Georg Simmel: Probleme der
Geschichtsphilosophie
Eine erkenntnistheoretische Studie
Duncker & Humblot, Leipzig 1892
3. Kapitel:
Vom Sinn der Geschichte
»Du kommst nicht in's Ideenland!«
So bin ich doch am Ufer bekannt.
Wer die Inseln nicht zu erobern glaubt,
Dem ist Ankerwerfen doch wohl erlaubt.
Goethe
|
Inhalt
Erkenntnistheoretische Verschiedenheit der Fragen nach den Gesetzen und
nach dem Sinn der Geschichte Kategorien des letzteren Problems
Verhältnis zur exakten Forschung
Voraussetzung dieser über die Bedeutung ihrer Objekte
Bestimmung der Geschichtsforschung durch metaphysische und subjektive
Voraussetzungen
Zusammenfassung der Geschichte in Hauptbegriffen
Struktur der Geschichtsmetaphysischen Fragen. Beispiel: der Fortschritt
in der Geschichte
Erkenntnistheoretische Stellung der Geschichtsmetaphysik
Geistige Prinzipien in der Geschichte
Erklärungskraft derselben
Rechtsgrund der Spekulation
Zusammenfassung
Eine leichtbegreifliche und schwer vermeidliche Verwechslung lässt in
geschichtsphilosophischen Betrachtungen die Frage nach den Gesetzen des
historischen Geschehens mit der nach dem Sinn und der Bedeutung desselben
verschmelzen.
Und wie überall, wo das Nicht-Zusammengehörige zu äusserlicher Einheit
gebracht wird, folgt die Vereinigung sozusagen »der ärgeren Hand«, d.h. das
schlechtere Recht des einen Teils deterioriert den anderen, während dessen
besseres Recht sich jenem nicht mitteilt; und zwar findet dies wechselseitig
da statt, wo jedes von beiden Elementen verschiedenwertige Momente in sich
enthält.
Die historischen Gesetze können zwar eine Annäherung an die Wahrheit
enthalten, sie liegen auf dem Wege, auf dem es prinzipiell möglich ist, zu
real beweisbaren Kräften des geschichtlichen Geschehens zu kommen; aber von
diesem Ziele sind sie noch unberechenbar weit entfernt, und jedes einzelne von
ihnen, als wirkliches Gesetz behauptet, ist direkt widerlegbar.
Der Sinn der Geschichte aber verhält sich erkenntnistheoretisch umgekehrt.
Seine Ausdeutungen sind nicht widerlegbar, weil sie sich überhaupt
jenseits der Sphäre der Beweisbarkeit stellen; worauf sie hinweisen, das
liegt hinter den Erscheinungen und besitzt die Festigkeit des Glaubens, den
man nur durch Berufung auf Vorgänge und Prinzipien erschüttern kann, deren
Beweiskraft er gerade leugnet.
Diese Versuche, das Ganze der Geschichte zu deuten, haben von vornherein
ein unangreifbares Gebiet inne, eines, auf dem die Philosophie nicht nur
Übergangsstadium ist und von exakterer Erkenntnis abgelöst zu werden
fürchten oder hoffen muss.
Dafür aber und eben deshalb entbehren sie die Möglichkeit, jemals exakte
Erkenntnis zu werden.
Sie sind in diesem Sinne absolut unvollkommen, während die historischen
Gesetze es nur relativ sind.
Auf dem Gebiet, auf dem jene einmal stehen, können sie jetzt schon eine
gewisse Vollkommenheit erreichen, aber das Gebiet selbst liegt ein für
allemal ausserhalb der Grenzen eigentlicher Wissenschaft; die historischen
Gesetze dagegen liegen innerhalb dieser, sind aber ganz unvollkommene
Vorstadien der in ihnen erreichbaren Ziele.
Indem die Geschichtsphilosophie die Bemühungen nach beiden Seiten hin
durcheinander gehen liess, erntete sie den ungeschiedenen Tadel für die
absolute Unvollkommenheit der Versuche, den Sinn der Geschichte zu deuten und
für die relative Unvollkommenheit der historischen Gesetze.
Ich habe die hervorgehobene Scheidung zwischen beiden jetzt näher zu
begründen.
Wenn die gesamten Tatsachen der Geschichte uns lückenlos und irrtumslos
bekannt und wenn dazu uns alle Gesetze aufgedeckt wären, die jedes
körperliche Atom und jede Vorstellung in ihrem Verhältnis zu allen anderen
beherrschten, so würden doch offenbar eine Reihe von Problemen, die man der
Geschichte gegenüber stellen kann, damit noch nicht ohne weiteres erledigt
sein.
Es bliebe noch immer eine offene Frage, ob die Geschichte das Werk eines
göttlichen lenkenden Geistes sei oder die Kräfte ihrer Entwicklung aus sich
allein gewönne; welches der Zweck sei, den dieser Geist oder ihr immanenter
Lauf, der nicht über sich hinauswiese, verfolgte, und ob es überhaupt einen
solchen Zweck gebe oder nicht; ob diese ganze Bewegung als ein Fortschritt zu
fassen sei; wo denn der Wert all dieses Ringens und der seiner Erkenntnis
stecke; ob die Summe der historischen Bewegungen eine in sich geschlossene,
für sich befriedigende Einheit darstelle, oder ob einerseits jedes Stadium
und jedes kleinste Element derselben Sinn und Bedeutung für sich habe oder
andererseits ihre Gesamtheit nur im Zusammenschluss mit den kosmischen
Bewegungen überhaupt ein sinnvolles Ganze ergebe.
- Alles dies sind Angelegenheiten, für die die Erkenntnis der historischen
Tatsächlichkeit wohl das Material des Fragens, aber nicht dessen Lösung
darbietet.
Die Fragen dieser Art, die sich den sonst als bindend anerkannten
wissenschaftlichen Beweismethoden entziehen, ordnen sich, so weit ich sehe, in
zwei Kategorien, deren letzte sich wieder aus dreien zusammensetzt.
Man kann einerseits nach derjenigen absoluten Realität fragen, die hinter
aller Geschichte steht, wie überhaupt das Ding-an-sich hinter den
Erscheinungen; es handelt sich dabei um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit
eines Seins, das wenigstens begrifflich ausserhalb der Erscheinungsreihe
steht; ob es nachher in pantheistischer Einheit mit dieser gedacht, oder
theistisch ihr gegenüber gestellt, oder materialistisch geleugnet wird, ist
eine mehr materielle Angelegenheit; formell wird diese Reihe metaphysischer
Annahmen dadurch bezeichnet, dass sie über ein Verhältnis aussagen, welches
zwischen dem Ganzen der Geschichte und einem ihm irgendwie jenseitigen Prinzip
besteht.
Zweitens aber kann nun das Spezielle und Einzelne der historischen
Ereignisse nach Kategorien untersucht werden, die subjektiverweise an sie
herangebracht werden; hier handelt es sich um Beleuchtungen, die den
immanenten Inhalt der Geschichte treffen, aber nur aus der Reflexion des
beobachtenden Geistes und gleichfalls ohne die Tatsächlichkeit jenes Inhalts
irgendwie zu modifizieren.
Und zwar sind dies dreierlei Gattungen von Kategorien.
Erstens kann nach den allgemeinen Begriffen gefragt werden, denen die
geschichtlichen Ereignisse sich unterordnen; ob wir sie überhaupt als ein
innerlich verbundenes Ganze fassen oder ob wir uns begnügen müssen, die
Teile in der Hand zu haben; ob wir sie vom Gesichtspunkt rein individueller
Wirksamkeiten oder als die Entwicklung eines ursprünglich einheitlichen
Keimes begreifen sollen usw.
Alles dies lässt den Verlauf der Ereignisse und seine einzelnen Gesetze
ungestört, so dass die verschiedensten Beantwortungen dieser Fragen und
Qualifizierungen ihres Inhaltes bei völlig identischer historischer
Tatsächlichkeit geschehen können.
Es sind Hypothesen, welche nicht hinter den Verlauf derselben greifen, wie
die Annahme seiner göttlichen Lenkung es tut, sondern ihm immanent sind, aber
ohne ihn zu alterieren, gleichsam wie der Lichtäther ponderable Körper
durchflutet, ohne irgend eine Ablenkung der Bewegungen zu veranlassen, die an
ihnen, auch ohne dass er da wäre, vorgehen würden.
So verhält es sich nun auch zweitens mit der Erörterung des Zweckes der
Geschichte.
Die Kausalreihe, die sie uns bietet, können wir in eine teleologische
verwandeln, ohne dass jene sich ihrem Inhalte nach irgendwie änderte.
Die realen Folgen, mit denen ein Zustand sich an den anderen schliesst,
bleiben bestehen, auch wenn wir irgend einen derselben als den Zweck ansehen,
um dessentwillen die vorhergehenden stattfanden.
Wenn uns z.B. die Ausbildung der Individualität als der Endzweck alles
geschichtlichen Wesens gilt, so ist doch das Mass seiner Erreichtheit oder
Unerreichtheit nur dasjenige, welches wir erfahrungsmässig erreicht sehen,
und die realen Kräfte, welche es herbeiführen, werden weder grösser, noch
kleiner, noch anders gerichtet, wenn wir sie zugleich als Mittel ansehen,
gerade so wenig wie es weiterhin einen Unterschied für die Feststellung der
Tatsachen macht, ob wir den einmal angenommenen Zweck als einen innerlich und
gewissermassen von selbst sich verwirklichenden oder einen durch göttliche
Macht gesetzten ansehen.
Jeder Zweck kann sich doch nur durch einen Mechanismus der Mittel
realisieren; ausschliesslich die Beschreibung dieses ist allein Sache der
Geschichtswissenschaft.
Jene Antizipation eines Endstadiums, jene Beziehung jedes Vorangehenden auf
dieses unter Überspringung aller Zwischenglieder, wie es in der
teleologischen Betrachtung liegt, liegt eben nur in der Reflexion, die zu den
Tatsachen hinzutritt.
Wird doch auch die Erkenntnis der unterpsychischen Natur in ihrem rein
mechanischen Charakter nicht notwendig dadurch alteriert, dass wir ihr Zwecke
unterlegen.
Wenn wir die mechanischen Mittel der organischen Entwicklung festzustellen
suchen, zu deren Erforschung der Darwinismus wenigstens die erste Handhabe
bietet, so können wir ohne weiteres diesen ganzen Ablauf als Apparat oder
Resultat einer göttlichen Zwecksetzung ansehen, ohne jedes einzelne Glied
anderswo herzuleiten, als aus den Spannkräften des vorherigen, die sich nach
den Gesetzen des Mechanismus zu jenem entwickelten.
Und selbst wo praktische Zwecke die Erkenntnis überhaupt provozieren, wie
in den technischen Wissenschaften, da ist doch der Umstand, dass wir deren
Ergebnisse praktisch benutzen, ein superadditum zu diesen, die an und für
sich nur einfache Kausalprozesse enthalten; sie zeigen, dass der Effekt b
eintritt, wenn die Bedingung a gegeben ist, und weiter nichts.
Dass wir b wollen, dass es ein Zweck ist, mag als psychologischer Oberton
mit dem ganzen Erkenntnisprozess mitschweben, allein dessen Ergebnisse werden
sachlich dadurch keine anderen, als wenn man sie ganz ohne diesen
Gesichtspunkt des Zweckes gesucht hätte.
Und so bietet die Geschichte genau den gleichen Verlauf und die gleiche
Gesetzmässigkeit, gleichviel, welches ihrer Momente man als dasjenige betonen
mag, um dessentwillen alle anderen vorhanden sind.
Für die historische Forschung ist es gleichviel, ob man die
Individualisierung der Geister oder ihre Egalisierung, ob man die Herrschaft
Gottes oder des Antichrists, ob man die vernunftmässigen Gestaltungen oder
die willensmässigen für die Ziele hält, ohne welche jene Kräfte überhaupt
nicht wirken würden, deren Beschreibung, als wären sie selbständige, den
Inhalt der exakten Forschung bildet.
Dies fällt trotz mancher Verwandtschaft, nicht mit einer dritten
Kategorisierung zusammen, die der subjektive Geist an dem historischen Inhalt
vornimmt, ohne dessen Tatsächlichkeit abzulenken.
Im allgemeinen nämlich werden die Zwecke, denen man den Weltlauf zustreben
glaubt, auch als Werte erscheinen; ganz abgesehen davon, dass die Geschichte
diese Zustände wirklich herbeiführt, werden sie als wertvolle empfunden, als
solche, die herbeigeführt werden sollen; sie werden nicht nur realisiert,
sondern es lohnt sich auch, sie zu realisieren.
Trotzdem also die Bestimmung dessen, was den Wert der Geschichte ausmacht,
meistens mit dem zusammenfällt, was man als ihren Zweck bestimmt, so ist
diese Verbindung doch keineswegs erforderlich.
Man kann sehr wohl annehmen, dass der objektive Weltlauf sich zu irgend
einem Zwecke aufgipfle, den eine immanente oder transzendente Macht ihm
vorgesetzt hat, und kann dennoch nicht aus diesem Zweck, sondern aus irgend
einer Station des Weges zu ihr das Gefühl eines Wertes gewinnen.
An unzählige Punkte der Geschichte mag sich dieses Gefühl heften,
unzählige Male möge es uns sagen, dass um dieser Tat, um dieser Empfindung
willen, von der wir hören, es sich wohl lohnte, den ganzen Apparat der
Geschichte, mit all seinen Leiden und negativen Werten in Bewegung zu setzen -
während wir zugleich überzeugt sind, dass nicht um dieser Momente willen,
sondern zu ganz anderen, zukünftigen oder umfassenderen Zwecken, der
Mechanismus der historischen Mittel arbeitet.
Wir können ferner sehr wohl eine objektive Zweckmässigkeit des
geschichtlichen Verlaufs anerkennen und ihm dabei doch den Wert überhaupt
absprechen, etwa mit dem Ausdruck, dass die Welt zwar relativ so gut und
zweckmässig wie möglich, absolut genommen aber äusserst schlecht
eingerichtet ist und unter dem Nullpunkt des Wertes bleibt.
Man kann endlich jede Zweckmässigkeit der historischen Dinge leugnen und
es dennoch als wertvoll empfinden, dass dieses oder jenes, oder ihre
Gesamtheit existiert.
Kurz, die Wertsetzung hat zu der Zwecksetzung ein zufälliges Verhältnis.
Ist die letztere schon eine subjektive Kategorie, die zu der
Tatsächlichkeit des Geschehens hinzugesetzt wird, so enthält nur die erstere
gewissermassen eine Subjektivität höheren Grades; ihr gegenüber erscheint
der teleologische Verlauf der Geschichte als etwas Objektives.
Es wird bei dieser Gelegenheit recht klar, dass zwischen den Bestandteilen
unseres Weltbildes, die wir die objektiven, und denen, die wir die subjektiven
nennen, kein absoluter Unterschied ist, sondern, dass sich vermittelnde Stufen
zwischen sie schieben.
Es gibt Grade der Subjektivität des Erkennens -und jeder Grad derselben
ist zugleich ein solcher der Objektivität, der jenem umgekehrt entspricht -,
aber diese sind offenbar nicht so zu verstehen, dass der fragliche Gedanke
eine Aneinanderfügung eines gewissen subjektiven und eines objektiven
Bestandteiles darstellte; sondern er ist ganz einheitlich und erst die
nachträgliche Beurteilung stellt ihn zwischen die Kategorien subjektiv und
objektiv, deren jeder er in irgend welchem Masse genügt.
Die Vorstellung, dass der Verlauf der Geschichte einem gewissen Ziele
zustrebe; dass dieses Ziel durch eine uns geheimnisvolle, nur ungefähr nach
der Analogie menschlicher Zwecksetzung vorstellbare Wirkung der Mechanismus
jenes Verlaufs entfessele, dessen Beschreibung Sache der
Geschichtswissenschaft ist, - das ist zwar eine Zutat des Denkens zu der
letzteren, die ihr gegenüber subjektiv erscheint, dennoch aber auf ihren
Resultaten ruht und auf diese hin als annehmbar oder unwahrscheinlich
beurteilt wird.
Der Gesichtspunkt des Zweckes macht zwar etwas aus der Geschichte, was in
ihr nicht liegt, darf aber dennoch nicht willkürlich mit dieser umspringen,
sondern bleibt, nachdem der Endzweck einmal gesetzt ist, für dessen Beweis
und Durchführung an die Tatsachen gebunden.
Die teleologische Betrachtung ist sozusagen eine Funktion der kausalen.
Sie steht erkenntnistheoretisch zwischen dem objektiven und subjektiven
Verhalten des Denkens in der Kategorie des Plausiblen, und die reine
Subjektivität ihres Grundgedankens hat wenigstens soweit objektive Färbung,
dass er auf den realen Verlauf der Dinge projiziert werden kann.
1)
Der Gesichtspunkt des Wertes dagegen nähert sich vielmehr einer absoluten
Subjektivität.
Er ist der rein persönliche Reflex des äusseren Geschehens, ausschliesslich durch die Seelenverfassung bestimmt, auf die jenes trifft,
eine Reflexion des Gefühls, wie die anderen Ausführungen des Sinnes der
Geschichte Reflexionen des Verstandes sind.
Die Tatsache, dass etwas und dieses Bestimmte als Wert empfunden wird, ist
das letzte und selbst nicht weiter begründbare Fundament alles praktischen
Lebens und aller ethischen Beurteilung.
Auch wenn der wirtschaftliche Wert eines Gegenstandes durch Brauchbarkeit,
Seltenheit, Arbeitsquantum, Widerstand usw. festgelegt wird, so sind dies
einerseits nur äussere Vorbedingungen, die bis an die Schwelle des Wertes
führen; er selbst bleibt als ein mit dem Gegenstand verbundenes Gefühl sui
generis bestehen und strahlt eher umgekehrt von dem Gegenstand auf jene
Bedingungen zurück, als dass er aus ihnen erklärbar wäre.
Andererseits sind dieselben nur Mittel der Quantitätsbestimmung des
Wertes, während die qualitative Tatsache, dass der Gegenstand überhaupt Wert
besitzt, unabhängig von ihnen gegeben sein muss.
Für den sittlichen Wert ist diese Unableitbarkeit noch einleuchtender.
Wo wir nachweisen können, dass eine bestimmte Tatsache sittlich wertvoll
ist, da ist das nur so möglich, dass sie als Mittel zu einer anderen
nachgewiesen wird, die ihrerseits wertvoll ist; jeder nachgewiesene Wert ist
ein abgeleiteter; der ursprüngliche, von dem jeder andere diese Qualität
entlehnt, kann nur empfunden werden und ist nach Kants Ausdruck »gleichsam
ein Faktum«.
Es handelt sich bei diesem Teile der Geschichtsphilosophie um den höchsten
Punkt, dem die Geschichte zustreben würde, wenn sie nicht nach mechanischen
Gesetzen, auch nicht nach irgend sonstigen übermenschlichen Absichten,
sondern ausschliesslich nach dem Gesichtspunkt höchst möglicher
Wertentwicklung gelenkt würde - wobei es natürlich unbenommen bleibt, diesen
Gesichtspunkt nachträglich in Übereinstimmung mit den beiden anderen zu
befinden.
Welche wissenschaftliche Berechtigung besitzt nun dieser Umkreis von Fragen
nach dem absoluten Sein, dessen Erscheinung die Geschichte ist, nach den
Begriffen, die sie als Ganzes zusammenhalten, nach den Zwecken und Werten in
ihr? Die Beantwortung hiervon hat sich eigentlich nur in der Defensive zu
halten.
Denn dass ein Interesse an all diesen Problemen wenigstens als
psychologische Tatsache vorhanden ist, dass die Versuche ihrer Lösung einem
positiven Bedürfnis entgegenkommen, wird man nicht bestreiten.
Die Erkenntniskritik wird also ihnen gegenüber wesentlich nur Einwürfe zu
prüfen haben, die, soviel ich sehe, von zweierlei Art sind.
Man kann einerseits behaupten, dass die Anerkennung solcher Fragen die
realistische Erkenntnis ablenke oder fälsche, andererseits, dass, wenn sie
dies auch nicht tue, doch die Fragen selbst entweder leer oder in sich
widerspruchsvoll sind oder wegen der Unmöglichkeit einer exakten Beantwortung
kein wissenschaftliches Bürgerrecht besässen.
Die erstere Besorgnis scheint nun nach unseren obigen Ausmachungen über
dies Verhältnis der exakten zur philosophischen Erkenntnis hinfällig.
So wenig die physiologische Forschung durch die Meinungen über die Natur
der psychischen Prozesse alteriert wird, zu denen sie das körperliche
Korrelat erforscht, so wenig sogar diejenigen über das metaphysische Wesen
des Körperlichen selbst ihren Weg kreuzen - so wenig ist von den Deutungen
des Sinnes der Geschichte die Erforschung ihres realen Verlaufs in einem
anderen Sinn abhängig, als in dem gewisser allgemeiner Direktiven, den wir
nachher zu behandeln haben.
Eine Abhängigkeit dem Inhalte nach ist um so eher vermeidlich, je reiner
jene metaphysischen Bemühungen als besonderes, nach eigenem Rechte
verwaltetes Gebiet hingestellt werden.
Die exakte Forschung hat sich nämlich nicht immer von einer Vermischung
mit metaphysischen Annahmen der bezeichneten Art fern gehalten, die
Geschichtsphilosophie andererseits nicht immer darauf verzichtet, Tatsachen
aus sich heraus konstruieren zu wollen.
So war ja auch die Naturwissenschaft lange genug von transzendenten
Annahmen durchsetzt, die Philosophie anspruchsvoll genug, den Inhalt der
Wirklichkeit ersinnen zu wollen.
Dort wie hier entwickelt fortschreitende Differenzierung die Elemente zu
reinerer Sonderung und jedes von beiden kann nur gewinnen, wenn dem anderen
ein Umkreis gegeben wird, den es zu erfüllen berechtigt, aber auch
innezuhalten verpflichtet ist.
Dieser Differenzierungsprozess verhindert natürlich nicht, dass die
Elemente, nachdem ihre verschiedene Richtung und ihr Recht auf gesonderte
Behandlung anerkannt und dadurch jede illegitime Vermischung und
Selbsttäuschung abgeschnitten ist, wieder in gegenseitige Beziehungen treten.
Dies scheint mir namentlich in einer Hinsicht beachtenswert.
Wenn es selbst gelänge, aus dem Inhalt des geschichtlichen Forschens
jegliche überempirische Voraussetzung zu entfernen, wenn sich seine einzelnen
Glieder ohne jede metaphysische Verbindung an einander schlössen, so würde
dennoch die blosse Tatsache, dass dieses Ganze erforschenswert ist, eine
gewisse Bedeutung desselben involvieren, die zu seiner blossen
Tatsächlichkeit und Kausalität hinzutritt.
Damit überhaupt ein Bewusstsein für das Ganze aufgewendet werde, bedarf
es eines psychologischen Baugrundes; und es ist nicht schwer zu zeigen, dass
dieser nicht nur die formale Tatsache des Forschens überhaupt bestimmt,
sondern auch über den Inhalt desselben ganz bestimmtes voraussetzen lässt,
so wenig er dessen Einzelheiten alterieren mag.
Man könnte nämlich fragen, ob das Erforschen eines Objekts denn nicht
sinn- und bedeutungslos wäre, wenn das Objekt des Erforschens nicht Sinn und
Bedeutung hätte.
Allein die Erkenntnis eines Gegenstandes, so liesse sich erwidern, das heisst unsere intellektuelle Reaktion auf seine Existenz, kann sehr wohl Sinn
und Interesse haben, während er an und für sich und sozusagen als Subjekt
beides nicht besitzt.
Die Erkenntnis der äusseren Natur scheint dies unmittelbar zu beweisen.
Den zweckmässigen Sinn ihrer Erforschung projizieren wir doch nicht in sie
hinein, sie ist ein mechanisches Getriebe, in dem objektiv durchaus nichts
liegt, was man Wert oder Bedeutung nennen könnte.
Und so könnte man sich von der Geschichte denken, dass man den Sinn, den
man in ihrer Erforschung findet, nicht in ihrem Inhalte selbst suchen dürfe.
Allein ich glaube, dass dies in beiden Fällen nur sehr beschränkt gilt.
Es gilt überall da, wo Utilitätsgründe die Erkenntnis bestimmen.
Was der Gegenstand , der oder dessen Erkenntnis mir zu einem praktischen
Zwecke dienen soll, an und für sich ist, ist mir insofern völlig
gleichgültig; das Interessante an ihm ist nicht er selbst, sondern nur der
Zustand, den er in mir oder meinen Angelegenheiten bewirkt.
Wo aber um des wissenschaftlichen, idealen Interesses willen erkannt wird,
da mag der einzelne Gegenstand vielleicht kein Bewusstsein seines besonderen
objektiven Sinnes erwecken, aber er würde dennoch nicht Gegenstand des
Forschens werden, wenn nicht das Ganze, dem er angehört, als an sich
irgendwie bedeutungsvoll vorgestellt würde und auf ihn einen Sinn und Wert
ausstrahlte, der die generelle Bedingung der Erkenntnismühe bildet.
Gewiss erforschen wir das Gesetz, nach dem sich der einzelne natürliche
oder geschichtliche Gegenstand verhält, nicht wegen eines besonderen Sinnes,
den dieser letztere über seine erscheinende Wirklichkeit hinaus enthielte;
allein wir würden nach dieser letzteren überhaupt nicht fragen, wenn sie
nicht ein Teil des Natur- oder Weltganzen wäre, dem als Ganzen wir doch Sinn,
Wert, Bedeutung zuschreiben.
Diese ganz dunkle unbewusste Vorbedingung mag im einzelnen gerade deshalb
keine besondere Betonung gewinnen, weil sie jedem Einzelnen gleichmässig zu
Grunde liegt.
Gerade je reiner und objektiver sich in unserem Vorstellen die Dinge
abbilden sollen, desto weniger wäre der Sinn davon zu verstehen, dass man die
ablaufende Reihe der Begebenheiten noch einmal im Spiegel des Intellekts
ablaufen lässt - wenn dieser Reihe nicht eine Bedeutung innewohnte, die sich
auch auf ihre Nachbildung überträgt, und um so mehr überträgt, je genauer
und objektiver das Urbild sich in dem Abbild wiederholt.
Hier, wie im sittlichen Leben, gewinnt indes die singuläre Aufgabe leicht
ein so persönliches Interesse, dass sie nur deswegen, nur wegen der Wirkung,
die sie im Subjekt auslöst, unternommen und ihr objektives Wesen in jeder
anderen als dieser Beziehung gleichgültig scheint; so getrennt wie die
Vorstellung und das Ding an sich, erscheint hier unser Interesse an der Sache
und ihr für sich bestehendes Wesen und Beziehungen; allein tieferes
Eindringen zeigt doch auch im ethischen Leben, dass es der Zusammenhang mit
dem grossen Ganzen, die Bedeutung der Handlung für eine ausser uns gelegene
ethische Ordnung ist, von der die Einzelheit ihren oft nur
persönlich-subjektiv erscheinenden Wert zu Lehen trägt.
Statt diese Voraussetzung des wissenschaftlichen Ganzen also naiv
einzuschwärzen, ist es wohl besser, sie anzuerkennen und dadurch die Klärung
ihres Inhaltes und seine Beziehungen nach der logischen und psychologischen
Seite anzubahnen.
Es wäre dabei besonders im Auge zu behalten, dass die Vorstellung von der
Bedeutsamkeit der Geschichte überhaupt erst die Folge eines hochgetriebenen
Abstraktionsprozesses sein kann.
Ursprünglich kann es nur eine ganz bestimmte Bedeutung, ein ganz
spezieller Sinn hinter den äusserlichen Tatsachen der Geschichte gewesen
sein, der den Reiz zu ihrer intellektuellen Wiederholung bildete;
patriotische, moralische, religiöse Transzendentalismen sind oft genug in die
Geschichte hineingeheimnisst worden, um zugleich ihr selbst und ihrer
Erforschung Sinn zu verleihen.
Darüber erst und als eine Abstraktion und Verdichtung davon erhebt sich
die feinere Empfindung, dass dieses Spiel der historischen Kräfte, diese
Entwicklungen nach aufwärts und abwärts, dieses Nebeneinander und
Nacheinander der Erscheinungen an und für sich eine Bedeutung berge, die
nicht aus einseitigen oder heterogenen Gedankenkreisen entlehnt werden müsste.
Wie sich das künstlerische Wirken um der Bedeutung des Gegenstandes selbst
zur Tendenzkunst verhält, so diese der Geschichte überhaupt verliehene
Bedeutsamkeit zu dem speziellen, sozusagen materiellen Sinn, um dessentwillen
ihre Erforschung in den genannten Beispielen unternommen wurde.
Wie aber auch jener rein sachliche und formale Reiz des Schönen schliesslich doch aus dem Appell an einen mit seiner
äusseren Erscheinung
erst mitschwebenden, in ihren Mechanismus nicht unmittelbar verflochtenen Sinn
quillt, so verhält es sich genau mit demjenigen, der, von der Natur oder der
Geschichte überhaupt ausstrahlend, dem einzelnen Problem das Recht des
Erfragtwerdens verleiht.
Und dies zeigt sich insbesondere an Erscheinungen, welche beweisen, dass
der Sinn der Geschichte doch kein ganz indifferenter Untergrund ist, über den
ihre Einzelheiten mit immer gleichem Verhältnis zu ihm hingleiten.
Wäre dies nämlich der Fall, so würde jedes Ereignis der Geschichte,
jeder Augenblick ihres Verlaufs, das gleiche Interesse beanspruchen und den
gleichen Anreiz erforscht zu werden entfalten.
Dies ist aber nicht der Fall, sondern wir treffen eine Auswahl dessen, was
wissenswürdig ist.
Während, rein objektiv genommen, die gleichen Kräfte durch jeden Punkt
des geschichtlichen Seins hindurchfluten, während tatsächlich jeder die
Bedingung eines jeden ist, folgt unser Erkenntnistrieb nicht der Gleichmässigkeit dieses realen Verhaltens.
Auch der exakten Forschung erscheint einiges wertvoll, anderes nicht; sie
betont oder vernachlässigt Punkte, aus deren blossen Kausalbeziehungen sich
ein solcher Wertunterschied nicht ergibt.2)
Dennoch wird dieser Unterschied zwischen Kern und Schale in das objektive
Verhalten der geschichtlichen Dinge hineinprojiziert.
Wenn jeder Berichterstatter und jeder Forscher nicht alles erzählt, was er
überhaupt weiss, sondern das Unbedeutende, Gleichgültige vor dem Wichtigen
verschweigt, so tut er dies in der Überzeugung, damit einen in den Objekten
selbst liegenden Unterschied nachzuzeichnen.
In der Verteilung des geschichtlichen Stoffes, in dem Tempo, das die
Erzählung bei den verschiedenen Abschnitten einschlägt, in der Stellung, die
dem einzelnen Ereignis auf der Skala zwischen dem Unwesentlichen und dem
Hauptsächlichen gegeben wird - in alledem zeigt es sich, dass die blosse
Kausalreihe des realen Geschehens für unser Vorstellen von einer anderen,
subintelligierten Reihe durchflochten wird, die jene nach Gesichtspunkten des
Sinnes und Wertes, der begrifflichen oder ethischen Bedeutung gliedert und
interpretiert.
Eine objektive Begründung für diese Schattierung der Betonungen scheint
indes darin zu liegen, dass einige Zustände und Ereignisse die positiven
Veranlassungen der wichtigsten Vorgänge sind, andere aber abseits dieser
stehen und in Wirkungen auslaufen, die mit jenen Hauptsachen nichts zu tun
haben.
Ist einmal irgend etwas als die Hauptsache oder als der eigentliche Sinn
der Geschichte angenommen, dann ist freilich die Differenz zwischen dem dazu
Wesentlichen und dem Gleichgültigen eine objektive.
Dass aber überhaupt jene Wertsetzung erfolgte und dass sie auf diesen
bestimmten Inhalt und keinen anderen fiel - das ist eine subjektive oder
metaphysische Zutat zu der historischen Wirklichkeit.
Es gibt keine realistische Geschichtsbetrachtung in dem Sinne, dass die
Betonung und Formgebung des Materials durch eine ihm jenseitige Idee von Sinn
und Bedeutung des Ganzen ausgeschlossen wäre; und man kann wohl in der
erkenntnistheoretischen Betrachtung diese Elemente trennen und jene Metaphysik
der Geschichte gesondert erörtern, aber aus der tatsächlichen Forschung kann
jede gegebene Gestaltung ihrer nur entfernt werden, um einer anderen Platz zu
machen.
Die Frage nach dem, was denn eigentlich in der Geschichte das Wichtige ist,
verliert ihre Bedeutung für das objektive Material derselben nicht durch die
Erkenntnis, dass sie nur subjektiv gestellt und subjektiv beantwortet wird; so
verlegt doch auch der Künstler die Betonung und Nuancierung des
Wirklichkeitsbildes, durch die er dasselbe überhaupt zum Kunstwerk gestaltet,
in die Natur hinein und glaubt ein Verhalten dieser selbst mit solchen Linien
zu zeichnen, von denen er vielleicht zugibt, dass sie anders als gerade so
gelegt werden können, die aber jedenfalls irgendwie gerichtet, in ihr selbst
ein Gegenbild finden müssten.
Ob man das Gewicht der historischen Forschung auf Urkundenpublikationen
oder auf zusammenfassende Darstellungen legt, ob auf Querschnitte durch
getrennte Erscheinungskomplexe oder auf Reihen, in denen sich ein
einheitlicher Keim entwickelt - dies sind keineswegs blosse Fragen der
Methoden, der Mittel und der Form; sondern indem sie dies sind, zeigen sie
zugleich bestimmte Meinungen und Gesinnungen über Wesen und Bedeutung der
historischen Tatsachen selbst, trotzdem sie deren materiellen Inhalt nicht
modifizieren.
Wie wir oben ersehen haben, dass es keine Metaphysik gibt, die nicht ihren
Inhalt irgendwie aus der Erfahrung Zöge, so gibt es keine historische
Empirie, deren Form - Form im weitesten Sinne -nicht auf metaphysische Momente
zurückginge.
Nur sind diese in bestimmten Kulturkreisen oder für bestimmte
Persönlichkeiten so selbstverständlich und wurzeln so fest in den sonstigen
und allgemeinen Voraussetzungen des praktischen und theoretischen Lebens
überhaupt, dass ihre Bedeutung für diese speziellen Probleme kein besonderes
Bewusstsein zu gewinnen pflegt.
Selbst diejenige Geschichtsauffassung, die sich gegen die Insinuation
rnetaphysischer Voraussetzungen am energischsten wehren dürfte, die
materialistische, kann dies nur vermöge einer Selbsttäuschung.
Zunächst ist die Deutung jeder geschichtlichen Bewegung als einer von
ökonomischen Interessengegensätzen hervorgerufenen eine Hypothese, die weit
unter die beobachtbare Oberfläche der Erscheinungen hinuntergeht.
Denn es handelt sich hier nicht nur um jene psychologische Interpretation
unseres ersten Kapitels, die unter die körperlichen Geschehnisse Bewusstseinsakte, Zwecke und Gedanken legt; sondern da das tatsächliche
Bewusstsein, das unseren Handlungen zum Grunde liegt, tausendfach ganz andere
als ökonomische Motive aufweist, so muss jene Lehre noch unter das Bewusstsein hinab zu seinen
unbewussten Grundlagen steigen.
Die Voraussetzung, dass alle historisch wirksamen Interessen nur eine
Umbildung oder Verkleidung der materiellen wären, die eine ewig unbeweisbare
ist, geht offenbar von einer Bewertung der materiellen Lebensfaktoren seitens
der so Behauptenden aus, die den exakt festgestellten Ereignissen - die sie
keineswegs zu fälschen braucht - einen Sinn unterlegt, welcher aus ihnen
selbst nicht abgelesen werden kann, aber ihre Auffassung und Betonung
bestimmt.
Und wäre es selbst nachweisbar, dass das ökonomische Interesse die
geheime oder offene Triebfeder aller geschichtlichen Aktionen ist, so würde
es noch immer eine direkt metaphysische Willkürlichkeit sein, an diesem
Punkte halt zu machen und Ihn für den letzterreichbaren zu erklären, der
seinerseits durch sich selbst verständlich, über den nicht weiter
hinauszufragen wäre.
Das Rätsel der Wertsetzung ist hiermit nicht mehr gelöst, wie mit jedem
anderen letztangenommenen Zweck.
In dem man darauf verzichtet, die sachlichen und seelischen Fäden zu
verfolgen, die sich zur Entstehung dieses einen Interesses zusammenfinden und
freilich zur Bildung jedes weiteren
Tatsachengewebes durch diesen Punkt hindurch müssen, verzichtet man auch
auf diejenige Nuancierung, Deutung und Anordnung der Tatsachen, die sich
vielleicht aus jenen tieferen Grundmotiven ergeben möchte.
Nicht nur also, indem man die den materiellen koordinierten, sondern auch
indem man die hinter - oder vor - ihnen liegenden Momente negiert und alle
unvermeidliche, apriorische Form der Geschichte von dem wirtschaftlichen
Gesichtspunkt bestimmen lässt, begeht man einen Dogmatismus, der dem des
theoretischen Materialismus vergleichbar ist.
Denn auch dieser ist Metaphysik, weil er die empirisch von der Materie
verschiedenen Erscheinungen auf sie rein hypothetisch zurückführt und ferner
die Materie selbst als das für sich verständliche letzte Prinzip
konstituiert, während sie keineswegs enträtselter ist, als die anderen
absoluten Wesen, die man dem Spiel der Erscheinungen zu Grunde gelegt hat.
Damit soll nicht eine abfällige Kritik der materialistischen
Geschichtsforschung gegeben, sondern ihr nur die erkenntnistheoretische
Ausnahmestellung genommen sein, in der sie sich von jeder metaphysischen
Affizierung frei glaubte.
Die metaphysischen Voraussetzungen mögen bei der einen
Geschichtsauffassung deutlicher hervortreten als bei einer anderen; fehlen
können sie bei keiner, die überhaupt Auffassung ist, und das ist jede von
Menschen für Menschen erforschte Geschichte.
Die allgemeinen Begriffe, mit denen man den Lauf der Weltgeschichte in
ihren grossen Zügen zu zeichnen pflegt, scheinen zwar rein induktive
Abstraktionen aus den empirischen Einzelheiten zu sein; wenn man also von dem
theokratischen Charakter des jüdischen Staates, von dem Orient als
Realisierung der Unfreiheit, vom Germanentum als der, der Freiheit spricht,
wenn man die Sozialgeschichte als einen Differenzierungsprozess bezeichnet
oder überhaupt durch Hervorhebung der charakteristischen und wesentlichsten
Punkte der Geschichtsentwicklung dieselbe in wenigen Sätzen beschreibt -so
werden hier allerdings Wirklichkeiten genannt; allein, dass sie das
Wesentliche der tatsächlichen Bewegungen bilden, ist nur so zu behaupten, dass alle anderen gleichfalls tatsächlichen Gegenbewegungen, Abweichungen,
seitwärts liegenden Ereignisse einfach übergangen werden.
Wenn jeder allgemeine Begriff überhaupt nur dadurch entsteht, dass alle
anderweitigen Eigenschaften der darunter befassten Einzelwesen vernachlässigt
werden, so ist dies für seine weitere logische Verwendung insoweit kein
Schaden, als die an ihn geknüpften Aussagen jene realen Einzelwesen nur nach
der Seite eben der Eigenschaften treffen, die den Begriff zusammensetzen.
Wo aber mit diesen Abstraktionen die ganze Wirklichkeit und ihr Verlauf
charakterisiert werden soll, da wird dieser doch Gewalt angetan, wenn alle
diejenigen Einzelheiten, die nicht unter den allgemeinen Begriff gehören, als
zu vernachlässigende Grössen gelten.
Es ist nicht nur von vornherein ein im objektiven Verhalten der Dinge nicht
begründetes Verfahren, die Hauptsache als das Ganze zu behandeln, sondern
auch die »Hauptsache« wird keineswegs in allen Fällen sich als unbedingt
sichere darstellen, und die Neben- und Gegenströmungen werden vielfach ein
Quantum zeigen, das die Hauptsächlichkeit der Hauptströmung ernstlich in
Frage stellt.
Es bedarf also eines doppelten Apriori für die verdichtete, in grossen
Zügen gehaltene Darstellung der allgemeinen Geschichte.
Zuerst der Voraussetzung, dass jeder Teil der Geschichte einen
durchgehenden Grundzug habe, dessen Schilderung eine Schilderung des Ganzen
sei oder eine solche gültig vertrete.
Dies wäre selbst dann keineswegs selbstverständlich und enthielte selbst
dann eine nur in der Eigentümlichkeit des Denkens begründete Annahme, wenn
jenes Hauptsächliche, mit dem man die grossen Epochen der Geschichte
bezeichnet, nur das quantitativ Überwiegende der Gesamtbewegungen enthielte;
allein darüber hinaus wird ihm noch eine qualitative Bedeutung beigelegt, als
sei dies gleichsam der Nerv der Ereignisse und ihre innerlich notwendige
Entwicklung; in dem Mass, in dem die Ereignisse In knapperen Sätzen, in
allgemeineren Abstraktionen zusammengedrängt werden, erscheinen sie auf ihre
»Idee« zurückgeführt, der gegenüber die anders gerichteten
Nebenerscheinungen den Charakter der Zufälligkeit, Äusserlichkeit und
Isolierung tragen.
Dass das quantitative Überwiegen einer Tendenz in einer Epoche zugleich
diesen Bedeutungsunterschied begründet, dass das Gesamtgeschehen zu ihr
verdichtet und durch sie seinem Wesen nach dargestellt wird: dies ist von
vornherein ein metaphysisches Prinzip, die Erhebung einer Abstraktion zum
Realitätswert, vergleichbar der Platonischen Hypostasierung der Begriffe, die
auch nur einzelne Seiten der Dinge abstrahieren, zu dem eigentlichen Wesen
derselben.
Und wenn dies schon zugegeben ist, bedarf es nun zweitens noch besonderer
Voraussetzungen und Kriterien, nach denen dieses Wesentliche vom
Gleichgültigen, die durchgehende Hauptsache von den Nebenbewegungen
unterschieden werde; das Erfahrungsmaterial, an dem diese Prinzipien ihre
Anwendung finden, wird eben von der Gesetzmässigkeit der Dinge so zu sagen
ohne jedes Ansehen der Person, ohne jeden Unterschied zwischen dem Bedeutenden
und dem Unbedeutenden hervorgebracht, und das, was wir nachher als Nebensache
betrachten, war nicht weniger unbedingt notwendig als die Hauptsache.
Deshalb müssen die Prinzipien und Kategorien, die eine solche Scheidung
vornehmen, jenseits dieses Materials stehen, sie sind ein Apriori, das aus der
historischen Erfahrung nicht geschöpft, sondern an sie herangebracht wird.
Aus diesen beiden Momenten heraus tragen die allgemeinen Zusammenfassungen
des geschichtlichen Verlaufs, die Charakterisierung der Zeitalter mit einem
einzigen Begriff auch philosophischen Charakter, so dass man unter
Geschichtsphilosophie vielfach nichts anderes versteht, als eine Erzählung
der Geschichte in den grössten Zügen, die Reduktion derselben auf das
Allerallgemeinste ihres Verlaufs, selbst ohne Anknüpfung weiterer Reflexionen
über diesen Verlauf.
Eben diese Bezeichnungsart ist keineswegs selbstverständlich, so wenig wie
die, nach der die Auffindung der historischen Gesetze eine Aufgabe der
Philosophie ist.
In anderen Wissenschaften ist auch die Darstellung der allgemeinen
Tendenzen und Entwicklungen, die Zusammenfassung der verschiedenen Gebiete zu
einheitlichen Begriffen eine Angelegenheit der betreffenden Wissenschaften
selbst und sie würden sich mit Recht dagegen wehren, dieselbe dem Philosophen
überlassen zu sollen.
Wenn dies für die Geschichte dennoch geschieht, wenn auch der Historiker
bei so allgemeinen Zusammenfassungen seine Tätigkeit als eine philosophische
empfindet, so liegt dem offenbar das Gefühl davon zu Grunde, dass hier eine
Umformung des empirischen Materials nach metaphysischen Voraussetzungen vor
sich geht.
Und wenn auch die anderen Wissenschaften solcher Voraussetzungen nicht ganz
entraten können, so ist eben Mass und Art ihres Einflusses in diesen nicht
hervortretend genug, um der ganzen Tätigkeit jene philosophische Färbung zu
verleihen, die sie im Falle der Geschichte besitzt.
Ich erinnere hier insbesondere noch an die Einteilungen der Geschichte,
durch welche gewisse Zeitteile als in sich geschlossene Perioden vorgestellt
werden.
Hier schneiden Begriffe, die oft dem Bewusstsein und den realen Triebfedern
dieser Perioden sehr fern stehen, die Geschichte in Glieder auseinander, deren
gegenseitiges Sichabsetzen ganz ausserhalb des kontinuierlichen Flusses ihrer
Ereignisse liegt.
So sehr dies im Interesse der Orientierung und der Darstellung nötig sein
und so offen auch das darauf aufmerksam gemachte Bewusstsein die blosse
Subjektivität dieser Berechtigung anerkennen mag, so beweist doch die
Tatsache, dass wir eine solche in Anspruch nehmen, hinreichend die
Notwendigkeit, die historische Welt als Vorstellung auf Kategorien zu bauen,
die in der Empirie über sie nicht liegen.
Die Einteilung der Weltgeschichte in die Historie der vier Weltmonarchien,
die im 13. Jahrhundert auf Grund einer missverstandenen Danielischen
Weissagung die geltende war, erscheint uns zwar heute gewissermassen als eine
Parodie.
Allein das formale Prinzip, das ihr mit den jetzigen Einteilungen gemeinsam
ist, ist heute nicht weniger metaphysisch, als es damals war.
Die philosophische Aufgabe dieser Tatsache gegenüber kann nur sein, sie
eben als Tatsache festzustellen, sie logisch zu klären und psychologisch zu
erklären, nicht aber über die in der Historie schon wirkliche und wirkende
Metaphysik hinaus ihr eine neue vorzuschreiben.
So wenig der Naturforscher die metaphysischen und logischen Annahmen, die
auch er zu seiner Forschung voraussetzt, sich vom Philosophen vorentdecken lässt, wie dieser vielmehr nur eine so verwirklichte Metaphysik als Objekt
vorfindet: so ist auch der Historiker völlig autonom in der Herstellung
desjenigen Sinnes der Geschichte, der, ihre äussere Tatsächlichkeit
durchflechtend, über Form und Nuancierung in Forschung und Darstellung, über
die Wichtigkeit des Einzelnen und die Entwicklungsziele des Ganzen
entscheidet.
Dem Geschichtsphilosophen bleibt hier nur die Analyse der tatsächlich
vorliegenden Geschichtsschreibung, um in begrifflichem Bewusstsein zu sondern,
was dem eigentlich Produzierenden als Einheit zu erscheinen pflegt.
Seine Aufgabe ist hier so zu sagen eine historische: sie hat ein
vorgefundenes Objekt zu schildern, aber keines zu schaffen.
Es ist die gleiche Aufgabe, wie sie Ethik und Ästhetik als Wissenschaften
haben: auch diese sollen nicht vorschreiben, sondern beschreiben; sie haben
nicht Gesetze zu geben, dass etwas geschehen soll - dies kann nur durch eine
Verwechslung als Zweck einer Wissenschaft erscheinen - sondern zu erkunden,
was geschieht und nach welchen Gesetzen es tatsächlich geschieht.
Die Erkenntnistheorie folgt den schon wirklichen Erkenntnissen wie diese
selbst den äusseren Objekten, und indem sie die in jenen wirklich vorhandene
Metaphysik behandelt, ist sie eine exakte Wissenschaft vom Nicht-Exakten.
- Die Besorgnis also, dass die Diskussion des Sinnes der Geschichte den
Realismus der historischen Forschung durchbrechen könnte, ist jedenfalls in
so weit hinfällig, als schon in diesem Realismus selbst unweigerlich
metaphysische Momente enthalten sind.
Wenn wir im ersten Kapitel ausgemacht haben, dass der Historiker hinter die
äusseren Taten, die allein in die beobachtbare Erscheinung treten, eine
psychologische Bedeutung, Gesinnung, Zweckbewusstsein legen muss, um jene
Taten überhaupt zum Gegenstand einer Darstellung machen zu können, ohne doch
ihren materiellen Inhalt abzuändern, so wiederholt sich dies hier, gleichsam
in grossen Buchstaben geschrieben.
Es wird hier hinter das Ganze der Geschichte ein aus ihrer Erscheinung
unmittelbar nicht abzulesender Sinn gestellt, sie erhält eine Formung, die
freilich anthropomorph zu nennen ist, aber das inhaltlich ungeänderte
Material der Geschichte erst zum Objekt einer sinnvollen Wissenschaft macht.
Gegen einen anderen Inhalt der Geschichtsphilosophie richtet sich
hauptsächlich die zweiterwähnte Kategorie von Einwürfen: dass sie, wenn
schon nicht störend, so doch unnütz wäre, weil sie unlösbare Probleme und
leere Antworten enthielte.
Die mehr oder weniger unbewussten Voraussetzungen nämlich, die der
Historiker an die Forschung und Erzählung mit heranbringt, können allerdings
auch gesondert und für sich diskutiert werden.
Dann ist es freilich Spekulation und nicht exakte Wissenschaft, wie in dem
obigen Fall, wo ihre tatsächliche Geltung zu erforschen ist.
Und die sachlichen Beantwortungen der metaphysischen, an die Geschichte
gerichteten Fragen, unterliegen insbesondere alle den Vorwürfen, vor denen
die Metaphysik überhaupt sich nicht zu retten weiss.
Die Unlösbarkeit der geschichtsphilosophischen Probleme nun beruht darauf,
dass sie nach den qualitativen Bestimmungen von Objekten fragen, von denen es
nicht feststeht, ob sie überhaupt real sind.
Es wird gefragt, was der Sinn der Geschichte ist, was ihren Zweck, was ihr
begriffliches Wesen bildet - während es von vorn herein bloss hypothetisch
ist, dass sie überhaupt einen Sinn und Zweck hat oder sich der Form eines
allgemeinen Begriffes fügt - freilich ohne dass die Verneinung davon weniger
hypothetisch wäre.
Dies ist der grosse Unterschied dieser Probleme von den im vorigen Kapitel
behandelten: es ist ganz sicher, dass die historischen Bewegungen nach
Gesetzen vor sich gehen, und die Frage ist nur, welcher Art und welchen
Inhaltes diese sind; dagegen ist hier nicht nur das Wie und Was, sondern sogar
das Ob streitig, und jede Ausmachung hierüber, die in sich objektiv und
logisch-sachlich beweisbar sein mag, ruht doch als Ganzes auf einer
schlechthin subjektiven Voraussetzung.
Der Unterschied, um den es sich hier handelt, spiegelt in
erkenntnistheoretischer Beziehung einen solchen wieder, der unser erstes
Kapitel betrifft.
Innerhalb der Interpolationen und hypothetischen Hinzufügungen, die der
Verlauf der Geschichtserzählung erfordert, finden sich einerseits solche, die
wegen des Mangels an zuverlässigem Uberlieferungsmaterial gemacht werden;
eine exakte Erkenntnis der fraglichen Vorgänge wäre prinzipiell möglich und
ist nur durch die zufälligen Umstände des Falles vorläufig verhindert.
Andererseits aber sind ergänzende Vermutungen nötig, deren exakte
Bestätigung ihrem Wesen nach unmöglich ist, die nicht zufällig, sondern
prinzipiell vom Kreise der Erfahrung ausgeschlossen sind.
Die ersteren betreffen alles sinnlich erscheinende Geschehen, die letzteren
alle hinter diesem liegenden psychischen Vorgänge.
Und so verhalten sich die Vorstellungen der historischen Gesetze zu denen
vom Sinn der Geschichte.
Wenn wir jene nicht erkennen, so ist die zufällige Unvollkommenheit
unserer empirischen Kenntnis daran schuld, während es prinzipiell durchaus
möglich wäre, zu den einfachen Gesetzen vorzudringen, nach denen jedes
historische Moment berechenbar ist.
Dagegen: die Vermutungen über den Sinn der Geschichte verhalten sich zu
ihrer empirischen Wirklichkeit gleichsam wie der Gedanke und die Gesinnung des
Individuums zu seiner äusseren Hat und sind ebenso wenig wie jene überhaupt
mit Sicherheit erkennbar; unserer Erkenntnis ist die empirische Bestätigung
dieser Annahmen prinzipiell versagt.
Wie in den parallelen Fällen dem Individuum gegenüber, ist der Abstand
unseres Denkens vom Ziele exakter Erkenntnis einmal ein quantitativer, das
andere Mal ein qualitativer.
Ich will die eigenartige Komplexion der Fragen der Geschichtsmetaphysik an
einem Beispiel skizzieren, an der Frage nach dem Fortschritt in der
Geschichte.
Es ist zunächst klar, dass der Begriff des Fortschritts einen Endzustand
voraussetzt, an den die Annäherung oder dessen höheres Verwirklichungsmass
den späteren Zustand eben als den fortgeschritteneren charakterisiert.
Dieser Endzustand braucht natürlich in der bisherigen Geschichte nicht
realisiert zu sein, aber er muss in seiner Absolutheit wenigstens ideell
vorhanden sein, damit in der Richtung zu ihm der relative Fortschritt bestehe.
Ob das zeitlich-kausale Weiterschreiten der Ereignisse zugleich ein
Fortschreiten ist, entscheidet sich nach einem Ideal dessen Wert nicht aus
jener Reihenfolge der Tatsachen folgt, sondern zu ihr hinzugebracht wird.
Wenn wir also in der Geschichte etwa eine Abwechslung zwischen Epochen mehr
individualistischen und solchen mehr kollektivistischen Charakters bemerken,
so wird der eine die ersteren als die eigentlich fortschreitenden ansehen,
zwischen welche sich die letzteren nur als gelegentliche Hemmnisse und von
jedem Fortschritt unzertrennliche Rückschläge einschieben, während ein
anderer die Deutung direkt umdreht, weil ihm die kollektive Gestaltung der
Gesellschaft als ihre eigentlich wertvolle erscheint, und er ihren
natürlichen Gang nur insoweit als Fortschritt anerkennt, als er sich in der
Richtung auf diese bewegt.
Ob wir also in der Geschichte einen Fortschritt sehen oder nicht, hängt
von einem Wertbegriff ab, dessen Subjektivität nicht zu beseitigen ist.
Und wenn selbst eine einheitliche Formel aufzufinden wäre, die die
verschiedenen idealen Wertmassstäbe in sich begriffe, oder wenn sich sonst
eine Vereinigung dieser herbeiführen liesse, so würde daraufhin höchstens
gesagt werden können, dass alle Beurteilenden einen Fortschritt oder keinen
in der Geschichte sähen; aber die Tatsache, dass er doch ausserhalb dieser
selbst und nur in der Subjektivität der Urteilenden bestände, wäre damit
nicht aus der Welt geschafft.
Neben der Subjektivität des Ideals, an dem sich die tatsächliche Bewegung
der Geschichte als Fortschritt oder Nicht- Fortschritt zeigt, steht eine
andere, welche die Fortschrittsfrage in den tiefer gelegenen Teilen ihrer
Struktur berührt.
Hat man sich nämlich auch schon über jenes Ideal geeinigt, und darüber,
dass die Geschichte tatsächlich an einem wertvollen Ziele mündet - sei es
schon jetzt, sei es in Zukunft - so hängt es fernerhin noch von einer
durchaus labilen Begriffsdefinition ab, ob wir den Weg zu diesem Ziele als
Fortschritt bezeichnen dürfen.
Es wäre nämlich möglich, dass die wertvollen Punkte der Geschichte
gleichsam in einer generatio aequivoca entstünden; es brauchte keine
allmähliche auf sie hingerichtete Entwicklung stattzufinden, sondern entweder
könnten die natürlichen Kräfte eine jenen Idealen entsprechende Gestaltung
ebenso zufällig In einem Augenblick produzieren, wie sie im nächsten eine
völlig entgegengesetzte erstehen lassen; oder die Realisierung der Werte
brauchte überhaupt nicht aus den Kräften, deren eigene Entwicklung die
Geschichte hervorbringt, sondern könnte durch Eingreifen eines Transzendenten
entspringen, wie es etwa religiöse Weltanschauungen in dem Erscheinen der
Heilande oder in der Vorstellung vom jüngsten Tage lehren.
In diesen beiden Fällen scheinen wir von Fortschritt in der Geschichte
nicht sprechen zu können.
Insbesondere in Hinsicht auf den ersteren ist dies vielmehr erst dann
möglich, wenn der wertvolle Zustand, den sie verwirklicht, den Charakter
eines irgendwie definitiven trägt.
Es muss irgend eine Garantie vorhanden sein, zwar nicht dafür, dass nicht
Gegenbewegungen und Stagnationen den geschichtlichen Fortschritt zeitweise
aufhielten und umbögen, wohl aber dafür, dass die Realisierung des
Wertvollen so zu sagen das letzte Wort behält, und dass die Wirklichkeit
nicht einem Mechanismus gehorcht, der über diese Realisierung ebenso
gleichgültig hinweggeht, wie er sie hervorgebracht hat.
3)
Die blosse Tatsache, dass es vorschreitende Epochen gibt, wie sie sich nach
Konstituierung eines Ideals zeigt, erfüllt noch nicht den Begriff des
»Fortschritts in der Geschichte«.
Es muss vielmehr ein innerer Zusammenhang der zeitlich getrennten
Teilrealisierungen des Ideals angenommen werden, derart, dass trotz ihres
Unterbrochenseins und durch die andersgerichteten Epochen hindurch, die eine
sich da anschliesst und von da aus höher führt, wo die andere aufgehört
hat.
Eine gewissermassen unterirdische Verbindung zwischen den durch ihr
positives Verhältnis zum Ideal charakterisierten Perioden wird vorausgesetzt,
wenn man behauptet, dass es einen Fortschritt in der Geschichte gäbe; und dem
Verbundensein jener muss eine Kraft zu Grunde liegen, die über jede ihrer
bisherigen Wirkungen oder Erscheinungen hinausreicht und es gewährleistet, dass der Mechanismus des Geschehens überhaupt und künftig trotz aller
Abbiegungen doch der Hauptsache nach in der Richtung jenes Ideals verlaufe.
Die Behauptung, dass die Geschichte einen Fortschritt darstelle, schliesst
mit einem Wort das Verhältnis der blossen Zufälligkeit aus, das sonst
zwischen den realen, mechanischen Kräften und unseren Idealvorstellungen
besteht.
Dass die ersteren gelegentlich die letzteren verwirklichen, genügt jener
Behauptung nicht; sondern die so entstehenden, sich aufgipfelnden Vorgänge
oder Epochen bilden ihr gemäss eine Einheit der Entwicklung, derart, dass das
Bild und das Verständnis der späteren nicht mit der Erkenntnis der
unmittelbar vorhergehenden äusserlichen Situation und ihrer Spannkräfte,
sondern erst durch ihr Verhältnis zu der - vielleicht gar nicht unmittelbar -
vorhergehenden Realisierungsstufe des Endwertes der Geschichte aufgeschlossen
wird.
Noch in einer anderen Richtung endlich verweht der Fortschrittsbegriff den
metaphysischen Einschlag in die Kette des äusseren Geschehens.
Er setzt nämlich weiterhin voraus, dass das Wesen, von dem man ihn
aussagt, ein einheitliches sei.
Eine Anzahl von Vorgängen, deren Inhalt eine aufsteigende Richtung nach
einem Ideal hin zeigt, erscheint uns dennoch nicht als Fortschritt, sobald sie
an getrennten Subjekten vor sich gehen.
Wenn wir von dem Fortschritt in der Natur sprechen, der von den niedrigsten
Organismen zu immer höheren und höheren Arten führe, so denken wir uns
dabei eine ursprüngliche Kraft oder Substanz, die sich durch die
aufsteigenden Formen hindurch entwickelt, einen Zusammenhang an einem
Subjekte, das eben das fortschreitende ist, indem es die Reihe dieser
Zustände durchläuft.
Schon der sprachliche Ausdruck braucht die Einheit des Subjekts, um das
Fortschreiten von ihm auszusagen, und wir würden diesen Begriff nicht
anwenden, wenn es sich zwar um aufeinander folgende und immer wertvollere
Zustände handelte, die aber auf verschiedenen Sternen verwirklicht sind - es
sei denn, dass wir etwa einen Zusammenhang dieser auseinander liegenden Werte
in einem Weltgeist oder einem Naturinbegriff voraussetzten.
Entsprechend hat nun auch der Fortschritt in der Geschichte die Einheit des
Subjekts, an dem er sich vollzieht, zur Voraussetzung.
Anderenfalls könnte man wohl sagen, der eine Zustand sei besser und
wertvoller als der andere, aber nicht, er sei der fortgeschrittene, weil
hierzu eine wirkliche bez. eine als wirklich gedachte Beziehung dieses auf
jenen gehört, die doch nur zwischen Zuständen ebendesselben Subjektes
stattfindet.
Und wenn überhaupt schon jede Projizierung verschiedener Eigenschaften auf
eine einheitliche Substanz als ihren Träger anerkanntermassen
transzendentalen Wesens ist, so ist die Zusammenfassung der Völker und
Individuen zu einem fortschreitenden, sich entwickelnden Ganzen erst recht
eine subjektive Synthesis, die durch ihre Projizierung in die objektive
Realität hinein metaphysischen Charakter erhält.
Dass durch den Wechsel der Personen hindurch sich ein einheitliches Subjekt
erhält, dass ein ursprünglicher Keim vorhanden ist, als dessen Entwicklungen
sich die Epochen der Menschheitsgeschichte ergeben und in dem sie jenen
Beziehungspunkt finden, der sie gegenseitig als fortgeschrittene oder
zurückgebliebene bezeichnen lässt - das ist eine metaphysische
Voraussetzung, ohne die der Fortschrittsbegriff nicht bestehen kann, die aber
sein Aufsteigen zu einer exakten Verifizierung unmöglich macht.
4)
Ich kehre von diesem Beispiel zu der Frage nach der Berechtigung solcher
Problemstellungen überhaupt zurück und mache folgende Momente geltend.
Wie sich der Wert eines wirtschaftlichen Gutes der verbreitetsten Theorie
zufolge nach seiner Seltenheit und seiner Brauchbarkeit wie nach zwei
Multiplikanden bestimmt, derart, dass die Verkleinerung des einen für das
Resultat gleichgültig ist, wenn sich der andere entsprechend vergrössert -
so richtet sich der Wert einer Erkenntnis nach ihrer Sicherheit und ihrem
Interesse.
Ein theoretischer Gedanke von grosser Sicherheit, aber geringer Bedeutung
seines Objekts wird in der Skala theoretischer Werte die gleiche Stelle
einnehmen wie eine Erkenntnis über einen Gegenstand höheren Interesses, die
aber von schwankender Gewissheit ist.
Wie nun aber bei einer Multiplikation der eine Faktor beliebig gross werden
kann und das Resultat dennoch Null ist, wenn der andere Faktor gleich Null
ist: so hat ein Gegenstand von höchster Brauchbarkeit dennoch keinen
wirtschaftlichen Wert, wenn er absolut der Seltenheit entbehrt - das
klassische Beispiel ist die Luft zum Atmen - und ebenso wenig ein solcher, der
zwar sehr selten aber absolut unbegehrt ist.
Entsprechend ist sowohl die Erkenntnis wertlos, die zwar völlig sicher
sein mag, aber ein Objekt betrifft, nach dem niemand fragt, als auch die,
welche sich zwar auf einen höchst wichtigen Gegenstand bezieht, aber absolut
keine Gewähr ihrer Richtigkeit besitzt.
Diesem letzteren Grenzfall scheinen sich allerdings die Ausmachungen der
Geschichtsmetaphysik zu nähern.
Wenn man gegenüber der Abwürdigung alles Philosophierens, die es auf
Grund der Unsicherheit seiner Resultate erfährt, auf die Wichtigkeit und das
Interesse an seinen Gegenständen hinweisen kann, die jene Unsicherheit im
Gesamtwerte auszugleichen vermögen, so wird diese Rechnung in dem Augenblick
hinfällig, in dem die Sicherheit des Wissens gleich Null wird - wie bei den
Spekulationen über den Sinn und Zweck der Geschichte oder über die absolute
Realität, die in, über oder hinter ihr steht.
Dem gegenüber ist zunächst das Selbstverständliche zu bedenken, dass die
Unbeweisbarkeit der geschichtsphilosophischen Behauptungen noch nicht ihre
Unwahrheit bedeutet.
Wo also irgend ein Verhalten der Dinge den Gegenstand ihrer Vermutung
bildet, da kann wenigstens die Möglichkeit, dass sie das Richtige treffen,
nicht geleugnet werden.
Unter solchen Umständen mag die einzelne auftauchende Behauptung ohne
konstatierbaren Wahrheitswert sein: die Gesamtheit derselben ist es dennoch
nicht.
Denn in dem Masse, in dem diese Gesamtheit wächst und die herstellbaren
Kombinationen zwischen den geschichtsphilosophischen Faktoren erschöpft, wird
der Kreis erfüllt, innerhalb dessen die Wahrheit liegen muss.
Und obgleich uns nun die Bestimmung, welches von diesem möglicherweise
Wahren das wirklich Wahre ist, für immer versagt sein mag, so heftet sich
doch ein unleugbares Interesse an jenen Bezirk von Vermutungen positiver und
negativer Art, der als Ganzes jedenfalls die richtige Erkenntnis über jene
bedeutsamen Fragen einschliesst.
Der Weg aller Erkenntnis ist der, dass ursprünglich eine Mannigfaltigkeit
möglicher Ansichten über ein Objekt sich darbietet und diese allmählich
sich verengert, bis schliesslich im Grenzfall nur eine Erkenntnis als die
allein mögliche, d.h. die wahre übrig bleibt.
Wenn nun bei den metaphysischen Vermutungen die Erkenntnis schon an jenem
frühesten Stadium halt macht, so befindet sie sich - so paradox dies klingen
mag - nur in einem quantitativen Unterschiede gegen ihr letzterreichbares.
Schliesslich, da die Dinge selbst nicht in unsere Vorstellungskraft
überwandern, ist doch die Übereinstimmung mit ihnen, die Wahrheit des
Denkens, nur ein psychologischer Zustand des letzteren, eine Färbung und ein
bestimmtes Spannungsgefühl des Bewusstseins; und eben diese gleichsam als
Oberton oder Lokalzeichen zu bezeichnende Mitschwebung, die die »Wahrheit«
der Vorstellungen bedeutet, verteilt sich hier auf einen ganzen Umkreis von
Vorstellungen, statt sich auf eine einzige zu konzentrieren, und entsprechend
muss sich die Gesamtheit der Gedanken in das Interesse und den Wert teilen,
die sonst einem einzigen zukommen.
Diese aber ihnen abzustreiten und mit einem starren Aut Cäsar aut Nil den
Bruchteil und das relative Wahrscheinlichkeitsmass von Wahrheit zu leugnen,
das jedem Teile dieses Kreises zukommt - das wäre eine Bürokratie der
Methode, von der sich das tatsächliche Interesse an demselben besonders dann
nicht braucht verdrängen zu lassen, wenn man sich über die Grenze seiner
Gültigkeit klar ist.
Freilich muss man um dessentwillen im Auge haben, dass die wirkliche
Erreichung des Zieles, die Gesamtheit möglicher Lösungen in einem Inbegriff
zusammen zu haben, im Unendlichen liegt.
Die Sicherheit, dass in dem vorliegenden Kreise von Annahmen sich die wahre
wenigstens Inkognito befindet, ist natürlich nur zugleich mit der anderen
vorhanden, dass alle überhaupt möglichen Annahmen erschöpft sind.
Nehmen wir also an - was freilich die noch fragliche Voraussetzung dieser
ganzen Deduktion ist - dass die geschichtsphilosophischen Probleme nicht an
und für sich und als Ganzes jenseits aller Beantwortbarkeit stehen, so ist
statt der Unlösbarkeit schlechthin, die man ihnen nachsagt, ihre
erkenntnistheoretische Stellung folgendermassen zu fixieren.
Ob die einzelne Vermutung über sie wahr ist oder nicht, kann mit unseren
Erkenntnismitteln nicht ausgemacht werden.
Dagegen würde die Gesamtheit überhaupt möglicher Vermutungen die
richtige einschliessen müssen und deshalb wenigstens als Gesamtheit einen
gewissen Modus von Erkenntniswert besitzen.
Eine solche lässt sich aber nur in unendlicher Progression erreichen und
jeder geschichtsphilosophische Versuch hat Erkenntniswert nur in dem Masse,
als er ein weiteres Stück zu jener Totalität bildet, deren so gewachsener
Wert ihm pro rata zurückgewährt wird.
Diese eigentümliche erkenntnistheoretische Kategorie kann vielleicht
zeigen, dass die scharfe Alternative zwischen Wahr und Falsch, wie zwischen
Erkennbar und Unerkennbar, in die man die theoretischen Aufgaben zu stellen
pflegt, doch noch Zwischenstufen Raum lässt, und dass hier, wie so oft, ein
bloss konträrer Gegensatz den falschen Anschein eines kontradiktorischen
angenommen hat.
Eine solche Stellung zwischen Erkennbar und Unerkennbar,
die so dem geschichtsphilosophischen Problem zukäme, wäre gewissermassen die
objektive Wendung jenes platonischen Begriffes von den Philosophen:
mhte
oi soojoi mhte oi amaJeiV -oi metaxu toutwn amjoterwu
Hier zeigt sich nun ferner die schon vorhin betonte Verwandtschaft ebenso
wie der Gegensatz zwischen diesen Problemen und denen der historischen
Gesetzmässigkeit.
Nach den Ausmachungen des vorigen Kapitels bringt es der Charakter des
historischen Gesetzes in seinem augenblicklichen Stadium mit sich, dass sehr
entgegengesetzte Allgemeinbehauptungen mit dem gleichen Anspruch, Gesetz zu
sein, auftreten; allein dies konnte uns als ein evolutionistisch nützlicher
Zug erscheinen, weil sich so die Auffindung der realen Kräfte vorbereitet,
durch die jede der entgegengesetzten Abstraktionen ihr relatives Geltungsmass
gewinnt.
Wenn wir hierfür noch die Entwicklung der allgemeinen Metaphysik als
Parallele heranziehen konnten, deren gegensätzliche Inhalte dennoch die
exaktere Naturerkenntnis antizipierten, so steht die Geschichtsmetaphysik im
grossen und ganzen ausserhalb der zum Ziele der Exaktheit führenden
Entwicklungsreihe.
Während die Gegensätze der historischen Gesetze über sich hinaus zur
Versöhnung drängen, bleiben die der Deutungen vom Sinne der Geschichte in
ihrer Gegensätzlichkeit bestehen, ohne eine höhere Instanz zu besitzen, die
zwischen ihnen entschiede.
Diese ungebundene Freiheit der Meinungen über das, was man sich als Wesen,
Sinn oder Zweck der Geschichte vorzustellen hat, mag daher stammen, dass sie
sozusagen Hypothesen zweiten Grades sind.
Im ersten Kapitel haben wir uns überzeugt, dass das Äusserliche der
Geschichte nur durch die anempirische Annahme von Gedanken, Wollungen und
Empfindungen verständlich ist, nur durch sie Sinn und Interesse erhält, ja
dass diese hinter den Erscheinungen liegenden Vorgänge eigentlich denjenigen
Inhalt der Geschichte bilden, um dessentwillen ihr äusserlicher Verlauf
erforscht wird.
Und hinter diese Hypothesen tritt nun die geschichtsphilosophische
Hypothese, indem sie jene als ihr Material behandelt.
Sie gleicht darin der Religionsphilosophie, die auch, wenigstens wo sie
sich auf geoffenbarte Religionen gründet, eine hypothetische Spekulation an
einem Material vornimmt, das schon seinerseits hypothetisch ist.
Andererseits birgt gerade schon der Charakter dieses Materials eine der
feinsten metaphysischen Verführungen. Im grossen und ganzen wird man sagen
können, dass alle Metaphysik auf dem Gegensatz zwischen sinnlicher Äusserlichkeit und geistigem Prinzip beruht und in einer Zurückführung von
jener auf dieses besteht.
Die Versuchung und scheinbare Berechtigung nun, hinter die Erscheinungen
ein geistiges Wesen oder einen geistigen Vorgang als Träger oder Führer zu
Setzen, liegt da um so näher, wo jene Erscheinungen selbst schon Bewusstseinscharakter tragen.
Wenn man auch für den rein materiellen Mechanismus der unterpsychischen
Natur keine Führung durch geistige Tendenzen mehr zulassen möchte, wird man
solche doch noch der Erscheinungsreihe leicht unterbauen, wenn diese schon an
und für sich geistigen Wesens ist.
Da jede einzelne menschliche Handlung aus einem Geist quillt und von einem
Zwecke geleitet wird, so ist es ein fast unmerklicher Übergang, der auch die
Gesamtheit dieser Handlungen, die Geschichte, einem gleichen und
zusammenschliessenden Woher und Wohin unterwirft.
Allein die Willkürlichkeit, mit der der Erscheinung ein ihr wesensfremdes
Ansich untergeschoben wird, ist hier nicht um das geringste geringer, als in
dem Falle der Naturmetaphysik.
Denn die Geistigkeit des einzelnen psychischen Vorganges ist mit ihm
abgeschlossen, seine Zweckmässigkeit weist als solche nicht mehr und nicht
weniger über den singulären Zweck des individuellen Bewusstseins hinaus auf
einen absoluten und übermenschlichen, als irgend ein materieller Vorgang dies
tut.
Ebenso psychologisch begreiflich und ebenso unberechtigt wie die
materialistische Metaphysik die Materialität der Erscheinungen zu dem
absoluten, allem Sein zu Grunde liegenden Wesen ausdehnt, ebenso lässt die
Geschichtsmetaphysik die Geistigkeit der einzelnen historischen Vorgänge zu
einer solchen der Totalität und des nicht erscheinenden Trägers derselben
auswachsen.
Allein, statt dass der Charakter, den die Teile einer Reihe - jeder für
sich -tragen, ohne weiteres auf die Reihe als einheitliches Ganzes übertragen
werde, bedürfte es doch eines besonderen Nachweises der Berechtigung dazu,
der aber für ein genaueres Denken nicht günstiger präjudiziert ist, als da,
wo ein geistiges Substrat der körperlichen Natur konstruiert werden soll.
Viel bedenklicher indes noch als der Einwurf, der die Nichtigkeit der
Geschichtsphilosophie aus der Unlösbarkeit ihrer Fragen schlechthin erweisen
will, ist derjenige, der zu dem gleichen Resultat aus der Erwägung heraus
kommt, dass ihre Antworten leere Tautologien seien.
Ich glaube, dass er überall da im Recht ist, wo Geschichtsphilosophie den
Anspruch macht, die einzelnen Tatsachen zu erklären.
Betrachten wir das gröbste Beispiel, das aber den Typus für alle anderen
bildet: die Lenkung der Geschichte durch den göttlichen Willen.
Es gibt nur zwei positive Verhältnisse, die man sich zwischen Gott und dem
Weltlauf denken kann.
Entweder die Natur geht ihren durch immanente Gesetze bestimmten Gang, der
aber durch willkürliche Eingriffe Gottes unterbrochen und abgelenkt wird;
oder die Gesetzmässigkeit der Erscheinungen ist ausnahmslos, wird aber als
Ganzes vom göttlichen Willen getragen und bildet den Mechanismus zur
Erreichung seiner Zwecke.
Vorausgesetzt nun, dass man die erstere Möglichkeit nicht von vornherein
perhorresziert, weil sie die Zerstörung der Wissenschaft überhaupt bedeutet,
wird sie besonders in den Fällen herbeigerufen werden, wo anscheinend
unvorbereitete gewaltige Erscheinungen in der Geschichte auftreten, die man
aus den vorangehenden Umständen und den sonst beobachteten Gesetzen nicht
abzuleiten vermag.
Wo der Lauf der Geschichte eine von seiner bisherigen Richtung scharf
abbiegende Wendung nimmt, da scheint der Finger Gottes den Anstoss gegeben zu
haben, der die Dinge aus dem Weiterrollen in der durch ihre eigene Schwerkraft
bestimmten Bahn herausschleuderte; und offenbar sind es nur feinere Formen
dieser theistischen Handgreiflichkeit, wenn man Tun und Leiden eines Volkes
oder eines Individuums aus seiner besonderen göttlichen Sendung ableitet oder
gewisse Ereignisse eintreten lässt, weil sie die durch den sonstigen Verlauf
der Geschichte verschobene sittliche Weltordnung wieder ins Gleichgewicht
setzen.
Aber durch solche Anwendungen verrät sich die Leerheit der vorgeblichen
Erklärung.
Denn diese tritt gerade nur da ein, wo die übrigen Erklärungsweisen
versagen.
Man fühlt kein Bedürfnis, an jenes besondere, sozusagen eruptive
Eingreifen Gottes zu appellieren, wenn die Ereignisse ihren gewöhnlichen,
nach empirischen Gesetzen verständlichen Gang gehen.
Erst in dem Augenblick, wo die realistischen Erklärungen versagen, greift
man zu jener metaphysischen, die also offenbar ein Verlegenheitsausdruck ist,
ein Geständnis, dass unser Kausalbedürfnis hier die gewöhnte Befriedigung
nicht findet und sich deshalb ein Wesen ad hoc konstruiert: Gott ist hier
wirklich deus ex machina, er ist der Name für die Forderung einer Erklärung,
zu der unsere Erkenntnismittel nicht zureichen - gleich dem Kraftbegriff, der
auch an eine leere Stelle unseres Erkenntnisfeldes ein Wort setzt, das zu
einer angeblichen Lösung des Problems hypostasiert wird.
Zu keinem günstigeren Resultat kommt die andere Form der theistischen
Geschichtsmetaphysik, die Gott allem Geschehen gleichmässig zu Grunde legt.
Diese setzt ihn nicht in ein besonderes Kausalverhältnis zu diesem oder
jenem Punkt der Entwicklung, sondern lässt dieselbe sich nach ihrer
ununterbrochenen Regelmässigkeit abspielen, indem sie doch jeden Teil
derselben wenigstens mittelbar aus der göttlichen Wirksamkeit herleitet - sei
es, dass Gott die erste Ursache des Ganzen sei, dem er die Gesetze einprägte,
nach welchen es sich in Ewigkeit zu bewegen habe; sei es, dass er,
pantheistisch gedacht, die eigentliche Realität der wechselnden Erscheinungen
bilde und sie aus sich, wie die Seele die Gedanken, hervorgehen lasse, indem
er doch zugleich in jeder von ihnen ganz lebt; sei es, dass ihm die Geschichte
ein Werkzeug zu seinen transzendenten Zwecken wäre, das aber darum so wenig
von seiner eigenen Gesetzmässigkeit abweicht, wie die Naturkräfte es tun,
wenn sie um menschlicher Zwecke willen in die Form der Maschine gebracht sind.
In keinem der drei Fälle wird für die Erklärung der geschichtlichen
Erscheinungen irgend etwas gewonnen.
Denn da nun das göttliche Prinzip zu jeder empirischen Erscheinung im
gleichen Verhältnis steht, - sei dieses Verhältnis nun kausal oder
substanziell oder final - so kann man an keinem einzigen einzelnen Punkte auf
dasselbe zurückgreifen.
Die höchste wie die niedrigste Erscheinung, die einfachste wie die
komplizierteste, weist unterschiedslos auf Gott hin, und deshalb ist weder der
Grund der Differenzierung der Erscheinungen noch der ihres Wandels aus ihm zu
schöpfen; er entbehrt der spezifischen Gestaltung, die doch auch die Ursache
haben muss, um eine spezifisch gestaltete Wirkung zu erklären, oder, wenn man
ihm diese Selbstentwicklung in besondere Formen zuschreibt, ist er eine blosse
Wiederholung des Wirklichen im uperouranioV topoV,
auf die wir gleich kommen.
Wir bleiben also für die Erklärung immer auf die in der Erscheinungsreihe
vorangehenden Momente und auf die empirischen Gesetze angewiesen, die diese
mit den folgenden verknüpfen.
Dass wir nun dieselben Ursachen, aus denen wir den Vorgang schon erklärt
haben, ausserdem noch als vom göttlichen Willen oder Wesen getragen ansehen,
ist sozusagen eine ratio supererogativa; es wird dadurch nur dasjenige, was
wir schon wissen, unter den Begriff der göttlichen Wirkung gebracht.
Es ist die Verdoppelung der Dinge, die Plato beging, als er die
Erscheinungswelt als Abspiegelung einer Idealwelt bezeichnete, von der wir
doch nichts anderes wissen, als uns die erstere zeigt.
Die Begriffe oder den Inbegriff, dessen Inhalt nur aus den Erscheinungen
gezogen werden kann und von dem wir unabhängig hiervon gar nichts wissen, als
Urgrund derselben zu setzen, ist keine synthetische Erkenntnis, sondern eine
blosse Tautologie.
Einem völlig anders gerichteten Weltlauf würde sich Jener Urgrund in
genau gleicher Weise anpassen, so dass für die Erklärung des Einzelnen
absolut nichts gewonnen ist, wenn seine reale Veranlassung noch einmal als
göttliche Wirkung gesetzt wird.
Und es ist einleuchtend, wie diese möglichen Verhältnisse zwischen Gott
und der Geschichte gleichsam das Schema für jeden irgend anders benannten
transzendenten Erklärungsversuch derselben bilden.
Das Wirkungsgebiet der Spekulation über historische Objekte ist also
beschränkt genug.
Ich versuche dasselbe folgendermassen zu bezeichnen.
Die Metaphysik eines Gebietes kann zu dem Erfahrungsmaterial desselben
überhaupt zwei Prinzipielle Stellungen einnehmen: sie kann demselben immanent
sein, d.h. das Apriori desselben ausmachen - dann ist ihr Inhalt und ihre
Ausbildung Sache des empirischen Forschers, dem nun der Erkenntnistheoretiker
analysierend und beschreibend folgt.
Oder aber die so oder anders zustande gebrachte Empirie steht als fertige
Gegebenheit da und die Metaphysik tritt als Reflexion über sie zu ihr hinzu,
duldet also ihr gegenüber eine relativ selbständige Ausgestaltung.
Der Zweck einer solchen kann wieder ein doppelter sein: sie kann um des
empirischen Materials willen geschehen, das sie erklären und deuten will, zu
dem sie die tieferen Zusammenhänge und Grundlagen in überempirischen oder
Wertbegriffen sucht.
Die letzteren sind dann nur Mittel, die Betonung als Zweck liegt auf der
Wirklichkeit.
Wo dies nun aber ausgeschlossen ist, wo, wie in unserem Fall, die
Metaphysik zur Erklärung der empirischen Reihen gar nichts beitragen kann -da
kann ihr Zweck nur in ihr selbst liegen; sie wird dann nur getrieben werden
dürfen, wenn jene überempirischen Begriffe an und für sich als wichtig
genug gelten, um behandelt zu werden und die historische Empirie ihrerseits
als Mittel hierzu heranzuziehen.
Wenn sich allgemeine Begriffe und Überzeugungen gebildet haben, deren
Durchführung an sich interessant ist, Wenn sittliche oder ästhetische Werte
ihre Bewährung an allen möglichen Gebieten, wenn religiöse Vorstellungen
die Klarstellung ihres Verhältnisses zu jeglichem Geschehen verlangen - dann
wird auch die kompakte Masse der vorliegenden Geschichte mit Recht darauf
angesehen, welche positiven oder negativen Beziehungen sie zu diesen an sich
selbst wertvollen Vorstellungen habe.
So war es z.B. durchaus konsequent, wenn Hegel von einem seiner posthumen
Schüler ein Vorwurf daraus gemacht wurde, dass er in seiner
Geschichtsphilosophie von der trichotomischen Gliederung abweicht, die er doch
sonst als Weltgesetz anerkannt habe; und wenn dieser den Mangel so ergänzt,
dass das Altertum die Thesis, die germanisch- christliche Welt die Antithesis,
die jetzt beginnende Epoche die Synthesis darstelle; und wenn diese drei sich
zu einander verhalten sollen wie Mechanismus, Chemismus und Organismus, oder
wie Recht, Moral und Sittlichkeit, oder wie Gefühl, Wissen und Willen.
Die Begriffe, deren Synthesis mit den historischen Tatsachen die
Geschichtsphilosophie bildet, stehen und bleiben eben ganz ausserhalb dieser
Tatsachen und bewirken nur entweder deren Einordnung in Zusammenhänge, welche
ihr inneres Gefüge gar nicht berühren, oder ihre Beurteilung nach
Gesichtspunkten des Wertes, oder ihre Analogie mit Verhältnissen innerhalb
ganz anderer Materien.
So angesehen, kann man die Aufgabe der Geschichtsmetaphysik nicht
eigentlich als unlösbar bezeichnen; nicht als ob sie lösbar wäre - sondern
sie steht jenseits dieses Gegensatzes.
Da sie, soweit sie sich über sich selbst klar ist, gar nicht nach den
realen Kräften fragt, aus denen sich die historischen Einzelheiten erklären
liessen, so kommt es nur darauf an, dass sie sich nicht innerlich widerspricht
und keine falschen Daten aufnimmt.
Erfüllt sie diese Bedingungen, so ist sie in dem Masse berechtigt, in dem
sie den auf sie gerichteten Trieb befriedigt.
Wie man von den Sinnen sagt, sie irrten nicht, nicht weil sie immer richtig
urteilten, sondern weil sie überhaupt nicht urteilen, so kann man von der
Metaphysik sagen, sie verkannte ihre Objekte nicht, nicht weil sie immer
richtig erkannte, sondern weil sie überhaupt nicht erkennt.
Ihr Zweck tritt nicht aus ihr heraus, wie es bei den im vorigen Kapitel
behandelten Spekulationen der Fall ist; diese gehen schliesslich auf die
Kräfte, die in den historischen Objekten selbst walten, und bereiten die
Nachzeichnung des Weltbildes vor; die metaphysische Spekulation aber misst die
Geschichte an Begriffen, welche ihr transzendent Sind, und kann deshalb nicht
in ihr, sondern nur in diesen, d.h. in sich selbst ihren bestimmenden Zweck
haben, den sie deshalb auch nicht eigentlich verfehlen kann.
Man hat bekanntlich die metaphysische Spekulation von dem Kunst- und
Bautriebe ableiten wollen.
Vielleicht greift man tiefer an ihre psychologische Wurzel, wenn man sie
mit dem Spieltrieb in Verbindung setzt.
Das Spiel ergreift Gegenstände, die ein bestimmtes Wesen und eine
bestimmte Tendenz für sich haben, und stellt sie in Beziehungsreihen, die vom
rein subjektiven Interesse und von Vorstellungen angesponnen sind, die jenes
eigene Wesen, jene eigene Gesetzlichkeit der Gegenstände nicht berühren; so
macht sich das Kind einen Stock zum Pferde, ein umwickeltes Holz zur Puppe und
eine Puppe zum Menschen.
Das Wesen des Spieles ist Symbolisierung; es befriedigt mannigfaltigste
Triebe und Interessen des Handelns wie des Empfindens durch Aktionen und an
Objekten, die mit ihren realen Befriedigungen nur einen symbolischen, d.h. im
Kopfe des Spielenden gestifteten Zusammenhang haben; so sind alle Gewinn- und
Wettspiele Symbolisierungen des Kämpfens und des Wagens etc.
Deshalb ist der Spieltrieb als besonderer Trieb nur cum grano salis und
jedenfalls als Trieb zweiter Ordnung aufzufassen.
Die ursprünglichen psychologischen Veranlassungen sind jene auf Reales
gerichteten Triebe: auf körperliche und geistige Bewegung, auf Kampf und
Erwerb, auf Ausdehnung des Persönlichkeitsgefühles und des
Empfindungskreises.
Das Spiel entlehnt seinen Reiz von der partiellen Befriedigung dieser
Triebe, die seiner Symbolik gelingt, und ein eignet Trieb zum Spielen kann
sich nur durch die Erfahrung herausgebildet haben, dass eine solche Form der
Betätigung den empfundenen Trieben irgend eine Genugtuung verschaffe - wie ja
häufig das Zwischenglied, über welches das Streben zu einem Endziel führt,
einen selbstständigen Trieb für sich erwirbt.
Wenn ich also die Metaphysik mit dem Spieltrieb in Zusammenhang bringe, so
meine ich nur folgendes: die Ideen eines unsinnlichen Zusammenhanges der
Erscheinungen, ihrer Ordnung nach sittlichem und ästhetischem Gesichtspunkte,
ihrer Lenkung durch göttliche Zwecksetzung, haben einen Wert und ein
Interesse, die eine Bewährung am Wirklichen verlangen; ein theoretischer
Einheitstrieb, ethische und religiöse Triebe drängen danach, die
historischen Vorgänge sich zu Objekten zu machen, sich an ihnen auszuleben.
Da dies nun aber gemäss den erkenntnistheoretischen Charakteren der
Forderung und des Materials unmöglich ist, befriedigen sich die Triebe an
einer symbolischen Gestaltung, Anordnung, Deutung des letzteren.
So wenig das Spielobjekt wirklich der Gegenstand wird, als welchen der
Spielende ihn behandelt und zum Mittel antizipierter oder andeutender
Triebbefriedigung macht, so wenig wird das historische Material nun wirklich
zur Verkörperung der Ideen, auf die jene Triebe sich richten; sondern
während es in seinem Fürsichsein beharrt, stiftet unsere Phantasie eine
Beziehung zwischen ihm und diesen Ideen, und verschafft dem metaphysischen
Bedürfnis so auf symbolischem Wege die Genugtuung, die ihm auf realistischem
versagt ist.
Stellen wir in wenigen Worten die Prinzipiellen Endpunkte unserer
Gedankengänge zusammen, der Übersichtlichkeit halber in einer Art von
System, das einen Querschnitt durch unsere bisherige Anordnung legt.
Die Philosophie der Geschichte sieht sich zweifachen Aufgaben gegenüber,
gemäss der doppelten Bedeutung des Geschichtsbegriffes: wir bezeichnen mit
diesem einerseits die Menschheitsschicksale als wissenschaftliche Vorstellung
und Darstellung, andererseits die Geschehnisse selbst, den Inhalt an und für
sich, abgesehen von der Form seiner Erkenntnis in einer Wissenschaft.
Am ersteren, der erzählten Geschichte, ist die Aufgabe der Philosophie die
erkenntnistheoretische, indem sie hier nicht die Tatsachen selbst, sondern die
Erkenntnis derselben untersucht; indem nicht das Sein, sondern das Vorstellen
ihr Objekt ist, hat sie in den auf die Tatsachen gerichteten Gang der
Forschung nicht ändernd einzugreifen, so wenig, wie diese selbst an den
Tatsachen selbst etwas zu ändern hat.
Aber sie kann nachweisen, wie viel Vorstellungsweisen, die man sonst
philosophisch nennt, in der scheinbar rein empirischen Geschichtsforschung
stecken.
Ein Teil dieses Nachweises liegt der allgemeinen Erkenntnistheorie ob: die
Kategorien der Kausalität und der Substanzialität, die allgemeinsten
Denkformen und Voraussetzungen alles Geschehens sind für das historische
nicht anders wirksam und bedeutsam, als auch für sonstige Inhalte.
Ein spezielles Objekt der Geschichtsphilosophie ist erstens der Nachweis
psychologischer Interpretationen und Interpolationen in der
Geschichtserzählung.
Sie hat die Voraussetzungen für den Zusammenhang des äusseren mit dem
inneren Geschehen und des letzteren in und für sich allein aufzuzeigen, durch
welche die Kontinuität und Verständlichkeit der historischen Reihe
hergestellt wird - Voraussetzungen, welche ihrem Inhalte nach teils empirisch,
teils anempirisch, ihrer Funktion nach aber apriorisch sind.
Es sind zweitens die direkt metaphysischen Vorstellungen aus der
Geschichtsforschung heraus zu analysieren, die zwar nicht wie die
psychologischen deren einzelne Inhalte, wohl aber die Gesamtheit derselben
nach Tendenz, Form und Wertbestimmung affizieren.
Hier hat die Philosophie zunächst nur empirisch, ich möchte sagen
statistisch, festzustellen, welche Vorstellungen über das, was nicht
Erscheinung ist, die Erforschung der Erscheinungen in den vorliegenden
historischen Erkenntnissen bestimmen; dann aber auch zu untersuchen, inwieweit
dies in den Aufgaben der Historik sachlich und psychologisch begründet ist.
Dies bildet also den Übergang zu der zweiten Kategorie von Problemen der
Geschichtsphilosophie; diese enthält die Anwendung des philosophischen
Denkens auf den Inhalt der Geschichte selbst, den Versuch, sachliche
Erkenntnisse über diesen durch jenes zu gewinnen.
Auch hier sind zwei verschieden gerichtete und auch verschiedenwertige
Aufgaben zu unterscheiden.
Die Auffindung der Gesetze der Geschichte, um die es sich zuerst handelt,
weist auf ein im Unendlichen liegendes Ziel hin: auf die Erkenntnis derjenigen
Gesetze, die aus jedem gegebenen Zustande der Menschheit, aus jedem zeitlichen
und räumlichen Entwicklungspunkte derselben den folgenden mit völliger
Sicherheit berechnen lassen.
Ich habe nachgewiesen, dass diese Aufgabe nur durch Auflösung aller
historischen Ereignisse in die Wirkungen der einfachsten Teile lösbar ist, dass es wirkliche Gesetze - die also die realen Kräfte des Geschehens
kenntlich machten - für zusammengesetzte Gebilde als solche nicht geben kann,
und dass deshalb der Begriff des historischen Gesetzes im strengen Sinne ein
widerspruchsvoller ist.
Wenn indes, was man so zu bezeichnen pflegt, auch nur Tatsachen - Erfolge
von Gesetzen an dem zufälligen Material - aber nicht Gesetze selbst sind, so
wird dennoch in der Erforschung solcher vorläufiger Gesetze durch
allmähliche Induktion und Analyse eine Annäherung an die Erkenntnis der
wirklichen Kräfte und der einfachen historischen Elemente und ihrer Gesetze
erreicht.
Philosophisch aber ist diese Bestrebung, insoweit wir das Wesen des
philosophischen Denkens überhaupt darin erkannten, in ersten Allgemeinheiten
und vorläufigen Zusammenfassungen die exakte Erkenntnis zu antizipieren und vorzubereiten.
Das Bestreben, Gesetze der Geschichte zu finden, ist zwar insofern eine
Selbsttäuschung, als die Gesetze, die die Geschichte bestimmen, nicht
besondere Gesetze der Geschichte als dieses Segmentes des kosmischen Kreises
sind.
Allein als vorläufige Orientierung über die Buntheit und Zufälligkeit
der historischen Erscheinungen und als Vorstadien der Erkenntnis der real
wirksamen Gesetze sind sie durchaus berechtigt.
Und endlich handelt es sich um den Versuch, mit den Mitteln der Philosophie
die Beziehungen zum Absoluten, den Zweck und den Sinn im geschichtlichen Sein
zu erkennen - also dasjenige nun sachlich festzustellen, was die
erkenntnistheoretische Aufgabe der Geschichtsphilosophie als Element in der
empirischen Geschichtsforschung nachzuweisen hatte.
Und hierüber sahen wir: dass jede Konstruktion eines Überempirischen auf
Grund metaphysischer, ethischer, ästhetischer Triebe ins Leere führt, sobald
sie zum Zweck der Erklärung der sinnlichen Gegebenheiten unternommen wird.
Es liegt zwar nahe, einzuwenden, dass die psychologische Deutung der
geschichtlichen Tatsachen, die doch den eigentlichen Inhalt der Geschichte
ausmacht, auch nichts anderes sei, als die Erklärung des sinnlich Gegebenen
durch ein dahinter vermutetes Geistiges.
Allein wir würden zu diesem letzteren Erkenntnisverfahren auch wirklich
nicht berechtigt sein, wenn nicht, wie wir sahen, die vorausgesetzten Bewusstseinsvorgänge der historischen Personen in dem
Bewusstsein des
Erkennenden ein unmittelbares Gegenbild fänden, derart, dass wir sogar äussere Handlungen nie durch psychische Vorgänge erklären dürfen, die wir
nicht in irgend einer Form in uns nachbilden können.
Diese subjektive Reproduktion, in der alles Verständnis der Geschichte
besteht, ist uns aber nur da möglich, wo sie hinter die Reihe der äusseren
Handlungen unmittelbar eine solche der Gedanken, Wollungen, Gefühle stellt,
aber nicht, wo hinter die letztere, schon festgestellte, noch einmal ein
geistiges Prinzip als Träger und Führer gesetzt werden soll.
Jeder Versuch, durch ein solches die empirischen Gegebenheiten zu
erklären, scheitert daran, dass wir den Inhalt desselben nur aus der
Wirklichkeit gewinnen können, die es ja erst erklären soll.
- Berechtigter aber erschien uns die Metaphysik da, wo sie nicht die
Wirklichkeit zu erkennen dienen soll; wo die metaphysischen Vorstellungen eine
von allen theoretischen Fragen unabhängige, durch spekulative Interessen oder
Bedürfnisse des Gemütes getragene Geltung besitzen, da wird man gegen den
Versuch, sie an den historischen Entwicklungen zu bewähren, nichts einwenden
können.
Es handelt sich hier nur um symbolische Deutungen und Bedeutungen der
Wirklichkeit, die aber nicht über sich hinaus und in die Wissensvorstellung
von dieser hinein greifen.
Man kann sie nicht als falsch bezeichnen, weil sie nicht Erkenntnisse,
sondern Ausgestaltungen von Interessen sind, die, als psychologische
Tatsachen, jenseits der Alternative von Wahr und Falsch stehen.
Fussnoten
1) Die
eigentümliche Mittelstellung des Zweckbegriffs, seine Bindung an das
Objektive, ausserhalb dessen er doch andererseits steht, hat eine
gewisse Unklarheit um ihn gesponnen; diese lässt ihn nicht nur da
auftreten und der Forschung seine Färbung geben, wo es sich nur um
reale Kausalprozesse handelt, sondern auch umgekehrt glaubt man
infolge ihrer manchmal ein rein kausales Bewusstsein von den Dingen
zu haben, ohne zu merken, dass man von dunklen teleologischen
Momenten bestimmt wird.
Der oft gehörte Begriff der historischen Notwendigkeit ist
hierfür bezeichnend.
Seinem unmittelbaren Sinne nach scheint man mit ihm auf Ursachen
hinzuweisen, welche irgend ein vorliegendes Ereignis oder Zustand aus
sich heraus getrieben haben; denn Notwendigkeit bedeutet doch eben
gesetzmässige Verursachung; und darum glaubt man auch in dem
Augenblick, in dem man irgend ein Geschehen als historische
Notwendigkeit bezeichnet, seinen wirkenden und zureichenden Grund
erschöpft zu haben.
Sicht man aber näher zu, so entdeckt man in sehr vielen Fällen,
dass statt dessen die Notwendigkeit den Ereignissen aus teleologischen
und moralischen Überlegungen heraus zugesprochen wird.
Dass Reiche zusammenstürzen, deren Rolle nach der Vorstellung,
die Man sich vom Ganzen und vom Sinne der Geschichte macht, ausgespielt
ist; dass ruchlose Persönlichkeiten Strafe und Untergang finden, dass
neue Faktoren in der Geschichte auftreten, die ihrerseits höhere und
sinnvollere Gestaltungen ermöglichen - dies wird als historische
Notwendigkeit ausgesprochen; aber diese Notwendigkeit kommt ihm nur zu,
insofern es Mittel zu einem späteren Zustand ist.
Wenn das Ziel Fortschrittes erreicht, wenn gewisse ideale Maximen
durchgeführt werden, und die Geschichte einen bestimmten Sinn
innehalten soll, so sind jene Vorgänge allerdings als Mittel notwendig;
und den Gefühlston, der mit ihrer »Notwendigkeit« mitschwebt, wird
von diesem terminus ad quem, nicht aber von dem terminus a quo entlehnt.
Es verhält sich damit gerade so, wie mit dem Ausdruck des
täglichen Lebens: dies und das »musste so kommen«.
Auch dieser enthält keineswegs immer die Einsicht in die
verursachenden Momente, deren reale Kraft vielmehr sehr oft unerkannt
oder unbeachtet ist; sondern es musste so kommen, weil sich so die
sittliche Weltordnung vollzog, weil sich so das zweckmässige
Gleichgewicht der Dinge herstellte; jener Ausdruck ist gerade wie der
der historischen Notwendigkeit, ein Ausdruck für die Befriedigung des
Gefühls, dessen sittliche oder sonstige Anforderungen die fragliche
Tatsache erfüllt.
In beiden Fällen pflegt sich die teleologische Genugtuung durch
die theoretisch- kausale hindurchzuflechten.
2) Zu der
Selbsttäuschung, als könnte man sich in der Historie rein an die
Wirklichkeit halten, ohne von Gesichtspunkten, die ausserhalb ihrer
liegen, ihre Auffassung und Darstellung bestimmen zu lassen, bietet
die realistische Kunst eine lehrreiche Analogie.
Wenn die Reaktion gegen den Idealismus, welcher nur die schönen
und besonders bedeutsamen Teile der Wirklichkeit zur Darstellung
auswählte, zu einer besonderen Begünstigung des Hässlichen und des
sonst als gleichgültig Vernachlässigten geführt hat, so ist offenbar
auch dies nicht der rein objektive Realismus, als der es gelten will,
sondern nur eine Verlegung des Schwerpunktes der Interessen.
Es ist nur ein Idealismus mit umgekehrtem Vorzeichen, eine Auswahl
aus der Wirklichkeit von anderen Kriterien des Wertes aus, aber nicht
ein Verzicht auf Auswahl überhaupt.
Auch hier würde man anderenfalls nicht wissen, was denn diese blosse Nocheinmal-Wirklichkeit auf der Leinwand oder auf der Bühne für
einen Zweck hätte.
Entweder muss der Wirklichkeit an und für sich eine Bedeutung
zugesprochen werden, die hinter ihrer äusseren Erscheinung liegt und
der Wiederholung dieser Interesse verleiht; oder das Abbild muss doch
durch irgend welche subjektiven Zutaten einen anderen Eindruck als die
Wirklichkeit hervorrufen und gerade dadurch das Interesse erregen; denn
käme es nur auf seine Treue an, so würde es in demselben Masse
überflüssig werden, in dem es sich diesem Ideale nähert, weil es uns
dann nur sagte, was wir schon wissen.
Wenn es sich nun auch in der Wissenschaft umgekehrt um das
handelt, was wir noch nicht wissen, so gilt die Analogie doch nicht
ausschliesslich für den ersteren Gesichtspunkt; denn auch die
Geschichtserzählung lässt vieles fort, was zu einem realistischen
Bilde der Wirklichkeit gehörte, auch sie erzählt nicht alles was sie
weiss, auch sie erforscht und betont nur gewisse Punkte der
Entwicklungsreihen, indem sie stillschweigend voraussetzt, dass das
übrige ergänzt, d.h. gewusst wird.
Auch sie tritt mit einer apriorischen Formel an die Wirklichkeit
heran, nach der sie diese verdichtet.
Ähnlich der Kunst muss sie einerseits die Kenntnis der
Wirklichkeit voraussetzen, um überhaupt auf ein Verständnis ihres
Inhaltes zu rechnen, und darf andererseits um dieser vorhandenen
Kenntnis willen die Wirklichkeit nicht in ihrem vollen Umfange
darstellen, da die Wiederholung des Bekannten interesselos wäre.
3) Selbstverständlich aber wird der
fragliche Fortschritt in der Geschichte nicht dadurch
ausgeschlossen, dass das Menschengeschlecht vielleicht einst
vernichtet wird, und die kosmischen Kräfte, die in der Form
desselben die Geschichte produziert haben, zu ganz heterogenen
Ausdrucksweisen übergehen.
Der Fortschritt, um den es sich handelt, ist nur ein Fortschritt
innerhalb der Geschichte und seine Aufgipfelung zu einem definitiven
Ziele wird dadurch nicht illusorisch, dass die Geschichte als Ganzes
nicht den Charakter des Definitiven besitzt.
4)
Der metaphysische Charakter, den die Behauptung von der Einheit des
Geschichtssubjekts trägt, wird da am deutlichsten, wo sie der
Auffassung gleichzeitiger aber räumlich getrennter Erscheinungen zu
Grunde liegt, und wo sie ferner nicht die logische Voraussetzung
einer geschichtsphilosophischen Behauptung, sondern der
Erklärungsgrund für empirische Tatsachen sein soll.
Beides vereint sich etwa in der Behauptung einiger
Geschichtsphilosophen: die merkwürdige Erscheinung, dass bedeutende
Ereignisse oft in ähnlicher Weise zu gleicher Zeit an ganz
verschiedenen Punkten auftauchen (z.B. Zoroaster, Konfuzius, Numa,
ca.6oo v.Chr.), stamme aus der Einheit des Menschengeschlechts; dasselbe
entwickle sich wie ein organischer Leib, dessen Glieder, die Völker, in
bestimmter Weise durch sein Älterwerden modifiziert würden manche
gleich, manche ungleich.
Georg Simmel: Probleme der
Geschichtsphilosophie
Eine erkenntnistheoretische Studie
Duncker
& Humblot, Leipzig 1892
1.
Kapitel: Von den psychologischen Voraussetzungen der
Geschichtsforschung
2.
Kapitel: Von den historischen Gesetzen
3.
Kapitel: Vom Sinn der Geschichte
|