanziellem und zu einer
selbständigen Sondergestalt hypostasiert wird — sondern von
vornherein wäre unser Leben und sein gesamtes Phänomen gänzlich
anders, wäre es nicht von dem durchwaltet, was wir nach seinem
Definitivum den Tod nennen.
Eines der tiefsten typischen
Verhältnisse unseres Weltbildes macht sich hier geltend.
Viele unserer wesentlichen
Daseinsbestimmungen ordnen sich zu Gegensatzpaaren, so dass der
eine Begriff seinen Sinn erst an der Korrelation mit dem andern
findet: das Gute und das Böse, das Männliche und das Weibliche,
das Verdienst und die Schuld, der Fortschritt und der Stillstand
und unzähliges andere.
Die Relativität des einen findet Grenze
und Form an der des andern.
Nun aber werden oftmals diese beiden
Relativitäten noch einmal umfasst von einem absoluten Sinne, den
eine von beiden erwirbt.
Gewiss schliesst Gutes und Böses in
beider relativem Sinne sich gegenseitig aus; vielleicht aber ist
das Dasein in einem absoluten göttlichen Sinn schlechthin gut,
und dieses Gute birgt in sich das relativ Gute wie das relativ
Böse.
Gewiss bekämpfen sich unversöhnlich der
geistige Fortschritt und der geistige Stillstand; vielleicht
aber ist der Weltprozess des Geistes ein absolutes
Fortschreiten, in dem das empirisch so bezeichnete etwas
Relatives ist und in das auch das, was wir Stillstand nennen,
sich als ein Modus des Fortschreitens einordnet.
Und so vielleicht sind Leben und Tod,
insofern sie einander logisch und physisch auszuschliessen
scheinen, doch nur relative Gegensätze, umgriffen vom Leben in
dessen absolutem Sinne, der das gegenseitige Sichbegrenzen und
Sichbedingen von Leben und Tod unterbaut und übergreift.
Mag man nun die Immanenz des Todes im
Leben metaphysisch so oder anders ausdrücken: die Grundtatsache
selbst scheinen mir die tiefsten Rembrandt-Porträts zu
verkünden.
Dies und die darin liegende Einzigkeit
seiner Kunst zu begreifen, bedarf es eines weiteren Blickes auf
sein Verhältnis zur Klassik.
Wir konnten schon auf einen ziemlich
allgemeinen Eindruck von der klassischen und von der
Rembrandtschen Kunst hin sagen, dass jene auf die gewissermassen
abstrakten Formen geht, die das Leben an seiner Oberfläche
ablagert und festwerden lässt, diese aber auf das Leben in
seiner Unmittelbarkeit.
Die griechische Kunst will nicht vom
Leben fort, nicht von ihm erlösen, wie vielleicht die
ägyptisch-hieratische und die altostasiatische Kunst.
Aber darum ist doch nicht die jeweilige
Einreihigkeit und Individualität, in der es zeitlich verfliesst,
ihr Absehen, sondern die diesem Fluss mindestens scheinbar
enthobene Struktur, in der das Leben sich, festgeworden, nach
aussen hin ausspricht; sie sucht deshalb die Gesetzlichkeit, mit
der die Elemente seines Phänomens zusammenhängen, und die, eben
als Gesetzlichkeit, aller Zeit und aller Individualität enthoben
ist, und nicht, wie bei Rembrandt, von der inneren, unsichtbaren
und, wenn man will, formlosen Lebendigkeit in jedem Augenblick
gespeist, gehoben und gesenkt wird.
Von der allgemeinen Gesetzlichkeit der
Form trägt in der klassischen Kunst das einzelne Gebilde seine
Bedeutung zu Lehen, und daher stammt eben das schon berührte
Repräsentative, in gewissem Masse Schauspielerische, das der
griechischen Kunst, ja vielleicht dem griechischen Leben
anhaftet: das Individuum ist hier nicht schlechthin es selbst,
sondern es repräsentiert ein Allgemeines, wie die Rolle ein
Ideelles, Allgemeines ist, die dem einzelnen Schauspieler Sinn
und Inhalt seines Daseins gibt.
Dies: ein Überindividuelles zu
vertreten und damit den Wert der Individualität zu erschöpfen, —
gibt der griechischen Erscheinung ihre Würde und ihren Stolz,
aber auch die Ange: wiesenheit auf das Gesehen- und
Anerkanntwerden, und von daher verknüpft sich das
Allgemeinheitsprinzip mit jener Richtung auf das nach aussen hin
Gebildete, auf dasjenige Kunstphänomen des Lebens, das dessen
Bewegtheit in ein festes Gebilde gerinnen lässt.
Zu höchst hat Plato — wie ich
gleichfalls schon andeutete — dies abstrakt ausgedrückt, indem
die Dinge ihm nichts sind, als die Repräsentanten der Idee,
nicht von sich aus bedeutungsvoll, sondern insofern sie ein
Allgemeines in die Form sichtbarer Wirklichkeit überführen.
Für Plato ist das Einzelding der
Schauspieler der Idee, es spielt die Rolle, die ihm und
unzähligen andern Individualitäten ideell vorgeschrieben ist,
und, wie der Schauspieler als solcher, ist es ein Etwas nur von
diesem allgemeinen Auftrag her; die Idee kann von vielen
Einzeldingen dargestellt werden, wie die Rolle von vielen
Schauspielern.
Hier also, ich wiederhole es, liegt die
tiefe Beziehung zwischen der klassischen Abwendung von der
reinen Individualität und der Hinwendung zu der
selbstgenügsamen, eigengesetzlichen äusseren Form des Lebens,
die seine unsichtbare, nicht in festen Strukturen ergreifbare
innerliche Strömung verschweigt.
Rembrandt aber hat seinen
vollkommensten Porträts die flutende, jede Form von innen her
überflutende Bewegung des vollen Lebens selbst eingeflösst.
Und nun erst, zu unserer Deutung des
Todes zurücksehend, kommt dies zu seinem ganzen Sinn.
Jene Porträts enthalten das Leben in
seiner weitesten Bedeutung, in der es auch den Tod einschliesst.
Alles, was bloss Leben ist, derart,
dass es den Tod aus sich entfremdet hat, ist Leben in einem
engeren Sinne, ist gewissermassen eine Abstraktion.
Bei vielen italienischen Porträts hat
man den Eindruck, dass diesen Menschen der Tod in Form eines
Dolchstosses kommen würde, — bei den Rembrandtschen, als würde
er die stetige Weiterentwicklung dieser fliessenden
Lebensganzheit sein, wie der Strom, indem er in das Meer mündet,
doch nicht durch ein neues Element vergewaltigt wird, sondern
nur seinem natürlichen, von je bestehenden Fall folgt.
Rubenssche Menschen haben scheinbar ein
viel volleres, ungehemmteres, elementarer mächtiges Leben als
die Rembrandtschen; aber um den Preis, eben jene Abstraktion aus
dem Leben darzustellen, die man gewinnt, wenn man aus dem Leben
den Tod weglässt.
Rembrandts Menschen haben das
Dämmernde, Gedämpfte, in ein Dunkel hinein Fragende, das eben in
seiner deutlichsten, schliesslich einmal alleinherrschenden
Erscheinung Tod heisst, und um gerade soviel weniger Leben
scheinen sie, oberflächlich angesehen, zu enthalten; in
Wirklichkeit enthalten sie gerade dadurch das ganze Leben.
Dies gilt zwar hauptsächlich von seinen
späten Porträts, aber doch nicht ganz ausschliesslich.
Sieht man das Dresdener Selbstporträt
mit Saskia genau an, so erscheint seine schattenlose
Lebensfreude ein wenig künstlich, als wäre sie zwar für jetzt an
die Oberfläche seines Wesens getreten, in dessen Tiefe aber mit
schwereren, sich aus der Ferne erstreckenden Unentrinnbarkeiten
verwachsen.
Fast erschreckend deutlich wird dies,
wenn man das lachende Selbstporträt der Carstanjenschen Sammlung
(34 Jahre nach jenem) daneben betrachtet.
Hier ist das Lachen unverkennbar etwas
rein Momentanes, sozusagen als zufällige Kombination aus
Lebenselementen zustande gekommen, deren jedes für sich völlig
anders gestimmt ist, das Ganze wie vom Tode durchzogen und auf
ihn hin orientiert.
Und nun besteht zwischen beiden die
unheimlichste Ähnlichkeit: das Grinsen des Greises erscheint nur
als die Weiterentwicklung jener jugendlichen Fröhlichkeit, und
als wäre das Todeselement im Leben, das sich in dieser auf die
tiefsten, unsichtbaren Schichten zurückgezogen hat, nun bis an
die Oberfläche gedrungen.
Nur noch in den Shakespeareschen
Tragödien glaube ich, hat der Tod eine entsprechende Bedeutung
für das Leben.
Bei allen anderen Dramatikern erscheint
er mir wie der Deus ex machina, der die Verwicklungen von Seele
und Schicksal abschneidet, wenn sie in sich selbst das Stadium
der Unlösbarkeit erreicht haben.
Dass der Held stirbt, ist hier nicht
von innen her und nicht von vornherein notwendig, sondern
angesichts von Ereignissen, die an und für sich aus reinen
Lebensgesetzen entwickelt sind, bleibt ihm schliesslich nichts
anderes übrig; er bringt den Tod sozusagen nicht mit, sondern
begegnet ihm erst an einem bestimmten Punkte, auf den hin
freilich sein Weg geführt wird.
Shakespeares tragische Helden aber
haben in ihrem Leben und dessen Weltverhältnis den Tod gleichsam
als dessen apriorische Bestimmung, er ist nicht die Konsequenz,
sondern die Immanenz ihrer Lebensindividualität; das Reifwerden
ihres Schicksals ist zugleich — als wäre beides der Ausdruck für
dieselbe Sache — das Reifwerden ihres Todes.
Deshalb wirkt er, wenn er wirklich
eintritt, eigentlich nur noch symbolisch: das vergiftete Rapier
des Laertes und die etwas zu lange Wirkung von Julias
Schlaftrunk sind so äusserliche und billige Mittel, dass die
Gleichgültigkeit davon, auf welche Weise der Tod sich zu einem
bestimmten Zeitpunkt realisiert, klar hervortritt.
Darum ist auch nur hier der Tod
wahrhaft tragisch; denn so werden wir nur dasjenige nennen, was,
indem es das Leben zerstört, doch aus dessen eigenem Gesetz und
Sinn kommt, was zwar den Lebenswillen überwältigt, aber doch
zugleich und damit dessen letzten, geheimsten Auftrag erfüllt.
Aber darum sterben auch nur die
wirklich tragischen Helden Shakespeares diesen Tod, nicht die
gleichfalls zugrundegehen- den Nebenpersonen; denn nur in jenen
ist das Leben so gross und weit, dass es, schon oder noch als
Leben, den Tod in sich einschliessen kann.
Ganz allgemein hat der Gedanke des Todes ein bemerkenswertes
Verhältnis zur künstlerischen Darstellung des Menschen.
Weil das Porträt nicht nur Jahrhunderte
oder Jahrtausende leben kann, sondern weil es seinem Inhalt, als
einem künstlerischen, Zeitlosigkeit verleiht, wird an ihm die
Spannung fühlbar: dass es eben doch ein vergängliches Wesen ist,
das es darstellt.
An dem bewegten Leben, das auch den
Betrachter in seine Strömung mitreisst, mag uns der mit ihm
verwachsene Tod völlig entschwinden, schon weil er fast
durchgehends — ob mit Recht, bleibe vorläufig dahingestellt —
als das immer Gleiche und Generelle gilt; dieses aber schaltet
das gewöhnliche Bewusstsein aus, um sich an die Wichtigkeit der
Unterschiede des Lebens zu heften.
Wo aber das Gebilde diese unmittelbare
Bewegtheit verliert, die uns gewissermassen über den Tod täuscht
und ihn zu dementieren scheint, da wird er bei genauerem
Hinempfinden sichtbar.
Wenigstens scheint mir dies einer der
wesentlichsten Eindrucksunterschiede des realen und des
künstlerisch nachgestalteten Menschengebildes zu sein: dass an
diesem, weil es in der Sphäre jenseits des verfliessenden Lebens
steht, der Tod gerade durch den Gegensatz zu dieser Sphäre
irgendwie spürbar wird — denn der Tod ist ein stärkerer
Widersacher gegen das Zeitlose, als das Leben es ist; gerade in
die Porträtgestalt erscheint mir, freilich in verschiedensten
Deutlichkeiten, der Tod, das Ephemere unseres Lebens, die
Vergänglichkeitsbestimmung, so eingewebt, dass es nicht
herausgelöst werden kann, ohne das Ganze zu zerstören.
Aber innerhalb dieses Allgemeinen
treten grosse Unterschiede auseinander.
Die ganze Tiefe des Gegensatzes
zwischen der Zeitlichkeit des sterblichen Wesens und der
Zeitlosigkeit seiner Kunstformung herauszuarbeiten, war nicht
Sache der klassischen Kunst.
Sie suchte ihn — einige bedeutsame
Ausnahmen vorbehalten — vielmehr zu überbrücken, zu
vereinheitlichen, indem sie ihren Gegenstand in seiner ganzen
Beschaffenheit und Bedeutung in die Sphäre der Zeitlosigkeit
hob.
Sie erreichte das dadurch, dass sie ihn
typisierte. Nur das Individuum stirbt, der Typus nicht.
Indem sie sich von jenem entfernte und
diesen darstellte, verminderte sie die Spannung zwischen der
Kunstform als solcher und ihrem jeweiligen Inhalt, stellte sie
die Idee der Zeitlosigkeit über beide.
Sie hat die Gegenstände schon als
künstlerisches Material auf diejenige Schicht oder diejenige
Bedeutung reduziert, in der sie wie von selbst und
widerstandslos in den allgemeinen Stil eingingen, auf dasjenige,
was von vornherein und schon an ihnen selbst als zeitlos gelten
kann: also ihren Typus, ihr abstrakt — wenn auch nicht mit
Begriffen — ausdrückbares generelles Wesen.
Der Gegenstand selbst musste nach dem,
was man an ihm selbst sah und was man von ihm in die
Kunstschöpfung hineinnahm, in der Nähe des Stiles verbleiben,
der diese bestimmte.
Die künstlerische Zeitlosigkeit hielt
sich an das ihr zunächst assimilierbare Objekt, an das
Unsterbliche an der menschlichen Erscheinung; welches eben die
Gattung, der Typus einer jeden ist, das, was an ihr dem Tode
fremd ist.
Nichts kann diesen Zusammenhang besser
beweisen, als dass er mit umgekehrtem Vorzeichen ganz ebenso
besteht.
Jene Fühlbarkeit des Todes in den
grössten Rembrandtporträts entspricht dem Masse, in dem sie die
absolute Individualität der Person als ihren Gegenstand
aufnehmen.
Und dies ist von innen her begreiflich.
Der Typus, sagte ich, stirbt nicht, aber das Individuum stirbt.
Und je individueller also der Mensch
ist, desto »sterblicher« ist er, denn das Einzige ist eben
unvertretbar und sein Verschwinden ist deshalb umso definitiver,
je mehr es einzig ist.
Jene Organismen, bei denen das
Einzelwesen sich einfach durch Teilung in zwei Wesen fortpflanzt
und damit restlos verschwindet, sind sicher die niederste Stufe
der Individualisierung; und gerade auf sie hat man den Begriff
des Todes für unanwendbar erklärt, weil ihr Verschwinden keine
Leiche zurücklässt.
Das absolute Aufgehen in der
Gattungsfortsetzung, das dem Einzelwesen nicht einmal eine
Leiche gönnt, verneint den Tod.
Daher finden wir bei Völkern, die entweder aus Unentwickeltheit
oder prinzipiell aus ihrer sozialen Kultur heraus die
Individualität als eigentliches Wertprinzip ausschliessen, eine
grosse Gleichgültigkeit gegen den Tod.
Wer sein Wesen auf die Form beschränkt
oder, wenn man will, zu ihr erweitert hätte, in der er mit
seinem Typus, mit dem Allgemeinbegriff seiner Gattung Eines ist,
der wäre im tieferen Sinne in aller Zeit und über der Zeit.
Wer aber einzig ist, wessen Form mit
ihm vergeht, der allein stirbt sozusagen definitiv: in der Tiefe
der Individualität als solcher ist das Verhängnis des Todes
verankert. — Goethe hat dies scheinbar anders empfunden, indem
er dem Menschen gerade nur im Mass seiner Bedeutung
Unsterblichkeit zubilligen will.
Aber er sieht dabei in einer andern
Richtung, als unser jetziger Blick sie einschlägt.
Ihn beunruhigt der Widerspruch zwischen
dem Kraftmass, das die bedeutende Persönlichkeit in sich fühlt,
und der Lebensdauer, die dieser Kraft keine bis zu ihrem Ende
reichende Entfaltung gönnt.
Und darum fordert er eine
Weiterexistenz, in der sie sich ausleben, auswirken könne.
Nur von der »Tätigkeit« spricht er, die
das irdische Dasein überdauern müsse; nicht aber, dass dafür die
Form der irdischen Individualität zu erhoffen sei, ja, er setzt
dafür — ohne eine genauere Vermutung — gerade »eine andere Form
des Daseins« voraus.
Über jene äusserste Beziehung aber
zwischen Individualität und Tod erhebt sich eine neue
Problematik, sobald die Individualität zum Gegenstande der Kunst
wird, von der sie nun doch Unsterblichkeit und Unzeitlichkeit zu
Lehen trägt.
Die so entstehende Spannung blieb der
klassischen Kunst erspart, weil sie ja den Typus, der von sich
aus diese Eigenschaften besitzt, zum Gegenstand hatte,
künstlerische Intention und Gegenstand also insoweit in eine und
dieselbe Richtung wiesen.
Etwas Fragwürdiges und irgendwie
Widerspruchsvolles (so tief sinnvoll dieser Widerspruch auch
sei) haftet deshalb an aller auf die Individualität hin
pointierten künstlerischen Darstellung: so haben alle sehr
individuellen Porträts einen leiseren oder deutlicheren
tragischen Zug, so sind alle tragischen Helden Shakespeares
scharfe Individualitäten, während alle seine Lustspielfiguren
Typen sind; so hat die italienische Kunst, weil sie typisiert,
etwas Heiteres, die germanische, mit ihrer individualistischen
Leidenschaft, oft etwas Zerrissenes; jenes eigentümlich
Unabgeschlossene gegenüber der Abgerundetheit des Klassischen,
das ins Unendliche Weiterstrebende der germanischen Kunst, als
würde man von jeder endlichen und beruhigenden Lösung immer
weiter einem erst zu Gewinnenden oder niemals zu Gewinnenden
zugetrieben, — dies speist sich vielleicht aus der
Unversöhnlichkeit der Individualität, in die der Tod eingewebt
ist, mit der Kunst, die rein als Kunst über dem Tode steht.
Das Leben aber erzeugt sich nur in der
Form von Individuen, und darum spannt sich an ihnen der
Gegensatz von Leben und Tod am gewaltsamsten: das individuellste
Wesen stirbt am gründlichsten, weil es am gründlichsten lebt.
Der äussersten Hochführung der
Individualitätsidee, von der ich in der lyrischen Kunst weiss,
unterbaut sich gerade die Deutung des Todes, die ihn allem
Leben, das wir kennen, als einen unablöslich bestimmenden Faktor
einwohnen lässt. Sie steht bei Rainer Maria Rilke:
O Herr, gib jedem seinen eignen
Tod,
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
Darin er Liebe hatte, Sinn und Not.
Hier verneint sich, wenn auch in
idealer Vision, die Allgemeinheit des Todes.
Eben damit aber wird er unmittelbar in
das Leben selbst eingesenkt.
Denn solange der Tod ausserhalb des
Lebens steht, solange er — in dem dafür bezeichnenden räumlichen
Symbol — der Knochenmann ist, der plötzlich an uns herantritt,
ist er natürlich für alle Wesen einer und derselbe.
Zugleich mit seinem Gegenüber-vom-Leben
verliert er seine Immergleichheit und Allgemeinheit; in dem
Masse, in dem er individuell wird, in dem »jeder seinen eignen
Tod« stirbt, ist er dem Leben als Leben verhaftet und damit
dessen Wirklichkeitsform, der Individualität.
Fasst man also den Tod nicht als ein
draussen wartendes, gewalttätiges Wesen, ein erst in einem
bestimmten Moment über uns kommendes Schicksal, begreift man
vielmehr seine unlösbar tiefe Immanenz im Leben selbst, so ist
der aus so vielen Rembrandtporträts heimlich hervordunkelnde Tod
doch nur ein Symptom davon, wie unbedingt sich in seiner Kunst
gerade das Prinzip des Lebens mit dem der Individualität
verbindet.
Der Charakter
Es ist nun an dieser Form der
Individualisierung zuerst überraschend, bei genauerem Hinsehen
aber doch begreiflich, dass Rembrandts Gesichter eigentlich
weniger das zeigen, was man den »Charakter« des Menschen nennt,
das dauernd Wirksame, ein für allemal dem Menschen Mitgegebene.
Unser Lebensverlauf, seine Aktivität
wie seine Passivität, scheint uns durch diesen unvariablen
Faktor unserer Seinsqualität und die peripherischen oder
äusseren Wechselereignisse in Zusammenwirksamkeit bestimmt.
Die Richtung der Porträtkunst, die in
Tizian aufgegipfelt, von den Porträtbüsten Berninis und Houdons
weitergeführt und insbesondere von Lenbach wieder aufgenommen
ist, sucht diesen »Charakter«, dieses subjektive Apriori des
Lebensverlaufes aus der Gesamterscheinung herauszulesen und zum
eigentlichen Darstellungsgegenstand zu machen.
Ein italienischer Kunsthistoriker des
17. Jahrhunderts rühmt es, dass bedeutende Künstler besonders je
eine Charaktereigenschaft des Porträtierten hervorgehoben haben,
wie Tizian an Ariost die Facundia.
Für Rembrandt aber ist dieses Feste,
Durchhaltende, relativ Zeitlose der Persönlichkeit in den Fluss
ihrer Gesamtschicksale aufgelöst.
Die Vielheit des Lebens, zu deren
Entwicklung es seiner ganzen Zeitausdehnung bedarf, zerfällt für
ihn nicht in jenen festen und den relativ zufälligen Bestandteil
blosser, mehr oder weniger äusserlicher »Schicksale«; sondern
das Leben, mag man es nun auch als eine Aufeinanderfolge von
Schicksalen, seelischen Wendungen, Erlebnissen bezeichnen,
wandelt sich zwar in jedem Augenblick, aber es ist in jedem
Augenblick eine Einheit, in der Charakter und Geschichte sich
innerlich nicht scheiden, (wie Goethe es ausdrückt: »Die
Geschichte des Menschen ist sein Charakter«) — und die sich als
diese Ganzheit in seiner Erscheinung, dem Gegenstand des
Porträtisten, niederschlägt.
Indem der Charakter, die innerliche
Zentralität des Menschen, sich nicht mehr von seinen Schicksalen
sondert, werden diese ihrerseits viel tiefer in den Lebensgrund
versenkt.
Tizian zeichnet mehr die
charakterologische Grundlage des Gesamtlebens, Rembrandt mehr
dessen Erfolg; dazwischen liegen die einzelnen Schicksale
selbst, die sich in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit der
malerischen Formung entziehen; jener das Zeitlose an der
Individualität, das prinzipiell, wenn auch nicht unsrer
wirklichen Fähigkeit nach, mit Begriffen beschrieben werden
kann, wie denn die Kunst der Hochrenaissance, gerade mit
Rembrandt verglichen, einen gewissen literarischen Einschlag
hat; Rembrandts grössten Porträts aber gegenüber wäre man oft in
Verlegenheit, wenn man irgendwie angeben oder auch nur sich
innerlich klar werden sollte, welchen »Charakter« eigentlich die
dargestellte Person besässe.
Wie ich anderwärts zu erwähnen habe,
zeigen in dieser Hinsicht die Staalmeesters eine leise
Abweichung von den übrigen Porträts seiner Spätzeit.
Wenn Rembrandt, wie mir scheint, bei
diesen eine strengere Porträtähnlichkeit als sonst herausbringen
wollte, so könnte dies der Grund für den Eindruck irgend
beschreiblicherer Charaktere sein, den sie machen.
Denn wo Ähnlichkeit relativ von aussen
her gesucht wird, also einen Hauch von Mechanischem hat, dringt
man vielleicht nicht bis zur Schicht der letzten Individualität
hinunter, sondern nur bis zu der, wo noch mit anderen
Gemeinsames und Vergleichbares, kurz jene begriffliche
Ausdrückbarkeit besteht, die dem als »Charakter« erfassten
Menschen zukommt.
Die traditionellen »Temperamente« sind
ja nichts als solche, in einer Schicht sehr hoher
Verallgemeinerung und deshalb sehr deutlicher Bezeichenbarkeit
festgelegte Charaktere.
Weil damit aber eine ganz andere
Struktur als in der von innen erfassten Lebendigkeit, also als
in der Einheit der wirklichen Individualität, gegeben ist, so
ist die Folge, dass das der letzteren gemässe Gebilde, wenn man
es in den Charakterkategorien ausdrücken will, immer aus sehr
mannigfaltigen Charakteren zusammengesetzt scheint.
Man hat deshalb hinsichtlich der
Temperamente in Anwendung auf Hamlet gesagt: der Melancholiker
Hamlet zürne cholerisch auf sein Phlegma und breche in
sanguinische Freude über die gelungene Finte aus.
Es liegt auf der Hand, dass man mit so
bezeichenbaren, vergleichsweise äusseren Charakterzügen an das
wirkliche Individuum als solches, wie Rembrandt und Shakespeare
es aus dessen innerem Einzigkeitspunkt heraus bilden, nie
eigentlich herankommen kann — als wollte man eine Kurve mit
lauter aneinandergesetzten geraden Linien nachzeichnen.
Dass das, was man Charakter nennt, sich
aus angebbaren und also allgemeinen Qualitäten zusammensetzt,
bildet eine, wenn gleich negative Voraussetzung für gewisse
Vorstellungen der Mystik, die man mit der Paradoxe bezeichnen
muss: das Individuelle ist das Allgemeine.
Eckhart lehrt, man dürfe Gott nicht lieben, weil er gütig,
gerecht, mächtig usw. wäre — denn dies seien einzelne, bestimmte
Qualitäten, die ihm seine absolute Einheit, sein »Nichts«-Sein
nehmen.
Anders ausgedrückt: dadurch, dass er
diese allgemeinen Eigenschaften besitzt, wird er etwas
Besonderes, wird er individualisiert.
Man dürfe ihn nur lieben, weil er eben
er sei. Er steht hier also jenseits des ganzen Gegensatzes von
Individuellem (d. h. hier: singulär Angebbarem) und Allgemeinem,
diese Korrelation und Alternative berührt ihn nicht, aber gerade
dadurch wird sie als Korrelation, ein in sich Zusammengehöriges
gezeigt.
Im übrigen braucht wohl nicht abgewehrt
zu werden, dass Rembrandt seine Modelle als »charakterlos« zur
Anschauung brächte, denn Charakterlosigkeit würde in dem hier
fraglichen, ganz allgemeinen Sinne ein sehr entschiedener
Charakter der Person sein.
Es handelt sich nur darum, dass jenes
der Lebensbewegtheit entzogene Abstraktum aus ihr, das wir den
Charakter nennen, von Rembrandt nicht gesondert oder zentral
betont wird.
Mag es richtig sein, dass diese
Abstraktion gewissermassen auf den eisernen Fond der
Subjektivität hinweist, auf das Element, das durch alles Gewoge
der Gesamtexistenz hindurch seine unveränderliche Wirksamkeit
erhält.
Gewaltiger aber erscheint mir die
Rembrandtsche Aufgabe, eben diese Gesamtexistenz, das
»Schicksal« in der Ungeschiedenheit seiner veränderlichen und
unveränderlichen Elemente an der von ihm geformten Erscheinung
zu zeigen, die nun nicht nur das Symbol des ewig Gleichen dieser
Individualität ist.
Will man aber hier doch mit der
Rücksicht auf Elemente als einzelne reden, so steigt im
Verhältnis ihrer unermesslichen Vermehrung, die auf diese Weise
die Erscheinung bestimmt, die Gewissheit, dass eben die gleichen
sich nicht an einem zweiten Punkte des Daseins zusammenfinden
werden, steigt ihre Individualität.
Schönheit und Vollkommenheit
Vielleicht hängt mit dieser
Konstellation das Gefühl zusammen, das einem — namentlich nach
langer Beeindrucktheit durch klassische und romanische Kunst —
gegenüber manchen Rembrandtschen Gestalten kommt: als wäre, was
wir Schönheit nennen, eigentlich nur eine äusserliche Zufügung
zum Wesen des Menschen, die an seiner Oberflächenschicht hängen
geblieben ist — nicht aus dem innersten Quellpunkt des Wesens
mit dem Leben selbst entwickelt, sondern etwas wie ein Rahmen
oder eine Schematik, in die der Mensch hineingestellt ist.
Gewiss gibt es andere zu recht
bestehende Auffassungen der Schönheit, die sie dem Leben tiefer
verbinden.
Allein es ist doch eine eigentümliche
Tatsache, dass von allen grossen Werten, mit denen unser Geist
dem Dasein Bedeutung gibt, nur die Schönheit sich auch am
Unlebendigen verwirklicht.
Nur das Beseelte kann sittliche Werte
erzeugen, nur für den Geist kann es Wahrheit geben, nur das
Lebendige kann Kraft in einem tieferen, wertmässigen Sinne — im
Unterschied gegen die blossen Energiesummen mechanischer
Bewegung — erzeugen; Schönheit aber kann an dem Stein, an dem
Wassersturz und seinem Regenbogen, an dem Zug und der Färbung
der Wolken haften, am Unorganischen wie am Organischen.
Wo das Spezifische des Lebens seinen
unmittelbaren Ausdruck sucht wie bei Rembrandt, da ist die
Schönheit etwas zu Weites, das Leben als solches zu sehr
Übergreifendes, um das Gebilde an sie zu binden.
Und wo Schönheit am tiefsten erfasst
wird, da ist sie zwar das Symbol letzter Daseinswerte,
sittlicher, vitaler, gattungsmässiger Art, aber immerhin ein
Symbol, mag dies auch in mittelbarer Weise auf den tiefsten
Grund der Dinge hinweisen.
Rembrandts künstlerisches Wesen aber
wird gerade durch den Verzicht auf alle Symbolik bezeichnet,
durch ein unmittelbares Erfassen des Lebens.
In dieser Unmittelbarkeit, mit der die
Rembrandtschen Menschen ihr Leben fühlen lassen, liegt das, was
man seinen Realismus nennen könnte und was ihn gegen das
Spezifische der Schönheit gleichgültig macht.
Denn alle auf die Tendenz zu dieser
beschränkte Kunst ist entweder flach, oder wo sie Tiefe hat, ist
sie symbolisch, d. h. sie entfernt sich von jener
Unmittelbarkeit, um uns Werte und Bedeutsamkeiten in der Form
von Ahnung oder Gleichnis, von Idee oder Stimmung zuzuführen.
So mag es zusammenhängen, dass die
Rembrandtschen Gestalten, deren ungeheure Bedeutsamkeit und
Beeindruckung sich aus dem Wurzelpunkt des Lebens, seinen
Triebkräften allein überlassen, entwickelt, mit alledem nicht
zur »Schönheit« geführt sind.
Es ist doch kein historischer Zufall,
dass unser Schönheitsbegriff im grossen und ganzen und beliebig
viele Ausnahmen zugegeben, von dem klassischen Formideal
ressortiert, von jener Klassik, deren Sinn nicht auf die
schöpferische Strömung des Lebens, sondern auf die formalen
Verhältnisse seiner nach aussen abgelagerten Erscheinung geht.
Wenn Rembrandts Menschen, an diesem
Ideal gemessen, so vielfach »hässlich« sind, so hat dies den
tieferen Grund, dass die ganze Schicht, als deren ideale Norm
unser konventioneller Schönheitsbegriff entstanden ist,
überhaupt nicht der Ort seiner bildnerischen Intention ist.
Damit ist nicht nur die »Schönheit« der
menschlichen Gestalten gemeint, die innerhalb des Kunstwerks für
den nicht besonders kritischen Standpunkt überhaupt eine
eigentümlich zweideutige Rolle spielt.
Soweit ein solcher der unkünstlerisch
populäre ist, ist die Schönheit oder Unschönheit der Bildgestalt
einfach gleich der Schönheit oder Unschönheit des wirklichen
lebendigen Menschen, den die Phantasie als das Urbild jener
vorstellt.
Umgekehrt, der Formalismus des
Artistentums verbietet sich jegliche Beziehung des Kunstwerks
auf eine ausserhalb seines Rahmens gelegene Realität, der Mensch
innerhalb seiner bedeutet ihm genau nur das auf der Leinwand
Sichtbare, und seine Schönheit oder Unschönheit ist die ganz
unmittelbare der Linien und Farben, gleichviel ob diese
ausserdem einen Menschen darstellen oder ein Ornament.
Unserer tatsächlichen Empfindung des
Kunstwerks indes und seiner inneren Absicht scheint ein Drittes
zugrunde zu liegen.
Die von dem Kunstgebilde wirklich und
wirksam erregte Vorstellung scheint jene beiden Einseitigkeiten
in einer vorläufig nicht recht beschreiblichen Art
zusammenzubringen.
Wir sehen, insoweit wir künstlerisch
sehen, weder den Menschen jenseits der Farbflecke, die ihn
bedeuten, noch die Farbflecke jenseits des Menschen, den sie
bedeuten, sondern ein neues Gebilde, dessen Einheit die alte
Ahnung bewahrheitet, dass in der Kunst der Gegensatz von blossem
Denken und blosser Sinnlichkeit aufgehoben ist.
Es vollzieht sich damit das Wunder,
dass eine Anzahl nebeneinander gesetzter Farbflecke ein zentral
zusammengehaltenes Leben bekommen, welches ein anderes ist, als
das unter der Kategorie der Wirklichkeit vorgestellte.
Wenn wir auch nicht, wie es die
Naivität meint und wie die Photographie es erfüllt, durch das
Porträt hindurch einfach den Menschen sehen, den es darstellt,
so sehen wir dennoch tatsächlich etwas anderes, als wenn wir
überhaupt nicht wüssten, was ein Mensch ist.
Die populäre wie die rein »artistische«
Betrachtung sind tatsächlich Abstraktionen aus diesem
einheitlichen Gebilde: dem Menschen insoweit er Kunstwerk ist —
welches koordiniert neben dem andern steht, dem Menschen
insoweit er empirische Wirklichkeit ist.
Dennoch wird unleugbar dieses zentrale
Kunsterlebnis von jenen einseitigen wie von Verdunstungen, die
seine Einheit an ihrer Peripherie zerlegen, umgeben, wie eine
weiss belichtete Fläche sich an ihren Rändern in einzelne Farben
auflöst.
So wird niemand in Rembrandts Bildern
eine — freilich nach Epochen sehr verschiedene — Freude an der
farbigen Erscheinung rein als solcher verkennen.
Seine Leidenschaft für die Schönheit
der schönen Dinge, für Waffen und Geschmeide, für alte Gewebe
mit ihren gebrochenen und ihren glühenden Farben, für die
sinnlich erregenden exotischen Kuriositäten, — diese
Leidenschaft verlangt auch von der Bildfläche, als
Farbensymphonie, eine gegen alle »Bedeutung«, allen mit ihr
ausgedrückten Sinn ihrer Objekte gleichgültige Schönheit.
Hier macht sich ein reines, von dem
zentralen oder Gesamtwert des Werkes unabhängiges Artistentum
geltend, hier sucht er die über den Abgründen schwebende, ganz
im Phänomen aufgehende Schönheit.
Allein zunächst scheint es, als ob mit
steigendem Alter und wachsender Vertiefung diese Richtung sich
verloren, höchstens in der Form wechselnder, technisch
malerischer Sonderprobleme weitergelebt hätte und sich
schliesslich in Bildern wie der Judenbraut und dem
Braunschweiger Familienbild in das vibrierende, alle
Einzelqualität ablehnende Leben der Gesamtgestaltung ohne
Rückstand aufgelöst hätte.
In dem, freilich nur wenig früheren,
Saul und David (im Haag) zeigen diese Elemente einen gewissen
Dualismus.
Hier ist ein Sprühen und ein Rausch von
Stoffen und Farben, sozusagen eine eudämonistische Schönheit und
rein malerische Vollendung, die pointiert und um ihrer selbst
willen gesucht erscheint.
Und dazu nun eine tiefste seelische
Erschütterung, ein nacktes Hervorbrechen des innersten Lebens,
von dem all jene Pracht überflutet wird und vor dem sie
verblasst.
Auf das bloss Prinzipielle angesehen,
ist hiermit der Konflikt gegeben, der Michelangelos Leben
spaltete, die Leidenschaft für die sinnliche Schönheit im Dasein
und das Durchdrungensein davon, dass seine innerlichen und
transzendenten Werte, die es in letzter Instanz retten oder
vernichten, davon nicht berührt werden, ja dass die Wegrichtung
auf das erscheinungshafte Schöne die andere, auf die Seele und
ihre Entscheidung gerichtete, ablenke und lähme.
Zu dieser Schärfe steigert sich der
Gegensatz, den wir hier und da Rembrandts Schöpfungen entnehmen
können, an keiner Stelle.
Denn er forderte niemals der Schönheit
die entscheidenden seelischen Werte ab, wie es Michelangelo tat,
der an der Uneinlösbarkeit dieser Forderung zerbrach.
So mächtig ihn, wenigstens zeitweise,
die anschauliche Schönheit bezauberte, sie blieb ihm als solche
immer etwas Äusserliches, das die Seele in ihrem sich selbst
gehörenden Leben und ihrem Ausdruck gewissermassen nicht
berührte und sich gerade deshalb friedlicher mit ihr vertrug.
Dieses Nebeneinander des
Artistisch-Sinnlichen und des Seelisch-Intensiven bedeutet eine
grössere Fremdheit zwischen ihnen, als ihre furchtbare und
tragische Spannung, die Michelangelo erlebte und mit der Gewalt
seines Schöpfertums zu Werken bändigte.
Unleugbar steht in manchen Werken
Rembrandts jene Freude an der Köstlichkeit des Sichtbaren und
des Malerischen als solchen ziemlich unvermittelt neben dem
Ausdruck des innerlichsten, aus schlechthin unsinnlichen Tiefen
hervorbrechenden Lebens.
Mag dies neben der Einheit, zu der
Michelangelo die Gegensätze der Daseinswerte zusammenzwang, als
eine Unvollkommenheit erscheinen: es ist ein mehr singuläres,
sozusagen gröberes Symbol jener Einstellung Rembrandts auf das,
was nur er sagen konnte und was in seinen einheitlichsten Werken
den Willen zur Schönheit als etwas innerlichst Gleichgültiges
ablehnt.
Die Schönheit, in der Geschlossenheit
ihrer Form, über die die Strömung des Lebens als solche
wegflutet, steht ersichtlich in Beziehung zu dem, was man die
Vollendetheit des Kunstwerkes nennt.
Denn ausser deren ganz allgemeinem
Sinne, in dem sie nur eine Ranghöhe, ohne irgendeine
charakteristische Qualifikation, bezeichnet, hat sie noch einen
mehr spezifischen, einen, in dem gewisse höchste Kunstwerke
dennoch nicht an ihr teilhaben.
Wie es nämlich Persönlichkeiten gibt,
denen man das Prädikat ethischer Vollkommenheit nicht absprechen
kann, die aber gerade durch sie etwas Unzugängliches haben,
fleischgewordene ideale Prinzipien sind und sozusagen nur eine
hoffnungslose Bewunderung in uns aufkommen lassen, weil sie das
Menschliche mit seinen immerhin doch möglichen Sündhaftigkeiten
und Unzulänglichkeiten nicht mehr berühren — so gibt es auch
eine Vollendetheit von Kunstwerken, bei der es zu dem tiefsten
Eindruck von Miterleben und Aneignung nicht kommt.
Vielleicht stehen uns manche
griechische Werke der sogenannten Blütezeit unter diesem Aspekt,
vielleicht manche der Hochrenaissance, so dass dies der Grund
ist, aus dem die Gegenwart hier und da eine gewisse Reserve, ja
Abwendung gegenüber diesen zweifellos »vollendeten«
Kunstgebilden zeigt.
Hier, wo nicht nur das rein
Künstlerische, sondern der ganze Wertbezirk, aus dem es auch
seinem Inhalt nach stammt, jedes Zeichen, ja man möchte sagen,
jede Möglichkeit irdischer Unvollkommenheit prinzipiell von sich
gelöst hat, fehlt uns eine gewisse innerliche Tastbarkeit des
Werkes, vielleicht, im Zusammenhang mit früher Gesagtem, weil
der Prozess, in dem es geworden ist, spurlos verflüchtigt und
wir ihn aus der lückenlosen Geschlossenheit seines fertigen
Ergebnisses heraus nicht mehr nacherleben können.
Die Malweise Rembrandts, so vielfach
sie in technischer Hinsicht rätselhaft und unnachahmlich sein
mag, erregt dennoch die Illusion, man könne die Bewegung seiner
Hand, die einzelnen Pinselstriche verfolgen, verfolgen, wie das
Werk, in all seiner Übersubjektivität und Geschlossenheit, aus
den seelisch malerischen Impulsen oder auch Imponderabilien
gewissermassen zusammenwächst.
Dagegen ist z. B. sogar bei Tizian das
Gewordensein des Werkes bis auf die letzte Spur verschwunden,
ist in die Schliesslichkeit seines Dastehens völlig aufgesogen.
Es mangelt bei den in diesem Sinne vollendeten Werken ein
Moment, das, so unbewusst es sei, zu der tiefsten menschlichen
Erschütterung
durch ein Menschenwerk notwendig zu
sein scheint: die Möglichkeit des Misslingens — wie die uns am
gewaltigsten bewegende Sittlichkeit eine Versuchung, also
immerhin die Möglichkeit der Sünde, voraussetzt (weshalb denn
die Religionen sogar ihren Heilanden eine
»Versuchungsgeschichte« zudichten), und wie Wahrheit, der die
Möglichkeit des Irrtums überhaupt fehlte, nicht mehr — wenn der
Lessingsche Begriff von ihr richtig ist — in die menschliche
Sphäre hineingehört.
Dies scheint mir ein Apriori alles
Menschenwerkes, und es muss fühlbar bleiben, muss ihm immanent
sein, wenn aus ihm das ganze Leben uns ergreifen soll.
Niemals haben wir bei Rembrandt, auch
bei seinen souveränsten und schlechthin »vollendeten« Werken
dieses Gefühl, als hätten sie sich von dem der Chance und dem
Schicksal ausgelieferten Boden des Lebens absolut gelöst und als
wohnten sie in einer Vollendetheit, die sich nicht mehr aus der
Möglichkeit eines Andersseins erhoben hat.
Wie seine Menschen, so stehen auch
seine Werke noch im Schicksal des Lebens, mit seiner Möglichkeit
des Verfehlens, auch wo diese mit keinem kleinsten Bruchteilchen
Wirklichkeit geworden ist.
Nur in einem einseitigen Sinne gibt es
»Vollendetheit« des Kunstwerks, wenn dies Symptom des
eigentlichen, vollsten Lebens ausgestossen ist.
Wie aber die Seligkeit des Lebens erst
dann ihre ganze Weite gewinnt, wenn sie das Selige und das
Unselige seiner in einen Ring zusammenschliesst, wie das Leben
erst zu einem absoluten Sinne kommt (ich habe diesen
Begriffstypus vorhin berührt), wenn es den relativen Sinn des
Lebens und den relativen Sinn des Todes, ihren Gegensatz
überwindend, in sich fasst — so begreift eine letzte Bedeutung
von Vollendetheit vielleicht Vollendetheit und Unvollendetheit
in sich — wobei die letztere in den hier allein fraglichen
Lebensgebieten als die blosse Möglichkeit des Misslingens
auftritt.
In seinem tiefsten Grunde hängt auch
dies wohl, wie angedeutet, mit dem Gegensatz der Form und des
Lebens zusammen.
Das Leben duldet nicht jene sich in sich abschliessende
Gefugtheit, die der »vollendeten Form« eigen ist.
In jeden höchsten Begriff, so hier in
den der Vollendung einströmend, treibt es ihn über seine
begrifflichen Grenzen hinaus und zwingt ihn so gewissermassen,
sein Gegenteil in sich aufzunehmen, sich so weit, dem
Unendlichen zu, zu spannen, dass die Vollendetheit hier die
menschliche, schicksalsmässige Möglichkeit des Misslingens
mindestens nicht von sich fortweist, als etwas, was sie gar
nicht versteht — wie die Kunst es tut, die sich in der Erlösung
der Form vom Leben »vollendet«.
Gewiss ist dies nichts Positives, das
als hörbarer Oberton den Eindruck Rembrandtscher Werke
begleitete.
Es ist nur ein tastender Ausdruck, der
den Charakter seiner Kunst dadurch deuten hilft, dass die
innerlich entgegengesetzte Kunst eben dieses positiv
ausschliesst.
Es besteht nun, wie ich schon
andeutete, ein Zusammenhang zwischen der Schönheit, die das
Kunstwerk von dem übernommenen oder umstilisierten Gegenstand
entlehnt und die für Rembrandt gleichgültig ist, auf der einen
Seite — und der Verallgemeinerung, der überindividuellen
Typisierung, die nicht weniger jenseits seines Weges liegt, auf
der andern.
Hier kann ein Gegensatz, der sonst mit
Recht als veraltet gilt, doch noch Aufklärungsdienste tun.
Man unterschied früher zwischen dem
Schönen und dem Charakteristischen in der Kunst, und immer
wurde, solange dies galt, Rembrandt als der Maler des
Charakteristischen bezeichnet.
Nichts anderes aber kann dies bedeuten,
als dass in gewissen Kunstwerken die Oberfläche der Erscheinung
von dem innersten Wurzelpunkt des Wesens her, der in jener
Terminologie eben »Charakter« hiess, bestimmt wird; und dass in
andern die führende, wertgebende Norm anderswoher kommt.
Und diese, also an der andern Seite der
Erscheinung gelegen, kann ersichtlich nur die Verallgemeinerung,
das irgendwie ausserhalb der inneren Individualität Bestehende
sein.
Indem dies der Ort der Schönheit als
Kunstprinzips ist, ist ihr Gegensatz das Individuelle: der Ort
des »Charakteristischen« als Kunstprinzips.
Damit wird begreiflich, wieso die ganze
Tiefe, Eindruckskraft, Zusammengehaltenheit, zu der Rembrandt
den Menschen entwickelt, — besonders kommen hier seine
religiösen Bilder in Betracht, — diese Entwicklung nicht zu der
Form, die wir Schönheit nennen, hinführt.
Schönheit, in unserer durchgängigen
Auffassung des Wortes, ist eben keineswegs ein völlig
abstrakter, an jeder Auffassungsweise der menschlichen
Erscheinungen realisierbarer Begriff.
Sondern unter deren Schönheit verstehen
wir, eigentlich durchgehends, die klassische Formgebung.
Und alle andern Schönheitstypen, die
wir durch Zusätze wie interessant, pikant, dämonisch und ähnlich
charakterisieren, sind Grenzerscheinungen und Gemischtheiten mit
anderen Bedeutungsrichtungen.
Aus der Inthronisierung dieser
Schönheit spricht die Weltanschauung, die in dem Allgemeinen
(wie die Herrschaft des Typus in dem individuellen Phänomen sie
offenbart) und in der immanenten Gesetzlichkeit (die die
Elemente der Erscheinung unmittelbar untereinander und gleichsam
freischwebend verbindet) absolute Werte sieht.
Darum kann Schönheit nicht das letzte
Absehen von Rembrandt sein, dem der Individualitätspunkt das
Entscheidende des menschlichen Phänomens ist, und der dieses aus
der flutenden Lebendigkeit der Gesamtpersönlichkeit entwickelt.
Es ist, als müsste die Schönheit, die
für jenes gleichsam plastisch ruhende Sehen gilt, deshalb als
eine Abstraktion und etwas »Oberflächliches« erscheinen, in
einem Sinne, der keineswegs ein Werturteil, sondern ein
Seinsurteil bedeutet.
Die Individualistik der Renaissance
und Rembrandts
Nach alledem ist es eine aus dem
Verhältnis zu den letzten Lebenskategorien quellende
Beschaffenheit des Renaissanceporträts, dass es den Eindruck des
Typischen, des Rembrandtporträts, dass es den der Individualität
macht.
Und vielleicht lässt erst solche
Deutung der Begriffe den Unterschied der Rembrandtschen
Individualisierung gegen die doch immer betonte und mit Recht
betonte Individualisierung auch der Renaissanceporträts,
insbesondere des Quattrocento, hervortreten.
Auf die Kollektivitätsformen, in die
das mittelalterliche Leben sich gebunden hatte, war eine
Reaktion erfolgt, die insbesondere in der Porträtplastik des 15.
Jahrhunderts ihren extremen Ausdruck fand: gar nicht eigenartig,
exklusiv, charakteristisch genug, manchmal bis zum Grotesken
hin, konnte der Mensch dargestellt werden.
Will man aber auch davon absehen, dass
hier der Machtwille, der die Renaissance-Individuen durchdrang,
sich in einer, vielleicht doch nur der Quantität nach singulären
Steigerung von schliesslich typischen Wesenszügen verwirklicht,
so ist doch in jedem Fall die Individualisierung hier eine
soziologische, in dem Anders-Sein, dem Sich-Abheben bestehende;
sie bedarf der Vergleichung und ist deshalb etwas nach aussen,
nach dem Phänomen hin Gekehrtes, sie hängt mit jenem
Machtwillen, mit dem Ehrgeiz, dem rücksichtslosen
Sich-Durchsetzen, den guten wie den übeln Seiten der Megalomanie
des Renaissancemenschen zusammen.
Sieht man es aber vom Standpunkt der
Natur aus an — per tanto variar la natura é bella — so wird die
leidenschaftlich hervorgehobene Individualität in der
Renaissance von der nicht weniger tief empfundenen allgemeinen
Naturgesetzlichkeit umfasst, als deren Wirkung wie als deren
Symbol eine Gleichmässigkeit der Proportionen und der Stilgebung
auftritt.
Für den Renaissancemenschen war die
Natur ein einheitliches, ideales Wesen, — in so verschiedenen
Tonarten es auch zu Michelangelo und Correggio, zu Raffael und
Tizian spricht, — aus dem die Mannigfaltigkeit der Individuen
herauswächst, ohne sich von diesem Wurzelgrund zu lösen.
Hieran findet die Individualisierung
ihre Grenze, eine, die von jenen Formgemeinsamkeiten bezeichnet
wird.
Eine solche Idee von »Natur« liegt
Rembrandt ganz fern. Die Natur, die auch er sucht, ist die des
einzelnen Wesens, seine Porträtgestalten berühren sich nicht in
jener metaphysisch-monistischen Wurzel wie die der Renaissance,
ihr Sein geht nicht zu einem — formulierten oder nur gefühlten
oder tatsächlich wirksamen — Allgemeinbegriff zusammen, sondern
erschöpft sich vollständig in jeder einzelnen; was durchaus
damit bestehen kann, dass die Gestalt in Licht und Luft
versponnen ist oder aus einem das Bild durchbrausenden Rausch
und Sturm von Farben herauswächst.
Die allgemeine Natur, mit der es auf
diese Weise zusammenhängt, liegt ersichtlich in einer ganz
anderen, viel mehr anschauungshaften Schicht, als die
pantheistische natura der Renaissance.
Hier scheint das Verhältnis Rembrandts
zur Renaissance dem zwischen Shakespeare und Goethe
einigermassen analog zu sein.
Bei aller reichen, weitgespannten
Individualisiertheit der goetheschen Gestalten sind sie doch
alle von einer geistigen Atmosphäre umfasst.
Als ganz entscheidend verlangt er von
den Charakteren in einem Dichtwerk, »dass sie zwar bedeutend
voneinander abstehn, aber doch immer unter ein Geschlecht
gehören«.
Die Nähe, in der ihr Schöpfer noch zu
jeder einzelnen steht — er, der seine gesamten Werke als eine
persönliche Konfession bezeichnet — findet ihr objektives
Gegenbild darin, dass sie alle wie Früchte einer einheitlichen
Natur gewachsen scheinen: in allen Verzweigtheiten der Existenz
weht das eine göttliche Leben, dessen Atem Goethe als den
Lebenshauch jedes Wesens spürbar macht — diese Gott-Natur, deren
Kinder wir alle sind und die so unter, wie in, wie über einem
jeden lebt.
Bei Shakespeare nun entwickelt sich die
Individualität aus dem letzten Grunde nicht des Seins überhaupt,
sondern des eigenen Seins dieses Wesens, sie wird nicht
durchströmt von einem allen gemeinsamen, nur metaphysisch
fassbaren Lebenssaft, der alle mit irgendeiner Einheit nährte.
Eine gewisse chaotische Naturdynamik,
aus der sie aufzusteigen und die sie weiter zu umgeben scheint,
verhält sich zu diesen Einzelwesen vielleicht zutiefst viel
weniger einheitlich und vereinheitlichend, als die »Natur«, die
»gute Mutter«, bei Goethe, aber sie liegt mit ihnen in der
gleichen erlebbaren, substanziellen Schicht, sie ist wie die
geatmete Luft um uns herum, die ja die Stoffe enthält, von denen
die Hauptmasse unseres Körpers gebildet wird.
Diese zwar dunkel formlose, aber ganz
unmetaphysische Atmosphäre, in der Shakespeares Gestalten leben
und die ihre absolut selbstgenugsame, für sich allein
Einheit-bildende Individualität in keiner Weise in einen
All-Grund hinabreichen und aus ihm eine mit andern gemeinsame
Form gewinnen lässt — sie ist am ehesten jenem Meer von Licht
und Farbe zu vergleichen, das Rembrandts Gestalten umfliesst;
aber indem sie aus ihm auszukristallisieren scheinen, geschieht
es nach dem individuellen Gesetz einer jeden, das der einen und
der andern keine gemeinsame Notwendigkeit auferlegt.
Die »Natur« ist hier wie bei
Shakespeare gänzlich in die Individualität aufgegangen und
behält nichts mehr für sich zurück, um aus einer letzten Tiefe
heraus alle mit Formeinheit zu umfassen, wie es in der
Renaissance und bei Goethe geschah.
Vor allem aber ist der Rembrandtschen
Individualität, wie ich sic hier auffasse, jene soziologische
Differenz gegen andere Wesen ganz irrelevant; nichts ist bei ihm
in dieser Hinsicht sozial gefärbt, weder nach der
Gleichheitsseite des Typus, noch nach der Verschiedenheitsseite
des Mehr- oder Besondersseins.
Ausdrücklich zu betonen, wie es Bernini
tat, er wolle an seinem Porträtmodell gerade das herausstellen,
»was die Natur keinem andern als gerade ihm gegeben hat« — wäre
Rembrandt sicher nicht eingefallen.
Seine Individualisierung besagt nur,
dass die jeweils dargebotene Erscheinung durch die
Gesamtströmung des bis zu ihr führenden Lebens, welches eben nur
das Leben dieses einen Menschen ist und sein kann, bestimmt ist
und aus ihr sozusagen anschaulich begriffen wird.
Sie wird deshalb gar nicht davon
berührt, dass vielleicht neben ihr eine andere, genau so
qualifizierte Existenz besteht, denn dem jeweiligen Leben kann
sein Nur-einmal-Sein nicht genommen werden; wogegen der
Renaissance-Individualismus vortrefflich gerade durch die
Überlieferung illustriert wird, es habe zu Anfang der Epoche
eine Zeitlang in Florenz keine durchgehende Mode der männlichen
Kleidung gegeben, da jeder sich auf eine besondere Weise zu
tragen gewünscht habe.
Trotz des ungeheuren Individualismus
Rembrandts fehlt die eigentümliche Pointiertheit, mit der das
Individuum als solches in der Renaissance hervortritt.
Überall indes, wo Vergleichung ist, —
mag sie als ihr Resultat noch so weite Differenzen zeigen —
bestehen gemeinsame Voraussetzungen, unter denen sie möglich
ist, ein gemeinsamer Massstab, vor allem, in unserem Falle: eine
gemeinsame Idee des Menschlichen, von der sozusagen irgendein
Quantum in jeder Persönlichkeit einhalten ist, so
unvergleichliche Ausgestaltung es auch in jeder erfahre, und die
das Gefühl eines gleichen Stiles und allgemeiner Typen alle
diese Unvergleichlichkeiten dominieren oder durchdringen lässt.
Gewiss hat die Renaissance dem
Platonismus, den sie aufnahm, das Element der Individualität
eingefügt.
Wenn wir, für Plato, den einzelnen
schönen Menschen darum lieben, weil er uns an unsere
präexistentiale Schaueng der Idee der Schönheit erinnert, so
ergreift das Motiv der vor- irdischen Existenz und ihrer idealen
Bedeutung nun das Individuum.
Petrarca sagt über das Porträt der
Madonna Laura von Simone Memmi:
Doch war mein Meister wohl im
Paradiese,
Daher die edle Frau herabgestiegen.
Dort sah er sie, dass von den edlen Zügen
Sein irdisch Werk ein himmlisch Zeugnis wiese.
Und dann Michelangelo an die geliebte
Frau:
Dorthin, wo unsre Seelen einst sich
trafen,
Führt mich der Weg, den deine Augen weisen.
Die Idee der allgemeinen Schönheit
überhaupt ist durch die »Idee« der Einzelpersönlichkeit ersetzt,
es ist individualisierter Platonismus — aber immerhin
Platonismus, der in der ein für allemal dargebotenen, sozusagen
metaphysisch starren Form die abschliessende Wesenheit erblickt.
Diese zeitlose Form, so leidenschaftlich ihre Einzigkeit in
einem empirisch realen Bezirk betont werden mag, kann es
prinzipiell gar nicht ablehnen, sich mehrfach zu verwirklichen,
mit andern denselben Stil zu teilen, einen Typus zu bilden.
Aber gegen jene soziologische
Einzigkeit wie gegen diese abstrakte Allgemeinheit ist die
Rembrandtsche Individualistik gleichgültig, weil die Richtung,
von der her sie die Erscheinung fasst, im Prinzip eine andere
ist: nicht von ihrer Form, sondern von ihrem Leben her, das sich
jeweils als einziger, wenngleich selbstverständlich noch von
unzähligen unpersönlichen Zuflüssen genährter Strom ihr zu-
bildet.
Nun aber zeigt sich in Rembrandts
letzter Periode hier und da ein Aufheben dieses Zusammenhanges
zwischen Leben und Individualistik.
Das Leben wird jetzt nicht mehr durch
die stark individualisierte Bewegtheit einer Seele
durchgeleitet, sondern verbreitet sich, über das singuläre So-
und So-Sein hinweg, zu einer, alle Grenzbestimmtheiten, auch die
psychologisch innerlichen, überflutenden Vibrierung dieses
Menschenlebens überhaupt, oder es zieht sich in so dunkle Tiefen
zurück, dass die Aussenseite wie starr, unpersönlich oder
maskenhaft erscheint.
Vergleicht man den Titus beim Fürsten
Jussupoff mit den Staalmeesters, in deren Linie er unzweifelhaft
liegt, so sieht man in ihm noch eine Stufe über das hinaus
erreicht, was man Individualisierung zu nennen pflegt — eine
Stufe, auf der freilich das Besondere der Rembrandtschen
Individualisierung vielleicht erst seine Vollendung erreicht;
man möchte an Goethes Äusserung denken, dass alles in seiner Art
Vollkommene über seine Art hinausgeht.
An den Staalmeesters tritt hervor, was
etwa in Rembrandts Gestalten von singulärer Charakteristik
enthalten ist, freilich ganz und gar Rembrandt, aber immerhin
insoweit noch an das klassische Prinzip anklingend; immerhin
kann man von ihnen noch sagen: dieser ist stolz, jener rustikal,
der dritte überlegen intelligent usw. — so wenig für Rembrandt
solche Typusbegriffe von sich aus als das Primäre die
Darstellung des Individuums beherrschen.
Bei dem Titus fällt dies ganz fort, es
ist alles strömendes, vibrierendes Leben, ohne einen begrifflich
festen, angebbaren Punkt darin.
Jene psychologischen Qualitäten sind
noch etwas Inhaltliches, Zeitloses, aus dem Leben
Abstrahierbares, sie fallen fort, wo das Leben sich in seiner
reinen Nacktheit darstellt — ebenso wie da, wo das Leben
überhaupt negiert wird, in der geometrischen, rein formhaften
Kunst.
Dabei kann das Leben als solches einen
unterschiedlichen Charakter seiner Funktionalität tragen: es
kann tragisch, langsam, unruhig verlaufen, was noch etwas
anderes ist als die psychologische Bestimmtheit dessen, der
dieses Leben trägt.
Wir empfinden das Leben doch als eine
auch für die Anschaulichkeit besondere Art der Bewegtheit des
Materiellen.
Dies indes ist noch etwas schlechthin
Allgemeines. Indem das Leben aber sich von allem Nicht-
Lebendigen generell abhebt, kann es zunächst der materiellen
Erscheinung in verschiedenen Massen einwohnen.
Aber ausserdem scheint mir diese
anschauliche Lebendigkeit auch verschiedene Arten zu haben.
Nicht nur quantitativ, sondern auch
qualitativ ist die Lebendigkeit von Frans Hals oder von Ribera
oder von Goya eine andere als die aller andern Maler.
Was darüber entscheidet, ist völlig
dunkel: vielleicht der Oszillationsrhythmus der kleinsten Teile,
vielleicht das Mischungsverhältnis zwischen mehr latenter und
mehr aktueller Lebendigkeit, das allenthalben vorhanden ist.
Die eigentliche psychologische
Singularität jedenfalls ist in weite Ferne gerückt, sie steht
jetzt an der Peripherie des Lebens, dessen zentrale
Verschiedenheiten nur noch die der Rhythmen seines Fliessens und
seiner Kräfte sind.
Es ist hier etwas Entscheidendes, das
zwar in der Begrenztheit der Persönlichkeit verbleibt, aber jede
benennbare Qualität gleichsam entweder in die Aussenwerke oder
in das namenlose Dunkel der seelischen Substanz zurückschiebt;
darf man dieses mit Worten kaum Erfassbare deshalb paradox
ausdrücken, so ist es, als wäre das Leben dieser Person, zwar
absolut eigenstes und von ihr nicht lösbar, über alles Einzelne,
das man über sie aussagen mag, hinausgehoben; als ergösse sich
hier ein Lebensstrom, seine Ufer zwar nicht überspülend und als
ganzer von unverwechselbarer Eigenheit, innerhalb seiner selbst
aber keine Welle von singulärer Eigenform hebend.
Gewiss geht auch jedes Bild dieser
Reihe immer von dem Individualitätspunkte aus; aber es ist, als
ob es, weiterschreitend ohne ihn zu verlieren, in einer Schicht
des allgemeinen Lebens dieser Person mündete und über die Spuren
ihrer Entwicklung und ihres Schicksals, die hier wie in den
andern Porträts bewahrt sind, noch eine neue Atmosphäre ihres
sozusagen absoluten Lebens legte.
Dieses hat freilich nicht die
Zeitlosigkeit, die wir der Klassik zusprachen. Wie in dieser der
geistige Prozess, das logisch inhaltliche Bewusstsein seine
Ewigkeitsform gefunden hat, so ist hier die Strömung des
Gefühles oder Gemütes, ihre Lebendigkeit noch nicht über solche
Bewusstseinshöhe leitend, gleichsam in einen See gemündet, der
ihre Bewegtheiten in seine Stille hineingenommen hat.
Arten der Allgemeinheit
Die Schwierigkeiten eines
verständlichen Ausdrucks für die Lebenskonfigurationen, die der
Rembrandtschen Porträtkunst innewohnen, für das Verhältnis des
Allgemeinen und des Individuellen, von dem sie geformt wird,
beruhen grösstenteils darin, dass wir den Begriff des
»Allgemeinen« ohne weiteres in seinem theoretischen Sinne zu
verstehen gewohnt sind.
Das theoretisch Allgemeine ist die
gemeinsame Bestimmung getrennter Individualerscheinungen — mag
sie als abstrakter Begriff gewonnen werden, mag sie zu
Gesetzesformeln oder zu der Substanzialität platonischer Ideen
kristallisieren.
Diese Denkgewohnheit hat schon die
Erfassung des Allgemeinen im sozialen Sinn erschwert und hat
bewirkt, dass die soziale Einheit aus und über den Individuen
einen mysteriösen Zug bekam: dass der Staat etwas anderes ist
als die Summe seiner Bürger, die Kirche etwas anderes als die
der Gläubigen, und ähnliches, erschien als etwas Dunkles und
Irrationales, so dass man solche Gebilde schon als blosse,
irgendwie verselbständigte Abstraktionen des den Individuen —
die doch allein real seien — Gemeinsamen erklärt hat; während es
doch auf der Hand liegt, dass die »Allgemeinheit« solcher
Formungen etwas ganz anderes ist, als die auf diesem
theoretisch-konzeptualistischen Wege zu legitimierende.
Nicht anders verhält es sich mit der
Allgemeinheit metaphysischer Weltdeutungen, deren eigentümlichen
Wahrheitswert wir dadurch nicht vernichtet fühlen, dass sie sich
an der isolierten, ihnen irgendwie unterstehenden Einzelheit
nicht recht aufweisen lassen; sie stehen eben in einer anderen
Denkschicht, als diejenigen Allgemeinheiten, die durch logische
Abstraktion aus den Einzelerscheinungen gewonnen sind; gerade
auf den falsch orientierten und deshalb unerfüllbaren Anspruch
hin, den Normen dieses abstrakten Allgemein-Seins zu genügen,
sind sie oft genug missverstanden und verworfen worden.
Wieder eine andere, aber ebenso wenig
der logischen Abstraktionsart fügsame Allgemeinheit begegnet
innerhalb der Kunst.
Während die Gefühle innerhalb des
gewöhnlichen Lebensverlaufs sich an irgendwelche einzelnen
Veranlassungen knüpfen und dadurch selbst eine individualisierte
Färbung erhalten, lehnen die in die Musik eingebetteten und aus
ihr entfalteten Gefühle solche Zuspitzung ab und erscheinen
damit als etwas Allgemeines, das aber dennoch zu jenen andern,
singularisierten Gefühlen keineswegs das Verhältnis eines
Allgemeinbegriffs zu den ihm untergeordneten Einzelgebilden
zeigt.
Es ist vielmehr ein Allgemeines, das
sozusagen absolut ist, d. h. keiner Einzelheit als seines
logischen Korrelats bedarf, obgleich es gegen diese erlebten
Einzelheiten nicht einfach gleichgültig ist.
Deshalb empfinden wir Musik einerseits
als unendlich vieldeutig, zugleich aber als absolut eindeutig —
ein Beweis, dass die Frage nach ihrem logischen
Allgemeinheitsverhältnis zu dem »Vielen« des Lebens falsch
gestellt sein muss; sonst könnte sie nicht gleichzeitig bejahend
und verneinend beantwortet werden.
Wenn wir nun jenen letzten, höchsten
Rembrandt-Porträts gegenüber empfinden, dass die Einzelheit als
Prinzip überwunden ist, dass die Membranen zerrissen, von der
Lebenswelle zerspült sind, in die jede Lebenseinheit
eingeschlossen und gegen die andere isoliert erscheint, so
greift die so vorhandene Allgemeinheit doch nicht über die
Individualität hinaus, die der Träger eben dieses Lebens ist.
Sie ist die Allgemeinheit dieser
Individualität selbst, nicht über dieser und irgend anderen
stehend, sondern die in besonderer Art verlaufende
Lebenseinheit, von der alle ihre benennbaren Einzelheiten nur
Erzeugnisse oder nachträgliche Zerstückelungen sind.
Diese Allgemeinheit hat, genau
angesehen, überhaupt nicht ihr Korrelat am Einzelnen, wie die
theoretisch-logische Allgemeinheit; denn insoweit sie ist,
besteht das Einzelne in seinem Sondersinne nicht — wie es doch
bestehen muss, wenn es zu jener abstrakten Allgemeinheit kommen
soll.
Darum zeigen die Bilder dieser
Kategorie den Gegensatz gegen renaissancemässige
Individualisierung noch an einem besonders charakteristischen
Punkte.
Wir sind sicher, dass der einzelne
Bestandteil eines Gesichts seine Bedeutung ausschliesslich im
Zusammenhang aller andern gewinnt.
Was ein Mund an seelischer Expression,
an Schönheit oder Hässlichkeit, ja an reinem Formeindruck
enthält, hängt völlig davon ab, mit welcher Nase und welchem
Kinn, welchen Augen und Wangen er zusammensteht; mit
verschiedenen Zügen verbunden, besagt er in all jenen Hinsichten
etwas ganz Verschiedenes, und aus der physiognomischen
Wechselwirkung gelöst bedeutet er, und ebenso jeder andere
einzelne Zug, überhaupt nichts.
Dies Allgemeine und Grundlegende
vorbehalten, ist nun dennoch diese Wechselwirkung, die dem
einzelnen Gesichtsteil keine monologisierende Rolle gestattet,
nicht immer von gleichmässiger Enge.
Das Porträt muss sich zwar mit
besonderer Betonung um diese bemühen. Denn am realen Menschen
bewirkt schon die durchflutende Lebensbewegung, die
Gleichmässigkeit, mit der sich seine jeweilige Lage und Stimmung
an seiner ganzen Körperlichkeit markiert, dass die Gesichtszüge
nicht auseinanderfallen, sondern stets in einheitlichem Sinn
zusammenwirken.
Dem Maler aber, der nur das tote
Nebeneinander der Farbflecke zur Verfügung hat, wird es zu einem
höchsten Problem, die Züge zu jener Wechsel- und Zusammenwirkung
zu bringen, durch die allein sie die Einheit der Person und
ihrer Verfassung darstellen.
Was wir als die »innere Notwendigkeit«
eines Porträts empfinden, ist nichts als dieser unbedingte
Zusammenhang, der aus jedem Zuge der Erscheinung den gültigen
Schluss auf jeden andern wechselseitig gestattet — dies freilich
vielleicht nur unter Zugrundelegung einer, die Summe der Züge
übergreifenden Einheit.
Dass dies sich aber in entschieden
abgestuften Massen darstellt, ist nicht nur die Wirkung des
verschiedenen Könnens, sondern stilistisch verschiedenen
Wollens.
Es gibt eine Reihe italienischer
Porträts, an denen eine individuelle Bestimmtheit, ein gewisses
selbstgenugsames Fürsichsein der einzelnen Gesichtsteile
unverkennlich ist; ganz frappierende Beispiele sind das
Giorgioneporträt in Berlin, das Selbstbildnis des Palma Vecchio
in München, der Medicikopf des Botticelli in Bergamo.
Dennoch erreichen diese Meisterporträts
eine völlige Eindruckseinheit der körperlich-seelischen
Persönlichkeit, indem jeder so individualisierte Zug des
Gesichts denselben Charakter, denselben Ausdruck vorträgt wie
jeder andere.
Am leichtesten scheint mir dies an dem
zuerst angeführten Giorgioneporträt festzustellen: ich kenne
wenigstens keinen zweiten Porträtkopf, an dem der Mund und die
Stirn, das Auge und die Nase, jedes für sich, mit solcher
Evidenz den gleichen, wenn auch nicht in Worte übertragbaren
Charakter verkündete.
Grundlegende Voraussetzung dafür ist
natürlich noch immer jene funktionelle Korrelation der Elemente;
nur dass eben auf ihrer Basis die individuelle Geformtheit und
Eigenbetontheit jedes Zuges fühlbar auftritt.
So wenig eines der beiden Prinzipien:
einerseits Ausdrucksgleichheit der einzelnen, wie autonome
Individualitäten behandelten Züge, andrerseits Kooperation der
völlig unselbständigen Züge zu einer erst aus ihrem Zusammen
sich erhebenden Ausdruckseinheit — so wenig eines von ihnen je
absolut alleinherrschend sein kann, so bezeichnen sie eben doch
durchaus verschiedene Grundtendenzen und auf der Skala ihrer
Mischungsmasse findet jedes Porträt seinen bestimmten Platz.
An ihrem einen Pol stehen jene
italienischen Porträts — ein gutes Beispiel mittlerer
Erscheinungen mag etwa Velasquez' Innocenz sein, — am andern
Pole stehen, mit grösster Entschiedenheit, Rembrandtsche
Porträts der späteren Zeit.
Hier ist die Einheit des individuellen
Totallebens so beherrschend, dass sie die Individualität des
einzelnen Zuges ganz verschlingt; statt des sozusagen
substanziellen Charakters, der in der Homogenität des Ausdrucks
individuell gestalteter Einzelteile besteht, hat sie rein
funktionellen angenommen, innerhalb dessen kein Teil mehr
Sonderbedeutung, Abgegrenztheit, Vergleichbarkeit des ihm
Eigentümlichen mit dem Eigentümlichen anderer Teile besitzt.
Es scheint eine Art formalen Gesetzes
zu bestehen: dass in dem Mass, in dem ein Gebilde als Ganzes ein
einheitlich starkes, individuelles Leben hat, seine Teile an
Eigenbetontheit und ebenso an Gleichmässigkeit ihrer Form
einbüssen.
Sobald die beiden letzteren Momente
entschieden hervortreten, wird das Gebilde mehr mechanistischen
Charakters sein, den, wo es sich um Kunstwerke handelt, nur die
geniale Vitalität des Schöpfers überwinden kann.
Sonst aber wird man an Ornamenten wie
an Staatsverfassungen, an religiösen Gemeinschaften wie an den
Perioden personaler Existenzen jenen typischen Zusammenhang
beobachten: dass die Stärke und vitale Einheitlichkeit des
Ganzen sich umgekehrt proportional zu der individuellen
Abgegrenztheit wie zu der formalen oder innerlichen Gleichheit
der Teile verhält.
So ist, was man die Allgemeinheit
dieser Rembrandtporträts nennen kann, nicht die gewissermassen
abstrakte, die sich als die Bedeutungsgleichheit oder aus der
Bedeutungsgleichheit relativ individuell-selbständiger Züge
ergibt, sondern die Einheit des inneren Lebens, als deren Träger
die im einzelnen ganz unselbständigen Züge in ihrem Komplex
dienen, ohne dass diese, als einzelne, den Ausdruck des Ganzen
irgendwie repräsentierten.
Auf die Darstellungsmittel hin
angesehen entspricht jener nach innen hin individualisierenden
Tendenz die zeichnerisch scharfe, genau linear umgrenzende
Vortragsweise, der von innen her vereinheitlichenden aber, wie
gleichfalls ohne weiteres einleuchtet, die vertreibende,
grenzenverwischende Malweise des späteren Rembrandt.
Mit dieser immanenten Allgemeinheit der
dargestellten Individualität rückt auch das künstlerische
Prinzip des Realismus in eine nicht ganz gewohnte Beleuchtung.
Das »Allgemeine«, auf seinen
theoretischen Sinn festgelegt, erscheint als etwas Abstraktes,
demgegenüber das einzelne, individuelle Gebilde die eigentliche,
greifbare Realität darstellt.
Indem dies auf die Grundsätze der Kunst
ausstrahlt, findet die »idealisierende«, der blossen
Wirklichkeit sich enthebende Kunst ihren Vorwurf an dem
»Allgemeinen«, an der Typisierung der Gegenstände; der
Realismus, die an das unmittelbar wirkliche Objekt sich
schmiegende Darstellung, sieht nur den Einzelgegenstand, weil
»wirklich« nur die individuelle, über ihre greifbaren Grenzen
nicht hinausgewiesene Gestaltung ist.
Die Kunstgeschichte und der ästhetische
Eindruck bestätigt in gewissem Masse diese Zusammenhänge. Wo
eine scharfe, individualistische Zugespitztheit der Auffassung
vorliegt (die nicht, wie im italienischen Quattrocento, von
einer typischen Stilistik umfasst ist), da herrscht zugleich der
Eindruck des entschiedenen Naturalismus, das ausgeprägt
individuelle Gebilde scheint unmittelbarer aus der Wirklichkeit
abgeschrieben zu sein, als irgendeines, das allgemeine,
überindividuelle Züge trägt; an dem letzteren scheint die der
Wirklichkeit gegenüber souveräne, freier idealisierende
Umbildungskraft des Künstlers den grösseren Anteil zu haben.
Diese Aufteilung der Parteien ist von
Rembrandt durchbrochen, die Beziehung von Realismus und
Individualisierung ist damit zu einer gegensätzlichen Stufe
gelangt, die nur ihre eigene höhere Entwicklung ist: seine Kunst
ist im höchsten Masse individualistisch, ohne realistisch zu
sein, er macht die gegebene Erscheinung durchaus der idealen,
künstlerischen Umbildung untertan, ohne sie in eine die
Besonderung des Einzelwesens durchbrechende Allgemeinheit
aufzuheben.
Er hat die Synthese zwischen dem
Individualismus und der Befreiung von der unmittelbaren
impressionistischen Wirklichkeit, wenn nicht entdeckt, so doch
in höchster Prinzipienmässigkeit dargestellt.
Dies gelingt ihm, weil sein
Individualismus eben eine immanente Verallgemeinerung ist, d. h.
allerdings nur dies eine Leben in seiner persönlichsten
Umgrenzung darstellt, aber als die Ganzheit seines
kontinuierlichen Verlaufes, als die Einheit seiner jetzt gar
nicht benennbaren Züge, als das fliessende, aller begrifflich
gesetzten Grenzen unbewusste Schicksalserleben, das
geheimnisvoll in die Einmaligkeit des Anblicks eingegangen ist,
ohne die Zeitform des Erlebens einzubüssen.
Aufs eindrucksvollste zeigt Rembrandt
hiermit, welche schlechthin spezifischen Formungen, allen
Kategorien der Theorie unerreichbar, von der Kunst an den
letzten geistigen Strukturelementen zu vollziehen sind.
Und gerade an diesem Punkt also laufen
noch einmal all die Richtungslinien zusammen, an denen entlang
wir uns zum Verständnis seiner Menschendeutung hinzutasten
suchten.
Alterskunst
Die Wendung in der Darstellung der
Individualität, die sich, wie ich andeutete, in seiner letzten
Periode vollzieht, hängt wohl mit der Bedingtheit der
Alterskunst — nicht nur der Rembrandtschen — zusammen.
»Alter«, sagt Goethe, »ist stufenweises
Zurücktreten aus der Erscheinung«.
Je älter wir werden, desto mehr
paralysieren sich gleichsam gegenseitig die vielfarbigen
Erfahrungen, Empfindungen und Schicksale, die unsern Weg durch
die Welt bevölkern.
All dieses bildet unsere »Erscheinung«
im weitesten Sinne, in der jede Linie eine Resultante unseres
eigentlichen Ich und der Dinge und Geschehnisse um uns herum
ist.
Indem nun die letzteren, wie gesagt,
ihre Gegensätzlichkeit durch ihre steigende Fülle ausgleichen,
so dass nichts einzelnem mehr entscheidender Eindruck,
dominierende Kraft über unser Leben zukommt, tritt um so
bestimmter, oder allein bestimmend, der subjektive Faktor
unseres Daseins hervor, gerade weil er aus der Erscheinung, d.
h. aus der Verwebung mit der Welt, zurücktritt.
Zweifellos hat diesen Prozess
Rembrandts äusseres Schicksal vertieft und bestärkt, indem es
ihn nach der empirischen Welt hin immer mehr isolierte, ihm
diese immer fremder, feindseliger,
sinnloser machte und sein Leben dadurch
immer mehr auf seine Subjektivität konzentrierte; aber es machte
sich damit nur zum besonders wirkungskräftigen Vollstrecker
eines Urteils, das das Alter allenthalben über die Kunst der
grossen Künstler spricht.
Allein, es ist eine besondere Art von
Subjektivität, die die Alterskunst bestimmt, eine, die kaum mehr
als den Namen mit dem Subjektivismus der Jugend teilt.
Denn dieser ist entweder eine
leidenschaftliche Gegenwirkung gegen die Welt oder ein
unbekümmertes Sich-Aussprechen und -Ausleben, als ob sie nicht
da wäre; jener aber ist ein Freiwerden und Zurücktreten von ihr,
nachdem man sie als Erfahrung und Schicksal in sich aufgenommen
hat.
Darum hat der Subjektivismus der Jugend
das Ich zum allbeherrschenden Inhalt, der des Alters hat es zur
allbeherrschenden Form.
Es ist ja eigentlich eine paradoxe
Empfindung: als habe Rembrandt in seinen spätesten Porträts und
anderen Darstellungen nur sich selbst zum Ausdruck gebracht;
worin liegt in diesen gegenständlichen Gebilden das Selbst, das
in seinen früheren, nichts Objektiveres darstellenden Werken
soviel weniger, manchmal sogar gar nicht fühlbar wird? Dass er
etwa seine persönlichen Stimmungen in die Maske seiner Modelle
gesteckt hätte, wäre eine naturalistische Lyrik, die Rembrandt
sicher ganz fern lag und nicht den Sinn seines letzten
Subjektivismus ausmachen kann.
Dieser bedeutet vielmehr innerhalb der
Alterskunst der grossen Genies, dass die Beziehung zu den
äusseren Objekten als solchen ihnen gleichgültig geworden ist,
dass sie zwar nur noch sich selbst aussprechen, aber sich selbst
als Künstler.
Für sie gehört ihr empirisches Leben,
dasjenige, was das Ich des ungenialen Menschen ausmacht, ebenso
zur »Erscheinung« wie jene Objekte und ist deshalb ebenso
belanglos wie diese.
Sie drücken jetzt in ihren Werken jenes
höhere Ich aus, das, ohne den Charakter seiner Subjektivität
einzubüssen, ganz und gar künstlerisches Genie und Schöpfertum
geworden ist.
Nicht den Rembrandt nach seinen
Lebensinhalten und so oder anders verlaufenden Stimmungen dürfen
wir in diesen Bildern suchen; dies mag das von vornherein in
einer andern Schicht liegende Absehen des Anekdotenhistorikers
sein.
Aber ebenso wenig besteht hier ein
Artistentum, das sich in Abschnürung von der lebendigen Ganzheit
des Menschen vollzieht.
Entscheidend ist vielmehr die
organische Synthese, die man gleichmässig von zwei Seiten her
aussprechen kann: dass sein ganzes und letztes Wesen völlig in
sein Künstlertum aufgegangen ist oder dass sein Künstlertum sich
völlig in die Subjektivität seines Lebens transformiert hat.
Diese Einheit spüren wir an den
Spätwerken von Donatello wie von Tizian, von Frans Hals wie von
Rembrandt, von Goethe wie von Beethoven.
In ihr ist das irgendwie isolierte oder
über-stehende Interesse an dem bloss Artistischen wie an dem
bloss Subjektiven ausgelöscht, und indem eben die Vereinigung
dieser Pole jetzt das Schöpfertum schlechthin ausmacht, ist auch
das Interesse an dem Eigenbestand der Objekte oder Modelle
erloschen, die diese Kunst in sich hineinnimmt, an demjenigen,
was sie jenseits ihres Eingehens in dieses Subjekt und in diese
Kunst (beides ist nun identisch) an und für sich bedeuten mögen.
Dass das Hinabtauchen in die Tiefe
alles Weltwesens, das mit diesem Stadium gewonnen ist, zugleich
auch die letzten Wesentlichkeiten jener dargestellten objektiven
Existenzen deutet, ist sozusagen ein Akzidenz dieser Alterskunst
und gehört zu dem, was man wohl ihre Mystik nennen darf — so
wenig Rembrandt darum ein »Mystiker« ist.
Verständlich aber wird daraus das
Gefühl gewissen letzten Rembrandtwerken gegenüber: dass das
leidenschaftliche Suchen nach der Individualität der Modelle
hier und da abgeschwächt ist.
Denn diese Individualität besteht
irgendwie ausserhalb seines jetzigen künstlerisch-subjektiven
Lebens, sie ist, in ihrem Fürsichsein, nicht in dessen Bezirk
gewachsen, in dem sich jetzt alle Gestaltungskräfte konzentriert
haben, sie gehört für die Alterskunst in gewissem Masse noch der
»Erscheinung« zu, aus der diese »zurückgetreten« ist.
Und es ist ferner begreiflich, dass,
insoweit auch hier die Persönlichkeit des Modells erfasst und
ergründet ist, dies gerade nur in ihrer Zurückführung auf das in
ihr individualisierte Leben überhaupt, auf ihre immanente
»Allgemeinheit« geschieht.
Denn diese, und nicht ihre
empirisch-einzelne Konfiguration, ist aus jener geheimnisvollen
Tiefenschicht, in der diese späteste Kunst lebt, am
unmittelbarsten zu entfalten.
Der raumlose Blick
Jenes Hinfluten der dargestellten
Lebensganzheit über jegliche Festgelegtheit findet Beispiel und
Symbol noch an einem einzelnen Punkte, der sich zwar in den
spätesten Bildern am deutlichsten, mannigfach aber auch an
früheren aufzeigen lässt.
Seine Deutung fordert einen etwas
weitergreifenden Zusammenhang.
Beobachtet man genau, wie sich die Art
des Blickens bei tiefen und wesentlichen Menschen von flachen
und unbedeutenden unterscheidet, so scheinen jene ausser auf den
Gegenstand, den sie — vielleicht scharf und aufmerksam —
fixieren, noch immer weiter zu blicken — nicht im linearen Sinne
weiter, sondern gewissermassen ins Überörtliche, in ein nicht zu
begrenzendes Irgendwo, das aber keine räumliche Bedeutung hat.
Bei den Menschen geringeren Lebens
führt der Blick eben nur zu dem Ding, das sie gerade ansehen und
das für die im Blicken ausströmende Energie eine Mauer ist, die
kein Tor hat; er kehrt an ihr einfach wieder um.
Bei jenen anderen aber ist es, als ob
die lebendige Kraft des Blickes in der durch das Objekt
festgelegten Richtung nicht unterkäme, ja überhaupt nicht in
irgendeiner »Richtung«, sondern nur seine schlechthin
unräumliche, an kein bestimmtes Etwas anzuheftende Intensität
verkündete.
Das Entsprechende findet sich an
gewissen Gebärden innerhalb der Kunst, und sie verdeutlichen
vielleicht am besten, was an jener Art des Blickes eigentümlich
ist.
Der Johannes auf Grünewalds Kreuzigung
und viele Buddhagestalten, die Figur mit dem hochgestreckten Arm
in Rodins Bürgern von Calais und die Mittelfigur auf Hodlers Tag
— alle diese zeigen irgendwohin oder scheinen einen bestimmten
Affekt auszudrücken oder drücken ihn auch wirklich aus; aber
jenseits dessen weisen die Gebärden zugleich in ein örtlich und
begrifflich Unbestimmtes, in ein unlokalisiertes Sein, oder
genauer sie weisen überhaupt nicht, sondern sind schlechthin nur
da, sie haben, von den Kategorien des Äusserlichen her gesehen,
etwas Vages, das doch nicht vieldeutig, sondern überhaupt nicht
»— deutig« ist.
Damit unterscheiden sie sich von
eigentlichen Ausdrucksbewegungen.
Denn diese kommen zwar auch von innen
her, und wie sich ihre Erscheinung in die Aussenwelt einstellt,
ist für sie unwesentlich.
Allein sie gehen jeweils von einem
besonderen, inhaltlich angebbaren Impuls aus, sie verraten zwar
in ihrer Färbung den Charakter der Individualität, aber diese
ist nur etwas Akzidentelles, sie sind nicht Lebensbewegung
überhaupt, sondern haben immer einen gegenständlichen Sinn, wenn
dieser auch ein rein von innen her gesetzter ist.
Jene Gesten aber verlaufen nicht nur in
das räumlich und gegenständlich Unfixierte, sondern sie kommen
auch aus einem solchen her.
Sie werden nicht von diesem oder jenem
Zweck oder Gefühl hervorgelockt, sondern von der
Lebensbewegtheit als ganzer getragen.
In diese Reihe scheint mir auch die
Handbewegung des Rembrandtschen Homer zu gehören, obgleich er
angeblich mit ihr Verse skandiert.
Dieses eigentümliche Umgebensein einer
benennbaren Richtung von einer rein immanenten, äusserlich also
nur durch Verneinung zu charakterisierenden Lebensströmung, ist
das gleiche wie in jenen Arten zu blicken, und in gewissen
Rembrandtschen Porträts tritt das auf das unverkennlichste
hervor; schon in dem Porträt des Geistlichen in der
Carstanjenschen Sammlung, beim Bruyningh, vielen Titusbildern
und Selbstporträts.
Die Blicke fixieren zwar jeweils einen
Punkt, aber zugleich sehen sie etwas, was sich nicht fixieren
lässt.
Das hier Gemeinte ist etwas anderes als
der gleichfalls auf kein bestimmtes Objekt gerichtete Blick des
Christkindes der Sixtinischen Madonna.
Denn dieser geht ins Unendliche, aber
nicht ins Raumlose.
Jene dagegen fixieren ein Endliches und
haben zugleich eine rein innere Qualität, die so wenig auf ein
Ausserhalb-ihrer geht, wie die Rembrandtsche Religiosität ihrem
letzten Sinne nach es tut oder wie sein Licht wo anders
herkommt, als aus dem Bilde selbst (worüber später) — eine
immanente Transzendenz.
Offenbar ist ein solcher Blick gemeint,
wenn Wilhelm v. Humboldt den Eindruck des ganz alten Goethe
schildert: »Sein Auge fand ich sehr verändert, nicht trübe, aber
um die Pupille herum einen weiten blassblauen Kreis — mir war,
wie ich hineinschaute, als suche das Auge ein anderes Licht und
andere Sonnen.« Diese Art der Immanenz, diese Dargestelltheit
des Seelischen als reiner Beschaffenheit ihres Trägers, während
sie sonst immer in der Relation zu etwas ihr Äusserem auftritt —
gehört zu dem Tiefsten und Entscheidenden bei Rembrandt.
Die Mittel, durch die ihm dies
darzustellen gelingt, entziehen sich der Analyse.
Allenfalls könnte man als eines davon
das Verlöschen des Glanzlichtes im Auge anführen.
Dieses Immer-Weitersehen,
gewissermassen als Nebenprodukt des Sehens eines bestimmten
Gegenstandes auftretend, ist ein Symbol der Lebendigkeit, die
sich an keinem einzelnen Inhalte, auch an keinem
subjektiv-individuellen genugtut, sondern unter oder über jeden
weg ins Unendliche flutet — womit sich eben nur ausdrückt, dass
sie überhaupt nirgends hin flutet, weil sie nicht von einem
terminus ad quem abhängig ist.
Im begrifflichen Sinne, der sich an
einem Gegenstande orientiert, mag dieser Blick irgendwie
unbestimmt wirken, im Lebenssinne ist er etwas durchaus
Sicheres.
Der fixierte Punkt ist das Symbol der
äusserlichen Festgelegtheit und Vereinzelung, die dem Prinzip
der Form entspricht, der Bestimmtheit, die sich in der Berührung
zwischen Innerem und Äusserem erzeugt und die nicht in Frage
kommt, wo das Leben sein reines Bei-sich-sein ausspricht.
Es ist aufklärend, dem die Tendenz des
Barock entgegenzuhalten: die Affekte der Personen möglichst
eindeutig und verständlich vorzutragen, ihnen jene espressione
zu geben, die sich auch mit Begriffen fassen lässt — und dass
für diese das Auge überhaupt kein recht dienliches Mittel ist.
Denn immerhin verkündet es, mehr als
irgendein anderes bewegliches Einzelorgan, hinter seiner
Reaktion auf die singuläre Anregung eine Ganzheit des seelischen
Lebens, das sich niemals ganz (wenn auch bei dem banalen
Menschen sehr annähernd) in jener Angebbarkeit der Situation
oder des Affektes erschöpft.
Dass das Auge spricht, heisst
eigentlich, dass es mehr sagt, als sich sagen lässt.
Sein Ausdruck strömt zu unmittelbar aus
den dunkeln Unaussprechlichkeiten der Seele, als dass es für die
Ungebrochenheit und Unmissverständlichkeit, wie die Barockkunst
sie erstrebte, sehr brauchbar gewesen wäre.
Man achte darauf, wie sehr schon Vasari
in seinen Gemäldekritiken den Ausdruck des Auges vernachlässigt;
höchstens spricht er von occhi fissi al cielo oder überhaupt von
einem starren Blick, dessen Bedeutung also eigentlich nicht in
seinem Leben, sondern in seiner Stellung liegt.
Bei Rubens ist es besonders auffallend, wie häufig er die Augen
in einer flachen Allgemeinheit hält.
Der Barock hatte keinen Sinn für die
Tiefendimension des Auges, die mit jenem raumlosen Blicke
Rembrandtscher Personen sozusagen absolut wird.
Stimmung
Kann man nun in diesen letzten
Zusammenhängen von der »Stimmung« in der von Rembrandt
dargebotenen Erscheinung sprechen — da Stimmung ein
Innerlich-Persönliches, vielleicht jeweils Einziges ist, das
doch alle Einzelheit von Vorstellungsinhalten in sich verlöscht
hat —, so charakterisieren mehrfigurige Bilder diese späte
Entwicklungsstufe noch deutlicher.
Denn nun mischen sich noch jene in sich
nicht mehr differenzierten Fühlbarkeiten des Lebens, in denen
die Individualisierung noch einmal eine höhere Form gewinnt,
ihre frühere Schärfe wie in eine schwebende Luftschicht
auflösend.
In der Judenbraut sind die Gestalten
wie die Töne eines Akkords, der freilich nicht irgendwie
ausserhalb der einzelnen Töne ist; aber sie sind in ihm zu einem
Gebilde zusammengegangen, das sich in ihnen als einzelnen nicht
pro rata aufzeigen lässt.
Ein zartes, gleichsam stillhaltendes
Leben, das ganz in jeder der beiden Gestalten ist, setzt sich
dennoch, mit kontinuierlichem Übergang aus ihnen, in eine
gemeinsame, sie umgleitende Atmosphäre fort.
Ein höheres Ganzes hat das
Für-sich-Sein der Individuen aufgenommen, deren Eigenheit vor
ihm zurücksinkt und es doch mit der letzten Allgemeinheit ihres
Lebens speist.
Wenn irgendwo der Begriff des
»Aufhebens« mit Recht seine beiden, sonst entgegengesetzten
Bedeutungen vereinheitlicht, so geschieht es an dem Verhältnis,
das in diesen späten Bildern die eigentliche Individualität des
Menschen zu dieser aufgelösten und auflösenden, jegliche
Lebenshebung und -senkung nivellierenden Sphäre besitzt; dass
diese Sphäre über der Individualität ist, ist die Form, mit der
sie in ihr ist.
Es wird damit auch die Entwicklung
verständlich: dass die Aktualität, die einzelne Situation und
Gebärde, in der die früheren Porträts oft das Modell zeigen,
allmählich immer mehr zurückzutreten scheint, um dem schlechthin
Innerlichen und Übermomentanen Platz zu machen.
Die äusseren Attribute, am Anfang noch
mit der Bewegung, dem dargestellten Habitus der Person
verbunden, erscheinen immer mehr als ein ideell gleichgültiges
Hinzufügsel, das nur in rein malerischen Gründen, manchmal in
bloss technischen Interessen sein Recht auf die Stelle im Bilde
hat.
Die momentane Bewegung verhallt immer
mehr in eine Ruhe, die freilich eine überaktuell-innerliche,
sozusagen mit keiner Veränderung mehr verbundene Bewegtheit
einschliesst.
Die Staalmeesters zeigen noch eine an
den Augenblick geheftete Bewegung der einzelnen Gestalt.
In der Judenbraut aber haben die Gesten
des Mannes und der Frau, obgleich sie, äusserlich genommen, nur
vorübergehende sind, einen ganz anderen Charakter.
Wie der Mann sich zu der Frau neigt und
sie umfasst, wie ihre Hand, zugleich bekräftigend und
sänftigend, die seine berührt — das ist nicht eine
vorübergehende Bewegung.
Dabei ist es nicht eine typische Geste,
die, wie in der Klassik, ein Allgemeines jenseits dieser
Persönlichkeiten zeichnete; sie kommt ganz und gar nur dem
Individuum zu, bildet sich aber erst in jener Schicht, in der
sein Leben, alle an Einzelnes geknüpften Bestimmungen auflösend,
wie eine homogene Sphäre der Erscheinung entsteigt.
Hier nun umhüllt dieses Leben zwei
verbundene Gestalten und macht seine Höhe selbst über den
früheren Formen Rembrandtscher Individualisierung dadurch noch
eindringlichen dass es, logisch unausdrückbar, in ein
gemeinsames Leben verschmilzt, ohne seinen Quellpunkt in jeder
einzelnen Gestalt zu verlassen.
Das Menschheitsschicksal und der
heraklitische Kosmos
Dass die bei Rembrandt in einzigartiger
Weise individualisierte und einreihige Lebensströmung den
spezifischen Eindruck seiner Porträts trägt, das bedeutet
freilich eine gewisse Eingeschränktheit seiner
Menschenauffassung, die sich etwa gegen die beiden Stiltypen:
Michelangelo und Rodin, deutlich abzeichnet.
Die klassische Typik ergreift bei
Michelangelo in einzigartiger Weise die Ganzheit des Lebens,
wobei der Lebensbegriff aber nicht als die historische
Werdensreihe einer Einzelexistenz verstanden ist, sondern zu
seinem Subjekt die Menschheit und zu seinem Inhalt alles das
hat, was man im weitesten, inneren und äusseren Sinne, Schicksal
nennen kann.
Die Physiognomien von Michelangelos
Gestalten haben durchaus den klassisch generellen, nirgends
personal zugespitzten Charakter.
Die ganze Gestalt, in all ihrer
formalen Geschlossenheit, Ruhe, ja Schwere, ist durchschüttert
von dem Leben überhaupt, von dem Leben als Schicksal, in der
ganzen rätselvollen Verflechtung, ja Solidarität, in die der
Begriff Schicksal unser Innerstes und das, was die Mächte
ausserhalb unser uns auferlegen, einstellt.
Diese Gestalten sind nur wie die
Kanäle, durch die das Verhängnis des Daseins überhaupt strömt,
ihr Leben ist das Leben der Menschheit, das zwar hier von einer
sehr bestimmten Weltanschauung und Gefühlsweise her erfasst ist,
für das aber diese einzelne Individualform nur Gefäss oder
Symbol ist, ohne es in die Besonderheit gerade dieser
Lebensströmung zu vereinzigen.
Wie Rembrandts Gestalten jenseits von
Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit standen, weil sie
schlechthin einzig sind, so die Michelangelos aus dem
entgegengesetzten Grunde: weil sie schlechthin allgemein sind.
Die Form-Allgemeinheit der Klassik ist
hier von der Lebensallgemeinheit getragen und hat damit ihre
tiefste Begründung gefunden, ist aus einem letzten Sinn heraus
gewachsen: daraus, dass jede Gestalt gleichmässig die
Offenbarung des jede Individualform übergreifenden Lebens
überhaupt, Schicksals überhaupt ist.
Während nun auch Rembrandts Gestalten
kein besonderes, zufälliges Schicksal der Person darstellen,
sondern das ganze Leben unmittelbar ihr Schicksal ist — so ist
es eben doch ihr ganzes Leben, die völlige Individualität seines
Verlaufes.
Es schwebt nicht als das
Menschenschicksal überhaupt über ihnen und lässt sich nur auf
den einzelnen nieder, sondern es bricht aus ihnen selbst hervor;
aus irgendeiner tiefen Quelle, die nichts Vorangehendes und
nichts Übergreifendes kennt, strömt hier ein Werden, das die
Totalität dieses Lebens ist, aber seiner Wirklichkeit und Seinem
Sinn nach einzig, eine individuelle causa sui.
Wenn Schicksal bedeutet, dass ein
weltmässiges, von dem Subjekt unabhängiges Geschehen dennoch in
einer teleologisch sinnhaften Beziehung — positiven oder
negierenden — zu der eigensten Lebensrichtung dieses Subjektes
steht, so hat diese Beziehung für den Renaissancemenschen die
Form des Gegenüber.
Er ist entweder die stolz auf sich
gestellte Persönlichkeit, die sich als Herr ihres Schicksals
fühlt und ihre einzige Abhängigkeit: von Anerkennung und Ehrung
durch ihresgleichen — in sicheren Besitz verwandelt hat; oder er
kämpft gegen das Schicksal, Macht gegen Macht, wie Michelangelo
ihn darstellt, hier jedesmal in einem Augenblick, in dem der
Kampf zum Stehen gekommen ist.
Und selbst da, wo das Schicksal ihn
überwältigt hat, beharrt er in einem Gegenüber, in einer
Haltung, die von äusserem Schicksal ringsum gefesselt, aber
nicht durchdrungen werden kann.
Gerade dies aber zeigen Rembrandts
Menschen, eine sonst nie dargestellte Einheit von Person und
Schicksal.
Die Bezüglichkeit auf den eigenen
inneren Lebenssinn, durch die das objektive Geschehen zum
Schicksal für und in uns wird, zeigt sich hier so, dass der
Mensch ganz und gar vom Schicksal durchgearbeitet und geprägt
erscheint, dadurch aber in keiner Weise unindividuell und
nivelliert wird, sondern gerade so, dass das Für-sich-Sein, die
innere Unvergleichlichkeit seiner Existenz sich auftut.
Ich möchte sagen: die Intimität, die
alle Rembrandtschen Darstellungen überhaupt charakterisiert,
besteht hier auch zwischen dem Menschen und seinem Schicksal, so
dumpf oder alltäglich, so zermürbend oder zerbrechend es sein
mag: nicht das Gegenüber des Schicksals, sondern seine Nähe
bestimmt den Menschen.
Eben darum muss das Schicksal der
Gestalten Michelangelos ein allgemeines, unpersönliches sein,
herwehend aus jenen kosmischen Gründen und Fernen, die den
Menschen, sobald er überhaupt das Zentrum in sich selbst
gefunden hat, in irgendeine Gegnerschaft und letzte Fremdheit
bannen.
Und darum kann das Individuum selbst,
solches Schicksal tragend und ihm ein Paroli bietend, auch nur
ein überindividuelles, zum Menschheitssymbol ausgeweitetes sein.
So müssen die Parteien gestaltet sein,
um das prometheisch Trotzige und prometheisch Gefesselte zu
zeigen.
Jenem Nahverhältnis, in dem
persönliches Leben und persönliches Schicksal nicht
auseinandertreten, entspricht, als seinem religiösen Ausdruck,
die »Frommheit« der religiösen Gestalten Rembrandts, jenes
selbstverständliche Durchdrungensein der Existenz von dem
Verhältnis zum Absoluten, das doch keine pantheistische
Entselbstung fordert.
Denn das Schicksal, auch als
gottgesandtes gedacht, könnte sich dem Leben nicht so unbedingt
anschmiegen, wenn es nicht Ursache wie Wirkung gerade seiner
Eigenheit wäre.
Jenes Wesen der Gestalten Michelangelos
muss dagegen das spezifisch unfromme heissen.
Wenn er im Alter verzweifelt
ausspricht, dass seine Kunst ihn auf falsche Wege gelockt habe,
von dem Heil und der Liebe fort, die vom Kreuze die Arme streckt
a prender noi — so fühlt er vielleicht nicht nur den Gegensatz
der sinnlich-irdischen Fesselungen durch die Kunst gegen den Ruf
zum Überweltlichen und gegen das ewige Schicksal der Seele;
sondern dass gerade seine Kunst den Abgrund zwischen dem
Menschen und dem, was mehr ist als der Mensch — nennen wir es
Schicksal, nennen wir es Gott — tiefer aufgerissen hat, als
irgendeine andere.
Nicht als ob Rembrandt den Gegensatz zu
einer »Versöhnung« abgeplattet hätte; diese Formel dementiert
jeder Blick auf die Selbstporträts seines Alters, in denen eine
fast angstvolle innere Gespanntheit der Züge, mit ergreifendem
Kontrast, durch ihre verfettete Schlaffheit hindurch sichtbar
ist.
Er hat nur dem Schicksal die Form des
Gegenüber genommen, und es, mit allem Bitteren und Harten, in
die Form der wirklich gelebten individuellen Existenz sich
hineinleben lassen.
Aus diesen Konstellationen wird
begreiflich, dass Michelangelos Gestalten, trotz all ihrer
Gewaltigkeit und Vollendung, den Eindruck der Unfreiheit machen:
Schicksal und Leben, weil es nicht ihr einzig-eigenes, sondern
das der Menschheit überhaupt ist, vergewaltigt sie, sie möchten
sich dagegen wehren und es abschütteln und können das nicht,
weil es ja doch ihr eigenes Wesen, das Wesen des Menschlichen,
ist — ein begrifflicher Widerspruch freilich, ein logisch
Unvereinbares, mit dem sich aber gerade die unversöhnliche
Tragik dieser Gestalten vielleicht ausdrücken lässt.
Rembrandts Gestalten umgekehrt, ohne
die heroische Gebärde und monumentale Mächtigkeit jener, oft
genug wie gedrückt und zerdrückt von äusseren Mächten, lassen
immer noch einen Freiheitspunkt fühlen, sie haben nicht gegen
die unsichtbaren Gewalten anzukämpfen, die als das Schicksal des
menschlichen Lebens überhaupt und deshalb doch ausserhalb des
widerstrebenden Einzelnen, ihn mit sich reissen.
An all den oft kleinbürgerlichen,
schlechtrassig jüdischen, geistig unerheblichen Menschen
Rembrandts ist etwas von Souveränität, die aber nicht ihrem
Bewusstsein einwohnt, sondern ihrer Auffassung durch den
Künstler; er hat gezeigt, wie in dem idealen Bilde jedes
Menschen eine Freiheit und Selbstherrlichkeit wohnt, sobald der
zum Bilde ergriffene Moment wirklich aus der Kontinuität seines
Lebens aufgewachsen ist — entsprechend dem Freiheitsbegriff
seines Zeitgenossen: zu existieren und zu handeln ex solis suae
naturae legibus — ein Gewordenes, das den ganzen Lauf seines
Werdens in sich gesammelt hat und gerade nur aus diesem — soviel
Äusseres und Passives ihm eingefügt sei — werden und begriffen
werden konnte.
Freilich muss das mit dem Verzicht auf
jene Erweiterung zum Allgemein-Menschlichen bezahlt werden.
Michelangelos Gestalten erlebten das,
wenn auch unter besonderem Gesichtswinkel erfasste, Schicksal
der Menschheit überhaupt, die Grenzen des individuellen Daseins
sind durchbrochen, und was wir sehen, ist nicht ein Strom, aus
einer Quelle zu einer Mündung fliessend, sondern eine Welle,
gehoben aus einem Meer, das in ihr sein Gesamtgesetz anschaulich
macht, oder genauer, wir sehen eigentlich nicht eine Welle,
sondern durch sie hindurch, als wäre sie durchsichtig, das ganze
Meer.
Es handelt sich nicht um das Plus und
Minus, das jede Vergleichung künstlerischer Persönlichkeiten
unvermeidlich, aber innerlich zufällig ergibt; sondern darum,
dass das Positive jeder dieser Auffassungen der Kunst, ja des
Lebens innerlichst an die Bedingung gebunden ist, die andere
auszuschliessen.
Ist es nun bei Michelangelo die
Schwere, Spannung und Unerlöstheit des Menschenschicksals
überhaupt, an der fühlbar teilhabend die Gestalt sich über die
individualistische Einschränkung der Rembrandtschen Darstellung
erweitert, so dehnt sich bei Rodin der Kreis, in den die
Individualität sich auflöst, noch weiter.
Die Intention des Gefühles liegt jetzt
nicht mehr auf einem Verhängnis der Menschheit als solcher,
sondern auf dem Bewegungsrhythmus des kosmischen Geschehens
überhaupt. Rodins Kunst, insoweit sie originell schöpferisch
ist, steht im Zeichen des modernen Heraklitismus. Für das so
bezeichenbare Weltbild ist alle Substanzialität und Festigkeit
des empirischen Anblicks in Bewegungen übergegangen, in
rastlosen Umsetzungen durchströmt ein Energiequantum die
materielle Welt, oder vielmehr: ist diese Welt; keiner
Gestaltung ist auch nur das geringste Mass von Dauer beschieden,
und alle scheinbare Einheit ihres Umrisses ist nichts als
Vibration und das Wellenspiel des Kräftetausches.
Rodins Gestalten sind Elemente einer so
empfundenen Welt, Umrisse und Bewegungen des Leibes sind hier
die Symbole von Seelen, die sich in eine Unendlichkeit von
Entstehung und Vernichtung hineingerissen fühlen, in jedem
Augenblick an dem Punkte stehen, wo Werden und Untergehen sich
begegnen.
Die Form im Sinne der Klassik ist
deshalb hier ebenso aufgelöst wie bei Rembrandt, aber das
Lebendigwerden, Prozesswerden der Gestaltung vollzieht bei Rodin
nicht zugleich die Festigung zu dem ganz neuen Sinn und der
Einreihigkeit der Individualität.
Die Oszillierungen und Wirbel des
kosmischen Geschehens vielmehr lassen es zu dieser (ich spreche
hier von den Akten, nicht von den, kompliziertere Deutung
fordernden Porträts Rodins) nicht kommen. Man kann die drei
Stiltypen, die hier zugleich Symbole dreier ganz allgemeiner
Lebensbegriffe sind, an ihrem Verhältnis zurzeit
charakterisieren.
Die Form der Klassik bezeichnete ich
als zeitlos, weil sie dem Nacheinander des Lebensprozesses als
die Abstraktion seiner Inhalte oder Ergebnisse gegenübersteht;
nachdem die Entwicklung der Bewegung oder des Lebens zu dieser
Gestaltung geführt hat, gibt es für diese, rein künstlerisch
geformte, kein Vorher und kein Nachher mehr.
Aber aus dem entgegengesetzten Grunde
ist in den Rodinschen Gebilden die Zeit ausgeschaltet.
Denn damit sie für ein Gebilde Geltung
habe, muss dieses ein, in welchem Sinne immer, einheitliches
sein, an dem ein Vorher und ein Nachher irgendwie fühlbar werden
kann.
Eine Zeit, die schlechthin nur
verfliesst, sozusagen gedächtnislos, wäre keine Zeit, sondern
ein ausdehnungsloses Jetzt; nur wo sich eine Form bietet, in der
das Vergangene noch zu irgendeiner Synthese mit dem
Gegenwärtigen gelangt, ist Zeit.
Die Welt der Rodinschen Gestalten aber
ist (ihrer Idee nach, auf die die Anschauung natürlich nur aus
einer Entfernung hinweist) gerade eine solche des absoluten
Flusses, der Aufhebung jeder Festigkeit, an der sich ein Früher
und ein Später, also eine Zeit, markieren könnte.
Hier ist der vorüberfliegende Moment
des Lebens gebannt, aber so, dass man wirklich sein
Vorüberfliegen fühlt, während das Vorher wie das Nachher in
undurchdringliches Dunkel versunken bleibt.
Die absolute Bewegtheit, in die die
Seelen und die vibrierenden und sich bäumenden, zuckenden und
fliegenden Körper bei Rodin hineingerissen sind, negiert die
Zeit gerade so, wie das Zurücktreten von aller Bewegtheit in dem
Formprinzip der Klassik sie negiert hatte.
Das absolute Werden ist genau so unhistorisch wie das absolute
Nicht- Werden.
Hier liegt, was die Rodinsche
Auffassung des Menschen von der Rembrandtschen trennt.
Der Mensch bei Rodin ist in alle
Bebungen und Wehen des Werdens aufgelöst, er besteht sozusagen
nur in dem heraklitischen Momente des Werdens — aber das
Gewordensein dieses Momentes spüren wir nicht.
Auch von seiner eigenen Vergangenheit
ist er losgerissen — das will sagen, dass er keine
Individualität ist. Es ist das Lebensgefühl wie in dem
Verlaineschen Vers:
Et je m'en vais
Au vent mauvais
Qui m'emporte
De ça de là
Pareil à la
Feuille morte.
Den Zusammenhang nun zwischen der
Individualität und dem Historisch-Zeitlichen hat Rembrandt
anschaulich gemacht.
Einerseits nämlich sind die Momente des
absoluten Werdens nur dadurch in ein Vorher und Nachher zu
gliedern, dass sie sich an einem Einheitlichen, in irgendeinem
Sinne Durchhaltenden, vollziehen.
Wären sie mit ihrem zeitlichen
Vorbeisein auch radikal verschwunden, so könnte es zu jener
Ordnung und Relation, die eine gewisse Zusammenfassung
voraussetzt, nicht kommen.
Am Lebendigen erscheint die
Individualität als dieser ideelle Bestand, an dem sich die auf-
und niedertauchenden Werdensmomente gewissermassen aufreihen,
sie sind nun nicht mehr unlokalisierte Daseinsatome, sondern als
Zustände eines und desselben Individuums (das nicht etwa als
starre Substanz, sondern in der eigentümlichen Identität des
Lebendigen mit sich selbst zu deuten ist) sind sie nun
füreinander nicht verloren, wie vom Gesichtspunkte des bloss
mechanisch-kosmischen Wirbels aus, sondern das eine ist wirklich
das Frühere bzw. das Spätere des andern.
Erst als Entwicklungsmomente einer
Individualität also sammeln und ordnen sie sich in einer
Zeitreihe.
Umgekehrt ist Individualität ihrerseits
nur durch die historische, die Absolutheit des Werdens
ablehnende Nacheinander-Reihung der Lebensmomente denkbar —
immer vorausgesetzt, dass sie nicht die Akzentuierung des
Besondersseins, die qualitative Einzigkeit besagen will,
sondern, wie bei Rembrandt, die Kontinuität eines einheitlichen
Lebens, in dem jeder Augenblick alle vergangenen voraussetzt und
alle künftigen begründet und jeder die jeweilige Form bedeutet,
in der sich die Ganzheit dieses Lebens darstellt.
Solcher Sinn der Individualität ist
ersichtlich nur durch den zeitlichen Zusammenhang der
Lebensmomente zu realisieren, nicht aber bei ihrer Atomisierung
in die absoluten Bewegtheiten einer gegen alle Zusammenfassung
gleichgültigen Welt.
Das Daseins- und Schicksalsgefühl, von
dem aus Rodin seine Akte gestaltet, ist aber gerade einer
solchen Welt verhaftet, es kennt deshalb, seiner Idee nach,
keine zeitliche Synthese, die sich sozusagen nur als der andere
Ausdruck des Individualitätsgedankens herausgestellt hat.
Indem die Ordnung der Zeit die Individualität bedingt, diese
aber zugleich jene, offenbart sich beides als eine, nur von
verschiedenen Seiten her betrachtete Formung des Lebens.
Unverkennlich zeigt sich hier, wie die
individualistische Auffassung des Menschen bei Rembrandt
zugleich die von der Geschichte des Menschen dominierte ist und
sich ebenso gegen die überzeitliche der Klassik wie die
unzeitliche Rodins abhebt.
Wenn ich hier noch einmal an die früher
betonte Aufhebung der vereinzelnden Momentaneität in die
fliessende Totalität des Lebens erinnern darf, so geht bei
Rembrandt der Weg vom Moment in die Ganzheit des individuellen
Schicksals, das zeitlich ist, bei Michelangelo und Rodin in die
Ganzheit des Menschenschicksals oder auch des Kosmos, die — für
unsern Blick — zeitlos ist.
Während aber die Klassik, in ihrer
Erfüllung durch Michelangelo, die ewige Unerlöstheit dieses
Menschenschicksals gerade durch die Zeitlosigkeit der Formgebung
eindringlich machte, Rembrandt dagegen seine Gestalten von
dieser überindividuellen Weite ausschloss und sie in ihr
personales Schicksal einschloss — hat er sie durch den einreihig
festen Ablauf ihrer individuellen Zeitlichkeit von dem
kosmischen Schicksal abgesperrt, in dem die Rodinschen Gestalten
stehen und sich freilich auflösen.
Wie die Rembrandtschen Gestalten
deshalb den Michelangelesken gegenüber etwas Freies, aber dem
All gemein-Menschlichen Unverbundenes haben, so zeigen sie den
Rodinschen gegenüber eine letzte innere Sicherheit, die diesen,
vom Sturm und den absoluten Vergewaltigungen des Daseins
entwurzelten und unpersönlich gewordenen ganz fehlt; aber
immerhin ist diese Aufgelöstheit eine in den Kosmos gehende, das
kosmische Leben (dahingestellt, ob es so definitiv richtig
formuliert ist) lässt ihnen keinen Rest von Fürsichsein, sie
sind nichts als die Oszillationen in einer heraklitischen Welt,
zu deren Totalität sie die Zugehörigkeit um den Preis gewinnen,
jegliche Substanz und Lebenseinheit dem blossen Jetzt des
absoluten Werdens preiszugeben.
Indem Rembrandts Gestalten diese
Einheit und selbstsichere Kontinuität bewahren, bezahlen sie
ihrerseits dafür den Preis, nicht eigentlich das Gefühl des
Kosmischen in uns zu wecken.
Selbstverständlich soll dies keine
Lücke bezeichnen, deren Ausfüllung den Qualitäten Rembrandts
eine weitere hinzugefügt hätte.
Es ist vielmehr nur der negative Ausdruck für die Positivität
seines Wesens, und dieses würde, wenn es sich in jener Hinsicht
anders verhielte, nicht bereichert, sondern sich selbst
entfremdet und widersprechend sein.
Ebenso steht es mit einem andern
Ausdruck für Rembrandts schöpferisches Wesen, der den erwähnten
Zug aus dem wesentlich Gefühlsmässigen in das mehr Geistige
fortsetzt.
Weder bei Rembrandt noch bei
Shakespeare (so paradox es namentlich für diesen klingt) handelt
es sich um »der Menschheit grosse Gegenstände«, wie bei Dante
und Michelangelo, bei Goethe und Beethoven.
Das Grosse und das Tiefe, das Zarte und
das Erschütternde des Menschenlebens selbst, in seiner
Innerlichkeit und in seiner Bestimmtheit durch das Schicksal,
ist ihr Gegenstand.
Dem Ganzen der Welt, mit der Ewigkeit
ihrer Gesetze und Geschicke, stellen sich weder Rembrandt noch
Shakespeare gegenüber, wie es Dante und Goethe unmittelbar,
Michelangelo und Beethoven in den Reflexen ihrer Subjektivität
tun.
Das Leben, in den besonderen Arten
seines subjektiven Vollzuges, das Schicksal, insoweit es sich
innerhalb dieses Vollzuges als dessen Bestimmungsgrund findet,
ist die Aufgabe, mit der Rembrandts wie Shakespeares Darstellung
abschliesst.
Dass aber das Leben sich sozusagen
jenseits seines Gelebtwerdens und dessen gefühls- und
willensmässiger, religiöser und schicksalshafter Bewegtheit und
Vertiefung stellen kann, indem es Gegenstände bildet und an
ihnen, den grossen, schlechthin überindividuellen Ideen und
Totalitäten, und für sie lebt, das spricht nicht als Wissen,
Leidenschaft, Notwendigkeit aus ihren Werken.
Wenn Dante sich in der ungeheuren
Sehnsucht, den Weltplan des Diesseits und des Jenseits
nachzuzeichnen erschöpft, wenn es für Goethe der Sinn seiner
Existenz ist, die Gott-Natur an der Einheit wie an der
Entzweitheit alles Erscheinenden zu gewinnen; wenn die
Sixtinische Kapelle und die Medicäergräber, die fünfte Symphonie
und die Appassionata das grenzenlose Ringen um Freiheit und
Licht, um höchste Erhebung des Irdischen und Erhebung über das
Irdische verkünden — so ist das Leben mit alledem der Grösse
eines Gegenständlichen verhaftet.
Das Werk Shakespeares und Rembrandts
aber entscheidet sich für die Grösse und Tiefe, für das Wunder
der Individualität und die Schönheit des bei sich selbst
verbleibenden Lebens; diese Entscheidung schwächt sich nicht ab,
sondern bestätigt ihre Mächtigkeit damit, dass sie alles
Schicksal, alles Geschehen, alle Anschaulichkeit der Dinge und
Kräfte um uns in das Leben einwebt.
Und wie sehr das Leben um seiner selbst
willen da ist, als das Absolute zu all seinen Relationen,
offenbart sich da, wo es jenen Gegebenheiten unterliegt,
vielleicht noch umfassender und aus noch grösserer Tiefe heraus,
als wo es über sie Herr wird. — Die Grössenordnung, in der hier
die Träger dieser Gegenrichtungen stehen, macht jede Rangierung
nach Wertquanten zwischen ihnen zu etwas ganz Unangemessenem.
Nur um die reine Feststellung der
schöpferischen Gesamtintentionen handelt es sich (die übrigens
nur die Aufgipfelungen von charakterologischen Grundsätzen auch
niederer und unproduktiver Schichten sind).
Ob der entscheidende Sinn eines
künstlerischen Schöpfertums — der nicht mit der bewussten
Absicht der schaffenden Persönlichkeiten und auch nicht mit
etwaigen Äusserungen der geschaffenen zusammenfällt, dessen
Träger vielmehr der Schöpfer des Gesamtwerkes als solcher ist:
ein ideelles Gebilde, das Wahrheit, aber nicht Wirklichkeit hat
— ob dieser Sinn sich an »der Menschheit grosse Gegenstände«
wendet und hingibt, oder ob ihm dies als ein Umweg des um seiner
selbst willen lebenden Lebens erscheint, den dessen reinste
Konzentration vermeidet — das ist die grosse Scheidung.
Sie bestimmt die Stelle, die Rembrandt
über sein Künstlertum hinaus und durch dieses nur vermittelt, in
der Geistesgeschichte der Menschheit einnimmt.
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3.
Kapitel: Religiöse Kunst |