Georg Simmel: Lebensanschauung
Vier metaphysische Kapitel
Duncker & Humblot, Berlin 1918
II.
Die Wendung zur Idee
Bei
dem Wort »Welt« im weitesten, zusatzlosen Sinne glaubt das Populäre Bewusstsein
die Summe aller Dinge und Geschehnisse zu denken, die
überhaupt wirklich sind, uns erfassbar oder nicht.
Tatsächlich aber denkt es noch etwas ganz anderes dabei: Wäre uns
nämlich selbst die Unermesslichkeit der Weltinhalte Stück für Stück
gegeben, so hätten wir eines und noch eines und noch eines - allein dass sie alle zusammen »eine Welt« bilden, ist etwas, was zu diesem bloßen
Dasein des vielen Einzelnen noch hinzukommt, eine Form, in die es gefasst
werden muss.
Der Geist erst vermag alledem eine Einheit zu schaffen, es in ein Netz,
das er selber gesponnen hat, einzufangen.
Wenn wir von »Welt« sprechen, so meinen wir einen Gesamtumfang, von
dem uns nur ein verschwindender Teil seiner Inhalte zugängig ist - was
gar nicht anders zu erklären ist, als dass wir irgendwie im Besitz der
Formel sind, die auch das Nichtbekannte dem Bekannten hinzuzufügen
gestattete, so dass es mit diesem eben zu der Einheit einer Welt
zusammenginge.
Welt im vollen Sinne ist also eine Summe von Inhalten, die vom Geiste
aus dem isolierten Bestande jedes Stückes erlöst und in einen
einheitlichen Zusammenhang gebracht ist, in eine Form, die Bekanntes und
Unbekanntes zu umschließen imstande ist.
Nun nützt es aber noch nichts zu sagen: dies alles ist Einheit und
also eine Welt, da Einheit schlechthin ein ganz ohnmächtig abstrakter
Begriff ist.
Er kann nur dadurch realisiert werden, dass eine bestimmte Einheit,
ein angebbares Prinzip, ein irgendwie differenziertes Gesetz, eine
Färbung oder Rhythmik, ein nachfühlbarer Sinn die einzelnen Realitäten zusammenfasst.
Zu jener populären »Welt« nun wirken wahrscheinlich eine ganze Reihe
solcher Einheit-schaffenden Prinzipien zusammen: Raum, Zeit, allgemeine
Wechselwirkung, Verursachtheit durch einen göttlichen Schöpfer.
Empfänden wir diese nicht als allgemein gültige Schemata, denen alle
Wirklichkeiten unterstehen und die, über jede einzelne hinweggreifend,
sie mit jeder anderen einzelnen in Verbindung setzen, so hätten wir
lauter einzelne Dinge, aber nicht eine Welt, also auch nicht eine Welt.
Philosophische »Welt«-Anschauungen entstehen, indem diese noch etwas
diffuse Einheit sich in scharf bestimmte, exklusive Höchstbegriffe
konzentriert.
Mit solchen: des Seins oder des Werdens, der Materie oder des Geistes,
der Harmonie oder des durchgängigen Dualismus, des Zweckes oder der
Göttlichkeit und vielen anderen treten die Philosophen an die
Wirklichkeit, die gekannte wie die noch ungekannte, heran (gleichviel, ob
diese Begriffe ihrerseits schon aus Einzelerfahrungen gewonnen sind), und
indem je ein solcher Begriff die bestimmende, aneignende Kraft ihres
Schauens ist, formt sich ihnen die bloße Summe der Wirklichkeiten zu
einer Welt.
Dass die Philosophen mit der Einseitigkeit ihrer Prinzipien die Welt
vergewaltigen, ist ein falsch formulierter Vorwurf. Denn durch derartige Prinzipien kommt die Welt überhaupt erst zustande
- wobei natürlich das einzelne unzulänglich, für die Gegebenheiten zu
eng, in sich widerspruchsvoll sein kann.
Dann bringt es eben keine Welt zustande. Es gibt dann vielleicht eine nach einem besseren Prinzip, aber ohne
solche Einseitigkeit gibt es überhaupt keine.
Die Philosophen vollziehen damit nur in entschiedenerer, freilich auch
jeweils einseitigerer Begrifflichkeit, was ein jeder andere tut, wenn er
von der Welt spricht.
Welcher Leitbegriff nun jeweils dem einzelnen Denker seine Welt als
solche schafft, hängt ersichtlich von seinem charakterologischen Typus
ab, von dem Weltverhältnis seines Seins, das das Weltverhältnis seines
Denkens begründet.
Allein nun gibt es noch einen anderen Typus von Begriffen, mit denen
wir Betätigungsarten des Geistes benennen, so umfassende, dass durch ihre
Formungskräfte die prinzipielle Unendlichkeit möglicher Inhalte zu je
einer, durch bewusst besonderen Charakter vereinheitlichten
»Welt« zusammenwächst.
Es handelt sich zunächst um die großen Funktionsarten des Geistes,
durch die er (präsumtiver Weise) die identische Totalität von Inhalten
zu einer jeweils in sich geschlossenen, einem unverkennlichen
Gesamtprinzip untertanen Welt entwickelt: die Welt in der Form der Kunst,
in der Form der Erkenntnis, in der Form der Religion, in der Form der Wert
und Bedeutungsabstufung überhaupt.
Rein ideell angesehen kann kein Inhalt sich dem entziehen, sich
erkennen zu lassen, künstlerische Formung anzunehmen, religiös
ausgewertet zu werden.
Diese Welten sind gegenseitig keiner Mischung, keines Übergreifens,
keiner Kreuzung fähig, da jede ja schon den ganzen Weltstoff in ihrer
besonderen Sprache aussagt, obgleich es selbstverständlich ist, dass im
einzelnen Grenzunsicherheiten entstehen, und dass ein von einer Kategorie
geformtes Weltstück in die andere hineingenommen und hier von neuem als
bloßer Stoff behandelt werde.
Wir erblicken in jedem dieser Bezirke eine innere, sachliche Logik, die
zwar Spielraum für große Mannigfaltigkeiten und Gegensätze gibt, aber
doch auch den schöpferischen Geist an ihre objektive Gültigkeit bindet.
Und wir denken uns diese einmal geschaffenen Gebilde als in ihrem Sinn
und Wert ganz unabhängig davon, ob und wie oft sie von Individuen
aufgenommen und seelisch nachrealisiert werden.
Als Werke oder Heiligkeiten, als Systeme oder Imperative haben sie
einen selbstgenugsamen, von innen her zusammengehaltenen Bestand, mit dem
sie sich sowohl aus dem seelischen Leben, aus dem sie gekommen sind, wie
aus dem anderen, das sie aufnimmt, gelöst haben.
Jenen Stoff nun, den Weltstoff, können wir in seiner Reinheit nicht
ergreifen, vielmehr heißt Ergreifen schon, ihn in eine jener großen, in
ihrer vollen Auswirkung je eine Welt bildenden Kategorien einstellen.
Wenn wir z. B. die Farbe Blau vorstellen, so ist sie etwa ein Element
der sinnlich wirklichen Welt, die der Ort unseres praktischen Lebens ist. Diesem Sinne ihrer gehört wahrscheinlich meistens auch das
Phantasiebild an, in dem wir die Farbe nur von den Begleitumständen
gelöst haben, mit denen die Wirklichkeitswelt sie verwebt.
Innerhalb der Begrifflichkeit der reinen Erkenntniswelt aber ist das
Blau in ganz anderem Sinne bedeutsam: da ist es eine bestimmte Schwingung
von Ätherwellen oder eine bestimmte Stelle im Spektrum oder eine
bestimmte physiologische oder psychische Reaktion.
Wieder anderes besagt es als Element der subjektiven Gefühlswelt, in
den lyrischen Empfindungen angesichts des blauen Himmels oder der blauen
Augen der Geliebten.
Es ist dasselbe und seiner weltmäßigen Bedeutung nach doch völlig
anders orientierte Blau, wenn es in den religiösen Bezirk gehört, etwa
als die Farbe des Mantels der Madonna oder überhaupt als Symbol in einer
mystischen Welt.
Der in dieser Weise zum Element sehr mannigfacher Welten geformte Stoff
ist nicht etwa, weil er ohne solche Formung unergreifbar ist, ein »Ding
an sich«; er ist nichts Transzendentes, das zur Erscheinung würde, indem
es erkannt oder gewertet, religiös eingeordnet oder künstlerisch
ausgestaltet wird.
Sondern in den so bezeichneten Gesamtbildern ist der Weltstoff jeweils
ganz und gar und nicht auf Borg von einer selbständigeren Existenz her
enthalten. Die »Inhalte« haben eine Existenz sui generis.
Sie sind weder »real«, da sie das ja erst werden, noch eine bloße
Abstraktion aus ihren mannigfachen Kategorisiertheiten, da sie nichts
Unvollständiges sind, wie der abstrakte Begriff gegenüber dem konkreten
Ding, noch haben sie das metaphysische Sein der »Ideen« Platos.
Denn obgleich er mit diesen auf dem Wege zu jenen »Inhalten« ist, so
gelangt er nicht zu der Reinheit ihres Begriffes, weil er sie sogleich
logisch intellektualistisch, also doch einseitig fasst. Er hält die logische Formung und Verbindung für die schlechthin
reine, noch nicht spezifisch präjudizierte.
Wie ein Stück physischer Materie in beliebig vielen Formen erscheint,
ohne irgend eine aber nicht existieren kann, und der Begriff seines
reinen, formfreien Materie-Seins eine zwar logisch gerechtfertigte, aber
in keiner Art von Anschauung vollziehbare Abstraktion ist - so etwa
verhält sich das, was ich den Stoff der Welten nenne, die, von je einem
Grundmotiv her, diesen Stoff zu - wenn auch erst im Unendlichen
abschließbaren - Total, täten formen.
Denn eben wegen dieser prinzipiellen Fähigkeit, den Stoff in seinem
ganzen Umfang aufzunehmen, nenne ich das Wirkliche als ganzes und ebenso
das künstlerisch Erschaffbare, das theoretisch Erkennbare und das
religiös zu Konstruierende je eine Welt.
Vom menschlichen Geiste her gesehen, gibt es keineswegs nur eine Welt,
wenn Welt den Zusammenhang aller überhaupt möglichen Gegebenheiten
bedeutet, die durch irgendein schlechthin gültiges Prinzip zu einem
Kontinuum werden.
Kontinuität ist für den Weltbegriff unerlässlich; was überhaupt in
keinem Zusammenhang steht, unmittelbarem oder mittelbarem, gehört nicht
in eine Welt.
Sagt man, es gäbe nur eine Welt, so meint man durchgehendes den
Ort unserer praktischen Interessiertheit, über die die Not des Lebens die
Menschheit nur so wenig hinausblicken lässt, dass die künstlerischen,
religiösen, rein theoretischen Inhalte nur als mehr oder weniger
isolierte Einzelheiten erscheinen.
Für die Mehrzahl der Menschen ist die sogenannte wirkliche Welt die
Welt schlechthin, und deren praktisches Übergewicht verbirgt es, dass jene anders geformten Inhalte eigenen Welten angehören, in welche sich
die Kompetenz der Wirklichkeitsform nicht erstreckt.
Innerhalb der geschichtlichen Realisierungen dieser Welten sieht es
freilich anders aus. Es existiert nicht Erkenntnis schlechthin, Kunst schlechthin, Religion
schlechthin.
Mit der absoluten Allgemeinheit dieser Begriffe verbindet sich keine
bestimmte Vorstellung mehr, sie liegen sozusagen im Unendlichen, d. h. da,
wo z. B. die Linien aller überhaupt möglichen künstlerischen Produktion
sich schneiden; deshalb kann man vielleicht »Kunst überhaupt« nicht
definieren.
Es existiert immer nur eine historische, d. h. eine jeweils in ihrer
Technik, ihren Ausdrucksmöglichkeiten, ihren Stilbesonderheiten bedingte
Kunst; eine solche aber kann ersichtlich nicht jedem der unbegrenzt vielen
Weltinhalte Unterkunft gewähren.
Wie man, um ein ganz singuläres Beispiel zu nennen, nicht jedes
Gefühlserlebnis in jedem lyrischen Stile ausdrücken kann, so ist
überhaupt die Latitüde begrenzt, in der die bis zu jedem historischen
Moment hin entwickelten Kunstformen auf die Weltinhalte anwendbar sind.
Die Maxime, die namentlich der künstlerische Naturalismus verkündet:
es gäbe überhaupt keinen Weltinhalt, der nicht zum Kunstwerk gestaltet
werden könnte - ist ein artistischer Größenwahn; er nimmt den restlosen
Umfang, in dem die Kunst überhaupt und als absolutes Prinzip den
Weltstoff formen könnte, für die in ihrer Formungskraft notwendig
begrenzte Kunst in Anspruch, die von uns innerhalb irgendeines
geschichtlichen Augenblickes realisiert ist.
Gewiss konnten die künstlerischen Verfahrungsweisen Giottos oder
Botticellis nicht die Farbenimpressionen Degasscher Ballerinen umspannen.
Allein dieser Erweiterungsprozess ist ersichtlich nie abzuschließen,
und dass die Kunst der Idee nach eine absolut vollständige Welt zu formen
vermag, ist ebenso sicher, wie dass jede gegebene Kunst dies prinzipiell
Mögliche nur fragmentarisch verwirklichen kann. Dass es mit der religiösen Welt nicht anders ist, liegt auf der Hand.
Es ist oft genug unternommen worden, das Ganze der Dinge und des Lebens
zu einer lückenlos religiösen Welt auszubauen. Aber selbst an dem jeweilig beschränkten Material ist es nicht
gelungen; immer bleibt etwas von Weltstoff, was von den religiösen
Kategorien nicht bewältigt wird - so sicher es möglich wäre, auch die
von den historischen Religionen nicht ergriffenen Inhalte sich in
religiöser Weise gestalten zu lassen, so dass ideell also wirklich eine
religiöse Welt besteht.
Auch an der »wirklichen« Welt wird sich dies zeigen lassen.
Es gibt gewisse Weltinhalte (wobei man eben nur Welt nicht von
vornherein als wirkliche Welt verstehen darf, Welt vielmehr als die ganz
allgemeine Form gilt, von der »Wirklichkeit« eine spezielle
Determinierung ist) - die z. B. innerhalb der Kunst völlig sinnvoll und
nach deren besonderer Logik in sich und mit anderen kohärent sind, ohne dass
sie unter der Kategorie der Wirklichkeit bestehen könnten;
prinzipiell und vielleicht für einen höher oder anders organisierten
Geist würden auch diese der »wirklichen« Welt zugehören.
Selbstverständlich kann man auch Kunstwerke und religiöse
Vorstellungen als Realitäten, also als Stücke der wirklichen Welt,
betrachten; ihrem Sinne nach aber gehören sie mit ihrem, in jener
Hinsicht »wirklichen« Inhalt jetzt besonderen Gesamtwelten an.
Diese müssen ihre ideell weltmäßige Vollständigkeit damit bezahlen,
dass sie innerhalb des historischen Lebens immer nur in individueller
Einseitigkeit auftreten und infolgedessen nicht fähig sind, die
Gesamtheit möglicher Inhalte zu ergreifen.
Dass dies dem Prinzip Wirklichkeit immerhin in relativ hohem Maße
gelingt, liegt einfach an seiner Verbundenheit mit der äußeren
Lebenspraxis, die den individuellen Verschiedenheiten, den
Einseitigkeiten, den zufälligen Ausgestaltungen keinen so großen
Spielraum gibt, sondern uns in einer relativ gleichmäßigen Attitüde
festhält, deren Ausformungen sich mehr zu allmählicher Bereicherung als
zu gegenseitiger Verdrängung entwickeln.
Nun mag man behaupten: nicht nur die Darstellungen und Auslebungen der
Prinzipien Kunst, Religion, Wert usw. seien durch historische
Zufälligkeit bedingt, sondern dass diese Prinzipien auch in ihrer
größten Allgemeinheit und übersingulären Idealität überhaupt
bestünden, sei der historischen Entwicklung der Menschheit zuzuschreiben;
es sei schließlich in höherem Sinne ein Zufall und eine bloße
Faktizität unserer geistigen Einrichtung, dass jene Kategorien und nicht
ganz andere bestehen und Welten bilden; wie man denn auch wirklich
neuerdings behauptet hat, die Kategorie Kunst gehöre einer nun bald
beendeten Menschheitsepoche an.
Gibt man diese These, ohne in ihre metaphysische Diskussion
einzutreten, zu, so ist damit das hier Durchzuführende keineswegs
bedroht. Denn es handelt sich nur darum, dass diese Welten ideell bestehen,
notwendig oder nicht, und dass sie, als Welten, der der Wirklichkeit
koordiniert sind.
Behauptet man ihre Zufälligkeit, so muss man auch für die
Wirklichkeit eben dieselbe zugeben. Auch dass wir mögliche Inhalte in die Form der Wirklichkeit fassen,
ist nicht als notwendig zu erweisen: es gibt tatsächlich träumerische
»wirklichkeitsfremde« Menschen, vor denen die Inhalte des Daseins als
bloße Bilder schweben und die den Begriff Wirklichkeit nie recht
erfassen.
So wenig dies auch bei solchen in vollkommenem Maße stattfinden mag,
so ist es doch jedenfalls ein Hinweis darauf, dass die Wirklichkeit nicht
etwas Absolutes ist, dem gegenüber alle anderen Welten etwas Relatives,
Zufälliges, Subjektives wären, sondern dass alle diese ontologisch auf
derselben Stufe stehen - mag man diese Stufe als Ganzes nun für eine
objektive oder eine historisch subjektive erklären.
Zu diesen Welt-Ganzheiten, die gewissermaßen in ideeller Vorzeichnung
um uns liegen und die wir mit jeder geistigen Produktivität mehr zu
entdecken und zu erobern als zu erschaffen scheinen, hat nun das
individuell gelebte Leben ein eigentümliches Verhältnis.
Jeder gegenständliche Bewusstseinsvorgang gehört seinem Inhalt und
Sinne nach in eine dieser Welten. Es ist, als wären sie lauter auseinandergelagerte Ebenen, durch die
das Leben hindurchschwingt, bald aus dieser, bald aus jener ein Stück
sich aneignend, sich einbildend, bald mit gewissen Inhalten wie in
undifferenzierter Form zwischen ihnen stehend.
Tatsächlich werden alle unsere Gedankeninhalte von dem mehr oder
weniger deutlichen Gefühl begleitet: dass ein jeder sozusagen irgendwohin
gehört. Auch das Phantastische, Paradoxe, Subjektive ist nur relativ isoliert:
empfindet man genauer hin, so gehört es in einen unabsehlichen
Zusammenhang der gleichen Schicht, mag diese Schicht auch für jetzt oder
für uns nur durch eben dieses Element markiert sein.
So sind also unsere sämtlichen, aktiv oder passiv erlebten seelischen
Inhalte Fragmente von Welten, deren jede eine besonders geformte
Totalität von Weltinhalten überhaupt bedeutet.
Hinsichtlich der theoretisch erfassbaren »wirklichen« Welt ist dieses
Verhalten jedermann geläufig: wir wissen alle, dass unser Wissen
Stückwerk ist. Ebenso im Ethischen: wir wissen alle, ein wie geringer Teil dessen, was
die wertgeformte Welt sein könnte und sollte, von unserem Handeln nicht
nur, sondern sogar von unserem Pflichtbewusstsein nachgezeichnet wird.
In diesen Fällen wird uns der fragmentarische Charakter unserer
Lebensinhalte durch eine an Jeden ansetzende, über jeden hinaustreibende
Forderung nahegelegt.
Aber auch in allen anderen besteht, weniger sich aufdrängend, dieser
Fragmentcharakter unseres Lebens, jeder in diesem aufzeigbare Inhalt ist
aus einem Gesamtzusammenhange, in dessen Logik er eine bestimmte und
notwendige Stelle hat, in den aus eigener Quelle brechenden, jenen Welten
transzendenten Vitalstrom hineingezogen.
So erst scheint mir das immer empfundene »Bruchstückhafte« des
Lebens einen weltanschauungsmäßigen Sinn jenseits der bloß elegischen
Kontemplation zu offenbaren. Wir kursieren fortwährend durch sehr mannigfache Ebenen, deren jede
prinzipiell die Welttotalität nach einer besonderen Formel darstellt, von
deren jeder aber unser Leben nur jeweils ein Bruchstück mitnimmt.
Anders aber ist der Aspekt, wenn wir das Leben von sich selbst aus, und
nicht von diesen, jenseits seiner sich zu eigener Totalität streckenden
Ebenen aus betrachten. Dann nämlich verliert die Zugehörigkeit seiner Inhalte zu den
gesonderten, sozusagen für sich seienden Welten ihre Wesensbedeutung.
Diese Zugehörigkeit erscheint jetzt als ein nachträgliches
Herausschneiden und ideelles Transplantieren von Stücken, die als erlebte
solche gegenseitige Abgegrenztheit und Diskontinuität gar nicht besitzen.
Innerhalb der Dynamik des Lebensprozesses sind sie verbunden, wie die
Wellen eines Stromes; es ist jeweils ein Leben, welches sie als seine, von
ihm nun nicht abtrennbaren und deshalb auch untereinander nicht
schlechthin trennbaren Pulsschläge erzeugt.
___________________
Die bisherige Erörterung rechnete mit den idealen Welten als gegebenen
Phänomenen, ohne nach ihrer psychologisch-historischen oder
sinnhaft-weltanschaulichen Genesis oder nach der Einheit zu fragen, in der
sie bei ihrer Lebens- und Realitätsjenseitigkeit vielleicht doch mit dem
Leben verwurzelt sind. Dies ist nun mein eigentliches Problem.
Es bleibt immerhin unverkennbar, dass jene Reiche als ganze aus dem
gelebten Menschheitsleben kommen, in dessen Unmittelbarkeit sie freilich
in einer ganz anderen, sozusagen embryonalen Form auftreten, unter anderen
begrifflichen Namen, mit zufälligen und empirischen Veranlassungen
entstehend und vergehend.
Oder besser ausgedrückt: es vollzieht sich hier dasselbe in der Form
des Lebens, was dort in der Form eigenweltlicher Idealität besteht. Es sind zunächst Erzeugnisse des Lebens, wie all seine anderen
Erscheinungen, seinem kontinuierlichen Lauf eingeordnet und dienend.
Und nun geschieht die große Wendung, mit der uns die Reiche der Idee
entstehen: die Formen oder Funktionen, die das Leben um seiner selbst
willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat, werden derart
selbständig und definitiv, dass umgekehrt das Leben ihnen dient, seine
Inhalte in sie einordnet, und dass das Gelingen dieser Einordnung als eine
ebenso letzte Wert- und Sinnerfüllung gilt, wie zuvor die Einfügung
dieser Formen in die Ökonomie des Lebens.
Die großen geistigen Kategorien bauen zwar am Leben, auch wenn sie
noch ganz in ihm befangen sind, noch ganz in seiner Ebene liegen. Allein so lange haben sie dennoch etwas ihm gegenüber Passives,
mittelhaft Nachgiebiges, ihm Untertanes, weil sie sich seiner
Gesamtforderung fügen und ihr gemäß das, was sie ihm leisten,
modifizieren müssen.
Erst wenn jene große Achsendrehung des Lebens um sie herum geschehen
ist, werden sie eigentlich produktiv; ihre sachlich eigenen Formen sind
Jetzt die Dominanten, sie nehmen den Lebensstoff in sich auf und er muss ihnen nachgeben.
Dies ist als ein historischer Prozess gemeint, als die metabasiV eiV
allo genoV, mit der aus dem Wissen, das nur um praktischer Zwecke willen
erworben wird, die Wissenschaft sich erhebt, aus gewissen
vital-teleologischen Elementen die Kunst, die Religion, das Recht usw.
Diesen Prozess in all seinen Linien zu verfolgen, überall den Punkt
des Umschlags der Form aus ihrer vitalen in ihre ideale Geltung unterhalb
der gleitenden Übergänge des tatsächlichen Bewusstseins zu entdecken -
geht natürlich gänzlich über unser Vermögen.
Es handelt sich hier aber auch nur um das Prinzip und den inneren Sinn
dieser Entwicklung, um die Charakterisierung ihrer Stadien in deren reinem
Gegensatz, ganz gleichgültig gegen die Mischungen und Abflachungen, mit
denen sie sich historisch vollzieht.
Wir können hier nicht gut umhin, von vitalen Zweckmäßigkeiten zu
sprechen, denen die geistigen, zu Weltbildungen bestimmten Funktionen
dienen. Ich muss deshalb, bevor ich die Erfüllung dieser Prädestination in
einzelnen Reihen verfolge, die hier wesentliche Struktur des
Zweckmäßigkeitsprinzips zu verdeutlichen suchen.
Wenn ich davon sprach, dass gewisse Funktionen, innerhalb des Lebens
ausgebildet und in seine Zweckverwebungen eingebettet, zu selbständigen
Zentren und Führungen werden, die das Leben in ihren Dienst nehmen - so
kann dies leicht als das typische Vorkommnis erscheinen, dass die Mittel
zu einem Zweck psychologisch zu Zwecken werden.
Das Beispiel dafür, dessen Reinheit ebenso extrem ist wie seine
geschichtliche Wirkung, bildet bekanntlich das Geld. Denn einerseits gibt es innerhalb der Menschenwelt nichts, was so
absolut ohne Eigenwert und schlechthin bloß Mittel wäre, da es ja ganz
und gar nur als wirtschaftliche Vermittlung entstanden ist; andererseits
kein irdisches Ding, das einer gleich großen Anzahl von Menschen als der
Zweck aller Zwecke vorkäme, als der definitiv befriedigende Besitz, der Abschluss
alles Strebens und Mühens.
Jene Drehung scheint sich hier also radikaler als irgend sonst
vollzogen zu haben. In Wirklichkeit sind die geistigen Strukturen beider Typen ganz
unterschieden. Das Auswachsen von Mitteln zu Zwecken bleibt durchaus in der
allgemeinen Form des Teleologischen beschlossen und lässt nur den
seelischen Akzent des Definitiven eine Stufe zurückrücken.
Ob jemand, statt für Geld Genüsse zu erwerben, sich mit dem Besitz
des Geldes für befriedigt erklärt, wie der Geizige, macht einen
Unterschied in der Materie, aber nicht in der wesentlichen Form der
Wertung.
Die sachlich rationale Gliederung einer Reihe ist für das Wertbewusstsein
nicht verpflichtend, sondern überlässt ihm die Wahl des
Punktes, an dem es sich aufgipfeln will. Denn an und für sich ist jene Reihe ja doch unabschließbar.
Kein noch so vernünftiges oder unmittelbar beglückendes Ziel ist
davor sicher, als Durchgangspunkt für ein noch höher gelegenes enthüllt
zu werden; die Kette irdischer Lebensinhalte reißt an keinem Gliede
definitiv ab; die Markierung eines endgültigen verbleibt einer niemals
inkorrigibeln Willens- oder Gefühlsentscheidung.
Auch soll man nicht übersehen, wie tief dies scheinbar Irrationelle
der Überwertung der Mittel gerade in die menschliche Teleologie
verflochten ist. Unzählige Male würden wir weder Mut noch Kraft für unsere Handlungen
haben, wenn wir nicht die ganze Konzentration, das überhaupt verfügbare Wertbewusstsein
auf die zunächst zu erreichende Stufe der teleologischen
Leiter verwendeten.
Wir müssen diese Stufe, mag sie sachlich ein noch so vorübergehendes
Mittel sein, so behandeln, als ob sozusagen das ganze Heil von ihr allein
abhinge, da sie nun doch einmal unentbehrlich ist.
Wollten wir ihr nur so viel Interesse widmen, wie ihrem Eigengewicht
sachlich angemessen wäre, und die volle Wertungsintensität nur auf das
ferne und fernste Endziel richten, so würde dies unsere Energie der
praktischen Aufgabe gegenüber höchst dysteleologisch zersplittern.
Was dem Sinn der Teleologie im tiefsten widerspricht und sie eigentlich
dementiert: dass sich das Mittel an die Stelle des Zwecks schiebt, ist so
gerade zu einer ihrer sublimiertesten Formen geworden.
Die Wendung aber, mit der die idealen Gebilde sich erheben, tritt aus
der ganzen Zweck-Mittel-Kategorie heraus, und die Einsicht in diese -
nachher auszuführende - Möglichkeit bedarf der anderen: dass diese
Kategorie überhaupt innerhalb der tiefsten Schicht menschlicher Existenz
eine viel geringere Bedeutung hat, als man ihr, verführt durch ihre Rolle
in der oberflächlichen Praxis, zuzuschreiben pflegt.
Das Gebiet allbeherrschender Zweckmäßigkeit bildet der körperliche
Organismus. Dass sein letztes, eigentlich formendes Wesen damit bezeichnet ist,
glaube ich freilich nicht, ebenso wenig wie der Mechanismus, unter dessen
Kategorie wir seine Erscheinungen mit nicht begrenzbarem Gelingen ordnen
können, dazu ausreicht.
Wird aber der teleologische Gesichtspunkt, so sehr er bloß heuristisch
oder symbolisch sei, einmal auf die Organismen als physische angewandt, so
findet er sich im erstaunlichsten, mit jeder neuen physiologischen
Entdeckung wachsenden Maße bestätigt.
Je genauer ein tierisches Wesen auf die unmittelbare Auswirkung seiner
Körperlichkeit angewiesen ist, d. h. je geringer sein Aktionsradius ist,
desto unbedingter ist es der Zweckmäßigkeit verhaftet.
Die vollkommenste Zweckmäßigkeit besteht innerhalb des Körpers; sie
verringert sich in dem Maß, in dem die Lebensbewegungen über ihn
hinausgreifen, weil diese dann mit einer widerstehenden, gegen das Leben
zufälligen Welt zu rechnen haben.
Sie nähert sich dem Maximum ihrer Gefährdung und unter Umständen dem
Minimum ihrer Realisierung, indem der bewusste Geist und Wille sich in
beliebige Entfernung von den innerleiblichen, strukturgegebenen Bewegungen
und ihrer ganz unmittelbaren Auswirkung begibt.
Der Mensch, weil er den größten Aktionsradius hat, weil seine
Zwecksetzung sich am weitesten und unabhängigsten von dem vitalen
Automatismus seines Leibes stellt, ist seiner Teleologie am wenigsten gewiss.
Das ist, was man seine Freiheit nennen kann.
Das Wesen, das sich an jenen Automatismus hält, hat zwar die größte
Lebenszweckmäßigkeit, aber es bezahlt sie mit der Enge des Gebundenseins
an die körperliche Apriorität.
Freiheit bedeutet gerade die Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit zu
durchbrechen; sie besteht in dem Maße, in dem das Verhalten des
organischen Wesens über die Grenzen seines unwillkürlich regulierten
Körpers hinausgreift.
Hiermit ist natürlich nicht nur die Ortsveränderung gemeint, die
einfach den Körper als ganzen den Raum durchmessen lässt, um der
Nahrung, des Schutzes, der Fortpflanzung willen, sondern vielmehr die
qualitativen und differenziellen Eingriffe des Menschen in die Umwelt.
Je entwickelter, d. h. je freier der Mensch ist, desto weiter steht
sein Verhalten von der Zweckmäßigkeit ab, die in seiner Körperstruktur
als solcher und in ihrer Unwillkürlichkeit investiert ist.
Um dieser Distanz willen, die zwischen der physiologischen Gegebenheit
des menschlichen Organismus und seinem praktischen Verhalten besteht, kann
man den Menschen prinzipiell als das unzweckmäßige Wesen bezeichnen; er
ist relativ aus der Zweckmäßigkeit entlassen, die in der wesentlichen
Unwillkürlichkeit und also Zweckmäßigkeit der niedrigeren Organismen
herrscht.
Der Mensch hat eine Existenzstufe erlangt, die über dem Zweck steht. Es ist sein eigentlicher Wert,
dass er zwecklos handeln kann. Darunter sind nur Handlungen als ganze verstanden, die innerhalb ihrer
selbst teleologisch konstruiert sein mögen oder müssen, d. h. die
einzelne Handlungsreihe baut sich aus Mitteln auf, die zu einem Zweck
führen.
Aber das Ganze ist nicht wieder in eine übergreifende Gesamtteleologie
eingestellt. Solche Reihen füllen das Leben natürlich nicht aus, welches vielmehr
in seinem größten Teile zweckmäßig ist, d. h. in Reihen verläuft,
deren Endglied wieder als Mittel für einen weiteren Zweck, d. h.
schließlich zu dem Leben als solchem, führt.
Hier und da aber lebt der Mensch in der Kategorie des
Nichtzweckmäßigen. Wenn man den Charakter solcher Reihen dadurch zu bezeichnen meint,
dass man ihre Endglieder Selbstzwecke nennt, so bringt man ihre ganz
einzigartige Bedeutung doch wieder auf die tiefere Stufe, auf die der
Zweckmäßigkeit, zurück.
Diese ist vielmehr bloßer Durchgang, bloße Entwicklungsstufe. Wären wir reiner Geist, d.h. wäre unser Verhalten gar nicht mehr als
Teil oder Fortsetzung der unwillkürlichen Zweckmäßigkeit unserer
körperlichen Organisation zu denken, so wären wir von der Kategorie des
Zweckes prinzipiell unabhängig geworden.
Und vielfach ist der Zweck gerade das Niedrige und Verächtliche an
einer Tätigkeit, und zwar nicht nur, ganz selbstverständlich, wenn ein
Ziel die an sich wertindifferenten Mittel in seine ethische Negativität
hineinzieht.
Sondern die Mittel können einen Wert besitzen, den sie überhaupt gar
nicht abzulegen imstande sind, der nun aber doch, von dem verwerflichen
Ziel in Dienst genommen, die Schnödigkeit oder Schädlichkeit der
Handlung als ganzer gewissermaßen zur höchsten Vollendung bringt.
Wenn ein Kaufmann, nur um Geld und immer mehr Geld zusammen zu raffen,
vielleicht sogar um nachher die erbärmlichsten Genüsse dafür zu
erkaufen, die höchste Energie, Intelligenz, Unermüdlichkeit, Wagemut ins
Spiel setzt, so bleibt diesen Qualitäten auch so noch ein Wert als
character indelebilis.
Sogar ganz zwecklos ausgeübt, in irgend sportähnlicher Weise oder im
Übermut eines Kraftgefühles, das sich nur entladen will, haftet ihnen
Reiz und Bedeutung an. Aber in jenem Falle werden sie nun umgriffen von dem übeln und
deklassierenden Zwecke, der in wunderlicher Kombination ihren Wert nicht
zerstören und ihn trotzdem mit dem umgekehrten Vorzeichen versehen kann.
So töricht die moralische Entrüstung über das Prinzip ist, dass der
Zweck die Mittel heiligt (wie könnte z. B. sonst die Allgemeinheit das
Lebensopfer des Individuums fordern!), so wenig ist zu verkennen, dass so
und so oft gerade der Zweck die Mittel entheiligt.
Freilich, wenn man unter »zwecksetzend« die bewusst vernünftige Form
des Zweckes und der beliebig verlängerten Mittelreihe versteht, dann ist
nur der Mensch zwecksetzend. Aber dies ist doch nur ein Teil der Zweckmäßigkeit des Lebens und
derjenige, der bei der Vergleichung mit der Teleologie der Tiere gar nicht
in Frage kommt.
Bei dem Menschen tritt nicht nur das teleologisch Entstandene in
Ablösung von allem Zweck auf, sondern indem es dies tut, stört und
schädigt es unzählige Mal unsere Zweckprozesse. Das kann indes nur für solche Wesen einen Sinn haben, die sich
jenseits des Lebens stellen können.
Alle Gebilde des spezifisch menschlichen Daseins scheinen freilich -
und darauf wird es uns hier ankommen - die Stufe der Zweckmäßigkeit
durchgemacht zu haben, ehe sie in die des reinen Fürsichseins, d. h. der
Freiheit, aufgestiegen sind.
Im großen und ganzen angesehen, ist der Mensch das am wenigsten
teleologische Wesen.
An dem einen Ende seiner Existenz folgt er blinden Trieben, die nicht
mehr wie beim Tier durchgängig zweckmäßig sind, sondern abgeirrt,
unorientiert und durch die Mittel, die unsere Teleologie ihnen zur
Verfügung stellt, zerstörerisch bis zur Raserei.
Am anderen Ende ist er über alle Teleologie erhaben. Diese steht nun bei ihm zwischen jenen beiden Polen - von ihr frei zu
sein, ist der niedrigste Grad und der höchste - und nur durch ihre
quantitative Ausdehnung und ihre Verfeinerung kann sie die Illusion
hervorrufen, der Mensch wäre ein Zweckwesen.
Soweit er dies ist, hat er keine Freiheit, sondern ist an einen nur
besonders gearteten Mechanismus gebunden. Frei sind wir als reine Triebwesen, weil da alle Gegenstrebung
verschwunden ist und wir ex solis nostrae naturae legibus leben.
Und frei sind wir in dem idealen Reiche, vor dem die Teleologie endet. Die Domäne der Zweckmäßigkeit ist das mittlere Gebiet des
menschlichen Wesens, gerade wie sie innerhalb der einzelnen Handlungsreihe
den mittleren Rayon zwischen Absicht und Erfolg ausfüllt.
Der Gegensatz zur Freiheit ist nicht der Zwang; denn erstens ist der
Ablauf von Ereignissen nach der Teleologie organischer Gesetzmäßigkeit
nicht als Zwang zu bezeichnen wegen des eben betonten Wegfalls innerer
Gegenstrebung.
Nur das irgendwie freie Wesen kann gezwungen werden, und dass die
natürlichen Dinge sich, von den Naturgesetzen beherrscht, so und so
verhalten müssen, ist ein töricht anthropomorpher Ausdruck.
Ihr Verhalten ist schlechthin nur wirklich, und dass es außerdem noch
notwendig, im Sinne irgendeiner Nötigung, ist, legt einen Ansatz oder
eine Möglichkeit menschlichen Widerstrebens in sie hinein. Der Gegensatz zur Freiheit ist vielmehr die Zweckmäßigkeit.
Freiheit ist nichts Negatives, nicht die Abwesenheit von Zwang, sondern
die ganz neue Kategorie, zu der die Entwicklung des Menschen aufsteigt,
sobald sie die Stufe der an seine innere Physis gebundenen
Zweckmäßigkeit und deren bloßer Fortsetzung in das Handeln hinein
verlassen hat.
Freiheit ist nicht Lösung vom terminus a quo, sondern vom terminus ad
quem.
Daher der Eindruck von Freiheit bei Kunst, Wissenschaft, Moral,
wirklicher Religiosität, daher auch die volle Widerspruchslosigkeit gegen
die Kausalität.
__________________________
Den Vollzug dieser Emanzipation sollen die folgenden Seiten in einige
wesentliche Linien verfolgen. Ich deute ihn Einleitenderweise für zwei Gebiete an, deren
ursprüngliche Verwebtheit in die Lebensteleologie ganz unlösbar scheinen
möchte - das eudämonistische und das erotische Gebiet.
Lust und Schmerz sind ursprünglich - so wird man wohl mit allgemeiner
Zustimmung vermuten dürfen - Anregungen zu vital-zweckmäßigem
Verhalten.
Lustgefühle sind die lockende Prämie für das Einnehmen zuträglicher
Nahrung, für den Aufenthalt in gesundem Milieu, für die Fortpflanzung
der Gattung; Schmerzgefühle sind Warnungssignale gegen das
entgegengesetzte Benehmen, biologische Strafen, die von dessen
Wiederholung abschrecken.
Indem diese Verbindung auch für den Menschen besteht, hat sie sich
zugleich auch hier und da für ihn gelöst. Er kann nun zunächst Lust suchen, die der eigenen und der
Gattungserhaltung zerstörerisch ist: allein dies ist nur das Zeichen für
die psychologische Unabhängigkeit von diesen Fördernissen, die das
Lustgefühl gewonnen hat und neben der, als einer isolierten
Randerscheinung, die biologische Nützlichkeit prinzipiell weiterbestehen
kann.
Wenn das Tier auch einzelne Handlungen um der winkenden Lust willen
vornimmt, so ist dies doch immer nur etwas Sekundäres, hinter dem als
eigentlicher Sinn die vitale Zweckmäßigkeit der so hervorgelockten
Handlung steht. Der Mensch allerdings kann diese Wendung zu einer definitiven machen,
indem er die Lebensgesamtheit in den Dienst der Lust stellt.
Allein dies ist doch nur wieder ein Auswachsen eines Mittels zum Zweck
und bildet keine eigentlich neue Sphäre dem teleologischen Lebensverlauf
gegenüber, auch wenn es sich bis zur Pervertierung von dessen Telos
entwickelt. Aber eine Drehung wirklich radikaler Art scheint mir mit dem reinen
Sinne dessen, was wir »Glück« nennen, gegeben.
Die rohe Psychologie der traditionellen Ethik hat mit seltenen
Ausnahmen die entscheidende Wendung verkannt, mit der dieser Begriff sich
von dem der Lust abhebt; die Griechen haben an diesem Punkte tiefer
gesehen.
Die Lust mag Schopenhauer mit Recht von vorhergehendem Bedürfnis
abhängen lassen, was ihre Eingewurzeltheit in den einreihigen Verlauf der
Lebensprozesse anzeigt.
Was uns aber Glück heißt - wobei es nicht auf einen definitorischen,
sondern auf einen Unterschied innerer Realitäten ankommt, den man
meinetwegen auch anders benennen mag -ist zwar auch für das leibliche
Wohlbefinden und damit für die ganze Lebenszweckmäßigkeit von
zweifellosem Wert; allein außerdem bedeutet es eine abschließende
Zuständlichkeit, einen Gipfel, zu dem das Leben aufstrebt und über den
es, in der Richtung dieses Strebens, so wenig hinaus kann, wie man vom
erreichten Gipfel eines Berges noch weiter in die Höhe wandern kann.
Dem Glück fehlt jene Vereinzelung des Lustgefühls, vermöge deren
dieses zum bloßen Elemente des Lebenszusammenhanges wird. Dieser hat vielmehr in seiner Ganzheit eine gar nicht zu lokalisierende
Färbung, sobald wir uns »glücklich« nennen; die eigentümliche
Gefühlsspannung der Lust hat gewissermaßen ihren Ort in der
Wechselwirkung der Lebensmomente verlassen und ist als Glück ein
Definitivum geworden, zu dem diese Momente zusammenwirken müssen.
Schien die »Vernunft« so weit von unseren sonstigen intellektuellen
Vermögen abzustehen, dass man ihr immer wieder, von Aristoteles bis
Bergson, eine andere Herkunft als diesen, aus den empirisch-organischen
Kräften erzeugten, zugesprochen hat (was auch zurückgewiesenerweise ein
tiefes Symbol jener Distanzempfindung bleibt) - so wage ich die Paradoxe, dass
das Glück in seiner Reinheit ein dem Genus nach ebenso Neues, von
unseren sonstigen eudämonistischen Erlebnissen ebenso Abstehendes ist,
wie die Vernunft innerhalb der für sie fraglichen Bezirke.
Nur an den äußersten Steigerungen des Glückes, niemals an denen der
Lust, empfinden wir etwas wie Gnade, es überschimmert das in sich
kontinuierlich weiterlaufende Leben mit einem Glanze, den dieses aus sich
selbst niemals hätte zeugen können, der vielmehr aus einer anderen,
unbegreiflichen Ordnung hervorbricht.
Darum kann man Lust suchen, und manchmal sogar mit Erfolg, Glück aber
- in dem Sinne, den unsere Sprachanarchie noch nicht entstellt hat - kommt
über uns wie Regen und Sonnenschein. Durch nichts wird der Radikalismus dieser Wendung stärker erwiesen als
durch die transzendente Steigerung des Glücks zum Begriff der
»Seligkeit«.
Hier kann nun die Übervitalität des Glückszustandes gar nicht mehr
zweifelhaft sein; hier hat er die absolute und deshalb von aller
Lustvermischung freie Form erlangt, für deren Gewinn das ganze Leben
eingesetzt und oft genug das Märtyrertum erduldet wird.
Im Begriff der Seligkeit ist die Emanzipation des Glücks von aller
innervitalen Zweckmäßigkeit vollendet und unverkennlich geworden. Ähnlich, wenn auch nicht in genauer Parallelität, verhält es sich
mit dem Schmerz, der genetisch als Abschreckung von lebensunzweckmäßigem
Verhalten zu denken ist.
Und einigermaßen entsprechend wie sich zur Lust das Glück, scheint
sich zum Schmerz das Leid zu verhalten. Als Schmerz bezeichnen wir - vorbehalten,
dass der Sprachgebrauch die
Begriffsgrenzen auch hier verschwimmen lässt - einen lokalisierten, in
einer singulären Linie verlaufenden Vorgang.
Neben ihm aber - und manchmal auch neben der Lust - steht der
chronische Tonus unseres Gesamtseins, den wir Leid zu nennen pflegen und
der biologisch in keiner Weise über sich hinausweist.
Das Schmerzereignis innerhalb des Lebens hat sich damit jener
Lokalisierung entrissen und sich zu einer Färbung des Lebens verbreitert,
auf deren Basis dieses nun erst wieder immanent teleologische oder
dysteleologische Ereignisse erfährt.
Während der Schmerz sich dem Leben einfügt, rinnen die Ströme des
Lebens, wie in das Glück, so in das Leid hinein; die Seele kann im Leid
wie im Glück - nur mit umgekehrtem Vorzeichen - eine Vollendung, ein
Fertigsein des Lebens, ja eine Erlöstheit seiner von sich selbst finden,
die das Gegenteil der Rolle des Schmerzes ist.
Dass wir geistig Leiden empfinden können, die prinzipiell keine
teleologische Bedeutung haben - das scheint mir ein ganz entscheidendes
Kennzeichen des Menschenwesens zu sein. Charakteristischer noch als in der eudämonistischen Teleologie tritt
in der erotischen die bezeichnete Wendung hervor.
Primär gegeben ist die biologische Bedeutung der Anziehung der
Geschlechter und der an sie geknüpften Lustgefühle. Indem die letzteren zum psychologischen Ziel werden, um dessentwillen
der Aktus gesucht wird, verschiebt sich schon die teleologische Reihung,
die Fortpflanzung wird ein bloßes, oft nicht gewolltes Akzidenz des
eigentlich Gewollten.
Immerhin kann auch dies noch - etwas altmodisch ausgedrückt - als eine
List der Natur zur Erreichung ihrer Gattungszwecke erscheinen; ja sogar
dann noch, wenn die erotische Absicht nicht mehr auf das Geschlecht als
ganzes, d. h. nicht mehr auf irgendeine, einigermaßen annehmbare Person
des anderen Geschlechts geht, sondern völlig individualisiert ist und
unter dem Schema: diese oder keine - verläuft.
Denn auch solche Zuspitzung kann als Instinkt für den geeignetsten
Partner zur Erzeugung des wohlgeratensten Kindes gedeutet Werden. Aber doch setzt sich an diesen Punkt zugleich die entscheidende
Abwendung der Erotik vom Dienst des Lebens an.
Gleichviel welches genetische oder homochrone Verhältnis zwischen der
Liebe und dem sinnlichen Begehren besteht - ihrem Sinne nach und als
Zuständlichkeiten haben sie nichts miteinander zu tun.
Jenes Begehren ist gattungsmäßiger Natur, und wo es ausschließend
auf ein Individuum geht, ist dieser allgemeine Lebensstrom nur
kanalisiert, fließt aber schließlich wieder in die Allgemeinheit seiner
Quelle zurück.
Die Liebe aber, als Liebe, hat das Eigentümliche, dass sie ein reines,
in sich abgeschlossenes Binnenereignis in der Seele ist, das sich freilich
um das jetzt schlechthin unvertauschbare Bild des anderen Individuums
webt. Ungezählte, unverfolgbare Kräfte der Persönlichkeit münden in sie
ein, aber sie ist nicht etwa für diese nur eine Durchgangsstation,
sondern, beglückend oder vernichtend, ein Definitivum.
Das: »Wenn ich dich liebe, was geht's dich an« - drückt das Wesen
solcher Liebe zwar negativ, aber in unüberbietbarer Reinheit aus. So lange die Liebe im Generellen bleibt und so lange sie Begehren
bleibt, ist sie eine Form, die das Leben um seiner »Zwecke« willen
annimmt.
Allein diese Form emanzipiert sich, wie sich in der - hier ganz
einseitigen - Schopenhauerschen Lehre nur der Intellekt vom Leben
emanzipieren kann; der Liebende, der sich und das geliebte Wesen aus dem
breit und vorwärts strömenden Gattungsleben herausgehoben hat, weiß, dass
nun das Leben dazu da ist, um diesen Wert, dieses neue So-Sein, zu
nähren.
Als eine »Zweckbeziehung« kann man das freilich nicht bezeichnen. Indem aber diese, wie sie im gattungsmäßigen Begehren herrscht,
aufgehoben ist, - gleichviel ob dieses noch neben der autonomen Liebe und
in unscheidbarer Verbindung mit ihr besteht - hat die Liebe die ganze
Kategorie des Teleologischen hinter sich gelassen.
Diese bestimmt nur ihre lebengebundene Vorform, aus der sie zu freiem
Selbst-Sein herauswächst. Mit ihm kann die Erotik jene sublimiertesten Stufen erreichen, auf
denen das: Seid fruchtbar und mehret euch (allerdings der denkbar größte
Gegensatz zu dem Wort der Philine) - als Hochverrat am Wesen der Liebe
zurückgewiesen wird.
Gewiss ist hier ein stetiger Übergang, und so wenig etwa in dem ersten
Getriebenwerden zum anderen Geschlecht die Liebe schon »präformiert«
liegt, so ist es doch ein allmählicher Prozess der Epigenesis, der sie
aus jenem entstehen lässt; die Wirklichkeit setzt die Form der
Kontinuität zwischen die beiden Kategorien, die ideell und dem Wesen nach
durch eine absolute Schwelle geschieden sind.
Hier handelte es sich also nicht um jenes Erwachsen von »Welten«,
sondern es sollte nur an einzelnen Linien der Prozess verdeutlicht werden,
der, in andere Dimensionen verbreitert, zu Weltbildern führt, zum Gewinn
autonomer Formen mit unbegrenzter Kapazität.
Mit ihnen gestalten sich die eigentlich sogenannten Kulturgebiete, so dass
man vielleicht sagen kann: Kultur überhaupt entstünde, wo die im
Leben und um des Lebens willen erzeugten Kategorien zu selbständigen
Bildnern eigenwertiger Formationen werden, die dem Leben gegenüber
objektiv sind.
So entschieden Religion, Kunst, Wissenschaft ihren Sinn als solche in
überpsychologischer Ideellität besitzen, so sind gewisse Vorgänge des
zeitlich subjektiven Lebens doch wie Embryonalstadien ihrer, sie
erscheinen, von jenen aus gesehen, wie ihre Vorformen; oder gemäß
früherer Formulierung: eben dasselbe erscheint in der Form des Lebens,
was jene in der der eigenweltlichen Ideellität sind.
In dem Augenblick, in dem jene formalen - d. h. gegebene Inhalte zu
einer bestimmten Welt formenden - Triebkräfte oder Gestaltungsarten für
sich das Bestimmende werden (während bisher das Leben und sein materialer
Interessenzusammenhang es war) und von sich aus ein Objekt erzeugen oder
gestalten - ist jedes Mal ein Stück der kulturellen Welten aufgebracht,
die nun gleichsam vor dem Leben stehen, ihm die Stationen seines Verlaufes
oder einen Vorrat an Inhalten bietend.
Vielleicht ist das reine Wesen der Wissenschaft im Unterschiede gegen
das auch sonst vorhandene Wissen nur unter dieser Voraussetzung zu
erfassen.
Das praktische Leben ist auf Schritt und Tritt - und mehr als man es
sich klarzumachen pflegt - von Erkenntnisvorgängen durchzogen: wir
erwerben vor dem Entstehen der Wissenschaft im großen und ganzen nicht
weniger und nicht mehr Wissen, als zur Durchführung unseres praktischen,
äußerlichen wie innerlichen, Verhaltens erforderlich ist.
Nicht weniger: weil wir angesichts der Bedingtheit unseres Lebens durch
Wissensvorstellungen nicht leben würden, wenn nicht ein gewisses Maß und
eine gewisse Zulänglichkeit dieser bestünde; nicht mehr: weil dies, so
lange nur das Leben als solches und als praktisches in Frage kommt, eine
unnütze Belastung für dieses, das sogar eigentlich gar keinen Platz
dafür hätte, bedeuten würde - wobei natürlich das zwischen Zuwenig und
Zuviel stehende Maß je nach Individuen und historischen Situationen
äußerst variiert.
Wie entscheidend hier die vitale Determination ist, zeigt sich daran, dass
dieses jeweilige Wissen, so fragmentarisch und zufällig es anderen
Perioden erscheinen mag, doch immer als ein irgendwie geschlossener und
befriedigender Zusammenhang sich bietet: eine Rechtfertigung und zentrale
Begründung für diese jeweils empfundene Einheit, nach Logik und
Sachgehalt dieser Erkenntniskomplexe, pflegen jene anderen Perioden nicht
zuzugeben, und sie kann auch nur in der real fordernden, souverän
bestimmenden Lebenssituation liegen.
Das weit überwiegende Quantum unserer Wissensvorstellungen stellt sich
dar, als ob es von der Lebenszweckmäßigkeit hervorgerufen und bestimmt
wäre - wobei die genauere Definition eben dieser nach Sinn und Richtung
dahingestellt bleiben kann.
Auch erscheint mir dies als das einzige Radikalmittel gegen den
radikalen Skeptizismus oder theoretischen Nihilismus, für den jede
sogenannte Wahrheit von vornherein nur Illusion ist. Kein Mensch würde - das wird wohl keines Beweises bedürfen - auch nur
einen Tag leben können, wenn jede seiner Vorstellungen von Objekten irrig
wäre. Nun aber leben wir.
Also ist es unmöglich, dass wir uns immer irren; wir müssen
mindestens so viel Wahrheit besitzen, um die vorkommenden Irrungen bis zur
Lebens-Möglichkeit auszugleichen. Demgemäss hängt freilich der Inhalt solcher Wahrheit davon ab, was
das jeweilige Leben von der Welt will.
Was einen indischen Yogi und einem Berliner Börsenjobber, was Plato
und einem Australneger Wahrheit ist, liegt so unberührbar weit
auseinander, dass die Führung dieser Existenzen auf Grund ihres
Weltvorstellens ganz undenkbar wäre, wenn nicht für jede von ihnen
»Leben« etwas anderes bedeutete, als für die andere, und deshalb für
jede eine besondere, zu ihr korrelative Erkenntnisbasis forderte.
Nur mache man sich, um pragmatische Verengerung zu vermeiden, klar, dass
unsere inneren Vorgänge, so sehr sie unserem vitalen Verhalten in
der Welt dienen, doch selbst ein Stück dieses Verhaltens und dieser Welt
sind.
Darum ist es ganz einseitig und verblendet, Sinn und Zweck unserer Bewusstseinsvorgänge
ausschließlich in unser Handeln, d. h. in unser
praktisches Verhältnis zur Außenwelt, zu setzen. Es handelt sich hier auch um »Zweckmäßigkeiten«, die doch nicht von
einem terminus ad quem her bestimmt sind.
Das Ausleben einer Kraft, die Realisierung oder auch nur die voll bewusste
Klärung innerer Tendenzen, das Sich-Ausdrücken des Seins in
Entwicklungen und in der Formung nachgiebiger
oder bezwungener Stoffe - dies sind Werte, die den an den Erfolgen
unseres Verhaltens gemessenen an Bedeutung koordiniert sind. Auch sie erheben sich ersichtlich in irgendwelcher Bedingtheit durch
erkennendes Vorstellen, das seine Richtigkeit durch ihren Gewinn erweist.
Auch liegt der Vitalwert eines Gedankens keineswegs nur in dem, was
sich als logische oder psychologische Entfaltung seines Inhalts ablesen lässt, sondern sein So-Sein als ein Element unseres Lebens ist
unmittelbar eine, wertvollere oder niedrigere, Qualität eben des Lebens,
in dem er steht.
Wir sind allzu sehr gewöhnt, unsere Gedanken nur auf das anzusehen, was
sie bedeuten, auf ihre an sich kraftlosen ideellen Inhalte (so konkrete
Folgen diese auch entwickeln mögen), während es sich hier um ihre andere
Seite, die dynamisch-reale, handelt, von der jene der Index oder das
Symbol ist.
Unsere Gedanken bedeuten nicht nur etwas, was man mit Begriffen - die
an sich schon lebensjenseitig sind -ausdrücken kann, sondern sie sind
etwas, sind reale Pulsschläge realen Lebens, die innerhalb dieses, nicht
erst durch innere oder äußere Wirkungen vermittelt, seinem Wertmaximum,
als seinem idealen Telos, besser oder schlechter »dienen«.
Diese Erweiterung und Vertiefung ist stets mitgemeint, wo ich kurz von
der Lebenszweckmäßigkeit spreche. Sehen wir unser Leben als biologischen
Prozess an, so ist es nicht
anders als die Pflanze in die Wirklichkeit der Welt verwebt, und alle
seine Funktionen vollziehen sich in ihrer Zweckmäßigkeit wie das Atmen
des Schlafenden.
Schiebt sich nun in diese Teleologie unserer Wirklichkeit ein Erkennen
ein, so ist unser Status und unsere Wirksamkeit damit noch nicht
prinzipiell geändert: das vorwärtsströmende Leben ist nur um diese
Wellenform bereichert.
Das Erkennen ist insoweit nichts anderes als eine Szene des Lebens
selbst, die eine andere vorbereitet und damit der vitalen Gesamtintention
dient. Für die sogenannten rein sinnlichen Vorstellungen ist dies schon
ausgesprochen worden.
Sie erscheinen als Fortsetzungen des körperlichen Mechanismus, der als
ganzer teleologisch dirigiert ist. Wird diese letztere Vorstellung beibehalten, so müssen alle überhaupt
dem Leben eingefügten und es mitbestimmenden Vorstellungen des gleichen
Wesens sein.
Der Fluss des Lebens geht, herrschend und beherrscht, durch sie
hindurch wie durch jedes andere seiner Elemente; die Kategorien, in denen
sich das bewusste Bild der Dinge herstellt, sind bloße Werkzeuge
innerhalb des vitalen Zusammenhanges.
Unzulänglich und auf halbem Wege stehen geblieben erscheint mir die
Hypothese: es bestände eine absolute, für alle Wesen gültige Wahrheit,
das objektiv deckende Gegenbild der »Wirklichkeit« - und diese würde
allmählich von dem Menschengeschlecht erobert, indem der Intelligentere,
der sich von dieser Wahrheit ein größeres Maß aneignet, dadurch einen
Vorsprung im Kampfe ums Dasein vor dem Unintelligenten hätte, und so, auf
den gewöhnlichen Wegen der Selektion, die Nützlichkeit der Wahrheit die
Ursache ihrer Aneignung und Verbreitung würde.
Im Grundmotiv ist Schopenhauers Lehre vom Intellekt, insoweit der Wille
ihn in seinen Dienst nimmt, nichts anderes. Auch er bezweifelt gar nicht das ideelle Dasein einer, ihren Inhalten
nach, dem Leben gegenüber selbständigen Wahrheit, deren der Intellekt
sich bemächtigt, weil der Lebenswille, der mit Hilfe dieser
Wirklichkeitskenntnis seine Ziele erreichbar glaubt, ihn dazu treibt.
Von aller Kritik abgesehen, lässt solche pragmatistische Theorie
jedenfalls das Wesen der Wahrheit selbst ungeklärt. Mag man diese deuten wie man will, jedenfalls ist sie etwas vom Leben
innerlich Unabhängiges, das nur virtuell bereit liegt, von ihm ergriffen
zu werden.
Hier aber handelt es sich um einen Gegensatz zu jener
Vorstellungsweise, den man, in der ungenügenden Ausdrucksweise der
letzteren, so bezeichnen kann: dort gibt es ein Wahres, das in das Leben
hineingezogen wird, weil es ihm förderlich ist; hier: die geistigen
Inhalte, die sich als Förderungen der Lebensentfaltung bewähren, nennen
wir die wahren, die zerstörenden, lebenhemmenden nennen wir irrig.
Hier ist nun mit einem Schlage begreiflich, dass es für verschiedene
Lebensformen und -einstellungen verschiedene »Wahrheiten« geben kann und
muss; die immer wieder irritierende Frage nach der »Übereinstimmung«
von Denken und Wirklichkeit ist aufgelöst, da das Denken nur einer der
organischen Prozesse ist, mit denen unsere Lebenswirklichkeit sich
innerhalb der kosmischen Wirklichkeit trägt und ermöglicht, so dass,
wenn es diese Funktion sinngerecht übt, eine morphologische
»Übereinstimmung« mit einem Objekt überhaupt nicht in Frage kommt;
endlich, die Schwierigkeit, wie das an sich ganz begriffsfreie, wirklich
nur »praktische« Verhalten des Menschen es denn mache, sich nach
theoretischen Wahrheiten zu' »richten« (mit dem man sich auch heute noch
durch eine gewisse Personalisierung von Seelenvermögen abfindet) fällt
weg, wenn diese Wahrheiten nur die theoretischen Formulierungen oder die
begrifflichen Spiegelungen gewisser Richtungen sind, die die
praktisch-dynamischen Zusammenhänge des sich entwickelnden Lebens in sich
und im Verfolgt ihres eigenen Sinnes erzeugen.
Ist erst einmal eine fertige Erkenntniswelt unser erarbeiteter und
durchgearbeiteter Besitz, so kann es freilich umgekehrt zugehen. Für unseren empirischen Tagesbedarf ist zunächst eine feststehende
Wahrheit da, die es sich anzueignen und auf die es unser Handeln
einzustellen gilt: hier ist dasjenige fruchtbar, was wahr ist.
Allein die Frage, wie es überhaupt zu einer Wahrheit kommt und was sie
ursprünglich bedeutet, wird damit nicht berührt. Und diese Frage löst sich in einheitlicher Weise nur so,
dass das
Leben, wie all seine anderen Funktionen, so auch die erkennenden schafft;
hier gilt: was fruchtbar ist, allein ist wahr.
Der Mensch ist ein zu vielfältiges Wesen, um sich in einer so
geradlinig teleologischen Weise wie die Pflanze in der Welt erhalten zu
können.
Die Vielheit seiner Sinneseindrücke und seiner Berührungsflächen mit
der ihn angehenden Welt fordert jene Konzentration der von dieser
kommenden Einflüsse und jene Vorbereitung auf seine Reaktion, die
vermöge der Begriffsbildung und der kategorialen Formen geschieht.
Dass man auch umgekehrt diese als Grund ansprechen kann, der ihm jene
Mannigfaltigkeit der Weltbeziehungen zuwachsen lässt, beweist nur, dass die Teleologie überhaupt nur einen vorläufigen oder symbolischen
Ausdruck für das eigentliche Gesetz des Lebens bietet.
Indem die intellektuellen Formen die Welt für unser praktisches Leben
um uns aufbauen, ermöglichen sie die tatsächliche Verbindung zwischen
den Inhalten der Weit und uns; um der dazu erforderlichen Bearbeitung der
Inhalte willen sind sie da.
Außerhalb dieser Funktion haben sie im Leben nichts zu suchen. wenn etwa behauptet wird, Kausalität sei nur die Übertragung der
gefühlten, willentlichen Lebenswirksamkeit auf die Objektwelt, so heißt
das eben, dass das Leben sich innerhalb seines eigenen Wesensbezirkes die
Form ausgebildet hat, mit Hilfe deren es eine praktisch zu bearbeitende
Welt gewinnt.
Was vielfach Verwunderung erregte: dass wir die so fest geglaubte
Kausalität doch nirgends »sehen«, kommt einfach daher, dass sie eine
Form und Bedingung für unsere praktisch reale Wirksamkeit in der Welt
ist; sie außerdem theoretisch objektiv durch »Sehen« festzustellen, ist
für diesen Zweck, für unser rein tatsächliches Eingreifen, dessen
Voraussetzung sie bildet - eben nicht erforderlich.
Aber all solches vital bestimmte »Erkennen« ist noch keine
Wissenschaft: durch keine graduelle, wenn auch noch so hohe Steigerung und
Verfeinerung dieses Erkennens ist das Prinzip der Wissenschaft überhaupt
zu erreichen - vielmehr erst in dem Augenblick, wenn das bisher
geschilderte Verhältnis sich umkehrt, wenn die Inhalte ausschließlich
insoweit von Interesse sind, als sie die Formen des Erkennens erfüllen.
Das Wesen aller Wissenschaft als solcher scheint mir darin zu bestehen,
dass gewisse geistige Formen ideell da sind (Kausalität, induktive und
deduktive Erschließbarkeit, systematische Ordnung, Kriterien der
Tatsachenfeststellung usw.), denen die gegebenen Weltinhalte, durch
Einstellung in sie, zu genügen haben.
In psychologischer Realisierung ausgedrückt: zuerst erkennen die
Menschen um zu leben, dann aber gibt es Menschen, die leben um zu
erkennen.
Welcher Inhalt gewählt wird, um sich als Erfüller jener Forderung zu
zeigen, ist eigentlich zufällig und hängt von historisch-psychologischen
Konstellationen ab: für die Wissenschaft sind prinzipiell alle Inhalte
gleichwertig, weil in ihr, in charakteristischstem Gegensatz zu der
vital-teleologischen Erkenntnis, der Gegenstand als solcher gleichgültig
ist; ein Wertvorrang eines Gegenstandes kann hier nur die Technik
innerhalb der Wissenschaft angehen, insofern der eine für den Gewinn
weiterer Erkenntnisse fruchtbarer ist als der andere.
Dass uns im übrigen die Physiologie des Menschen wertvoller ist als
die der Fledermaus und die Biographie Goethes wertvoller als die seines
Schneiders, ist in Schätzungen begründet, die von außerhalb der
Wissenschaft herkommen, die nicht vom Wahrheitsinteresse als solchem
ausgehen.
Die allgemeine Wendung: in der Wissenschaft würde »die Wahrheit um
der Wahrheit willen« gesucht - ist zwar fast immer im moralischen,
äußere Verdächte abwehrenden Sinne gemeint, der uns hier gar nichts
angeht; aber tatsächlich trifft sie das innere, metaphysische Wesen der
Wissenschaft, während die Wahrheit innerhalb der Praxis um des Lebens
willen, innerhalb der Religion um Gottes oder des Helles willen, innerhalb
der Kunst um der ästhetischen Werte willen gesucht wird.
Wenn innerhalb dieser beiden letzteren Teleologien etwa andere
Vorstellungen als die theoretisch wahren die dienlicheren wären, so
würden diese anderen statt jener gesucht werden.
Die Zusammengehörigkeiten, in denen die Inhalte innerhalb der
Lebensreihen mit ihrem Sinn und ihrem Zwang stehen, sind hier völlig
aufgelöst; die Bedeutung ihres Erkanntwerdens für das Leben entscheidet
nicht mehr über ihre Herausholung und Anordnung, sondern diese hängen
von der Forderung und Möglichkeit ab, die jetzt als Eigenwerte
betrachteten Erkenntnisformen auf die Inhalte anzuwenden -vorbehalten
natürlich, dass das so Gewonnene diesen Einstellungen wieder entrissen
werden und, von neuem mit vitaler Dynamik geladen, in den teleologischen
Lebensstrom tauchen kann.
Wäre nun diese ideozentrische Einstellung an allen überhaupt
möglichen Inhalten vollbracht; würden sie alle diejenige Form,
denjenigen Gesamtzusammenhang zeigen, die die Alleinherrschaft der
Erkenntnisgesetze ihnen auferlegt - so wäre die Wissenschaft vollendet.
Wenn wir Erkenntnisse suchen, die sich in den von praktischen
Notwendigkeiten, von Willen und Gefühl gelenkten und durchsetzten
Lebensstrom einstellen, so mögen diese noch so wahr sein - sie finden
ihren Ort nicht durch den Zusammenhang mit anderen Wahrheiten, da ja
Wahrheit gar nicht der letzten Endes sie beherrschende und
zusammenführende Begriff ist; sie müssen vielmehr aus der Lebenslinie
erst herausgelöst sein, um Wissenschaft zu sein, d. h. dem ideell
vorgezeichneten Bezirk des Nur-Wahren anzugehören, dessen Inhalte gerade
nur dadurch designiert und aneinandergeschlossen sind, dass sie den
Erkenntnisnormen genügen.
Dass diese Normen selbst nicht nur ihrem zeitlichen Auftreten, sondern
ihrer qualitativen Bestimmtheit nach den Forderungen des ihnen
vorgelagerten Lebens entstammen, ist hierfür ganz gleichgültig. Es genügt,
dass sie jetzt der Träger des - so paradox der Ausdruck
klingt - genuin gewordenen Wahrheitswertes sind; der Grund, aus dem
Wahrheit Wahrheit ist, tritt in ihre jetzt gewonnene Alleinherrschaft
nicht ein.
Dass der Umkreis des Wahren nun als Wissenschaft völlig autonom
geworden ist, d. h. eben, keinen »Grund« mehr hat, macht sogleich klar,
weshalb jeder Nachweis für den gültigen Bestand des Prinzips Wahrheit
hier zu einem Zirkel führt.
Weder die negative Behauptung: es gibt keine Wahrheit, noch die
positive: es gibt Wahrheit, kann auch nur als Behauptung aufgestellt
werden, ohne dass man das Bestehen von Wahrheit schon voraussetzte.
In der selbstgenügsamen Form Wissenschaft ist das Wahre ein
freischwebender Komplex, innerhalb dessen wohl Einzelheiten durch andere
Einzelheiten als wahr bewiesen werden können, der aber als ganzer eines
solchen Bewiesenwerdens ersichtlich unfähig ist.
Wäre die Wissenschaft vollendet, so würde man, von einer axiomatisch
gesetzten Wahrheit A ausgehend, durch sie den Satz B beweisen, durch B den
Satz C usf. Und das Z, an dem man nach Durchwanderung sämtlicher Wissensinhalte
anlangte, würde dann seinerseits den Beweisgrund für das zuerst
unbewiesen gesetzte A liefern.
Dies ist ein Zirkel, aber kein fehlerhafter, denn nur zwischen
Einzelheit und Einzelheit macht diese Form den Beweisgang illusorisch; dass
aber in einer Totalität sich jedes Glied schließlich nur auf jedes
andere, in vollkommener Wechselwirkung, aufbauen kann, ist der Ausdruck
ihrer geschlossenen Einheit und Selbstgenugsamkeit.
Wie die Welt, als absolut seiende gedacht, sich nur selbst tragen, sich
nur durch eigenes Schweben halten kann, so kann es auch die Welt, die
unter der Kategorie des wissenschaftlichen Erkennens als eine Totalität
(der Idee nach) entsteht.
Sie ruht durchaus auf der Form des theoretischen Beweises; dass diese
aber gültig ist, kann ersichtlich nur durch eine petitio principii
theoretisch bewiesen werden. Freilich nur, und ganz legitim, innerhalb der Welt des
wissenschaftlichen Erkennens.
In dem Augenblick, in dem man diese von dem Lebenszusammenhang umfassen
und in ihm gegründet sein lässt, steht es anders. Nun haben all jene Wissensinhalte einen »Grund«, nämlich einen
außerhalb des Wissens gelegenen.
Jetzt liefert die praktische Teleologie des Gesamtlebens (mit allen oft
betonten Vorbehalten für diesen unzulänglichen Ausdruck) den Beweis, dass
eine Vorstellung richtig oder dass sie irrig ist; jetzt ist, wie ich
schon erwähnte, durch die Tatsache, dass wir überhaupt leben, der Beweis
geliefert, dass unser Erkennen sich nicht durchgängig im Irrtum befinden
kann.
Innerhalb der Relativität, die dem Erkennen als Einzelfunktion in der
Vielverwebtheit der menschlichen Lebenstotalität und ihrer Entfaltung
zukommt, gewinnt es Möglichkeiten des Erwiesenwerdens, mit deren Verlust
es die Souveränität und Eigenweltlichkeit bezahlt, zu der es sich, jene
Relativität radikal überwindend, als Wissenschaftskosmos erhebt.
In welchen Lebensbeziehungen und im Dienste welcher historischen Zwecke
indes auch die (im weitesten Sinne) logischen und methodischen Formen
entstanden sein mögen: das Entscheidende ist, dass sie nun in reiner,
jede weitere Legitimierung abweisender Selbstherrschaft sich ihren
Gegenstand - als Inhalt der Wissenschaft - selbst schaffen.
Jenes praktische, vom Leben erforderte und in das Leben eingewebte
Wissen hat prinzipiell mit Wissenschaft nichts zu tun; von ihr aus gesehen
ist es eine Vorform ihrer. Die Kantische Vorstellung, dass der Verstand die Natur schafft, ihr
ihre Gesetze vorschreibt, gilt nur für die immanent wissenschaftliche
Welt.
Das Erkennen, insofern es ein Pulsschlag oder eine Vermittlung des bewussten
praktischen Lebens ist, stammt keineswegs aus dem eigenen
Schöpfertum der reinen intellektuellen Formen, sondern es wird von jener
Dynamik des Lebens getragen, die unsere Realität in sich und mit der
Realität der Welt verweht.
Mag nun auch das Bild des einzelnen Objekts für die Wissenschaft das
gleiche sein wie für die Praxis: die Gesamtheit der Bilder und ihrer
Zusammenhänge, die wir Wissenschaft nennen und die die theoretische
»Welt« ausmachen, entsteht erst durch die Achsendrehung, die die
Bestimmungsgründe der Erkenntnisbilder aus den Inhalten und ihrer
Bedeutung für das Leben heraus und in die Erkenntnisformen selbst
hineinverlegt.
Diese erscheinen jetzt wie mit einer ganz genuinen Schöpfungskraft
erfüllt und stellen von sich aus eine Welt her, deren Eigengesetzlichkeit
und Zulänglichkeit dadurch nicht alteriert wird, dass unsere Arbeit von
ihrem ideellen Bestände nur einzelne und oft ganz unzusammenhängende
Teile zu unserem Besitz macht.
Denn erst mit jener Wendung steht die in sich logisch verbundene
Totalität ideell vor uns, als deren Nachzeichnung das wissenschaftliche
Wissen erscheint.
So lange das Wissen nur ein Moment des Lebensverlaufes ist, aus ihm
kommend und in ihn mündend, ist hiervon nicht die Rede; der Sinn, zu
dessen Realisierung es in diesem Fall berufen ist, ist die vitale
Zweckmäßigkeit, die Herstellung eines gewissen Seins in uns und
Seinsverhältnisses zwischen uns und den Dingen.
Man könnte sagen: das Leben erfindet, die Wissenschaft entdeckt. Auch dort ordnet sich das Erkennen seiner Intention nach einer
einheitlichen Ganzheit ein. Nur ist es nicht der theoretische Kosmos der Wissenschaft, sondern die
Linie des praktischen Lebens, im Sinne inneren wie äußeren Verhaltens.
Das vom Leben erzeugte und verbrauchte Wissen ist für die Wissenschaft
darum nicht weniger etwas vorläufiges, weil die Denkformen, die von sich
aus die Gestaltung der Weltinhalte zur Wissenschaft übernehmen, selbst im
Lebensprozess erzeugt worden sind, selbst nur den prinzipiellsten Ausdruck
jenes praktischen Verhältnisses zwischen uns und dem übrigen Sein
bilden.
Von der Provenienz dieser Formen und Forderungen wird das Wesen der
Wissenschaft gar nicht angerührt. Denn ob sie ihrer qualitativen Artung nach solche oder solche sind, ist
für dieses Wesen in seinem reinen Sinn und Begriff ohne Belang; nur dass sie nun ihrerseits eine Welt bestimmen,
dass die Inhalte nun in diese Welt
aufgenommen werden, um deren Formen zu genügen - das macht die
Wissenschaft in ihrer Abtrennung vom Leben aus.
Das scharfe Erfassen des Radikalismus dieser Wendung wird dadurch
einigermaßen erschwert, dass der isolierte Inhalt innerhalb der vitalen
Vorform der Wissenschaft und innerhalb der Wissenschaft selbst oft
ununterscheidbar aussieht und dass der Unterschied nur durch die Betrachtung vom Ganzen her, durch die
Zusammenhänge und die innere Intention gestiftet wird.
Viel deutlicher tritt er hervor, wo sich aus und über den vom Leben
erzeugten Vorformen die Welt der Kunst aufbaut. Für das Gebiet der empirisch praktischen Anschaulichkeit steht es
fest, dass es uns ein prinzipiell anders gebautes Weltbild liefert, als
dasjenige, das die Wissenschaft uns als objektives anzuerkennen veranlasst.
Für dieses letztere sind die Dinge in absoluter Koordination durch den
unendlichen Raum hin ausgebreitet, ohne dass ein Punkt besonders betont
wäre und ihnen dadurch eine Abgestuftheit der räumlichen Ordnung
aufdrängte. Ferner bestehen sie hier in absoluter Kontinuität, in der gleichen wie
der Raum selbst, und jeder kleinste Teil ist durch seine rastlose
Bewegtheit mit jedem seiner Nachbarn dynamisch verbunden.
Endlich bedeutet diese Bewegtheit ein stetiges Fließen; die rastlose
Umsetzung der Energien gestattet keine wirkliche Festigkeit einer Form,
kein qualitatives oder räumliches Beharren eines einmal gewordenen
Daseins. Diese Bestimmungen ändern sich vollkommen, sobald ein lebendiges
Subjekt die Welt anschaut.
Mit ihm ist zunächst ein Zentrum oder Ausgangspunkt gegeben, der das
gleichmäßige Nebeneinander der räumlichen Dinge in eine abgestufte oder
perspektivische Ordnung um den Kopf des Anschauenden herum überführt.
Jetzt gibt es eine als solche akzentuierte Nähe und Ferne,
Deutlichkeit und Undeutlichkeit, Verschiebungen und Sprünge,
Überschneidungen und Leerheiten, wozu in dem subjektfreien Dasein der
Dinge gar keine Analogie besteht; ebenso wird die Stetigkeit der Materie
(natürlich in dem Sinne, der von dem atomistischen Problem nicht berührt
wird) von unserem praktischen Sehen durchbrochen, so dass man fast sagen
könnte: dieses Sehen bestünde geradezu in dem eingrenzenden
Herausschneiden bestimmter »Dinge« aus der Kontinuität des Daseins; wir
»sehen« sie, indem wir sie als irgendwie geschlossene Einheiten aus
jener objektiven Kontinuität heraus- oder richtiger in sie hineinformen;
und damit ist schließlich auch der heraklitische Fluss der Wirklichkeit
in ihrem objektiven zeitlichen Werden durch unseren Blick gestaut: unsere
Art, zu sehen, schafft sich wirklich beharrende Gestalten, und die
platonische Vorstellung, die Sinnenwelt zeige nur ewige Unruhe und
Veränderung, während allein der abstrakte Gedanke die Wahrheit, d. h.
das unveränderte So-sein der Formen erfasse, ist, wenn nicht im
absoluten, so doch im nächsten und empirischen Sinn, ungefähr das
Gegenteil des wirklichen Verhaltens.
Verfolgt man diese vom Leben und seiner praktischen Eingerichtetheit
getragenen Funktionsarten unseres Sehens über das von der Praxis ihnen
gegebene Maß hinaus, so stößt man in ihrer Richtung auf die
Schaffensart der bildenden Kunst.
Denn dies ist doch wohl deren erste Leistung: dass sie ihr Gebilde als
eine selbstgenügsame Einheit den kontinuierlichen Verflechtungen des
realen Daseins enthebt, die verbindenen Fäden zu allem Außerhalb
abschneidet, eine Form aufbringt, die, ihrem Sinne nach, nichts von
Werden, Sich-Ändern, Vergehen weiß.
Aber dies ist jetzt nicht eine Technik, die das Leben für
Organisationen unserer Art innerhalb unseres Milieus notwendig macht -
wobei die Heraussonderung eines Gegenstandes als »eines«, als Exemplar
eines Begriffes, doch nur geschieht, um ihn sogleich wieder dem
kontinuierten weiterströmenden Lebensverlauf einzufügen, - sondern
solche Formung ist ein Selbstzweck der Kunst; der Inhalt, das eigentlich
Gegenständliche, ist jetzt nicht ein Leben-Bestimmendes, das um eben
dieser Verknüpfung willen in diese Form gefasst werden muss, sondern er
wird als ein relativ zufälliger gewählt, damit diese künstlerische Form
sich an ihm darstelle, damit sie sei - wie in der Wissenschaft alle Dinge
gleichberechtigt waren, weil sie als Material für das Erkennen als
Endzweck überhaupt nicht »berechtigt«, sondern gleichgültig sind.
Dies ist das legitime Moment an der Behauptung, dass für das Kunstwerk
sein gegenständlicher Inhalt gleichgültig wäre. Allein gerade von ihm aus wird sie für die tatsächliche Kunstübung
wieder dementiert, da verschiedene Gegenstände ja doch ganz abgestufte
Möglichkeiten gewähren, das rein artistische Sehen an ihnen zu
realisieren.
Ihre Unterschiedlichkeit in dieser Hinsicht gewährt den Inhalten
wieder einen Wertunterschied für die Kunst, aus der ihre, anderen
Wertkategorien entstammen den Differenzen mit Recht verbannt bleiben. - Man kann den
Schaffensprozess in der bildenden Kunst als eine
Fortsetzung des künstlerischen Sehprozesses deuten.
Die äußeren und inneren Gesichte sind bei den anderen Menschen in die
mannigfaltigsten praktischen Reihen derart verflochten, dass sie diesen
zwar einzelne Inhalte und Modifikationen geben können, aber der
eigentliche Anstoß und das durchgehende Telos geht nicht vom Sehen als
solchem aus; dieses bleibt hier ein bloßes Mittel sonst schon
beabsichtigter Aktivitäten, und wo es das nicht ist, ist es nur
kontemplativer Art, ein überhaupt nicht in Tätigkeit sich umsetzendes
Schauen.
Bei dem Maler aber scheint, in den Stunden seiner Produktivität, der
Sehakt für sich allein gewissermaßen sich in die kinetische Energie der
Hand umzusetzen.
Dass bekanntlich viele Künstler, auch bei freiestem Umbilden der
Natur, nur das zu schaffen meinen, was sie »sehen«, mag wohl auch aus
dem Gefühl dieser unmittelbaren Verbindung stammen; nur dass diese
Künstler als eine sozusagen substanzialistische Übertragung des formal
Gleichen deuten, was in Wirklichkeit etwas Funktionelles, gegen Gleichheit
oder Ungleichheit von Ursache und Wirkung ganz Gleichgültiges ist: das
Schöpferischwerden des bloßen Sehens, das seine Kraft sonst nur
stützend und vermittelnd in Strömungen aus anderen Quellflüssen mischt.
Dieses selbständige, selbstverantwortliche Sichfortsetzen des
Sehprozesses in das Tun des Künstlers entspricht aber ersichtlich einer
im sonstigen Sehen nicht vorhandenen Selbständigkeit des künstlerischen
Sehens selbst.
Das Sehen ist hier aus seiner Verwebung mit den praktischen, nicht
optischen Zwecken gleichsam isoliert, es verläuft ausschließlich nach
seinen eigensten Gesetzen; so dass man das Sehen des Künstlers mit Recht
als ein schöpferisches bezeichnet hat - aber schließlich kann es sich
doch nur durch die eben hierdurch bewirkten Modifikationen von dem Sehen
der Menschen überhaupt unterscheiden.
Es hat nur die Drehung stattgefunden, dass nicht um der Inhalte willen
die Sehensfunktion in Kraft tritt, sondern um dieser willen und durch sie
die Inhalte kreiert werden; in zugespitztem Ausdruck: im allgemeinen sehen
wir um zu leben, der Künstler lebt um zu sehen.
Freilich vergesse man nicht, dass immer und überhaupt der ganze Mensch
sieht, nicht nur das Auge als anatomisch differenziertes Organ. Wenn nun das Auge des Künstlers wirklich in einem besonders autonomen,
ausschließenden Sinne sieht, so ist die Meinung nicht etwa die, dass sein
Auge in entschiedenerer Abstraktion vom eigentlichen Leben funktionierte,
als bei anderen Menschen.
Sondern umgekehrt, bei dem schöpferischen Künstler geht eine
größere Summe von Leben in sein Sehen hinein, die Lebensganzheit fügt
sich williger darein, in diese Richtung kanalisiert zu werden.
Nur sekundär und sozusagen technisch hat der Künstler mehr Sehen in
seinem Leben als andere; primär und wesentlich hat er mehr Leben in
seinem Sehen; was eben jene Wendung ausdrückt: dass die innerhalb und zu
den Zwecken des realen Lebens erzeugte Form eine ideale Welt erzeugt,
indem sie sich nicht mehr in die vitale Ordnung einfügt, sondern selbst
eine Ordnung bestimmt oder ausmacht, in die sich das Leben - als
Wirklichkeit, als Vorstellung, als Bild - einzufügen hat.
Ich erwähne nur einen einzelnen Zug dieses Verhältnisses zwischen dem
praktisch empirischen Sehen und dem künstlerischen Sehen und Gestalten.
Jede optische Wahrnehmung bedeutet unmittelbar eine Auswahl aus
unbegrenzten Möglichkeiten; innerhalb jedes jeweiligen Gesichtsfeldes
betonen wir aus Motiven, die mit dem bloß Optischen nur in
Ausnahmefällen zu tun haben, immer nur einzelne Punkte; Zahlloses belässt
die Wahrnehmung außerhalb ihrer, als ob es überhaupt nicht da
wäre; auch an jedem einzelnen Gegenstand bestehen so und so viele Seiten
und Qualitäten, die unser Blick übergeht.
Unsere Formung der Anschauungswelt geschieht also nicht nur durch
benennbare physisch-psychische Aprioritäten, sondern fortwährend auch in
negativer Weise. Das Material unserer Anschauungswelt ist also nicht dasjenige, das
wirklich da ist, sondern der Rest, der nach dem Fortfall unzähliger
möglicher Bestandteile übrigbleibt - was denn freilich die Formungen,
die Zusammenhänge, die Einheitsbildungen des Ganzen in sehr positiver
Weise bestimmt.
Wenn also ein bedeutender moderner Maler gesagt hat: Zeichnen ist
Weglassen - so ist die Voraussetzung dieser Wahrheit die andere: Sehen ist
Weg lassen.
Insoweit der künstlerische Prozess überhaupt in dieser Richtung
charakterisiert werden kann, ist er - unter jener völligen Drehung der
Intention - die Fortsetzung und sozusagen systematische Steigerung der
Art, wie wir überhaupt die Welt wahrnehmen.
Das »Weglassen« ist hier künstlerisch bedingende Funktion, während
es in der Praxis eine leidige Notwendigkeit ist.
Der Künstler - dies kam schon vorhin in Frage - sieht mehr als andere
Menschen: d. h. nun, er muss ein viel größeres Material haben als
andere, weil er viel mehr »weglässt«, und weil für das künstlerische
Schöpfer nun das Gesehene nicht, wie für das Leben, nur ein Element ist,
das noch dazu durch den außerhalb gelegenen Vitalzweck von vornherein
determiniert ist.
Wir sind also wirklich alle, als Sehende, fragmentarische oder
embryonale Maler, wie wir, als Erkennende, ebensolche Wissenschaftler
sind. Aber der von hier aus bloß graduell erscheinende Unterschied darf
nicht verleiten, das ideale Gebilde als bloß graduelle Steigerung des
Vitalvorganges zu deuten.
Dass die Lebensrealität in dieser Bedeutung als Vorform der Kunst
auftritt, offenbart sich neben den so exemplifizierten subjektiven Fällen
auch an objektiven.
Die künstlerischen Gebilde primitiver Völker gehen oft davon aus, dass
z. B. ein Stein ungefähr an eine Menschen- oder Tiergestalt
erinnert, und sie nun durch Abschlagen, Färben oder sonstiges Nachhelfen
diese Ähnlichkeit vervollständigen.
Das erste ist ein assoziativ-psychologisches Ereignis, eine der
Verwehungen von Optik und Begrifflichkeit, die das praktische Leben auf
Schritt und Tritt tragen. Äußerlich angesehen, ist nun das genauere Herausarbeiten der
Ähnlichkeit nur ein graduelles Weiterführen solcher Analogiebildung. Dem Sinne nach aber ist es eine ganz prinzipielle Drehung.
Nachdem die gegebene Gestalt im Verlauf des seelischen Prozesses zu dem
Bilde etwa eines Fisches geführt hat, wird dieses nun seinerseits aktiv,
schafft von sich aus, nach den Gesetzen, die ihm ausschließlich
einhaften, ein sichtbares Gebilde.
Zuerst hat die Steingestalt zur Idee des Fisches geführt, dann aber
die anschauliche Idee des Fisches zu einer Steingestalt.
Der Sehprozess, durch die Verkettung mit der äußeren und zufälligen
Wirklichkeit zu einer Formwahrnehmung bewogen, reißt jetzt die
selbständige Führung an sich: dass das Gebilde als Fisch gesehen wird,
ist jetzt nicht mehr das Bestimmte, sondern das Bestimmende; das Sehen
erzeugt jetzt das künstlerische Gebilde, nachdem die vitale Praxis den
Formgewinn überhaupt gesichert hatte.
Jetzt wird das Herausschneiden, das Sinn-Geben, die Einheitlichkeit,
die unser »Sehen« gegenüber der objektiven Natur bedeuten, weil dieses
Sehen nur so praktisch möglich ist, zum Für-Sich-Entscheidenden; das
Leben trägt die Form nicht mehr, enthebt die Seinsinhalte der sonst von
ihr vermittelten Lebensverknüpfung, um sich souverän an diesen Inhalten
auszugestalten; woher einerseits das Gefühl von Freiheit begreiflich
wird, das aller Kunst, in ihrem Prozess wie in ihrem Ergebnis, einwohnt -
denn hier schafft der Geist wirklich ex solis suae naturae legibus -,
andererseits der Inhalt des Lebensprozesses, insoweit er rein
naturhaft-wirklich und weltverwebt auftritt, als Vorform des Kunstwerks
sich offenbart.
Das Gefühl von Reinheit und Unschuld, das als durchgehende Kompetenz
der Kunst gelten kann, mag mit der so bezeichneten Unabhängigkeit von
aller Weltgegebenheit zusammenhängen, in deren ganze Problematik und
Wertzufälligkeit wir sonst das Sehen und das daran anschließende Handeln
sozusagen hineinmischen.
Die Kunst mag eine noch so anstößige Szene darstellen: dieser
Charakter eignet ihr doch nur, insoweit sie erlebt wird, ihr Inhalt also
unter einer ganz anderen Kategorie steht, als unter der des bloßen
Schauens.
Man deutet wahrscheinlich jene Reinheit der Kunst falsch, wenn man sie
als eine positive Gesinnung ansieht, wie sie unter dem gleichen Namen auf
ethische oder auf religiöse Weise besteht. In diesen Fällen handelt es sich um Reinheit des Lebens, bei der Kunst
aber um Reinheit vom Leben.
Deshalb wehren sich die Künstler gegen alles Moralisieren gegenüber
ihren Vorwürfen: sie fühlen sich durch dieses, das nur die Lebensform
dieser Vorwürfe betrifft, gar nicht getroffen.
Denn, gleichgültig wie viel Leben in das künstlerische Schaffen
eingeströmt ist und wie viel von ihm ausströmt: als künstlerisches ist
es von dem Leben, innerhalb dessen das Schauen jedenfalls nur ein Element
unter anderen ist, gelöst und ist nur Schauen und dessen »reine«, d. h.
von allen Lebensverflechtungen gesonderte schöpferische Konsequenz.
Die künstlerische Anschauung, als die ungestörte Herrschaft des
Anschauungsprozesses als solchen, ist so wenig Abstraktion, dass eher die
praktisch-empirische Anschauung so zu bezeichnen wäre.
Denn gerade dadurch, dass das nicht-künstlerische Bild der Dinge von
lauter nicht anschaulichen Gerichtetheiten, Assoziationen, zentrifugalen
Bedeutungen durchwachsen ist und als eines der vielen koordinierten Mittel
für praktische Zwecke dient, muss es von der ganzen Fülle und reinen
Konsequenz des anschaulichen Phänomens als solchen abstrahieren; die
Praxis nimmt nicht
das ganze angeschaute Ding, sondern nur das Quantum seiner Anschauung
auf, das sie für ihre ganz anderen Zwecke braucht. In den praktischen Zusammenhängen ist das angeschaute Ding vielleicht
der Lebenstotalität verschmolzen und so wenig ein Fragment, wie ein
lebendiges Glied ein »Fragment« seines lebendigen Körpers; aber rein
als Anschauung gewertet ist es hier ein bloßes Fragment, durch einen
Abzug von der möglichen Totalität seines Angeschautwerdens zustande
gekommen.
- Auch wird durch diese Deutung des Kunstwerks einleuchtend, dass das
Kunstwerk weit weniger täuscht, als manches Wirklichkeitsbild. Denn wie man das letztere Verhältnis zu seinem Gegenstand, das als
seine »Richtigkeit« gilt, auch deute und mit welchen Garantien man diese
auch umgebe - dass sie dennoch verfehlt sei, ist eine nie
auszuschließende Möglichkeit.
Gewiss hat auch das Kunstwerk das Objekt in sich eingefangen und es zu
seinem treulich gepflegten Stoff gemacht.
Ist dies aber einmal geschehen, so zieht sich nun auch das
künstlerische Gestalten völlig in sich zurück, geschieht nur um der
Forderungen seiner eigenen Form willen und hat nichts mehr sich
gegenüber, dem ähnlich zu sein (oder wie man die Relation sonst benennen
möge) seine künstlerische Bedeutung irgendwie anginge.
Nur außerkünstlerische Interessen des Lebens können die
morphologische Beziehung des Kunstwerks zum Modell wichtig machen.
Da das Kunstwerk aber seine reine Wertung nur nach immanent
künstlerischen Qualitäten erfährt und über das äußere Objekt als
solches, als Wirklichkeit, gar nichts aussagen will, so ist es gar nicht
in der Lage, über dies Wirkliche zu täuschen; es fehlt ihm das Korrelat,
durch das es zur Illusion werden könnte und dessen Dasein für die
Wirklichkeitsvorstellung, die vitale wie die wissenschaftliche, die
Möglichkeit des Irrtums bedingt.
Ich führe den Radikalismus der Drehung von dem realen, in das Leben
verflochtenen Bilde zu dem künstlerischen, die die erlebte
Wirklichkeitsanschauung nun gerade der reinen Anschauungsform, ihren
inneren Gesetzen und Reizen dienen lässt und damit das Kunstwerk
überhaupt als solches erzeugt - noch an einem abgelegenen und diffizilen
Falle aus.
Altjapanische Teeschalen, wie sie jetzt Sammelgegenstände bilden, sind
vielfach von feinen goldenen Linien durchzogen, mit denen Sprünge oder
ausgeschlagene Stücke repariert sind. Für den europäischen Blick wirken diese Steingutstücke überhaupt
zunächst rustikal, ja roh und zufällig, und offenbaren erst langer
Kennerschaft ihre Schönheiten und Tiefen.
Aber auch dann sind sie nicht in gewöhnlichem Sinne »Kunst«, wie es
etwa chinesische Porzellane sind, sondern wirken wie ein gewisses
Mittleres zwischen zufälligem Naturprodukt und stilisierter Kunst, für
dessen charakteristische Einheit unsere europäische Ästhetik keine
Kategorie hat.
Auch handelt es sich nicht etwa um die Synthese der naturalistischen
Kunst, denn kein dargestellter Inhalt, sondern das unmittelbare Dasein des
Gebildes ist naturhaft. In Farbenstellung und Oberflächenbehandlung klingt zwar immer ein
Natureindruck an: an einen Stein oder eine Fischhaut, an Baumrinde oder
Wolkenfärbung Wird man erinnert.
Aber dies ist nicht naturalistische Nachahmung, sondern - da man diesen
fremdartigen Eindruck nur symbolisch bezeichnen kann - als hätte die
Natur die optischen und taktilen Elemente, die sie an den genannten
Gegenständen hervortreibt, jetzt in irgendwelcher Abwandlung durch die
Hand eines Japaners hindurchwachsen lassen.
Während hierin nun die Sprünge und Lücken etwas rein naturhaft
Zufälliges sind und in unausgebessertem Zustand selbstverständlich auch
so wirken, ergeben die ihnen folgenden goldenen Linien, wie durch eine
prästabilierte Harmonie, in außerordentlich vielen Fällen ein
hinsichtlich de Führung wie der Flächenverteilung wahrhaft entzückendes
künstlerisch ganz vollkommenes Bild, ein so vollkommenes dass man oft nur
schwer an die Zufälligkeit der Risse glauben mag.
Nirgends vielleicht erscheint unser Prinzip markanter als hier, wo sich
der künstlerische Prozess absolut eng an die Naturansicht anschließt und
seine Wahlfreiheit nur an der Breite dem Relief und der Tönung der
Goldlinien zeigen kann.
Unmittelbarer als irgend sonst hat sich das, was der Künstler sieht in
das umgesetzt, was er tut. Aber jener Umschwung des Eindrucks von einem naturhaft bestimmten
empirischen zu einem zweifellos künstlerisch-formalen offenbart, dass hier eine prinzipielle Wendung geschehen sein
muss.
So lange der Bruch de Schale in seiner ursprünglichen Form besteht,
wird zwar sein optisches Bild auch erst von dem synthetischen Sehprozess er zeugt; allein so ist es rein naturhaft und durch die Verflechtung
unseres Blickens mit der Naturgegebenheit bestimmt. Aber nun übernimmt die so zustande gekommene optische Form die Leitung
der künstlerischen Aktivität.
Ist das Sehen der gegebenen Wirklichkeit, durch unsere
Lebensverflechtung mit ihr bestimmt, die Vorform der Kunst, und entsteht
Kunst, indem das Sehen sich aus dieser Verflechtung löst und von sich aus
das Leben des Schaffenden in seine autonomen Rhythmen hineinleitet - so
ist es nun hier das empirisch, im Zusammenhang der Wirklichkeit
wahrgenommene Linienbild, das für den keramischen Künstler zur
Richtschnur dafür wird, wie er die Schale aussehen machen will.
Das Kunstwerk entsteht durch die Emanzipation des Gesichtsbildes vom
praktischen Leben, die in der Formung eines neuen, nun der Funktion des
Sehens gehorsamen Gebildes produktiv wird.
Wenn dieser Sachverhalt gilt, so erklärt sich mit ihm das öfters
gehörte Paradoxon: dass die Natur für jede Zeitepoche so aussieht, wie
die jeweilige Kunst ihrer Künstler es ihr vorschreibt: wir sähen die
Wirklichkeit nicht »objektiv«, sondern mit den Augen der Künstler an.
Gleichviel ob dies die ganze Wahrheit ist - ein Teil der Wahrheit ist
es jedenfalls. Die Möglichkeit davon aber, dass die Kunst unsere Art des Sehens
bestimmt, liegt darin, dass das Sehen die Kunst bestimmt hat.
Nachdem unser Leben in der Welt das Sehen ausgebildet hat, entheben die
Künstler die Sehfunktion diesem Zusammenhang zu gesonderter Ausbildung,
zu der selbstgenügsamen Fähigkeit, die Dinge in einen nur durch das
Sehen geschaffenen Zusammenhang einzustellen.
Und dies wirkt nun auf das empirisch-weltmäßige Sehen zurück: die
Genesis der Kunst aus ihrer vitalen Vorform hat die Brücke geschlagen,
auf der sich die Kunst wieder dem Leben zurückverbindet.
Wir alle sind praexistenziale Maler und deshalb fähig, nachdem der
wirkliche Maler uns den Weg gebahnt hat, ihm nachzugehen. Die Künstler verfahren nur ungefähr wie der Denker, der, wenn die
Erfahrung vorliegt, aus ihr die Kausalität als ein reines selbständiges
Gebilde herausgewinnt - dies aber nur kann, weil sie selbst schon jene
Erfahrung geformt hat.
Sie zwingen uns nicht - wie jenes Paradoxon, so lange es sich an das
bloße Phänomen hält, ausspricht - statt einer generell
unkünstlerischen Betrachtungsart, die wir ohne sie haben würden, die
ihrige, rein künstlerische auf; sondern nur die jeweils besondere
Ausgestaltung eines Apriori, das sowieso in seinem unkünstlerischen
Funktionieren eine Vorform der Kunst ist, wird von ihnen bestimmt.
Dies gilt nicht nur für die Malerei, sondern ersichtlich ebenso für
die Dichtkunst. Wenn wir empfinden und erleben, wie die Dichter uns vorempfunden und
vorerlebt haben, so ist es, weil zur Bildung der inneren Welt die
Kategorien von vornherein mitgewirkt haben, die, in reiner Herauslösung
und nur sich selbst folgsamer Beherrschung des seelischen Materials,
»Kunst« bewirken.
Denn was ich bezüglich der Anschauungskünste sagte, bestimmt auch die
Dichtkunst: wir sind alle präexistenziale Dichter.
Nur sei wiederum nicht vergessen, dass dieser Ausdruck eine
Vordatierung ist, da die fraglichen Formen, innerhalb des
empirisch-praktischen Lebens wirksam, noch nicht Kunst sind, auch nicht
ein »Stückchen« Kunst; etwas nicht graduell, sondern generell anderes
sind sie, das nur bestimmt ist, in Kunst umzuschlagen.
Für die Poesie ist hier zunächst des sprachlichen Ausdrucks zu
gedenken. Sehen wir die Sprache als ein bloßes Mittel an, sich von Person zu
Person zu verständigen, so scheint in diesem logischen Prozess nichts
Kunstmäßiges Raum zu haben. Dies gilt indes nur, wo ein sozusagen mechanisches Hineinschütten
eines bestimmten Bewusstseinsinhaltes in ein anderes Bewusstsein in Frage
steht und, der Intention nach, die Rede des Einen im Anderen keine diesem
Anderen eigene Funktion auszulösen hat.
Hier freilich genügt der Telegrammstil. Allein die Zwecke der Rede - der mündlichen wie der schriftlichen -
pflegen außer der Inhaltsgleichheit zwischen der hervorgerufenen und der
hervorrufenden Vorstellung noch seelische Bewegungen des Auf nehmenden zu
fordern, die nicht in gleicher Weise logisch erzwingbar sind und, obgleich
durch das Gehörte angeregt, doch in höherem Maße, als die Reproduktion
der reinen Sachgehalte, aus der Spontaneität des Hörers hervorgehen.
Er soll das Gehörte doch in einer gewissen Stimmung aufnehmen, es soll
sich ihm einprägen oder umgekehrt gerade nur für einen Moment in ihm
verweilen, er soll zu den besonderen Reaktionen der Zustimmung, des
Überzeugtseins, des Anknüpfens praktischer Konsequenzen gebracht werden
- welches alles nicht auf den bloßen Inhalt hin logisch stringent
erfolgt, sondern als ein Neues und Weiteres zum großen Teil von der Form
abhängt, in der jener Inhalt dargeboten wird.
Fasst man einmal den Begriff »Musik« in einem allerweitesten Sinn:
als Rhythmik der Äußerung, als Schwingung des Gefühls über das
begrifflich Fixierbare hinweg, als diejenige zeitliche und dynamische
Ordnung des Darbietens die für unsere Auffassungskraft die günstigste
ist, als unmittelbare und kontinuierliche Übertragung eines seelischen
Zustandes, den Worte und Begriffe nur stückweise und wie in
Zusammensetzung vermitteln können - fasst man dies als die »Musik«
unserer Äußerungen, so wird sie von deren praktischer Zweckmäßigkeit
fortwährend gefordert.
In der Poesie aber erst wird diese Formung zu selbstgenügsamem Wert;
hier hat mit der Erreichung der so bezeichneten Vollkommenheit das
Wortgebilde seinen Sinn gewonnen und nicht schon oder erst dann, wenn es
mit ihr als Mittel in das zu weiterhin gelegenen Zwecken sich spannende
Leben eingestellt ist.
Darum hat vom Leben aus gesehen Schopenhauer recht: »die Kunst ist
überall am Ziele« - weil sie überhaupt kein »Ziel« im Lebenssinne
hat. Teleologie ist eine Vitalkategorie, keine künstlerische.
Ohne weiteres ist ersichtlich, dass jene Formen, sobald sie die Wendung
zur Autonomie erfahren haben, ihr Anwendungsgebiet viel konsequenter,
einheitlicher, radikaler durchgestalten, als es ihnen in ihrer vitalen
Funktion möglich ist.
Denn in dieser haben sie die Zufälligkeit des bloßen Mittels, werden
durch anders gerichtete Erfordernisse fortwährend unterbrochen und
gelangen zu keiner auf sich selbst gerichteten, folgerechten Entwicklung,
sondern müssen Fragment bleiben - nicht vom Standpunkt des Lebens aus, in
dem sie Wirklichkeit haben; denn in dessen kontinuierlicher Strömung ist
(präsumtiverweise) eine jede genau in dem Maß ihrer Wirksamkeit an ihrer
Stelle und in ihrem Quantum richtig, und jedes Mehr ihrer Herrschaft
würde das jetzt von ihr Verlangte nicht vervollständigen, sondern
unvollkommener machen.
Erst von dem neuen Gebilde, das durch ihre Alleinherrschaft zustande
gekommen ist, von der Kunst her gesehen, erscheinen jene Formungen
einzelner Lebensmomente als Fragmente.
Dass man so oft das Leben als Fragment bezeichnen hört, das sich erst
in der Kunst zu Fertigkeit und Ganzheit abrunde, hat seinen richtigen Sinn
wohl in diesem Formprinzip: das Kunstwerk kann ein Ganzes und prinzipiell
in sich Vollendetes sein, weil es ganz und gar von Normen gestaltet ist,
die hier mit ihrer Durchführung ihren Sinn restlos erschöpft haben -
während sie sonst einem Höheren, der Norm des Lebens als solchen,
untertan sind, das ihnen nur wechselnde und unterbrochene Anwendungen
gestattet; das Leben erscheint als ganzes wie ein Fragment, insofern jedes
einzelne seiner Stücke, von seiner in autonomem Schöpfertum vollendeten
Form her gesehen, natürlich nur ein Bruchstück ist.
Und daraus ergibt sich weiterhin, dass wir in zwei ganz unterschiedenen
Bedeutungen von unvollkommener Kunst reden können. Es gibt unvollkommene Kunst, insoweit das Werk zwar ganz und gar um der
künstlerischen Intention willen gestaltet ist und sich in der strengen
Umgrenzung der autokratisch künstlerischen Formen hält - aber den
immanenten Forderungen der Kunst nicht genügt, uninteressant, banal,
kraftlos ist.
Und es gibt unvollkommene Kunst, wenn das Werk, die letzteren
Beeinträchtigungen vielleicht nicht zeigend, seine künstlerischen Formen
noch nicht völlig von der Lebensdienstbarkeit befreit, die Wendung dieser
Formen von ihrem Mittel-Sein zu ihrem Eigenwert-Sein noch nicht im
absoluten Maße vollzogen hat.
Dies ist der Fall, wo ein tendenzhaftes, anekdotisches, sinnlich
exzitatives Interesse als ein irgendwie bestimmendes in der Darstellung
mitklingt. Dabei kann das Werk von großer seelischer und kultureller Bedeutung
sein; denn dazu braucht es keineswegs an die begriffliche Reinheit einer
einzelnen Kategorie gebunden zu sein.
Aber als Kunst bleibt es unvollkommen, solange seine Formungen noch
irgend etwas von derjenigen Bedeutung fühlbar machen, mit der sie sich
den Strömungen des Lebens einfügen - so tief und umfassend sie diese
Strömungen auch in sich aufgenommen haben.
Die vitale Form der Poesie nun beschränkt sich keineswegs auf den
sprachlichen Ausdruck.
Vielmehr, die innere und inhaltliche Gestaltung des Schauens, mit der
sich die dichterische Schöpfung vollzieht, formt sich in unzähligen
seelischen Akten vor, mit denen wir den Stoff des Lebens den Zwecken des
Lebens gefügig machen.
Ich beschränke mich auf wenige Beispiele. Man hat es der Kunst überhaupt - hier aber soll uns nur die Poesie
angehen - von jeher zugeschrieben, dass sie nicht die isolierte
Individualität menschlicher Existenzen, sondern immer ein Allgemeines,
Typen der Menschlichkeit, zur Darstellung bringe, für die das so und so
benannte Individuum nur ein Bild und ein Vorname sei.
Ich lasse dahingestellt, ob dies annehmbar ist; jedenfalls, wenn und
insoweit es richtig ist, scheint es die Dichtkunst - und so würde man im
allgemeinen urteilen - in Gegensatz zu dem Verfahren der Praxis zu
stellen, die menschlichen Erscheinungen in ihrer Wirklichkeit, d. h. eine
jede als diese individuelle, in der Einzigkeit ihres Umrisses, ihrer
Position, ihres Lebenssinnes erfasse.
Hiermit aber scheint mir unser Bild von den Menschen, wie wir es gerade
zum Zweck der praktischen Beziehungen zu ihnen gestalten, keineswegs
ausreichend charakterisiert.
Man macht es sich selten ganz klar, wie durchgehend wir die Menschen,
mit denen wir zu tun haben, generalisieren und typisieren. Zunächst in mehr äußerlicher, sozialer Hinsicht.
Mit einem Offizier oder einem Geistlichen, einem Arbeiter oder einem
Professor verkehrend, selbst nicht in Angelegenheiten ihrer Berufe,
pflegen wir sie nicht einfach als Individuen, sondern Wie
selbstverständlich als Exemplare jener generellen Standes- oder
Berufsbegriffe zu behandeln, und zwar nicht nur so, dass diese
überindividuelle Bestimmtheit als reales und natürlich nicht zu
vernachlässigendes Element der Persönlichkeit wirksam wäre.
Ober die strömende Lebenseinheit, in welche dies Element, mit anderen
koordiniert und sprunglos, eingefügt ist, erhebt es sich vielmehr als ein
praktisch führendes, es gibt die Tonart des Verkehrs an, wir sehen
überhaupt nicht die reine Individualität, sondern zunächst und auch
manchmal zuletzt den Offizier, den Arbeiter, oft auch »die Frau« usw., und die persönliche Bestimmtheit erscheint oft genug nur als die
spezifische Differenz, mit der sich jenes Allgemeine darstellt.
Diese Struktur der Vorstellung vom Andern ist die Voraussetzung, mit
der sich unser sozialer Verkehr vollzieht. Aber sie erhebt sich ebenso über den im engeren Sinne persönlichen
Eigenschaften.
So entschieden wir die Unvergleichlichkeit und unanalysierbare Einheit
an einer Natur empfinden mögen - wenn wir sie in der Weise vorstellen,
die gerade ein praktisches Verhältnis zu ihr tragen kann, so erscheint
sie, neben allem Ineffabile des Individuums, noch unter einem
psychologischen Allgemeinbegriff oder als die Synthese solcher: klug oder
dumm, schlaff oder energisch, heiter oder trübe, großzügig oder
pedantisch und wie die Generalisationen alle heißen mögen, die gerade
ihren Allgemeinheitscharakter daran zeigen, dass je ein Gegensatzpaar die
möglichen Richtungen einer fundamentalen seelischen Energie unter sich
aufteilt.
Wir mögen uns bewusst sein, dass eine noch so große Häufung solcher
Allgemeinheiten doch kein Koordinatensystem bildet, in dem der Punkt der
eigentlichen Persönlichkeit sich unzweideutig festlegte, und dass wir sie
mit diesen Verallgemeinerungen ihrer eigensten Wurzelung entreißen; wir
können innerhalb der Lebenspraxis derartigen Umstimmungen des
Individuellen ins Allgemeine doch nicht entgehen.
Und endlich enthält die Vorstellung des Anderen noch eine Umbildung
seiner eigentlichen Realität, die gleichsam durch diese hindurch nach der
entgegengesetzten Seite geht.
Diese Realität des uns gegenüberstehenden Menschen (vielleicht sogar
auch die eigene) erblicken wir unvermeidlich so, dass wir die allein
dargebotenen einzelnen Züge zu einem Gesamtbild ergänzen, dass wir das
nacheinander sich Entfaltende seines Wesens auf die Gleichzeitigkeit eines
»Charakters«, einer »Wesensart«, projizieren, dass wir endlich das
qualitativ Unvollkommene, Verstümmelte, Unentwickelte, nur Angedeutete
seiner Persönlichkeit zu einer gewissen Absolutheit führen; wir sehen
einen jeden - nicht immer, aber sicher viel öfter als wir es uns bewusst machen - so, wie er wäre, wenn er sozusagen ganz er selbst wäre, wenn er
nach der guten oder der schlechten Seite hin die volle Möglichkeit seiner
Natur, seiner Idee, verwirklicht hätte.
Wir alle sind Fragmente, nicht nur eines sozialen Typus, nicht nur
eines mit allgemeinen Begriffen bezeichenbaren seelischen Typus, sondern
auch gleichsam des Typus, der nur wir selbst sind. Und all dies Fragmentarische ergänzt der Blick des Anderen wie
automatisch zu dem, was wir niemals ganz und rein sind.
Während die Praxis des Lebens darauf zu drängen scheint, dass wir das
Bild des Anderen nur aus den real gegebenen Stücken zusammensetzen, ruht
gerade sie bei genauerem Hinsehen auf jenen Ergänzungen und, wenn man
will, Idealisierungen zu der Allgemeinheit des Typus, den wir mit anderen
teilen, und dessen, den wir mit niemandem teilen.
So nun - wie allenthalben die empirische Relativität unserer
Auffassungen zwischen zwei Absolutheiten steht -, stellen wir den anderen
Menschen zwischen die Absolutheit eines Allgemeinen und die Absolutheit
seines eigenen Subjekts - die er beide nicht deckt.
Es bedarf keiner näheren Ausführung, dass alle poetische und
überhaupt künstlerische Menschendarstellung an diesen, im Lebensverlauf
fortwährend geübten Modis der Auffassung ihr Prototyp findet.
Die Verallgemeinerungen in soziologischer und psychologischer Hinsicht
schaffen die Grundlage, auf der Verkehr und Verständnis sich erhebt;
jenes perfektionierte Bild der Individualität dient uns gewissermaßen
als Schema, in das wir die empirischen Züge und Handlungen der
Persönlichkeit (gleichviel ob es auch erst auf deren Grund erwachsen ist)
eintragen, das sie in Zusammenhang bringt und das uns den Menschen erst zu
einem festen Faktor für unsere Berechnungen und unsere Forderungen macht.
Das künstlerische Bild aber entsteht durch eine volle Achsendrehung:
jetzt kommt es nicht mehr darauf an, durch die Wirksamkeit dieser
Kategorisierungen den Anderen unserem Lebenslauf einfügbar zu machen,
sondern die künstlerische Absicht endet daran, einem menschlichen
Charakter, einer Möglichkeit des Mensch-Seins diese Formen zu geben.
Die vollkommensten dichterischen Gestalten, die wir besitzen: bei Dante
und Cervantes, bei Shakespeare und Goethe, bei Balzac und C. F. Meyer,
stehen in einer Einheit da, die wir nur als die Gleichzeitigkeit der hier
angedeuteten gegensätzlichen Führungen bezeichnen können: sie sind
einerseits ein ganz Generelles, als wäre das Individuum, von sich
erlöst, aufgegangen in einen typischen Umriss, empfindbar nur als ein
Pulsschlag des allgemeinen Lebens der Menschheit; und sie sind
andererseits bis zu dem Punkte hin vertieft, an dem der Mensch schlechthin
nur er selbst ist, bis zu der Quelle, wo sein Leben in absoluter
Selbstverantwortlichkeit und Unverwechselbarkeit entspringt, um dann erst
von seinem empirischen Verlaufe Anähnlichungen und Verallgemeinerungen
mit anderen zu erfahren.
Ich nenne noch einen zweiten Fall, der in einer ganz anderen Ebene
liegt. Von den Gefühlskategorien, unter deren Perspektiven das Lebensmaterial
sich stellt, hat die Lyrik zwei erwählt, um sie häufiger als alle
anderen in ihre Kunstform zu gießen: die Sehnsucht und die Resignation.
Die Augenblicke der Erfüllung, in denen der Lebenswille und sein
Gegenstand sich abstandslos durchdringen, begegnen in der Lyrik nicht nur
überhaupt seltener, sondern verhältnismäßig noch viel seltener
gelangen sie in ihr zu wirklich künstlerischer Vollendung.
Der Grund scheint mir zu sein, dass Sehnsucht und Resignation - oder,
etwas abgestimmt, Hoffnung und Verlust - in sich ein Moment von
Distanzierung tragen, das der künstlerischen Distanznahme und
Objektivierung sozusagen vorarbeitet.
Täusche ich mich nicht, so neigt der Sprachgebrauch zur Bezeichnung
von Sehnsucht und Resignation als »lyrischen Empfindungen«; und ich wüsste
nicht, woraufhin diese Affinität gefühlt würde, außer auf
jenes eigentümliche Entferntsein von der erfüllten Ganzheit des Lebens,
die der Besitz bringt.
Für die Sehnsucht wie für die Resignation ist der Zeitverlauf - wenn
auch in ganz verschiedenen Bedeutungen - gewissermassen zum Stillstand
gekommen; mit beiden stellt sich die Seele irgendwie jenseits der
Bedingtheiten der Zeit (wie es nach einer Seite hin Goethe ausspricht:
»Was ich besitze seh ich wie im Weiten, Und was verschwand wird mir zu
Wirklichkeiten«) und schafft damit ebenso eine Vorform des
künstlerischen Verhältnisses zur Zeit, wie die Abgedrängtheit von dem
eigentlich vollen Leben, die in beiden Affekten liegt, diese in die
Vorsphäre der Kunst stellt.
Aber unterhalb dieser scheinbaren äußeren Kontinuität vollzieht sich
die radikale Wendung: in dem wirklichen Erleben entsteht Sehnsucht und
Resignation, weil wir von einer gewissen intensiven Unmittelbarkeit des
Lebens entfernt sind - in der lyrischen Kunst umgekehrt werden jene
Affekte mit Vorliebe gesucht, weil sie uns eben diese artistisch
erforderliche Distanz schaffen.
Der Affekt, den das Leben als Wirkung einer Unberührsamkeit, einer
Distanznahme erzeugt, wird nun seinerseits zum Zentrum, weil er am besten
den Bedingungen der Kunst genügt. Die Distanznahme bildet noch in einer anderen Hinsicht den Drehpunkt
zwischen dem empirischen Leben und der dichterischen Idealität.
Man hat lange bemerkt, dass Personen und Vorgänge der Vergangenheit zu
poetischer Verwendung im Epos wie Drama besonders günstig disponiert
sind.
Tatsächlich ist schon die Art, wie sich uns das Vergangene als solches
darstellt, eine Vorform der Kunst: die Gelöstheit von allem praktischen
Interesse, das Hervorleuchten des Wesentlichen und Charakteristischen vor
den zurücksinkenden Unbedeutsamkeiten, die Macht, die der Geist hier -
anders als gegenüber der unmittelbaren Wirklichkeit - in der Anordnung
und Bildgestaltung des Materials übt - alle diese Züge der
Vergangenheitserinnerung sind Wesensbildner der Kunst, sobald sie
ihrerseits den gegebenen Stoff sich anpassen.
Dies geschieht auch, nur in weniger absoluter Art, in der Geschichte
als wissenschaftlicher Bildgestaltung. Auch sie formt den gelebten Stoff des Geschehens vermöge solcher
Kategorien zu einem idealen, lebensjenseitigen Gebilde, aber in ihr stellt
der Inhalt noch größere Ansprüche an das schließlich herausgeformte
Ergebnis, als in der Kunst; so dass die Historie als eine Art Überleitung
zwischen der erlebnismäßigen - jene Kategorien im Embryonalzustand
enthaltenden - Erinnerung und der (historischen) Dichtung steht.
Man pflegt die Beziehung zwischen Geschichte und Kunst so aufzufassen,
als wären künstlerische Formen und Qualitäten für sich gegeben, die
dann für das Entwerfen des historischen Bildes verwendet werden. Mag sich das psychologisch und nach Ausbildung beider Bezirke so
verhalten - die ideelle Wesensbeziehung verläuft umgekehrt.
Denn hier kommt nicht nur die Historie als wissenschaftlich-methodisch
erforschte in Betracht, sondern deren Vorläufer, der ihr freilich die
Formen bereitet: die unser Leben fast ununterbrochen durchziehende
Vergegenwärtigung erlebter oder überlieferter Vergangenheit in irgendwie
abgeschlossenen Bildern.
Und dieses fortwährende Erlebnis setzt nicht Kunst voraus, sondern
wird unmittelbar durch jene Kategorien gestaltet, die innerhalb des Lebens
dienend und fragmentarisch sind, sowie sie aber zentral bestimmen und den
Stoff sich unterwerfen, den Kunstbezirk als solchen erzeugen.
In dieser tiefsten Schicht betrachtet, ist nicht die Kunst ein Vehikel
der Historie, sondern umgekehrt die Historie ihrer eigensten Notwendigkeit
nach eine zweite Vorform der Kunst, deren erste die innerhalb des Lebens
sich erzeugende Art der Vergangenheitserinnerung ist. -
Stellt man das Verhältnis von Leben und Kunst in dieser
grundsätzlichen Weise vor, so ist damit eine Gegensätzlichkeit der
Motive oder Ordnungen versöhnt, die das Wesen der Idee überhaupt mit
innerem Widerspruch bedroht.
Wir können - mit größerer oder geringerer historisch-psychologischer
Vollkommenheit - die Entwicklung der Kunst wie die der Wissenschaft und
der Religion aus dem Verlauf des natürlichen empirischen Lebens oder auch
innerhalb desselben verfolgen; in unmerklichen Übergängen erheben sich
aus den nicht ideellen Gebilden die ideellen; die Phänomene als solche
scheinen kein absolut hartes Absetzen, keinen Punkt des prinzipiellen
Umschwungs zu kennen.
Dennoch halten wir daran fest, dass ein solcher gerade im Prinzip
besteht, dass die Kunst, allgemein: die Idee, ihren Sinn und ihr Recht
gerade daraus zieht, dass sie das Andere des Lebens ist, die Erlösung aus
seiner Praxis, seiner Zufälligkeit, seinem zeitlichen Verfließen, seiner
endlosen Verkettung von Zwecken und Mitteln.
Erkennen wir nun, dass dennoch in all diesem sich Formen auswirken, die
aus ihrer Stellung als Mittel, als Durchgangspunkte, nur in die andere:
als Eigenwerte, als autonome und zu definitiven Gestaltungen führende
Kräfte, gebracht zu werden brauchen, damit jene idealen Gebilde dastehen
- so ist beiden Forderungen Genüge geschehen.
Denn nun handelt es sich dem äußeren Phänomen nach nur darum, dass immer bestehende und in verschiedensten Maßen wirksame Formungsweisen zu
alleinherrschenden werden; wodurch dann begreiflich wird, dass die Grenze
zwischen dem Lebensgebilde und dem Kunstgebilde als Gegebenheiten nicht
immer scharf zu ziehen ist, dass sie hier und da einander übergreifen, dass
z. B. die Rede des Alltags unmerklich in Poesie übergeht und ebenso
die empirische Art des Schauens in die künstlerische.
Aber gerade weil so der wesentliche Unterschied in der Intention liegt:
ob jene Formungen sich als Mittel dem Stoff des Lebens und seiner
unabsehlichen Strömung bieten oder ob sie umgekehrt als Selbstwerte
diesen Stoff in sich hineinleiten und ihn damit in definitive Gebilde
fassen - gerade deshalb ist der Unterschied zwischen dem natürlich
wirklichen Leben und der Kunst dem Sinne nach ein schlechthin radikaler.
Da der ganze Prozess in beiden Fällen die Prägung bestimmten Stoffes
in bestimmten Formen ist und die ganze Differenz sich um die Frage dreht,
was Mittel und was Endwert sein soll, also zunächst eine rein innere ist
und sich nur darin ausspricht, dass die Formen aus dem Zufälligen,
Fragmentarischen, Durcheinander-Gemischten in das Herrschende,
Vollständige, Abschließende übergehen - so ist die Kontinuität der
Erscheinungen kein Widerspruch mehr gegen die vermittlungslose Drehung
ihres Sinnes; sondern gerade in der Vereinigung beider spricht sich die
Struktur des Verhältnisses aus.
Freilich wird dadurch auch verständlich, dass wir in dem großen
Kunstwerk immer mehr als das bloße Kunstwerk empfinden. Wenn die Kunstformen aus der Bewegung und Produktivität des Lebens
stammen, so werden sie im einzelnen Falle um so kraftvoller, bedeutsamer,
tiefergreifend wirken, je stärker und weiter das Leben ist, das sie
trägt.
Die notwendige Vermittlung ist freilich, was wir Talent nennen: dass jene Formen nicht nur dem Dienst des Lebens ausgeliefert sind, sondern
vermöge einer individuellen Kraft die Wendung zu selbstherrlichem
Gestalten des Weltstoffs überhaupt vollziehen können.
Bei gleichgesetztem Maße dieses spezifischen Talentes aber ist nun das
Entscheidende, wie intensiv und reich das in diese Formen eingegangene
Leben ist. Es fließt jetzt nicht mehr durch sie hindurch, seinen eigenen
praktischen Zielen zu, sondern es hat sich in jenen Formen gestaut, hat
sozusagen seine Kraft ihnen übertragen, und mit ihr und in ihrem Maße
wirken sie nun nach ihrem eigenen Gesetz.
Ist dies fundierende Leben schwach und eng, so ergeben sich die
Erscheinungen eines bloßen formgewandten Artistentums und einer leeren
technischen Vollkommenheit. Andernfalls aber entsteht der Eindruck, dass die Gesamtbedeutung des
Werkes mit seinem bloß künstlerischen Werte nicht erschöpft sei, dass über diesen hinaus noch ein Breiteres und Tieferes in ihm zu Worte käme.
Ist das hier Vorgetragene richtig, so weist dieser Eindruck nicht auf
einen Dualismus der wirkenden Faktoren, sondern auf ihre einheitliche
Reihung hin.
Das Leben mit seiner biologischen und religiösen, seelischen und
metaphysischen Bedeutung wirkt nicht von jenseits der künstlerischen
Formen in das Werk hinein, sondern diese Formen sind die Formen des Lebens
Selbst, die sich freilich vom Leben, als einem teleologisch strömenden,
emanzipiert haben, aber ihre Dynamik und ihren Reichtum doch von eben
diesem Leben, soweit es diese Güter besitzt, zu Lehen tragen.
Das Mehr-als-Kunst, das jede große Kunst zeigt, fließt aus derselben
Quelle, der sie, nun als rein ideales lebensfreies Gebilde, entstammt ist.
In die aus ihm entsprungenen Formen überträgt das Leben, auch wenn
sie in schlechthin objektivem, unabhängig eigenem Sinne wirken, dann doch
seinen Charakter und lässt sich wiederum von ihnen bestimmen, so dass es
gleichsam diesseits und jenseits ihrer steht; zu gleichen Rechten wird es
in ihnen aeternisiert, wie sie in ihm vitalisiert werden.
Hinsichtlich der Bildung der religiösen »Welt« will ich mich an
dieser Stelle mit der Andeutung einer einzigen Entwicklungsreihe
begnügen, bei der ich von allen Fragen nach dem »Wesen« der Religion
absehen kann.
Nur dies muss für jetzt feststehen, dass Religion ein Verhalten des
Menschen ist - gleichviel welchem metaphysischen Zusammenhang es angehöre
und wie es auf Transzendentes gerichtet und von ihm bestimmt sei.
Tatsächlich gibt es nun unzählige, teils innerseelische, teils
interindividuelle Lebensverhältnisse, die unmittelbar von sich aus
religiösen Charakter haben, ohne im geringsten von einer vorbestehenden
Religion bedingt oder bestimmt zu sein; das Wort »religiös« kann auf
sie nur angewendet werden, indem man von einer sonst gewussten Religion
auf sie zurücksieht und an ihnen, die in sich nicht religiös, sondern
rein vital gestimmt sind, die nun religiös zu nennende Charakterisierung
empfindet.
Wenn wir im empirischen Leben an einen Menschen »glauben«; wenn wir
im Verhältnis zum Vaterland oder zur Menschheit, zu der »höheren« oder
der geliebten Persönlichkeit die eigenartige Mischung oder Spannung von
Demut und Erhebung, von Hingabe und Begehren, von Abstand und
Verschmelzung erleben; wenn wir uns eigentlich immer zugleich preisgegeben
und gesichert, abhängig und verantwortlich wissen, wenn dunkle
Sehnsüchte und ein Ungenügen an allem Einzelnen uns von Tag zu Tage
treibt - so erhebt sich nun Religion, indem diese Zustände und Affekte
sich von ihrem irdischen veranlassenden Stoffe lösen, gewissermaßen
absolut werden und von sich aus ihren absoluten Gegenstand schaffen.
Gewiss geschieht auch dies psychologisch in unmerklichen Übergängen,
schließlich und wesentlich aber ist Gott »die Liebe selbst«; er ist der
schlechthinnige Gegenstand von Glaube und Sehnsucht, von Hoffnung und
Abhängigkeit; er ist nicht ein Etwas, mit dem wir eins zu werden und in
dem wir zu ruhen begehren; sondern indem diese Leidenschaften, vom
Irdischen her gesehen gegenstandslos geworden, ins Unendliche ausstrahlen,
nennen wir ihren Gegenstand und das Absolute, auf das sie hinstrahlen -
Gott.
Vollkommener vielleicht als irgendwo hat sich hier die Drehung um die
Formen vollzogen, die das Leben in sich erzeugt, um seinen Inhalten
unmittelbar Zusammenhang und Wärme, Tiefe und Wert zu geben.
Nun aber sind sie stark genug geworden, um sich von diesen Inhalten
nicht mehr bestimmen zu lassen, sondern das Leben von sich aus ganz rein
zu bestimmen; der von ihnen selbst gestaltete, ihrem nun nicht mehr
begrenzten Maß entsprechende Gegenstand kann jetzt die Führung des
Lebens übernehmen.
In dem weitaus größten Teil der uns bekannten Religionsgeschichte hat
das ganze religiöse Verhalten: Opfer, Ritus, Priestertatigkeit, Gebet,
Feste, Askesen usw., nur den einen einzigen Sinn, die Gunst der Götter zu
gewinnen, sei es für die Dauer des irdischen Lebens, sei es für ein
jenseits des Grabes zu erwartendes.
Mag diese Religiosität sich nach Stimmung, Gebilden, Technik noch so
sehr von anderen teleologischen Maßnahmen unterscheiden, im letzten
Prinzip ist sie all solchen koordiniert, die Nabelschnur zu dem Leben, das
sie gebar, ist nicht durchgeschnitten, und wie verinnerlicht, sublimiert,
phantastisch auch die »Nützlichkeit« sei, die jene religiösen
Verhaltungsweisen gewähren, sie bleiben in dem vital-teleologischen
Zusammenhang.
Was man in der ethnologischen und vielfach in der antiken Welt mit
Verwunderung und oft mit Ehrfurcht wahrnimmt: wie viel dichter, fast bis
zur Kontinuität, das Leben von religiösen Vornahmen besetzt ist, dies
quantitativ ungeheuerliche Durchwachsensein des Lebens durch das
Religiöse - hängt doch eben damit zusammen, dass die Religion noch nicht
ihr, dem Leben mit seinen täglichen Begehrungen und Interessen
gegenüber, ganz reines FürsichSein gewonnen hat; nachdem freilich das
letztere geschehen, ihr schlechthin eigener und autonomer Sinn gewonnen
ist, flicht sie sich wieder in das Leben zurück.
Das Leben hat sie organisch als eine seiner Formen erzeugt, aber es
gehört von vornherein zu der Determination dieser Form, aus dem vitalen
Zusammenhang heraus durch eine radikale Drehung zur Zentrierung und
Sinnfindung in sich selbst zu gelangen und so erst die unter der Idee
Religion einheitliche, sich selbst tragende Welt zu ermöglichen.
- Dass die Götter nur Verabsolutierungen der empirischen
Relativitäten sind, ist so lange eine aufklärerische Banalität, als es
ein Urteil über das Wesen des Göttlichen selbst vorstellen soll.
Fragt man aber nach dem Wege des Menschen zu Gott - insoweit er in der
menschlich religiösen Ebene verläuft - so ist sein entscheidender
Wendepunkt allerdings das Losreißen jener Formungen des innersten Lebens
von ihren teleologisch relativen Inhalten, ihr Absolutwerden; der
Gegenstand, den sie sich in diesem reinen Selbst-Sein schaffen, kann
selbst nur ein absoluter, die Idee des Absoluten sein.
Die Frage nach seinem Sein und seinen geglaubten Bestimmungen bleibt
dahingestellt, ebenso wie die, ob nicht etwa solche einzelnen Bestimmungen
noch Reste sind, die jene Formen aus ihren empirischen Zusammenhängen
mitschleppen und von denen sie das Reich ihrer sich selbst gehörenden
Idealität noch nicht befreien konnten.
Ich begann diese Erörterungen mit der Feststellung, dass »Welt« eine
Form ist, durch die wir die Gesamtheit des - wirklich oder möglicherweise
- Gegebenen in eine Einheit fassen. Je nach dem höchsten Begriff, unter dessen Führung diese
Vereinheitlichung vollzogen wird, entstehen aus dem gleichen Material
mannigfaltige Welten: die Erkenntniswelt, die künstlerische, die
religiöse.
Der Sprachgebrauch indes wendet den Begriff Welt nicht nur an solche
Umfänge, die ihrer Idee nach nichts außer sich lassen. Und gerade jener formale Charakter des Begriffs rechtfertigt es sehr
wohl, ihm auch relative Totalitäten, Bezirke geringeren Umfanges zu
unterstellen, vorausgesetzt, dass ein höchster Begriff an ihnen die
Funktion der Vereinheitlichung vollzieht.
So sprechen wir von einer Welt des Rechts, der Wirtschaft, des
praktischen sittlichen Lebens usw.
Es wird damit für gewisse Daseinsinhalte eine Geschlossenheit vermöge
eines einheitlich durchgehenden Sinnes, eine Autonomie und innere
Selbstverantwortlichkeit verkündet, die jede dieser Welten zu einer
formalen Analogie, in verkleinerten Maßen, jener allumfassenden macht.
Sie ist es auch insofern, als sie ihre Selbstgenügsamkeit und
objektive Eigenbedeutung nur durch die gleiche Achsendrehung zwischen
Leben und Idee gewinnen kann.
Das Material all dieser Welten erwächst in den Zusammenhängen des
Lebens, hervorgetrieben durch dessen organische Kräfte und seine mehr
oder weniger teleologischen allverwebenden Notwendigkeiten, und es spielt
diese Rolle innerhalb des Lebensganzen in ganz bestimmten,
charakteristischen Formen, die von seiner vitalen Bedeutung stetig
durchblutet sind.
Aber von dieser emanzipieren sie sich, gewinnen einen Wert, der nur auf
sie selbst bezüglich und dessen letzte Instanz ihr eigner Sinn ist, und
nehmen nun Kräfte und Inhalte, wie sie im übrigen Leben pulsieren, in
sich hinein.
Jetzt sind sie ihrerseits die Gestalter des Lebensmateriales, so weit
dieses zu ihnen Affinität besitzt, und dessen Weltwerdung, gemäß ihrer
jeweiligen Leitidee, erscheint jetzt als sein endgültiges Telos;
vorbehalten, dass diese prinzipiell fertigen Weiten, wie in jenen
größeren Fällen, wieder in die Strömungen und Entwicklungen des Lebens
zurücktauchen können.
Ich versuche dies Prinzip mit wenigen Strichen für einige solcher
partiellen Totalitäten zu skizzieren, zunächst für die Welt des Rechts.
Es ist wohl nicht zu bezweifeln, dass das Verhalten, das wir als dem
Rechte gemäß und durch das Recht erzwingbar bezeichnen, sich im
wesentlichen schon in gesellschaftlichen Zuständen findet, die den
Begriff des Rechts und die erst durch ihn möglichen Institutionen noch
nicht ausgebildet hatten.
Die Selbsterhaltung der Gruppe muss dies entweder als Instinkt und
selbstverständlich geübten Brauch oder durch Strafandrohung erreicht
haben. Dass dieses Verhalten von sozialem Ganzen und Individuum zueinander als
»Recht« im Sinne des Richtigen, Gerechtfertigten empfunden wurde, wird
man annehmen können.
Aber die Forderung entsprang nicht aus dem »Recht« als einer der
Realität jenseitigen Idee, sondern sie und ihre Erfüllung waren
Funktionen des unmittelbaren Lebens, dessen Zwecken die Gruppe, wenn auch
oft auf wunderlichen Wegen, nachging.
An dieser realen Lebensverwebtheit darf nicht irre machen, dass solche
Gebote und Verbote zum großen, wahrscheinlich überwiegenden Teil unter
religiöser Sanktion auftreten.
Denn die religiösen Potenzen so primitiver Zustände, das Totem und
die angebeteten Vorfahren, der Fetisch und die die ganze Umgebung
bewohnenden Geister sind eben selbst Elemente jenes unmittelbaren Lebens;
auch der höher entwickelte Gott bleibt noch lange ein Mitglied der Gruppe
selbst.
Gerade indem in der Norm des »richtigen« Verhaltens alle später
differenzierten Sanktionen, sittlicher wie rechtlicher, religiöser wie
konventioneller Art, noch ungeschieden ruhen, ist sie, ebenso wie ihre
Befolgung, in den tatsächlich ablaufenden Lebensprozess, organisch und
solidarisch, als eine seiner Funktionen eingestellt.
Das »Recht« aber hat seinen Ort in einer ganz anderen Ebene. Sobald es dasteht, mögen seine Inhalte (die in diesem Sinn seine
Formen einschließen) noch so »zweckmäßig« sein - nicht dies ist jetzt
der Sinn ihrer Verwirklichung, sondern dass sie Recht sind.
Es ist jetzt nicht mehr ein Mittel, eine Technik, über die etwa ihr
Endzweck vergessen wäre; das weiterbestehende Bewusstsein seiner
Zweckmäßigkeit setzt die neue Absolutheit der Rechtsforderung als
solcher so wenig herab, dass diese Forderung sich sogar bei bewusster Verneinung jener Zweckmäßigkeit aufrechterhält: fiat justitia, pereat
mundus.
Es gehört zu den in den tiefsten Grund der geistigen Welten
eingesenkten Paradoxien, dass die wirksame Tatsächlichkeit der
Rechtskategorie sich in und aus dem Leben entwickelt, aber von dem
Augenblick an, in dem sie nun umgekehrt das Leben nach sich bestimmt, ihre
Unabhängigkeit, den Wert ihres objektiven Daseins, bis zur Verneinung
dieses Lebens hin bewährt.
Gewiss kann man von einem gesellschaftlichen »Zweck im Recht«
sprechen. Allein dieser betrifft nur seine inhaltlichen Bestimmungen und die
Tatsache, dass überhaupt die sanktionierte Form der Erzwingbarkeit für
sie besteht. Denn dieses beides, aus der Teleologie des gesellschaftlichen Lebens
geboren, ist allen Stadien der Entwicklung gemeinsam.
Bezüglich des inneren wesenhaften Sinnes aber zeigen diese den
radikalen Umschwung. Sobald wir sagen, dass ein eigentliches »Recht« besteht, das heißt
solches, das erfüllt werden soll, weil es Recht ist, fällt alle
Teleologie fort: das Recht als solches ist Selbstzweck, was nur ein etwas
unklarer Ausdruck dafür ist, dass es eben keinen »Zweck« hat.
Die Kontinuität in seinen Inhalten, seiner Sanktioniertheit, seiner
sozialen Nützlichkeit darf diesen prinzipiellen Umschlag nicht
verschleiern. Es ist höchst bezeichnend, dass wohl alle primitiven Rechte vorwiegend
kriminellen Charakter tragen.
Die Idee einer objektiven Ordnung, von der jedes empirische Verhältnis
nur ein durch sie geregelter Teil und Beispiel ist, liegt ursprünglich
ganz fern. Selbst eine so einfache Norm: dass das Geschuldete erstattet werden
muss - tritt ursprünglich nicht als objektive Gerechtigkeitsforderung
auf, nicht als gesollte Realisierung einer Wertlogik, sondern das
Nichtzahlen wird als eine subjektive unerlaubte Handlung am Schuldner
heimgesucht.
Noch im späteren römischen Recht klingt dies nach, indem bei einigen
rein privatrechtlichen Klagen nicht einfach Verurteilung zu der allein in
Frage stehenden Geldleistung erfolgte, sondern der Verurteilte der Infamie
verfiel.
Statt des Prinzips, dass der Vertrag gehalten werden muss, wobei die
Personen Träger von Rechten und Pflichten sind, übrigens aber gänzlich
außer Betracht bleiben, so dass der Prozess sich schlechthin nur auf den
geschlossenen Vertrag beziehen kann - statt dessen ist der viel
unmittelbarere, den Lebensverflechtungen viel immanentere Impuls wirksam, dass
der Unrechttuende verurteilt werden soll.
Damit hängt aufs engste zusammen, dass das Recht am Anfang seiner
Entwicklung wesentlich auf Wahrung des »Friedens« gerichtet ist und vor
allem die Bedrohung des Gesamtwesens durch individuelle Gewalttätigkeit
und deren nicht weniger gewalttätige individuelle Abwehr zu beseitigen
strebt: seine Friedewirkung, so hat man dies ausgedrückt, überschattet
ursprünglich seine Gerechtigkeitswirkung.
Die Gesamtheit will leben und aus diesem Willen heraus und als dessen
Mittel bildet sie die Formen, die das Verhalten des Einzelnen regeln.
Dies aber bleibt insoweit noch ganz in der Teleologie des Gesamtlebens,
gerade wie die Verhaltungsweisen des individuellen Lebens sich um dessen
Teleologie willen regeln, und auch hier sehr häufig mittels des Zwanges,
den das Zentrum der Persönlichkeit auf peripherische Einzelimpulse
ausübt.
Das Recht besteht hier in der Form des Lebens, so überindividuell dies
sei, es ist - in extremem Ausdruck dieser Intention - eine immanente
Vornahme der Lebensteleologie innerhalb der Reihe ihrer Techniken; von da
erst tritt es in die Form der Idee, ohne dass sich in dem Phänomen etwas
zu ändern braucht: nur dass vorher die Gerechtigkeit gut war, insoweit
sie dem Leben diente, jetzt aber das Leben gut ist, insoweit es der
Gerechtigkeit dient.
Mit welcher Entschiedenheit sich das Recht aus den Verflechtungen des
bewegten Gesamtlebens heraus auf eine eigene Basis hebt, zeigt sein
Unterschied von Brauch und Sitte, mit denen es ursprünglich verschmolzen
war; oder vielmehr, es scheint am Anfang aller höheren sozial-praktischen
Entwicklung allenthalben eine ganz allgemeine Norm, ein indifferenziertes Bewusstsein
dessen, was überhaupt sein soll, was »in der Ordnung ist«,
gestanden zu haben, natürlich religiös durchgefärbt, allmählich erst
in die Sondergebilde von Sitte, Recht, persönlicher Moralität
auseinander- und aufgehend.
Aber mit der Lebenswirklichkeit, in deren teleologischem Zuge dies
allgemein Imperativische erwuchs, bleibt die Sitte dauernd verwachsen. Brauch und Sitte sind durchaus an Subjekte gebunden, die beiden gemäß
leben.
Man kann sie natürlich auch in Abstraktion von diesen als einen
anonymen Formalismus denken, aber in dieser ideellen Selbständigkeit
haben sie keinen rechten Sinn; auch als Prinzipien gelten sie nur, sobald
die Menschen in Wirklichkeit ihnen gemäß leben, wenn auch mit Ausnahmen.
Sie tragen sich nicht selbst oder ruhen nicht auf einem idealen, vom
Leben unabhängigen Grunde, sondern bleiben mit dem Bestand und Zweck des
Lebens unlösbar verknüpft. Die Drehung zur Idee, die die Form einer selbständig einheitlichen
»Welt« hergibt und die das Recht vollzogen hat, haben sie nicht
mitgemacht.
Sie bleiben weiter dem Leben dienstbar, dem gegenüber das Recht - seiner
Idee nach - souverän geworden ist. Nur bleibe auch hier unvergessen, dass
das Recht, autonom und
lebenbestimmend, wie es eben seiner Idee gemäß ist, doch auch so
wiederum vom Leben umfasst werden kann.
Sogar auf dem Gebiet der Wirtschaft hat, freilich nur aus großen
Verschiebungen und Verdeckungen heraus für einen differenzierenden Blick
erkennbar, das Reich eines objektiven, durch einen Begriff
vereinheitlichten Lebensbezirkes sich mit prinzipieller Drehung dem
ursprünglichen Lebenszusammenhang entzogen, aus dem seine Form entsprang.
Sicher gibt es keinen praktischen Komplex, der den primären
Lebensvorgängen so verschmolzen, an ihre täglich erzwungenen Forderungen
so angekettet ist, wie den wirtschaftlichen.
Der Hunger und die anderen in Frage kommenden Bedürfnisse haben die
Formen ihrer Befriedigung hervorgetrieben und selbst der reichsten und
raffiniertesten Vielgliedrigkeit dieser Formen keinen anderen Sinn
gelassen, als eben, jene Bedürfnisse möglichst zweckmäßig zu
befriedigen.
Dass dabei die Wirtschaft und ihre Mittelwerte, insbesondere das Geld,
psychologisch zu definitiven, eigenartigen Zwecken auswachsen können,
bedeutet, wie schon hervorgehoben, gar keine prinzipielle Wendung; es
bleibt dabei alles in derselben Ebene und wechselt nur die psychologischen
Akzente.
Wohl aber entsteht die vollkommene Drehung, durch die die Wirtschaft
wirklich eine Welt für sich wird, sobald sie ein nach rein objektiven,
sachlich-technischen Gesetzlichkeiten und Formen ablaufender Prozess wird,
für den die lebendigen Menschen nur Träger, Ausführende der ihm
immanenten, aus ihm heraus notwendigen Normen sind, wenn der Besitzer und
Betriebsleiter nicht anders als der Arbeiter und Laufbursche Sklaven des
Produktionsprozesses sind.
Die gewalttätige Logik seiner Entwicklung fragt nach keinem Willen der
Subjekte, nicht nach dem Sinn und den Notwendigkeiten ihres Lebens.
Die Wirtschaft geht jetzt ihren zwangsläufigen Weg, ganz und gar so,
als ob die Menschen nur ihrethalben da wären, nicht aber sie um der
Menschen willen.
Von all jenen Welten, deren Formen die Lebensentwicklung in und aus
sich selbst erzeugt hat und die dann ihr Zentrum in sich selbst gefunden
haben und ihrerseits das Leben beherrschen, ist wohl keine an ihrem
Ursprung so fraglos und unzertrennlich dem unmittelbarsten Leben
eingewachsen, so gänzlich ohne Hinweis auf mögliche Eigenbedeutung
gegenüber der Teleologie dieses Lebens; und zugleich keine, die nach
jener Achsendrehung sich dem eigentlichen Sinn und den eigenen Forderungen
des Lebens mit so rücksichtsloser Objektivität, mit so dämonischer
Vergewaltigung durch ihre rein sachliche Logik und Dialektik
gegenüberstellte - wie die moderne Wirtschaft.
Die Spannung zwischen dem Leben und jenem Gegenüber-vom-Leben, das
seine von ihm selbst zweckmäßig erzeugten Formen gewinnen, ist hier ein
Maximum - freilich auch eine Tragik und eine Karikatur -geworden. -
Auf ethischem Gebiet endlich deute ich nur auf eine einzige Erscheinung
hin, die das hier ausgeführte Motiv repräsentiert.
Es fällt nämlich der Kantische Unterschied zwischen dem
hypothetischen und dem kategorischen Imperativ eigentlich genau mit dem
hier Gemeinten zusammen.
Was Kant die subjektive, innerlich noch sittlichkeitsfremde Triebfeder
nennt, ist gerade das, was ich hier als Moment der vitalen Teleologie
anspreche: der naturhafte Trieb, einem Maximum empirischer
Lebenserfüllung zustrebend, Mittel an Mittel bauend, von denen viele dem
äußerlich praktischen Anspruch der Moral völlig genügen.
Dass nach gewissen Moralisten »das wohlverstandene Eigeninteresse«
mit Sittlichkeit identisch ist, drückt dies in Vollendung aus.
Dass aber die Sittlichkeit als Idee noch nicht realisiert wird, wenn
das Pflichtmäßige in der Weise geschieht, dass der Lebensverlauf von
sich aus die außerdem auch pflichtmäßigen Handlungen erzeugt, sondern
erst wenn die Pflicht von sich aus und als einzige Instanz den
Lebensverlauf bestimmt - damit hat Kant die hier behandelte Wendung in
ihrem ganzen Radikalismus ausgesprochen.
Eine Zustimmung zu dieser Fassung des Pflichtbegriffs und zu der
Wertexklusivität seines Moralismus ist damit nicht gegeben. Vor allem aber tritt in die Kantische Erwägung das vermittelnde Moment
nicht ein, auf das es mir hier ankommt: als ein bloßer Zufall und fremdes
Nebeneinander erscheint es ihm, dass innerhalb der subjektiv-vitalen
Zweckmäßigkeit Handlungen auftreten, die der Tatsache nach sittlich
richtig sind.
Diese Sinnlosigkeit unserer Verfassung aber, die ihrem Bilde bei Kant
einen tief pessimistischen Zug gibt, möchte ich nicht zugeben. Gewiss sind die Motivierungen in beiden Fällen voneinander schlechthin
verschieden.
Allein sie sind, über alle Zufälligkeit im einzelnen hinweg,
prinzipiell dadurch verbunden, dass das Leben aus seinen eigenen
teleologischen Notwendigkeiten heraus die Handlungsformen zustande bringt,
um die, als Achse gleichsam, das Leben gedreht zu werden braucht, damit
jene Formen als alleinherrschende Idee dastehen und das Leben und seinen
Wert von sich aus bestimmen.
Kant glaubte die Absolutheit der ideellen Bestimmung gegenüber der
Relativität der vitalen nur durch die völlige Zufälligkeit ihres
Verhältnisses retten zu können. Allein gerade hierin liegt ein gewisser Mangel an letztem Zutrauen zu
jener Absolutheit.
ist man ihrer ganz sicher und legt man sie wirklich in die von sich aus
entscheidende Innerlichkeit der Gesinnung hinein, so leidet sie in keiner
Weise dadurch, dass das Leben die von ihr bestimmten Verhaltensweisen
schon - vorher oder zugleich - aus seinen relativen Zusammenhängen heraus
erzeugt hat, und dass empirisch und psychologisch sogar gleitende
Übergänge zwischen beiden Motivierungen dieser Verhaltungsweisen
bestehen.
_________________________________
Die Erörterung dieser Reihen soll nicht etwa zeigen, dass
das
entscheidende Prinzip sie alle in genau umschriebener Gleichheit
beherrscht. Jede Reihe hat vielmehr eine gleichsam organische Einheit, in der der
formale Grundvorgang durch seinen Inhalt in dessen eigene differenzielle
Charakterisiertheit hineingezogen ist.
Sie besitzen untereinander nur das besondere Verhältnis der
»Ähnlichkeit«, das sich nicht aus einem Quantum Gleichheit und einem
Quantum Ungleichheit zusammensetzen lässt, sondern sui generis ist.-
Der letzte Sinn des hier vorgebrachten Motivs, an seinem
weitestgreifenden Fall aufgesucht, ist die Herstellung eines organischen
Verhältnisses zwischen Psychologie und Logik. Dass dies so wenig durch den Psychologismus wie von dem Eigenbezirk der
Logik her zu gewinnen ist, steht jetzt wohl gleichmäßig fest, ebenso
freilich, dass die gegenseitige Zufälligkeit beider Bezirke nicht auf die
Dauer zu ertragen ist.
Ich kann hier keinen anderen Ausweg als einen metaphysischen sehen, von
dem ich - auf die erste Studie dieses Heftes zurückgreifend - für den
jetzigen Zusammenhang nur dies andeute.
Wie das Leben auf seiner physiologischen Stufe ein fortwährendes
Erzeugen ist, so dass, mit komprimiertem Ausdruck, Leben immer Mehr-Leben
ist - so erzeugt es auf der Stufe des Geistes etwas, das Mehr-als-Leben
ist: das Objektive, das Gebilde, das in sich Bedeutsame und Gültige.
Diese Steigerung des Lebens über sich hinaus ist nicht ein zu ihm
Hinzukommendes, sondern ist sein eigenes unmittelbares Wesen selbst;
insoweit es dies offenbart, nennen wir es eben geistiges Leben, wird es,
jenseits alles Subjektiv-Psychologischen, selbst etwas Objektives und
entwickelt aus sich Objektives.
Hier soll nur der Grundgedanke berührt werden: dass das schöpferische
Leben (in Fortsetzung des zeugenden Lebens) fortwährend über sich selbst
hinausgeht, dass es selbst sein Anderes vor sich hinstellt und diese
Objektivität dadurch als sein Geschöpf, dadurch als mit ihm einen
Wachstumszusammenhang bildend erweist, dass es ihre Bedeutungen, Folgen,
Normierungen wieder in sich einbezieht und sich nach dem gestaltet, was
von ihm selbst gestaltet worden ist.
Was an diesem Drehpunkt steht, nennen wir eben Objektivität, die dem
Subjekt transzendent und nichts weniger als eine bloße Verkleidung seiner
ist.
Beides vielmehr sind, als Gegebenheiten, Stadien der Entwicklung des
Lebens, sobald es geistiges Leben geworden ist, das freilich durch das
eine hindurchgeht, um das andere zu erreichen, in der Rückwirkung dieses
auf jenes aber seine Einheit zeigt.
In relativistischem Prozess erhebt sich über das subjektiv
psychologische Geschehen die von ihm unabhängige objektive Gestalt und
Wahrheit, Norm und Absolutheit - bis auch sie wieder als subjektiv erkannt
wird, weil eine höhere Objektivität entwickelt ist, und so fort in die
Unabsehlichkeit des Kulturprozesses.
Freilich liegt hierin auch dessen ganze Tragik, die Tragik des Geistes
überhaupt: dass das Leben sich an den Gebilden, die es als starr
objektive aus sich herausgesetzt hat, oft wund stößt, keinen Zugang zu
ihnen findet, den Forderungen, die es in ihrer Gestalt entwickelt, in
seiner subjektiven Gestalt nicht genügt.
Das eben ist der schmerzlich, Beweis, dass es sich hier um wahre
Objektivität, in jedem ihr abzuverlangenden Sinne, handelt und keineswegs
um eine Psychologisierung ihrer.
Was ich hier vorlegte, sind nur einige Fälle des Objektivwerdens des
Lebens, die Aufweisung einiger Punkte, an denen es das erzeugt, was ihm
gegenübersteht und an dessen an sich seiender, vom realen Leben
unabhängiger Bedeutung der metaphysische, nicht der psychologische
Charakter des schöpferischen Lebens sichtbar wird.
Georg Simmel: Lebensanschauung
Vier metaphysische Kapitel
Duncker & Humblot, Berlin 1918
I
Die Transzendenz des Lebens
II
Die Wendung zur Idee
III
Tod und Unsterblichkeit
IV
Das individuelle Gesetz
|