Georg Simmel: Hauptprobleme
der Philosophie
Walter de Gruyter, Berlin/Leipzig 1927
(6.Aufl.)
1. Kapitel: Vom
Wesen der Philosophie
Wenn man zu den Gedankenmassen, die unter dem Begriff
der Philosophie gesammelt sind, einen Eingang sucht, eine Bestimmung
dieses Begriffes von einem Orte der geistigen Welt her, der nicht selbst
schon in den philosophischen Bezirk hineingehört, so kann sich dieses
Bedürfnis an der gegebenen Struktur unseres Erkennens nicht befriedigen.
Denn was Philosophie ist, wird tatsächlich nur
innerhalb der Philosophie, nur mit ihren Begriffen und Mitteln ausgemacht:
sie selbst ist sozusagen das erste ihrer Probleme.
Vielleicht richtet keine andre Wissenschaft ihre
Fragestellung in dieser Art auf ihr eignes Wesen zurück.
Der Gegenstand
der Physik ist doch nicht die physikalische Wissenschaft selbst, sondern
etwa optische und elektrische Erscheinungen, die Philologie fragt nach den
Plautushandschriften und der Kasusentwicklung im Angelsächsischen - aber
nach der Philologie fragt sie nicht.
Die Philosophie, und vielleicht also sie allein, bewegt
sich in diesem eigentümlichen Zirkel: innerhalb ihrer eignen Denkweise,
ihrer eignen Absichten, die Voraussetzungen dieser Denkweise und Absichten
zu bestimmen.
Es gibt von außen keinen Zugang zu ihrem Begriff, weil
nur die Philosophie selbst ausmachen kann, was die Philosophie sei, ja, ob
sie überhaupt sei oder etwa mit ihrem Namen nur ein geltungsloses
Phantasma decke.
Dieses einzigartige Verhalten der Philosophie ist die
Folge oder vielleicht nur der Ausdruck ihrer grundlegenden Bemühung:
voraussetzungslos zu denken.
Wie es dem Menschen überhaupt nicht gegeben ist, ganz
und gar »von vorn anzufangen«, wie er in sich und außer sich immer eine
Wirklichkeit oder eine Vergangenheit vorfindet, die seinem Verhalten einen
Stoff, einen Ausgangspunkt oder wenigstens ein Feindseliges und zu
Vernichtendes bietet - so ist auch unser Erkennen von irgendeinem
»Vorgefundenen« bedingt, von Realitäten oder inneren Gesetzen; von
ihnen, die der Denkprozess selbst nicht erzeugen kann, hängt, in
mannigfaltigster Beschränkung seiner Souveränität, sein Inhalt und
seine Richtung ab - und seien es auch nur die Regeln der Logik und der
Methode oder das Faktum einer bestehenden Welt.
Wo nun das Denken dennoch versucht, sich jenseits von
Voraussetzungen überhaupt zu stellen, beginnt es zu philosophieren.
Im
ganz radikalen Sinne freilich wird dieser Versuch selten auch nur
unternommen.
Es wird vielmehr in der Regel ein Erkenntnisbild
erstrebt, das von irgendwelchen einzelnen Voraussetzungen
unabhängig ist: von dem unmittelbaren Eindruck der sinnlichen Welt oder
von den hergebrachten moralischen Wertungen, von der selbstverständlichen
Gültigkeit der Erfahrung oder der ebenso selbstverständlichen Realität
göttlicher Mächte.
Aber selbst in solcher Begrenzung unterscheidet sich
die philosophische Voraussetzungslosigkeit von der andrer Gebiete durch
die mitschwebende Stimmung: dieses Sich-selbst-Gehören des Denkens, diese
von nichts Äußerem gebundene Konsequenz seiner betreffe, über die
momentane Einzelheit hinaus, das Ganze des Erkennens, ja, des
Lebens.
Die vollkommene Voraussetzungslosigkeit ist freilich
unerreichbar.
Wo auch das Erkennen einsetzt, irgend etwas ist schon
vorausgesetzt, das uns entweder als ein Dunkles, nicht zu Bewältigendes
ängstigt, oder umgekehrt uns ein Halt in der Relativität, dem Fließen,
dem Nur-sich-selbst-Haben der Erkenntnis ist.
Darum ist die absolute Voraussetzungslosigkeit zwar ein
richtunggebendes, aber nicht ein erreichbares Ziel des philosophischen
Denkens, während sie dies in andern Wissensgebieten von vornherein nur
in relativem Maße ist.
Wo sich die Philosophie zur Erkenntnistheorie
entwickelt, hat dies den tieferen Sinn, dass sie nun die Voraussetzungen
des Erkennens, auch des philosophischen selbst, aufsucht und anerkennt,
oder eben dadurch dies außerhalb ihrer Gelegene in ihre Jurisdiktion,
ihre Erkenntnisformen einbezieht.
Diese, im Begriff der Philosophie gelegne
Voraussetzungslosigkeit, diese innere Autonomie ihres Denkprozesses hat
begreiflicherweise jene Folge: dass sie ihr Problem mit ihren eignen
Mitteln bestimmt, dass, wenn ihr Gegenstand, ihre Ziele und Wege
untersucht werden, es nur innerhalb ihrer selbst geschehen kann.
Diese Folge hat aber ihrerseits eine wichtigere
Konsequenz.
Das Recht und die Pflicht der Philosophie, sich mit
größerer Unabhängigkeit von dem Gegebenen, als sie in andern
Erkenntnisprovinzen besteht, ihr Objekt selbst zu fixieren, bringen es mit
sich, dass die verschiedenen philosophischen Lehren auch von
grundsätzlich verschiedenen Problemstellungen ausgehen.
In jeder andern Wissenschaft besteht ein allgemeiner,
prinzipiell anerkannter Erkenntniszweck, der sich sozusagen erst in einer
oberen Schicht in die Mannigfaltigkeit der Sonderaufgaben zerlegt.
In der
Philosophie allein bestimmt jeder der überhaupt originalen Denker nicht
nur, was er antworten, sondern auch, was er fragen will - fragen nicht nur
im Sinn jener Sonderaufgaben, sondern was er überhaupt zu fragen hat, um
dem Begriff der Philosophie zu entsprechen.
Diesen Begriff bestimmt z.B. Epikur als die Bemühung,
durch Gründe und Überlegungen zu einem glückseligen Leben zu gelangen,
Schopenhauer als das Bestreben, durch Vorstellungen zu dem zu gelangen,
was nicht Vorstellung ist, d.h. zu dem jenseits der empirischen
Erscheinung, mit der die andern Wissenschaften sich beschäftigen; für
das Mittelalter ist die Philosophie die Magd der Theologie, die
Begründung der religiösen Wahrheiten, für den Kantianismus die
kritische Besinnung der Vernunft auf sich selbst; während sie einerseits
rein ethisch bestimmt wird als die Untersuchung dessen, was für die
praktischen Lebensideale des Menschen bedeutsam ist, erscheint sie
anderswo als eine logische Bearbeitung des Weltbildes, um dessen
ursprünglich vorgefundene Widersprüche zu überwinden.
Aus dieser - beliebig vermehrbaren Mannigfaltigkeit der
philosophischen Zielsetzungen ergibt sich unzweideutig: dass der einzelne
Philosoph das scheinbar ganz allgemeine, gegenüber aller Antwort noch
unparteiliche Problem dennoch von vornherein so stellt, wie es der Antwort,
die er geben will, entspricht.
Jene Personalität des philosophischen
Denkens verhindert es, dass ein allgemeines Erkenntnisziel, über
die Zentriertheit der Denkbewegung in sich selbst hinausreichend, gegeben
werde.
Man könnte fast sagen, die philosophische
Produktivität des originellen Denkens sei etwas in sich so Einheitliches,
so sehr der intellektuelle Ausdruck eines in sich geschlossenen Seins, dass
Frage und Antwort erst eine nachträgliche Spaltung des Denkbildes
bedeuteten.
In viel geringerem Maße mindestens, als auf andern
Gebieten, ist hier das Problem ein gemeinsames und die Lösung eine
besondere; vielmehr, wenn diese die jeweilig bestimmte sein soll, so kann
von vornherein das Problem nur in der bestimmten, auf jene zugespitzten
Art gestellt werden.
Was aber bleibt, wenn jede Definition nur für die
besondere Philosophie des besonderen Denkers gilt, noch übrig, um die
Gemeinsamkeit des Namens für so auseinandergehende Bestrebungen zu
rechtfertigen?
Vielleicht wird man, um hier zu einer Antwort zu kommen,
die Frage aus ihrer bisherigen Richtung herausdrehen müssen.
So lange Zweck und Inhalt der Philosophie ihre
Definitionen bestimmen, scheint ihr Gesamtgebiet keinen Generalnenner zu
besitzen; aber noch könnte dieser in dem Verhalten der Philosophen selbst
liegen - nicht in den Resultaten ihres Denkens, sondern in einer
Grundbedingung, unter der all jene, in ihren Verzweigungen nicht mehr
zusammenzubringenden Resultate allein gewonnen werden können.
Es handelt sich um eine formale innere Beschaffenheit
des Philosophen als solchen, die nicht als psychologische
»Lebensstimmung« gemeint ist, sondern als die sachliche, wenn auch
natürlich nur in seelischer Verwirklichung lebendige Bedingung alles
Philosophierens überhaupt.
Man kann den Philosophen vielleicht als denjenigen
bezeichnen, der das aufnehmende und reagierende Organ für die Ganzheit
des Seins hat.
Der Mensch ist im allgemeinen - dafür sorgt schon die
Praxis des Lebens - immer auf irgendwelche Einzelheiten gerichtet; mögen
sie sehr klein oder sehr groß sein: der tägliche Broterwerb oder ein
kirchliches Dogma, ein Liebesabenteuer oder die Entdeckung der Periodik
der chemischen Elemente - es bleiben immer Einzelheiten, die das Sinnen,
das Interesse, die Betätigung erwecken.
Der Philosoph aber hat,
natürlich in sehr verschiedenen Maßen und niemals in absolut
vollkommenem, einen Sinn für die Gesamtheit der Dinge und des Lebens und
- insoweit er produktiv ist - die Fähigkeit, diese innere Anschauung oder
dieses Gefühl des Ganzen in Begriffe und ihre Verknüpfungen umzusetzen.
Er braucht natürlich nicht immer vom Ganzen zu
sprechen, ja vielleicht kann er das im genauen Sinne gar nicht; aber
welche Spezialfrage der Logik oder der Moral, der Ästhetik oder der
Religion er auch behandle - als Philosoph tut er es nur, wenn jene
Beziehung zu der Totalität des Seins irgendwie darin lebt.
Nun ist natürlich die Ganzheit des Daseins im
wirklichen Sinne niemandem zugängig und kann auf niemanden wirken. Sie muss
erst aus den allein gegebenen Fragmenten der Wirklichkeit zustande
gebracht werden - wenn man will: als »Idee« oder auch nur als Sehnsucht
-, um so erst die Reaktion des philosophischen Intellekts hervorzurufen.
So ist freilich damit ein Wechsel diskontiert, der nie
mit seinem vollen Betrage eingelöst werden wird. Aber dies philosophische
Produzieren eines objektiven Ganzen aus den Fragmenten der Objektivität
und der Weiterbau auf dem so Produzierten ist nur die äußerste
Steigerung eines allgemeinen Verfahrens.
So leuchtet z.B. dem Historiker aus den Bruchstücken
der Überlieferung die Ganzheit eines Charakters entgegen, auf die er
seine Darstellung aufbaut; ja, selbst die vollständigste Überlieferung kann
hier
jene innere Anschauung des Gesamtwesens nicht enthalten, sondern diese
bleibt die spontane, wenn auch durch äußere Einzelheiten angeregte und
gelenkte Tat einer merkwürdigen Energie, die man, um nur einen Namen
dafür zu haben, das Totalisierungsvermögen der Seele nennen mag.
Und dieses wird, jenseits einer gewissen
Größenschwelle, zur gemeinsamen Voraussetzung alles Philosophierens
überhaupt, zu so individuellen - schon in jenen Definitionen der
Philosophie ihre Individualität ausdrückenden - Gebilden dieses sich
auch entwickle.
Es sind nun zwei prinzipielle Versuche geschehen, die
Ganzheit des Seins dennoch in einer realeren Weise zu ergreifen und -
sowenig sie von dahingehendem Bewusstsein und Absicht gelenkt waren - eine
Verständlichkeit dafür zu schaffen, dass der Philosoph von dieser
Ganzheit irgendwie berührt ist und intellektuell darauf antwortet.
Der eine ist der Weg der Mystik, der andre der Kants. -
Ich lasse dahingestellt, ob die Mystik - als deren Typus ich hier die des
Meister Eckhart wähle - ohne Vorbehalt der Philosophie zuzurechnen ist;
vielleicht ist sie ein für sich stehendes geistiges Gebilde, jenseits von
Wissenschaft wie von Religion; aber Eckharts Spekulation bewegt sich
sozusagen in einer so allgemein menschlichen letzten Tiefe, dass die
Philosophie seine Motive ohne weiteres in ihre Formen übertragen kann.
Das erste Glied der Reihe, in die seine Gedanken für
unsern jetzigen Zweck zu ordnen sind, ist die absolute Eingeschlossenheit
aller Dinge in Gott; insoweit sind sie alle ein Wesen, das einzelne
ist nichts Individuelles für sich.
Erst durch das Geschehen, das Eckhart mit dem
mystischen Symbole bezeichnet: dass Gott in Ewigkeit den Sohn gebäret -
werden die Dinge in ihrer Mannigfaltigkeit.
Aber sie bleiben, ihrer Wurzel wie ihrer Substanz nach,
des göttlichen Wesens.
Gott fließt in alle Kreaturen aus und darum ist alles
Geschaffene Gott; kehrte sich Gott einen Augenblick ab, so würden sie
zunichte.
Dieses Göttliche aber ist in sich schlechthin Einheit
- Gott, der alles ist, ist »weder dies noch das«, sondern »ein und
einfältig in sich selber«.
So ist also zunächst die Ganzheit der Welt in einen
Punkt gesammelt.
Dies aber gibt Eckhart die Möglichkeit, sie in die
Seele überzuführen.
Die Seele selbst hat zwar mannigfache Fähigkeiten,
aber es ist ein Mittelpunkt in ihr, der von keiner kreatürlichen
Mannigfaltigkeit berührt wird; Eckhart nennt ihn »das Fünkchen« - ein
schlechthin »Eines und Einfältiges«, der eigentliche Geist der Seele.
In diesem spricht Gott unmittelbar, ja, er ist
überhaupt nicht mehr von Gott geschieden, er ist mit ihm »eins und
(nicht nur) vereint«: »hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund
Gottes Grund«.
An diesem Punkte erkennen wir alle Dinge in ihrem wahren
Wesen, weil wir ihre Einheit in Gott haben, oder richtiger: sind; »mein
Auge und Gottes Auge ist ein Auge und ein Gesicht«.
Hier ist vielleicht das innerste Motiv der Verbindung,
die von je zwischen Religion und Philosophie bestanden hat, am klarsten
ausgesprochen.
An der Vorstellung Gottes hat der Gläubige das Ganze
der Welt, auch wenn ihm all ihre unzähligen Einzelheiten fehlen.
Die Mystik sucht dies gewissermaßen anschaulich zu
machen, indem sie das Wesen der Seele in einen letzten, einfachen
Lebenspunkt sammelt, der von jener Einheit des göttlichen Wesens nicht
mehr getrennt ist.
In den verschiedensten Formen geht dieses Motiv durch
die religiöse Mystik und die philosophische Spekulation aller Zeiten
hindurch: dass die tiefste, alle Mannigfaltigkeit überwindende Versenkung
in uns selbst zugleich in die absolute Einheit der Dinge führt; es gäbe
einen Punkt, an dem diese Einheit, in der Idee Gottes ausgesprochen, sich
als das Wesen und die Einheit unser selbst offenbarte.
Die philosophische Attitüde, die ein Verhältnis des
Geistes zum Ganzen der Welt bedeutet und angesichts der Maße des
Individuums und der Welt als ein Widersinn, ja, ein Irrsinn erscheinen
könnte, erhält damit eine metaphysische Rechtfertigung, sie erscheint
als die intellektuelle Wendung jenes, wie es scheint, in allen Epochen des
tieferen Menschheitslebens auftauchenden Gefühles: dass wir in den Grund
der Welt gelangen, wenn wir uns in den Grund der eignen Seele versenken.
Von der entgegengesetzten Seite her gibt das Grundmotiv
der Philosophie Kants eine Möglichkeit, jenes, im Weltgefühl des
Philosophen vorweggenommene Wissen um die Ganzheit der Dinge zu
begründen.
Kants Hauptwerk findet seinen Gegenstand nicht an dem
Dasein, das als Ganzes gedacht wird oder das unmittelbar erlebt wird;
sondern an ihm, insoweit es Wissenschaft geworden ist.
Dies ist die Form, in die jene Ganzheit der Dinge für
ihn eingeht, um nach ihrem Wesen und nach ihren Bedingungen befragt zu
werden.
Die Welt ist ihm Realität, insofern sie Inhalt
der - schon gewonnenen oder möglichen - Wissenschaft ist; was den
Bedingungen dieser nicht entspricht, ist nicht »wirklich«.
Und hierüber
bedarf es einer weiter ausholenden Besinnung, ehe der Kantische Weg zu dem
jetzt fraglichen Ziel verfolgt werden kann.
Es gibt vielleicht keine Notwendigkeit des Denkens,
deren wir uns - obgleich sie weder logischen Zwang noch den der fühlbar
gegebenen Tatsächlichkeit enthält - so wenig entschlagen können, als
der Zerlegung der Dinge in Inhalt und Form.
In unzähligen, so und anders benannten
Modifikationen durchzieht diese Scheidung unser Weltbild, als eine der
Organisationen und Gelenkigkeiten, mit denen der Geist die in ihrer
unmittelbaren Einheit ungefüge Masse des Daseienden sich gefügig macht.
Schließlich erhebt sich über alle einzelnen Inhalte und variierenden
Formen ein höchstes Gegensatzpaar: die Welt als Inhalt, als das in sich
bestimmte, aber in seiner Unmittelbarkeit uns nicht ergreifbare Dasein -
dadurch indess ergreifbar gemacht, dass es in einer Mannigfaltigkeit von
Formen ausgestaltet ist, deren jede prinzipiell seine Ganzheit zu ihrem
Inhalt gewinnt.
Die Wissenschaft und die Kunst, die Religion und die gefühlsmäßig-innerliche
Verarbeitung der Welt, die sinnliche Auffassung
und der Zusammenhang der Dinge nach einem Sinn und Wert - dies und
vielleicht noch andre sind die großen Formen, durch welche jeder einzelne
Teil des Weltinhaltes sozusagen hindurchpassieren kann oder soll.
Wie uns unsere Welt gegeben ist, zeigt sie an jedem
Punkt ein inhaltliches Element, das in eine dieser Kategorien aufgenommen
ist; denselben Inhalt meint unsre Reflexion bald unter dieser, bald
unter jener Kategorie zu erblicken: eben denselben Menschen können wir
als Gegenstand des Erkennens und der künstlerischen Formung haben, eben
dasselbe Ereignis als Moment unseres inneren Schicksals und als Erweis
eines göttlichen Eingreifens, eben denselben Gegenstand als rein
sinnlichen Eindruck und als Moment einer metaphysischen Konstruktion des
Daseins.
Es ist nun der Sinn jeder dieser großen Formen, jeden
überhaupt vorhandenen Inhalt in sich aufnehmen zu können; die Kunst kann
es ihrem Prinzip nach beanspruchen, den ganzen Umfang des Daseins zu
gestalten, ebenso kann sich der Erkenntnis kein Stück der Welt entziehen,
jedes Ding kann man nach seiner Stellung in irgendeiner Wertreihe fragen,
auf ein jedes muss ein vollkommenes Gefühlsleben reagieren können usw.
Allein wenn, der Idee dieser Formen nach, eine jede die
ganze Welt in ihre Sprache übersetzen kann, so lässt die Wirklichkeit
sie dennoch nicht in diesem vollen Maß zu Worte kommen.
Und zwar deshalb nicht, weil jene Formen niemals in
abstrakter Reinheit und absoluter Vollendung wirksam sind, sondern nur in
den Grenzen und Besonderheiten, die die jeweilige Geisteslage ihnen lässt.
Wir haben keine Kunst schlechthin, sondern die in der Zeltkultur gegebenen
Künste, Kunstmittel und Stile.
Und da diese heute andere sind als gestern und als sie
morgen sein werden, so reichen sie nur aus, bestimmte Inhalte
künstlerisch auszugestalten, während andre in diesen jetzt verfügbaren
artistischen Formungen kein Unterkommen finden - grundsätzlich aber
allerdings zum Inhalt der Kunst werden könnten.
Eben sowenig haben wir die absolute Religion, die es
gestatten würde, jedem Dinge, dem niedrigsten und zufälligsten wie dem
höchsten einen religiösen Sinn, einen Zusammenhang mit allen in der
Einheit des religiösen Grundmotivs zu geben; sondern wir haben nur
historische Religionen, deren jede einen gewissen Teil der Inhalte von
Welt, Seele, Schicksal religiös durchdringt, während ein andrer Teil
draußen bleibt und sich der religiösen Formung entzieht.
Es ist immer dasselbe: das ideelle Recht jeder dieser
großen Formen, aus der Gesamtheit der Inhalte je eine ganze Welt
aufzubauen, realisiert sich nur in der unvermeidlichen Unvollkommenheit
des historischen Gebildes, als welches sie allein lebendig ist, mit all
den Zufälligkeiten, Anpassungen, Zurückgebliebenheiten oder Schiefheiten
der Entwicklung, individuellen Einseitigkeiten, kurz all den
Besonderheiten und den Ausfällen, die die historische, an die Umstände
der Zeit gebundene Realität gegenüber der Idee und dem Prinzip aufweist.
Mit der wissenschaftlichen Erkenntnis kann es sich
nicht anders verhalten.
Die Begriffsbildung und die Art, Erfahrungen zu
sammeln und zu ordnen, die Umbildung der sinnlichen Gegebenheit in ein
naturgesetzliches oder geschichtliches Bild, die Kriterien von Wahrheit
und Irrtum, kurz all die Formen und Methoden, in die aufgenommen die
Weltinhalte zu Wissenschaftsinhalten werden, haben sich im Verlauf der
menschlichen Geistesgeschichte entwickelt und entwickeln sich zweifellos
weiter.
Zu dem Ideal der Wissenschaft, in die die Weltinhalte
restlos aufgegangen seien, fehlt uns nicht nur die Fähigkeit, diesen
Inhalt empirisch zu bewältigen, die Wissenschaftsform nun auch
tatsächlich auf die ganze Unermesslichkeit der Dinge anzuwenden; sondern
es fehlt uns auch die absolute, jeder Aufgabe überhaupt gewachsene
Vollendung dieser Form selbst, da wir sie nur in den fortwährend
modifizierten, nicht abgeschlossenen und für ein
historisch-evolutionistisches Wesen, wie der Mensch es ist, auch niemals
abzuschließenden Ausgestaltungen in der jeweiligen Erkenntnisepoche
besitzen.
Allen Wahrscheinlichkeiten, allen Analogien,
unzähligen tatsächlichen Hinweisen würde die Annahme widersprechen, dass
die von unübersehbar mannigfaltigen historischen Umständen
bedingten Formungen irgendeiner aktuellen Wissenschaft auch nur imstande
wären, die Ganzheit des Daseins in sich aufzunehmen.
Wenn Fichte sagt, was für eine Philosophie jemand
habe, hänge davon ab, was für ein Mensch er wäre - so gilt dies weit
über die Philosophie und weit über den einzelnen Menschen hinaus.
Was für eine Wissenschaft die Menschheit in einem
gegebenen Augenblick hat, hängt davon ab, was für eine Menschheit sie in
diesem Augenblick ist; und wie sich die Unvollendetheit und geschichtliche
Zufälligkeit ihres Seins zu der Idee ihrer Vollendung verhält, so
ersichtlich die Formen und Kategorien, die für sie in jedem jetzt
Wissenschaft bedeuten, zu jenen, die für die Gestaltung des gesamten
Weltinhalts zur Wissenschaft zulänglich wären.
Dies nun steht mit der Überzeugung Kants insofern in
Widerspruch, als ihm die Grundformen, in denen die bestehende Wissenschaft
den Stoff des Daseins erfasst, für dessen ganzen Inhalt zuzureichen und
keiner Evolution unterworfen scheinen.
Dennoch ist auch jener jetzige Standpunkt nur auf Grund
des seinigen möglich, für den er den gesammeltsten, freilich auch
paradoxesten Ausdruck damit findet: dass der Verstand der Natur ihre
Gesetze vorschreibt.
Das Grundmotiv ist, dass die Erkenntnisvorstellungen
der Dinge nicht in uns hineingeschüttet werden, wie Nüsse in einen Sack,
dass wir als Erkennende nicht die passiv Aufnehmenden gegenüber den
Sinnesempfindungen sind, wie die indifferente Wachsplatte durch den
Eindruck des Stempels von außen her geformt wird.
Sondern alles Erkennen ist eine Aktivität des Geistes,
die Sinneseindrücke, denen gegenüber wir uns rezeptiv verhalten, sind
noch nicht Erkenntnis, und der Komplex ihrer Inhalte ist nicht »die
Natur«.
Vielmehr, diese Eindrücke müssen Formen und
Verbindungen erhalten, die in ihnen selbst nicht liegen, sondern die eben
von dem erkennenden Geiste als solchen an ihnen ausgeübt werden.
Dadurch wird aus dem Chaos oder dem bloßen
Nebeneinander und Nacheinander von sinnlichen Erscheinungen erst das, was
wir Natur nennen: ein sinnvoller, verständlicher Zusammenhang, in dem
alle Mannigfaltigkeiten als prinzipielle, durch Gesetze verbundene Einheit
erscheinen.
Sobald diese Gesetze sich auf einzelne gegebene Dinge
beziehen, geben sie sich uns freilich nur durch Erfahrung, d. h. durch ein
Zusammenwirken der sinnlichen Empfänglichkeit mit dem ausgestaltenden
Verstande.
Die allgemeinsten Regeln aber, die überhaupt die
Vielheit der Erscheinungen zu der einheitlichen Natur formen (z.B. das
Kausalgesetz), stammen nicht aus den Erscheinungen, sondern aus der dem
Geiste eigenen Fähigkeit, zu verbinden, zu vereinheitlichen.
Diese Fähigkeit nennt Kant den Verstand, und dieser
also ist es, der der Natur ihre Gesetze vorschreibt, da ja diese Gesetze -
die Verbindungsformen des Geistes selbst für die gegebenen Weltinhalte -
aus den letzteren erst »die Natur« zustandebringen.
Dieser genauere Sinn der populären Formulierung von
Kants Lehre: dass »die Welt meine Vorstellung ist« - gibt dem Geiste
eine Beziehung zur Welt, die deren ganzen Umfang, trotz aller
Unerschöpflichkeit seiner Einzelheiten, in sich sammelt.
Wir wissen absolut nichts von den Dingen, außer
insoweit sie in unserem Bewusstsein sind, d.h. von der Aktivität unseres
Geistes zu Gegenständen der Erkenntnis gestaltet werden; dadurch sind die
Gesetze des Geistes die Gesetze der Dinge, kein Erkenntnisinhalt, von dem
wir überhaupt sprechen können, kann sich der Gestaltung gemäß den
Formen des Geistes entziehen.
Und dies mag für die wissenschaftliche Erkenntnis
vollkommen richtig sein - nur dass die Formen dieser Erkenntnis selbst
eben historische Gebilde sind, die deshalb die Totalität der Weltinhalte
nie völlig adäquat aufnehmen.
Wäre ihre Entwicklung aber so vollendet, wie Kant sie
ohne weiteres annimmt und wie sie gemäß der prinzipiellen Idee der
Erkenntnis zweifellos sein könnte - so würde damit allerdings eine
geistige Berührungsmöglichkeit zwischen dem Menschen und der Totalität
des Daseins gegeben sein.
Der Widersinn, mit dem die quantitative Diskrepanz
zwischen einem einzelnen seelischen Sein und der Unermesslichkeit des
Daseins überhaupt diese Berührung und damit die philosophische Attitüde
überhaupt zu schlagen schien, hebt sich durch die unerhörte Kühnheit
der Kantischen Wendung: dass dieses ganze Dasein seine Form als Gegenstand
der Erkenntnis eben der seelischen Beschaffenheit verdankt.
Seine inhaltlichen Einzelheiten mögen sozusagen in der
Welt verbleiben und ihrer allmählichen Aufnahme in die Erfahrung warten;
aber die Formen, die Erfahrung und Natur überhaupt zustande bringen, in
denen also der Gesamtumfang der erkannten Welt potentiell enthalten ist -
die liegen im Geiste und nur in ihm bereit und sind seine Funktionen, die
sein Erkennen heißen.
Er hat eine Beziehung zur Ganzheit der Welt, da gerade
ihre Ganzheit sein Erzeugnis ist.
Eigentümliche Relationen also bestehen zwischen der
Begründung, die die Mystik dem Prinzip des philosophischen Verhaltens
gibt, und der, die dafür aus dem Kantischen Motiv zu schöpfen ist.
Dort
war der Inhalt der Welt gewissermaßen in einem Punkt gesammelt, insofern
seine Differenzen als unwesenhaft gelten und nur die Einheit des
göttlichen Seins eigentlich existiert - so dass die Seele, dieser
gleichfalls zugehörig, in ihr die unmittelbare Durchdringung mit der Welt
gewinnt, die sich dann in der philosophischen Gedankenentwicklung
sozusagen expliziert.
Diese Anschauungsweise hat etwas Formloses, es steht
nur die Substanz des Seins und das Eingesenktsein in sie in Frage, wobei
die Wirklichkeit alle Individualität, d.h. alle Form einbüßt.
Die
Kantische Reflexion dagegen hat ihren Angelpunkt im Formbegriff. Es gibt
einige wenige, das Weltmaterial zu einer Welt bildende Formen, die sich
einer Unendlichkeit mannigfaltiger Inhalte darbieten.
Und da es sich für Kant nur um die Welt der Erkenntnis
handelt, das Erkennen aber nirgends anders als im Bewusstsein vor sich
geht, so sind es die Formen des Bewusstseins, die die Welt nach allem, was
als Prinzip für sie gilt, nach allem, was sie zu einem Gegenstand des
Erkennens macht, präjudizieren oder in sich fassen.
Es ist verständlich, dass das philosophische
Ergreifen des Weltganzen sich entweder in dessen Reduktion auf die bloße
formlose Substanz oder auf die inhaltlose Form vollzieht.
Denn die konkrete Erscheinung, d.h. der geformte Stoff,
ist das Unabsehliche, ist die Unendlichkeit des Seins, die kein Gedanke
umfassen, von deren Ganzheit er sich nicht mit einem Male berührt wissen
kann.
Nur wenn der Geist den Inhalt für sich oder die Form
für sich abstrahiert und damit eine gestaltende Eigentätigkeit am Dasein
ausübt, scheint er durch eben diese einen Zugang zu dessen Totalität zu
gewinnen.
Die Analogie, die so zwischen den beiden, nach
Gesinnung und Inhalt unendlich differenten Weltanschauungen dennoch in
Hinsicht des gegenwärtigen Problems besteht, wird ersichtlich durch die
gemeinsame Bedeutung des Wissens um uns selbst für das Wissen um die Welt
getragen.
Alle Formen, die die Erkenntniswelt bilden, laufen für
Kant in einer zentralen, der eigentlich schöpferischen und normgebenden
zusammen: in der Einheit.
Die mannigfaltigen Vorstellungen werden zu objektiven
Erkenntnissen, indem sie zu der Einheit eines Gegenstandes, eines Satzes,
einer Gedankenreihe, eines Weltbildes zusammengehen.
Für die Ordnung des
chaotischen Nebeneinander, Durcheinander, Nacheinander der Elemente, d.h.
für das Gestaltungsprinzip einer verständlichen Welt haben wir keinen
anderen Ausdruck als: Einheit des Mannigfaltigen.
Dass dies eben die Form unsrer Erkenntniswelt ist, wird
einerseits bedingt, andrerseits realisiert durch die Form des Bewusstseins,
durch das und für das diese Welt besteht; diese Form ist Einheit; die
Inhalte meines Bewusstseins sind mir eben als einer Persönlichkeit
zugehörig bewusst, als Empfindungen und Gedanken, Impulse und Leiden
eines Ich, das sich an jedem Punkte dieser Mannigfaltigkeit als das
identische weiß, das durch die Diskordanz seiner Inhalte und Produkte
nicht zerrissen werden kann; oder vielmehr: dessen Zerrissenheitsgefühl,
wo es auftritt, eben gerade nur durch das Bestehen seiner Einheit möglich
ist - sonst würde keine Zerrissenheit, sondern ein gleichgültiges
Nebeneinander dieser Inhalte bestehen.
Dieser letzte Punkt des Ich in uns, in den die Welt
eingeht und von dem, anders angesehen, jene Strahlen ausgehen, die die
Welt in sich fassen und sie damit überhaupt erst zu einer Welt machen -
besitzt für das Problem, das uns hier angeht, die gleiche Bedeutung wie
das »Fünklein« bei Eckhart.
In beiden Fällen ist es gerade die
absolute, zentrale Einheit des Geistes, durch die er sich der Beziehung zu
der absoluten Ganzheit des Daseins öffnet.
Dass das philosophische Grundverhalten sich auf diesem
Wege - durch die innerlichste Einheit des Geistes hindurch - realisiert, lässt
die Besonderheiten dieses Verhaltens sich als begreifliche
Konsequenzen entwickeln.
Zunächst diejenige, die man mit dem sehr zweideutigen
Begriff der »Subjektivität« philosophischer Theorien, im Gegensatz zu
der Objektivität der empirischen oder mathematischen exakten
Erkenntnisse, bezeichnet hat.
Je weiter der Kreis der Dinge geschlagen ist, auf den
eine einheitliche Reaktion des Intellekts erfolgt, um so freier wird sich
dessen Individualität in dieser Reaktion ausdrücken können; denn seine
Wahl des entscheidenden Elementes oder der wesentlichen Kombination der
Elemente wird entsprechend größer sein, als wo nur ein einziges oder
wenige Elemente die Reaktion hervorrufen.
Mit der steigenden Weite des Kreises differenter
Objekte nähert sich die Notwendigkeit, in einer für alle Individuen
gleichmäßig gültigen Weise zu reagieren, dem Grenzwert Null: gerade
das, was man Weltanschauung nennt, hängt am meisten von dem differenten
Sein der Persönlichkeiten ab; gerade das Bild des Ganzen, das das Vollste
und Reinste der Objektivität zu enthalten scheint, spiegelt die
Besonderheit seines Trägers viel mehr, als das objektive Bild irgendeiner
Einzelheit es zu tun pflegt.
Wenn man von der Kunst sagt, sie wäre ein Weltbild,
gesehen durch ein Temperament, so ist die Philosophie ein Temperament,
gesehen durch ein Weltbild.
Das Merkwürdige ist nur, dass jene
Besonderheit hier nicht die eigentliche Unvergleichlichkeit bedeutet,
nicht die Punkte betrifft, in denen jeder Mensch schlechthin anders ist
als jeder andre; denn es gibt nicht nur nicht so viele Philosophien, wie
es philosophierende Menschen gibt, sondern die Zahl der originalen, die
Weltanschauung bestimmenden Grundmotive der Philosophie ist sehr
beschränkt.
Diese Motive tauchen, die Jahrtausende entlang, immer
wieder auf, sie spalten sich, fügen sich zusammen, erscheinen in
Abtönungen und wechselnden Gewändern; aber ihre Zahl vermehrt sich nur
äußerst langsam und man weiß nicht, ob man es als eine Armut der
Menschheit bezeichnen soll, dass sie es, im Verhältnis zu der unendlichen
Mannigfaltigkeit der Individualitäten und der Schicksale, der Erfahrungen
und der Stimmungen, nur zu einem solchen Minimum wirklicher
Gesamtauffassungen und Einheitsgedanken dem Dasein gegenüber gebracht
hat; oder als ihren Reichtum, dass sie diesem engen Bezirk philosophischer
Grundanschauungen die Befriedigung für unübersehbar nuancierte geistige
Ansprüche, die Befruchtung der mannigfaltigsten seelischen Komplexionen,
bis in ihr Allerpersönlichstes hinein, entlocken konnte.
Aber diese quantitative Geringfügigkeit der
unterschiedenen philosophischen Reaktionen auf die Welt und das Leben
zeigt an, dass ihre Bestimmtheit durch das persönliche Moment, ihre
»Subjektivität«, in keinem Fall eine Willkürlichkeit und ein Nachgeben
gegenüber den Schwankungen subjektiver Launen bedeuten kann, ja nicht
einmal die Singularität des psychisch individuellen Verlaufes.
Hier wird vielmehr eine tiefgründige und mit den
traditionellen Begriffen nicht ohne weiteres beschreibbare seelische
Kategorie wirksam. Es ist einerseits völlig irrig, den Ursprung einer
Philosophie aus den »Personalakten ihrer Urheber« ergründen zu wollen.
Denn was man das »Persönliche« zu nennen pflegt: das
Temperament, die Schicksale, das Milieu - das gerade ist ja das
Allgemeine, das dem Philosophen mit unzähligen andern gemeinsam ist und
deshalb seine Schöpfung, die absolut nur in ihm und in keinem andern
erwachsen ist, nicht erklären kann.
Vielmehr, das eigentlich und einzig Persönliche an dem
schöpferischen Menschen ist sein Werk, bzw. der Prozess, der gerade auf
dies Werk und nichts andres hingeht und hingehen kann.
Aber eben sowenig ist der Einzigkeits- und
Unvergleichbarkeitspunkt im Individuum der zureichende Grund seiner
Schöpfung, weil dann ihre Begreiflichkeit und Gültigkeit für andre,
ihre objektive Vorstellbarkeit, das Hinausrücken in unzählige
überpersönliche Zusammenhänge nicht statthaben könnte.
Jener seelische Träger der Reaktion auf das Dasein ist
also keineswegs die ganz unmittelbare Individualität, sondern muss in
einer besonderen Schicht oder Modifikation dieser gesucht werden.
Andrerseits aber entscheidet doch auch nicht die logische Verkettung, das
sachliche Wissen und seine Methoden über die Entstehung einer
Philosophie.
Denn dies alles mag den Denkern einer Kulturperiode
gemeinsam sein und zwischen ihren konkreten Erkenntnissen keinen
Widerspruch bestehen lassen - und dennoch gehen ihre philosophischen
Weltbilder aufs schärfste und bis zur völligen gegenseitigen Verneinung
auseinander.
Es muss also im Menschen noch ein Drittes geben,
jenseits ebenso der individuellen Subjektivität wie des allgemein
überzeugenden, logisch-objektiven Denkens; und dieses Dritte muss der
Wurzelboden der Philosophie sein, ja, die Existenz der Philosophie fordert als ihre
Voraussetzung, dass ein solches Drittes da sei.
Man mag dies - mit sehr
ungefährer Charakteristik - als die Schicht der typischen Geistigkeit
in uns bezeichnen.
Denn Typus ist doch ein Gebilde, das sich weder mit der
einzelnen, realen Individualität deckt, noch eine Objektivität jenseits
der Menschen und ihres Lebens darstellt.
Und es äußern sich tatsächlich in uns geistige
Energien, deren Betätigungsinhalte nicht subjektiv-individuellen Wesens
sind, ohne darum doch die Nachzeichnung eines Objektiven, das dem Subjekt
gegenüberstünde, zu sein.
So scheidet ein Gefühl in uns, oft mit großer
instinktiver Sicherheit, zwischen solchen Überzeugungen und Stimmungen,
die wir uns als unsre rein persönlichen und subjektiven anzuerkennen
bescheiden, und andren, für die wir zwar ebenso wenig objektive Beweise
anzuführen wüssten, die wir aber doch andern, oder gar allen andern zu
teilen zumuten - als spräche ein Allgemeines in uns, als bräche jener
Gedanke oder jene Empfindung aus einem tiefen und generellen Grunde in uns
hervor, der von sich aus ihren Inhalt rechtfertigte.
Vielleicht liegt hier auch der Fruchtboden der Kunst.
Gewiss schafft der Künstler aus einer rein
persönlichen Notwendigkeit heraus, derart, dass jeder Künstler, dem
gleichen Modell gegenüber, ein von allen andern abweichendes Kunstwerk
zustandebringt.
Dennoch hat jedes dieser Werke - ihre artistische
Erheblichkeit vorausgesetzt - etwas, was man künstlerische »Wahrheit«
nennt und was mit der Forderung, allgemein als solche anerkannt zu werden,
auftritt.
Es ist also jene individuelle, aus der Persönlichkeit
hervorbrechende Produktivität offenbar eine typische, die
singuläre Formung hat eine über die Singularität hinausgehende
Gültigkeit, nicht vom Objekt her, sondern weil hier in dem Schöpfer jene
eigentümliche seelische Schicht spricht, mit der in dem individuellen
Phänomen der Typus Mensch oder ein Typus Mensch in Funktion tritt.
Auf diesem Boden dürfte auch die
Überzeugungsexpansion der religiösen Schöpfung wachsen.
Indem das
religiöse Genie sein innerstes Leben, das mystisch Subjektive seiner
Erschütterungen und Erleuchtungen ausspricht, gewinnen diese für
unzählige andere die Dignität einer Wahrheit, obgleich sie sich an
keinem objektiven Gegenbild, ja oft nicht einmal an den logischen Normen
legitimieren können.
In der etwas überschwenglichen Redensart, dass »der Genius der Menschheit« aus diesen Erleuchteten spräche, lebt
dennoch der irgendwie richtige Instinkt, dass Energien, die in dem
Überindividuellen der Seele wurzeln oder es auf eine geheimnisvolle Weise
vertreten, hiermit in dem Individuum und unmittelbar aus ihm heraus zu
Worte kommen.
Das merkwürdige Zusammen, das die großen
philosophischen Leistungen charakterisiert: eine Welt- und
Lebensauffassung von einseitiger Entschiedenheit und unverwechselbarer
Personalität vorzutragen, und damit zugleich ein allgemein Menschliches,
überindividuell Notwendiges und im Leben überhaupt Begründetes zu geben
- dies setzt voraus, dass hier das Typische einer geistigen
Individualität wirksam ist, das innerlich Objektive einer durchaus nur
dem eignen Gesetz gehorchenden Persönlichkeit.
Dies lässt nun weiterhin erkennen, dass der
Wahrheitsbegriff der Philosophie, insoweit sie jene letzten Entscheidungen
und Gesamtreaktionen gegenüber dem Dasein umfasst, von dem der andern
Wissenschaften abweicht.
Sie zeichnet nicht die Objektivität der Dinge
nach - das tun die »Wissenschaften« im engeren Sinne -, sondern die
Typen der menschlichen Geistigkeit, wie sie sich je an einer bestimmten
Auffassung der Dinge offenbaren.
Nicht die - irgendwie verstandene - Übereinstimmung
mit einem »Gegenstand« steht für ihre Behauptungen in Frage, sondern dass
diese den adäquaten Ausdruck für das Sein des Philosophen selbst,
für den in ihm lebenden Menschheitstypus darstellten - sei es, dass dieser eine bestimmte Kategorie von Individuen umschriebe, sei es,
dass er
ein in irgendeinem Maße in jedem Individuum vorhandenes Element bildete.
Damit ist sie aber nicht etwa als eine psychologische
Konfession, als eine Selbstschilderung aufzufassen. Dann hätte sie ja ein
Objekt, wie jede Psychologie überhaupt, mit dem übereinstimmend oder
nicht übereinstimmend sie als Wahrheit oder Irrtum gelten müsste.
Die Persönlichkeit der Philosophen ist nicht der
Inhalt ihrer Behauptungen; sondern diese Behauptungen gehen auf
irgendwelche objektiven Realitäten, aber jene Persönlichkeit drückt
sich in ihnen aus; der besondere Typus Mensch, der sie trägt, ist
nicht, wie innerhalb andrer Wissenschaften, in der Behauptung selbst
verschwunden, sondern gerade erhalten, es ist nicht die Selbstspiegelung
eines Kopfes, sondern die Welt, wie sie sich in ihm malt - nicht nach
seiner subjektiv-zufälligen Realität, sondern wie es diesem Typus Mensch
entspricht.
Denn wie die menschliche Geistesart überhaupt
bestimmte Inhalte und Formen des Weltbildes besagt, die bei anders
organisierten Wesen durch andre ersetzt wären, so fordern die einzelnen
Typen dieser Geistesart jene besonderen Färbungen, Zusammenstellungen,
Orientierungen, deren Prinzipien in den großen philosophischen Theorien
vorliegen.
Man könnte diese Auffassung der Philosophie in die
Formel zusammenfassen, dass das philosophische Denken das Persönliche
versachlicht und das Sachliche verpersönlicht.
Denn es drückt das Tiefste und Letzte einer
persönlichen Attitüde zur Welt in der Sprache eines Weltbildes aus und
es zeichnet ebendeshalb das Weltbild nach denjenigen Richtungslinien und
derjenigen Gesamtbedeutung, zwischen denen zu wählen für immer Sache der
Unterschiedenheit zwischen den menschlichen Wesenszügen und Wesenstypen
bleiben wird.
Dabei ist es sehr wohl möglich, dass das
Herausarbeiten der letzteren zu völliger Klarheit, Eindringlichkeit und
Überzeugungskraft vermittels solcher Behauptungen geschieht, die in bezug
auf ihre Objekte - insoweit über diese vom sachlichwissenschaftlichen,
oder, wenn man will, allgemein menschlichen Standpunkt aus geurteilt wird
- völlig irrig ist; ja, gelegentlich kann die objektive Irrigkeit einer
Lehre jene andre Wahrheit, nämlich die über den geistigen Typus, der sie
trägt, um so tiefer und deutlicher offenbaren.
Vielleicht ist Wahrheit deshalb überhaupt nicht der
ganz angemessene Begriff, um den Wert einer Philosophie auszudrücken.
Denn Wahrheit haftet doch immer an einem
Gedankengebilde, dem ein reales oder ideales Sein gegenübersteht und mit
dem irgendwie überein zustimmen eben seine Wahrheit ausmacht.
Hier aber ist der Charakter des Gedankengebildes an und
für sich entscheidend, es trägt als Sein seinen Wert, d.h. gemäß
der Bedeutung der unmittelbar in ihm dokumentierten geistigen Richtung und
Verfassung und der überzeugenden Ehrlichkeit, Tiefe und Deutlichkeit
dieser Dokumentierung selbst.
Nur dadurch, dass nicht die von dem Objekt her
festzustellende Wahrheit der Behauptungen hier das letzte Wertkriterium
ist, sondern das typische Sein, das in diesen Behauptungen lebt und sich
offenbart - nur dadurch wird begreiflich, dass gewisse Geister noch heute
in Sokrates und Plato, in Thomas v. Aquino und Giordano Bruno, in Spinoza
und Leibniz die Entscheidungen und Erlösungen für ihr Verhältnis zur
Welt finden.
In beobachtbarer Weise vollzieht die
geistesgeschichtliche Entwicklung die Reduktion des an den Objekten
orientierten Wahrheitswertes auf die Bedeutung des geistigen Seins, das in
den großen Philosophien objektiviert ist.
In dem Augenblick, wo sie als Behauptungen über das
sachliche Verhalten der Dinge auftreten, fällt der Ton naturgemäß auf
ihre Überzeugungskraft nach dieser Seite hin und auf die Kritik
derselben. Allmählich aber wird dies gleichgültig, während die innere
Bedeutung der Lehre, als des Ausdrucks einer realen, durch die objektive
Wahrheitsfrage nicht berührten Stellung zum Dasein, beharrt.
Wer fragt heute eigentlich noch danach, ob Platos
Ideenlehre oder der Pantheismus der Stoiker und Spinozas »richtig« ist,
ob des Nikolaus Cusanus Begriff von Gott als des »Zusammenfallens der
Gegensätze« oder Fichtes weltschöpferisches Ich »den Tatsachen
entspricht«, ob Schellings Lehre von der Identität von Natur und Geist
oder Schopenhauers Willensmetaphysik »wahr« ist?
Alles dies ist oft und bündig »widerlegt«; allein
der jeweilige menschliche Typus, der in diesen »Irrtümern« seine
Reaktion auf das Dasein niedergelegt hat, hat alle Widerlegungen überlebt
und jenen Lehren eine in seinem eignen Maße unsterbliche Bedeutung
verliehen - die ihr Kriterium als Wahrheit jedenfalls nicht von dem Punkte
her gewinnt, auf den die sachliche Behauptung zugeht, sondern von dem, aus
dem sie herauskommt.
Die Gestaltung des Inhaltes nun, an der diese
philosophische Reaktion auf den Eindruck des Seins überhaupt sich
verkörpert, geschieht so, dass von den gegebenen Erscheinungen des
Daseins oder von den begrifflichen Vorstellungen, mit denen unsre
Abstraktion die Seiten, die Teile, die Bewegungen des Daseins erfasst -
eine einzelne gleichsam ausgewählt wird, um als der eigentliche Kern oder
als der Sinn dieses ganzen Daseins zu funktionieren.
Diese Einseitigkeit der einzelnen Philosophien liegt in
ihrem tiefsten Wesen begründet; denn als dieses Wesen hat sich doch
offenbart, dass das Allgemeinste sich in der Form einer typischen
Individualität darstelle - was denn auch, ohne weiteres begreiflich, so
empfunden werden kann, als ob die Individualität sich zur Welt erweitere.
Die Welt ist uns als eine Summe von Fragmenten gegeben,
und es ist die Bemühung der Philosophie, das Ganze für den Teil zu
setzen; und sie erreicht das, indem sie den Teil für das Ganze setzt. Aus
den unübersehbar vielen Fäden, die das Netzwerk der Wirklichkeit
ausmachen und deren Gesamtheit dem Philosophen sein Problem stellt, lässt
ihn die Sonderart seines geistigen Typus einen einzelnen ergreifen; ihn
erklärt er für den, der das Ganze zusammenhält, von dem alle andern
abgeleitet sind, ihn verfolgt er, so sehr er auch an der Oberfläche nur
fragmentarisch und oft von andern überdeckt erscheine, als den einzig
kontinuierlichen durch das ganze Gewebe hin, ihn spinnt er über das
relative Maß seiner endlichen Erscheinung hinaus ins Unendliche und
Absolute.
Dies ist die formale Möglichkeit, wie die
Individualität ihr inneres, fühlendes und gestaltendes Verhältnis zum
Weltganzen zu einem sachlichen Bilde dieses letzteren ausprägen kann:
indem sie einen gleichsam individuellen Zug des Ganzen, der ihrer
Sonderart korrespondiert, ergreift und diesen zu den Dimensionen des
Ganzen aufwachsen lässt, alles andre und Abweichende zu Unwesentlichem
oder Schein, zu eigentlich Nichtvorhandenem oder bloßen Umsetzungen jenes
allein Realen herabdrückend.
Dies ist, wie ersichtlich, das Verhalten, aus dem der
Philosophie der gleiche Vorwurf wie der Religion erwächst: die Welt zu
vermenschlichen.
Das Weltbild als die Reaktion einer Seele und von deren
Sonderart bestimmt; die Struktur dieses Weltbildes durch die
ausschließende Betonung eines seiner möglichen Züge gegeben, der
nur das objektive Gegenbild jener Sonderart ist - das macht denn doch,
offener oder versteckter, die Welt zu einem »mit großen Buchstaben
geschriebenen« Menschen!
Am unverkennlichsten erscheint das an all den Lehren,
die das Wesen des Seins überhaupt mit der menschlichen Seele und ihren
Bestimmungen identisch setzen - wenn z.B. also für Leibniz alles Dasein
seelenhaft ist und die Materie, ihrem wahren Wesen nach, aus denselben
seelischen Elementen besteht, wie die Menschen - nur dass dort schläft,
was hier wach ist; oder wenn Kant den Zweck der Weltexistenz, ihrem
gesamten Umfang nach, im Menschen, soweit er unter moralischen Gesetzen
steht, erblickt; oder wenn Schopenhauer als das metaphysische Wesen aller
Wirklichkeit den Willen erklärt, d.h. eben dasselbe rastlose und im
tiefsten Grunde zwecklose Getriebenwerden, das wir in uns als das bewusste,
mit angebbaren Einzelzielen verlaufende Wollen finden.
Sieht man in all dem einen Missbrauch dichterischer
Analogien, einen Rückfall in die primitive Beseelung der Welt, für die
das Wesen des Windes nur das Blasen des Äolus sein konnte und die
Bewegungen der Gestirne Kraftäußerungen der ihnen innewohnenden Geister
- so ist dies ein gründliches Missverständnis.
Gewiss sind jene Bilder
des Weltganzen durch die Struktur der Seele bestimmt, in der der Eindruck
dieses Ganzen sie erzeugt.
Allein der Gedankengang des Metaphysikers
verläuft nicht so: ich sehe soundso aus, also ist dies auch das Aussehen
der Welt; sondern: welches ist der tiefste, einheitliche Grund, auf dem
die Welt, und ich mit ihr und in ihr, ruhen kann?
Der Metaphysiker findet sich in der Welt vor, als
objektive, sicherste Tatsache, und fragt - gleichviel in welcher
Formulierung -: wie muss die Welt aussehen, damit diese Tatsache in ihr,
als in einer verständlichen, harmonischen Einheit, möglich sei?
Dass Leibniz alle Elemente des Seins für Seelen, in
abgestuften Graden der Vollkommenheit oder Bewusstheit, erklärte, ist
also keine naive Übertragung der menschlichen Seele auf das Weltall,
sondern umgekehrt, jene ist von diesem aus gesehen, das Ganze wird
nach seiner Beschaffenheit gefragt, unter deren Voraussetzung die
menschliche, gegebene Seele keinen Sprung und keine Fremdheit
hineinbringt, sondern eine durchgehende Ordnung und Beziehung aller
Elemente bestehen lässt.
Dieselbe Absicht führt bei Schopenhauer den Gedanken
nur in eine etwas andre Dimension.
Wenn er alles Dasein als Erscheinung eines »Willens«
deutet, so wäre dies nur dann jene kindliche Vermenschlichung der Welt,
wenn er den Willen, wie er als empirische Bewusstseinstatsache in uns
auftritt, in die Natur hineinsähe.
Ganz im Gegenteil aber meint er dasjenige, was auch den
Bewusstseinserscheinungen des Willens erst zugrunde liegt, den
metaphysischen Kern der Dinge, der für die nichtseelischen Erscheinungen
der gleiche ist wie für die seelischen; nur dass er durch die letzteren
deutlicher, bezeichenbarer hindurchschimmert als durch jene.
Der Wille, den wir in uns kennen, bleibt auch für
Schopenhauer eine einzelne Tatsache der psychologischen Erfahrung.
Aber er ist der Punkt, an dem die metaphysische
Wirklichkeit, das ruhelose Werden und Streben, das dunkle Verhängnis des
Getriebenwerdens ohne Endpunkt, des unendlichen Anderswerdens - an dem
dieses nur sein unzweideutigstes Symbol, sein unmittelbarstes
Gefühltwerden gewinnt.
Dieses Absolute steht jenseits der Relativität unsrer
eignen wie jeder andern Erscheinung, und ist deshalb so wenig in die
menschlichen Formen hineingezogen, dass diese vielmehr hier mit allen
andern zugleich auf den metaphysischen Grund gebaut werden. Ob solche
Gedanken, ihrem besonderen Inhalte nach, richtig, ob sie logisch notwendig
oder auch nur möglich sind, bleibt ganz dahingestellt.
Es kommt hier nur auf das Prinzipielle an: die Reaktion
des philosophischen Geistes auf den Gesamteindruck des Seins bedeutet,
sachlich und der Intention nach, nicht, dass die Welt in das Individuum
einbezogen und nach seinem Bilde vermenschlicht wird, sondern dass umgekehrt ein typisches Weltbild entsteht, in das das Individuum
einbezogen ist; es wird ein Ganzes gestaltet, wie dieser Typus Mensch es
eben denken muss, damit er, der sich als die unbezweifelbare Realität
weiß, der Einheit dieses Ganzen zugeordnet und aus ihr begriffen werden
könne.
Durch diese letzte Erwägung ist das Formprinzip des
philosophischen Weltbildes bezeichnet: es gilt, die Einheit zu
gewinnen, deren der Geist gegenüber der unermesslichen Vielheit, dem
Bunten, Zerrissenen, Unversöhnten der Welt bedarf.
Unter welchen Kategorien immer das philosophische
Denken sagt, was die Ganzheit der Welt ihm ist - mag es ihren Sinn oder
ihre Substanz, ihren Wert oder ihren Zweck zu erkennen glauben - immer
erfüllt diese Behauptung auch das formale Bedürfnis, einen Einheitspunkt
in all den Wirrnissen und Gegensätzlichkeiten der Erscheinungswelt zu
bieten, eine Stelle, an der die Fremdheit der Realitäten vor ihrer
Verwandtschaft zurückweicht.
Denn selbst wenn die Feindseligkeit der Dinge
gegeneinander als metaphysische Weltdeutung vorkäme, würde dies als
einheitlicher, durch die gegenseitigen Beziehungen der Elemente
realisierter Charakter des Ganzen auftreten.
Eben darin, dass die Vielheit der Welt zur geistigen
Einheit wird, spiegelt es sich, dass die Philosophie die Reaktion von
Seelen auf die Totalität des Seins ist: denn die Seele weiß sich als
Einheit, in ihr - und zunächst nur in ihr - schneiden sich die
Strahlen des Daseins wie in einem Punkte.
Alles, was das Bewusstsein als das ihm Äußere, als
die objektiven Elemente des Seins vorfindet, ist in eine unaufhebbare
Getrenntheit gebannt, sei diese das Nebeneinander im Raume, sei sie das
Nacheinander in der Zeit, sei sie das logische Außereinander der
einzelnen Vorstellungen.
Allein indem die Dinge sich im Bewusstsein zusammenfinden, gewinnen sie eine ihnen sonst unerreichbare Einheit. In
dem Satz etwa: Leben ist Leiden - gehen die beiden Begriffe zu einem Sinn
zusammen,
der in keinem von beiden, auch nicht pro rata, liegt, der vielmehr
in der völligen Durchdringung beider zu einem einheitlichen Gebilde
besteht, wie es weder in den Verhältnissen des Raumes, noch in denen der
Zeit irgendeine Analogie findet.
Diese Vereinheitlichung ist eine schlechthin
unvergleichliche Fähigkeit des Geistes, ja, es ist sein eigentliches, ihn
konstituierendes Wesen, sie zu vollziehen. Subjekt und Prädikat
durchdringen sich in dem Urteil, das nur im Geiste seine Stelle hat, zu
einer Einheit, die die Dinge im Raum, von denen jedes seinen zwar
auswechselbaren, aber nie verlierbaren Umfang für sich allein erfüllt,
nie auch nur in annähernder oder andeutender Weise gewinnen können.
Darum ist die Vereinheitlichung der Welt die eigentlich
philosophische Tat, in ihr drückt sich aus, dass hier die Antwort der
Seele auf den Eindruck des Gesamtseins gegeben wird.
Wenn aber dieses Gesamtsein an die Seele rührt und in
sie hinein will, so muss sie ihm ihre eigne Form geben, muss die
Mannigfaltigkeit seiner Inhalte in einen Begriff, eine Bedeutung,
einen Wert zu fassen suchen.
Der Wahrheitsbegriff, der sich an dieses Grundwesen der
Philosophie heftet, ist in seiner eigentümlichen Gelöstheit von dem
Sachgehalt ihrer Behauptungen aufgezeigt worden.
Ergab sich dies daher, dass in diese nicht das
generelle oder objektive Bild der Welt, sondern das Verhältnis der
typisch-geistigen Individualitäten zur Welt niedergelegt ist - so
zeichnet sich die Eigenart jenes Wahrheitsbegriffes jetzt noch einmal an
dem so entstandenen Bilde selbst.
Dieses Bild hat, jenem Ursprung zufolge, die Form der
Vereinheitlichung des Gesamtseins und zwar vermittels eines einseitig
ausgewählten und als absolut inthronisierten Elementes aus eben diesem
Gesamtsein.
Anders als um den Preis solcher Einseitigkeit kann unser
Intellekt keine Gesamteinheit zustandebringen; unter gleichmäßigem
Einbeziehen jeder Seite und Richtung der Wirklichkeit und jeder möglichen
Auffassung das Ganze als eine Einheit anzuschauen, würde man als die
Kraft eines göttlichen Geistes ansehen.
Und dies begründet nun wohl
einen entscheidenden Zug der philosophischen »Wahrheit«: dass eine Lehre
innerhalb der philosophischen Sphäre, festgehalten in der Höhe ihrer
Abstraktion, durchaus als zutreffende Wahrheit behauptet und empfunden
werden kann, und dabei die Anwendung auf all die Einzelheiten, auf die sie
sich als allgemeine Behauptung eigentlich beziehen soll, nicht verträgt.
Gerade die tiefsten Gedanken der Philosophie, die doch
für die Gesamtheit der Erscheinungen zu gelten beanspruchen und aus
dieser Geltung ihre Tiefe zu gewinnen scheinen - gerade diese werden in
dem Augenblick unzulänglich, dürftig, widerspruchsvoll, in dem ihre
Leistung für die einzelnen Phänomene und Probleme geprüft wird.
Vielleicht liegt der Grund dafür in jenem tiefen
Widerspruch, mit dem die Art unsrer Geistigkeit alle philosophische
Bestrebung trifft: dass die Forderung des absolut Allgemeinen und
All-Einheitlichen sich nur mit einem einseitigen, individuell designierten
Inhalt verwirklichen kann.
Wir haben in den philosophischen Ideen oft genug
Allgemeinheiten, die aber nicht die Allgemeinheiten von Besonderem sind;
sondern, aus ihrer Höhe zu diesem herabsteigend, verlieren sie die
Gültigkeit, die wir ihnen zusprechen, solange sie in ihrer eignen Sphäre
verbleiben und an deren Kriterien, aber nicht an denen der singulären
Erfahrbarkeit, gemessen werden.
Dies ist ein so merkwürdiges Verhältnis,
der logischen Vorstellung vom Allgemeinen und Besonderen, von der
überindividuellen Einheit und der individuellen Wirklichkeit, auf die sie
sich bezieht, so widersprechend, dass es überhaupt eine Legitimation nur
durch Einstellung in einen weiten Kreis verwandter Phänomene des Geistes
gewinnen kann.
Nehmen wir an, dass es auf einigen oder vielleicht
allen Gebieten ein elementares Material gibt, fundamentale und letzte
Erscheinungen, zu denen unser Tatsachensinn gelangen kann: so gewinnen
wir, diesen gegenüber verschiedene Distanz nehmend und auf der
einen haltmachend, ein andres Bild, andren Normen gehorsam, andre
Relationen in sich und zu allen andern zeigend, als wenn wir von einem
zweiten Abstand aus geblickt hätten; und jede Hinzufügung eines
Bildteiles aus dem letzteren würde das erstere fälschen und sinnlos
machen, und so wechselseitig.
Die optische Vorstellung eines Hauses aus dreißig
Meter Entfernung ist völlig geordnet, einheitlich, verständlich; würde
in dieses Bild aber plötzlich ein Abschnitt desjenigen eingestellt, das
wir aus einer Entfernung von drei Metern von demselben Hause gewinnen und
das in sich genau so richtig und sinnvoll ist, so entstünde eine ganz
unbegreifliche und widerspruchsvolle Vorstellung.
Nach der Norm dieses
einfachen Verhältnisses erwachsen all die geistigen Gebilde, in die wir
die Gegebenheiten der Dinge aufnehmen.
Unsere Malerei z.B. ist an eine bestimmte Sehschärfe
gebunden; in den Distanzen, in die die Lebenspraxis, von unsrer
Organisation bestimmt, uns zu den räumlichen Objekten stellt, gewinnen
wir ein bestimmtes Bild von ihnen, derart, dass wir nur bei Entfernungen
von relativ geringer Verschiedenheit noch vom »Sehen« ihrer sprechen.
Hätten wir aber etwa die Sehschärfe des Adlers, so
würden wir eine ganz andre Kunst brauchen und wenn wir uns ein Stück
einer solchen innerhalb der unseren dächten, so würden wir es als
»falsch« bezeichnen, obgleich es vielleicht sehr viel »genauer« wäre
und den letzten objektiven Bestandteilen der Gegenstände sehr viel näher
stünde.
Nicht anders verhält es sich mit dem übertragenen Sinn der
»Distanz« in der Kunst.
Die vielfachen Lebenselemente, die in einem lyrischen
Gedicht zusammenströmen, haben vom Standpunkt des empirischen Daseins aus
eine Genauigkeit der Umrisse, einen Reichtum von Beziehungen zu allem
möglichen andern, eine verstandesmäßige Verknüpftheit, die sich
völlig umbilden, sobald eben die Distanz der lyrischen Kunst ihnen
gegenüber genommen wird.
Jedes der beiden Genauigkeitsmaße der inneren Bilder
gibt eine in sich zusammenstimmende Gesamtvorstellung, und dies ist der
Grund, weshalb es ein völliges Missverständnis ist, wenn man dem Inhalt
eines Gedichtes, über ein sehr begrenztes Maß hinaus, mit Kritik vom
Standpunkt der empirischen Wahrheit und mit logischer Analyse nachgeht.
Die Gesetze der künstlerischen Wahrheit beziehen sich
eben sozusagen auf Umrisse der Dinge, die von einer viel weiteren Distanz
her gesehen sind und deshalb ganz andre Relationen unter ihnen gestatten,
als die Wahrheit der Wissenschaft oder die der empirischen Praxis fordern.
Mit dieser verglichen, ist es wiederum ein andrer
Abstand, in dem sich die Religion hält.
Der Gläubige fällt gleichsam
aus seinem Stil, wenn er die Bedeutungen und Erwartungen, die
Verknüpftheiten und die Tiefen, die innerhalb der religiösen Sphäre an
den Dingen haften, auf die Unmittelbarkeit ihres konkreten Nahbildes
übertragen will, also z.B. die »Hilfe Gottes«, die nur in einem ganz
sublimen, das tiefste und allgemeinste Verhältnis zu Leben und Schicksal
betreffenden Sinne einen echt religiösen Sinn hat, für die banalen
Interessen und Nöte des Tages erwartet.
In diesem Sinne hat ein
Religionsphilosoph gesagt: »Gott füllt nicht den Löffel, auch nicht den
Teller, sondern nur die Schüssel.«
Obgleich, bloß logisch genommen, der Inhalt des
Löffels doch auch aus dem der Schüssel kommt und dadurch dessen
Bestimmungen unmittelbar zu teilen scheint, so ist dennoch der
Löffelstandpunkt ein andrer als der Schlüsselstandpunkt und was für
diesen gilt, wird unwahr, sobald es auf die ganz anders distanzierten
Bilder, die jener angibt, übertragen wird.
So darf man von dem, was man den Sinn des Daseins
nennt, nicht fordern, dass es uns jeden Augenblick verständlich mache, da
es doch nicht für die Stunde gilt, auch nicht für das Jahr, sondern nur
für das Leben - obgleich das Leben aus Stunden und Jahren besteht.
Diese Eigentümlichkeit unserer geistigen Struktur: dass
ein Allgemeines, das sich doch schließlich an dem Einzelnen und
Näheren scheint verwirklichen zu müssen, für dieses nicht ohne weiteres
gilt, dass es Bilder und Normen für seine Distanz ausbildet, die sich aus
den für seine »realeren« Grundlagen gültigen nicht zusammensetzen
lassen - diese bestimmt nun auch den Charakter der metaphysischen Gebilde;
indem sie das Dasein einheitlich zusammenfassen, ist die von ihnen
verkündete Allgemeinheit dennoch nicht eine solche, unter die die zusammengefassten
Einzelheiten in demselben Sinne gehörten, wie die
Eiche, die Tanne, die Linde unter die Bestimmungen des Begriffes Baum,
in dem ihre gemeinsamen Eigenschaften vereinheitlicht
worden sind.
Wie wir der wesentlichen Züge unsres Charakters sicher
sind, als eines festen, unser Leben bestimmenden Seins, und dennoch unsre
einzelnen Handlungen keineswegs immer mit ihm in Übereinstimmung, durch
ihn gelenkt, finden; wie das Detail unsres Wesens keineswegs dessen
tiefste Einheit, in die es doch befasst scheint, immer bestätigt, ohne
uns darum an dieser, gleichsam nach innen hin gefesteten, irre zu machen,
so sind wir von der Wahrheit gewisser letzter Allgemeinheiten und Maximen
durchdrungen und bleiben es, auch wenn die Einzelheiten, auf die sie
eigentlich Anwendung fordern, sich ihrer Gesetzgebung zu entziehen
scheinen.
Ich führe zwei Beispiele an.
Durch die ganze Entwicklung der Philosophie zieht sich
das pantheistische Motiv; immer wieder taucht die Überzeugung auf, dass alle Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit des Daseins sein wahres Wesen
nicht beträfen; dadurch, dass die Welt nicht dem göttlichen Sein gegenübersteht,
sondern unmittelbar sein Leben lebt oder Gott das Leben der Welt –
dadurch werden alle Teile und alle Augenblicke der Wirklichkeit für den
tieferen, in die Substanz eindringenden Blick zu einer unterschiedslosen
Einheit des Wesens und des Wertes.
Dieser Gedanke, alle Einzelheiten übergreifend und
ihren Aspekt von sich aus bestimmend, ist offenbar die philosophische
Formung eines Gefühlselementes, das der menschlichen Seele allenthalben,
in den verschiedensten Maßen und Wendungen, inne wohnt, in manchen
philosophischen Geistern aber zum Alleinherrscher über das Weltbild
geworden ist.
Man mag nun von dieser All-Einheit und Wesensidentität der
Dinge noch so innig überzeugt sein - mit ihrer Anwendung auf alle
Einzelheiten der Erfahrung dürfte man dennoch scheitern.
Xenophanes,
einer der ersten Verkünder der pantheistischen Lehre, versichert
freilich: »wohin ich auch meinen Geist schweifen lasse, alles löst sich
mir in eine Einheit auf«; allein in Wirklichkeit reicht dieser Gedanke
doch nicht aus der abstrakten Höhe seiner Geltung in die Niederungen der
Erscheinung hinunter.
Sokrates und das Tintenfass, das vor mir steht, den
preußischen Staat und einen Moskito in den indischen Dschungeln wirklich
als ein metaphysisches Eines und Dasselbe zu denken, wird uns kaum
gelingen.
Nun wird man freilich einwenden: die pantheistische
Vereinheitlichung solle gar nicht für zwei beliebig
herausgegriffene Dinge, sondern nur für alle Dinge gelten, jenem
Allgemeinen korrespondiere eben die Totalität der Einzelheiten,
aber nicht irgendwelche Einzelheiten für sich - ungefähr, wie zwar alle
Farben des Regenbogens zusammen das weiße Licht ergeben, aber nicht jedes
willkürlich gewählte Paar von ihnen.
Allein, wenn nun wirklich nur die Gesamtheit der Dinge
als solche der Spielraum jener göttlichen Einheit ist - so ist das ja
gerade ein Sinn oder Wert jener Gesamtheit, von dem wir durchdrungen sind,
während uns die Unmöglichkeit entgegenstarrt, diesen Sinn und Wert auf
die Einzelheiten anzuwenden, die sich in jener Allheit zusammenfassen.
Indem es unserm Geist zwar beschieden ist, das Einssein in Gott für alle
Dinge denken zu können, aber nicht für die einzelnen - ist der
Unterschied der Distanzen gesetzt; die philosophische Allgemeinheit hat
eine Eigengesetzlichkeit und gilt nicht mehr für die aus andrem Abstand
gesehenen Einzelheiten, die sie doch, als Allgemeinheit, gerade
einzuschließen schien.
Ebenso verhält es sich mit der dem Pantheismus sehr
entgegengesetzten Überzeugung, dass die Welt, von der der Mensch
überhaupt sprechen kann, nur als seine Vorstellung existiert.
Wie sollte das Bewusstsein aus sich herauslangen, um
die Dinge, wie sie an sich und für sich sind, in sich hineinzuziehen? Es
kann immer nur von seinem eignen Inhalte erfüllt sein, und was es
vorstellen soll, kann immer nur von ihm selbst, durch den Prozess des
Vorstellens, hervorgebracht sein.
So überzeugt man hiervon sein mag, so dürfte es doch
nicht gut angängig sein, diese rein subjektive Produktion angesichts der
einzelnen, unwiderstehlich sich aufdrängenden, dem eignen Ich absolut
fremden Erscheinung ernsthaft zu realisieren.
In der Sphäre philosophischer Allgemeinheit hat jene
Reduktion des für uns überhaupt bestehenden Daseins auf das erzeugende
Ich das Cachet logischer Unentrinnbarkeit, eines unmittelbar
einleuchtenden Axioms, das die Gesamtheit unsrer Welt von einem
beherrschenden Zentrum aus zusammenhält.
Blicken wir aber auf den Sternhimmel und auf die
grauenhafte Gewalt unsrer Schicksale, auf das Gewimmel der Mikroorganismen
und auf die Zufälligkeit und gleichzeitige Unwiderstehlichkeit, mit der
das Leben jeder Stunde uns seine Bilder einprägt - so hat der Gedanke:
dies alles wäre von dem aufnehmenden Subjekt selbst erzeugt, etwas
unüberwindlich Paradoxes.
Er hat sozusagen eine Wahrheit für sich und lässt sie
nicht für diejenigen Einzelheiten verwendbar und überzeugend werden, aus
denen die von geringerer Distanz her gesehene Welt besteht.
Das Paradoxe
aller großen philosophischen Weltbegriffe besteht darin, dass sie eine
absolut allgemeine Behauptung aussprechen, der sich das Besondere, logisch
von ihnen Umfasste, nicht fügen will, und dass wir ihnen dennoch einen
Wahrheitswert nicht absprechen können, wie wir es doch sonst vorgeblichen
Allgemeinheiten gegenüber tun, sobald sie sich nicht an dem Einzelnen
beweisen, dessen Allgemeines sie eben sind.
Daran markiert sich die
Sonderart der philosophischen Allgemeinheit gegenüber der sonst in der
Wissenschaft, der Logik, der Praxis gültigen: die Allgemeinheit wird hier
nicht von den Dingen her gewonnen, sondern ist ein über die Gesamtheit
der Dinge hin reflektierender Ausdruck für die Art, wie sich je einer der
großen geistigen Typen dem Eindruck von Leben und Welt gegenüber
verhält: nicht um eine Allgemeinheit der singulär betrachteten Dinge
handelt es sich, sondern um eine Allgemeinheit einer
individuell-geistigen, aber dabei typischen Reaktion auf sie.
Da dies aber nun in einer verstandes- und
begriffsmäßigen Weise objektiviert werden muss (im Unterschiede etwa
gegen den in gleicher Weise angeregten Künstler oder religiös
produktiven Menschen), so kann es nur durch die Heraushebung und
Verabsolutierung eines einzelnen, einseitigen Begriffes geschehen, der
jenes Verhalten eben in die Sprache der objektiven Vorstellungen
übersetzt.
Durch diese Einseitigkeit, in deren Form sich nun
dennoch eine zentrale, prinzipiell der ganzen Welt offene Wesensart
ausdrückt, entsteht jener eigentümliche Widerspruch zwischen der
Allgemeinheit der metaphysischen Behauptungen und der Unfähigkeit, sie am
Einzelnen zu realisieren.
Denn es scheint, als ob die sachliche, aus der
größten Nähe betrachtete Einzelheit immer der Treffpunkt aller
möglichen Ideen und Prinzipien wäre.
Sehen wir ein isoliertes Stück des
Daseins an, so finden wir in ihm fragmentarische Verwirklichungen,
angedeutete Gleichzeitigkeiten der allerentgegengesetztesten Grundbegriffe
- es ist Einheit und Vielheit, ist Aktivität und Leiden, ist Sein und
Werden, ist irgendwie absolut und zugleich irgendwie relativ, es zeigt die
Spur des Zusammenhanges mit dem schöpferischen Ganzen des Kosmos oder der
Göttlichkeit, aber ebenso die Spur davon, dass unsre menschliche
Auffassung ihm seine Bestimmungen geliehen hat.
In diesem Nahverhältnis zu den Dingen scheint ihr Bild
noch alle metaphysischen Wirklichkeiten wie in Keimen oder undifferenziert
einzuschließen und erst davon zurücktretend gewinnen wir ein von einem
Gesichtspunkt dominiertes Bild, wobei die Wahl jenes Gesichtspunktes
unvermeidlich von der mitgebrachten Geistesart abhängt; und wobei nun
ebenso unvermeidlich die so entstandene einheitliche Überzeugung von der
Beschaffenheit des Seins keine Anwendung auf die in der Nahbetrachtung
hervortretenden Einzelheiten verträgt.
So erklärt sich die Struktur der metaphysischen
Allgemeinheiten: nicht für die Besonderheiten zu gelten, als deren
Allgemeines sie sich dennoch darbieten.
Auf der Grundlage dieser prinzipiellen Einordnung der
Philosophie in den Zusammenhang unsrer Geisteshaltung überhaupt trete ich
nun in die Erörterung zweier Begriffe ein, die sich, durch die ganze
Geschichte der Philosophie hindurch, als Zentralpunkte der
Vereinheitlichung des Weltbildes, als umfassendste Ausdrücke der
geistigen Reaktion auf dessen Gesamtheit gezeigt haben: auf das Sein und
das Werden.
Georg Simmel: Hauptprobleme
der Philosophie
Walter de Gruyter, Berlin/Leipzig 1927
(6.Aufl.)
Einleitung
1.
Kapitel: Vom Wesen der Philosophie
2.
Kapitel: Vom Sein und Werden
3.
Kapitel: Vom Subjekt und Objekt
4.
Kapitel: Von den idealen Forderungen
|