Georg Simmel: Über soziale Differenzierung
Soziologische
und psychologische Untersuchungen
Duncker & Humblot, Leipzig 1890
1. Kapitel:
Einleitung - Zur Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaft (S. 1-20)
Das Material der Sozialwissenschaft; komplizierter Charakter desselben.
Die Unmöglichkeit soziologischer Gesetze.
Begriff der Gesellschaft; die Kritik desselben vom Standpunkte des
individualistischen Realismus. Begriff des Individuums
Die Einheit der Gesellschaft als Wechselwirkung ihrer Teile. Die
Verdichtung dieser Wechselwirkung zu objektiven Gebilden
(>1) Die häufig beobachtete Eigentümlichkeit komplizierter
Gebilde: dass das Verhältnis eines Ganzen zu einem andern sich
innerhalb der Teile eines dieser Ganzen wiederholt liegt auch in dem Verhältnis
zwischen Theorie und Praxis vor.
Wenn man innerhalb der theoretischen Erkenntnis nicht auf den rein ideellen
Inhalt, sondern auf das Zustandekommen desselben achtet, auf die psychologischen
Motive, die methodischen Wege, die systematischen Ziele, so erscheint doch
auch die Erkenntnis als ein Gebiet menschlicher Praxis, das nun seinerseits
wieder zum Gegenstand des theoretisierenden Erkennens wird.
Damit ist zugleich ein Wertmaß für die erkenntnistheoretische
und methodologische Betrachtung der Wissenschaften gegeben; sie verhält
sich als Theorie der Theorie zu der auf die Objekte gerichteten Forschung,
wie sich eben die Theorie zur Praxis verhält, d.h. von geringerer
Bedeutung, unselbständiger, mehr im Charakter des Registrierens als
des Erwerbens, nur die formalen Seiten eines schon gegebenen Inhaltes auf
höherer Bewusstseinsstufe wiederholend.
Im allgemeinen liegt dem Menschen mehr daran, etwas zu machen, als zu
wissen, wie er es macht, und die Tatsache des ersteren ist auch stets der
Klarheit über das letztere vorausgegangen.
Ja, nicht nur das Wie, sondern auch das Wozu des Erkennens pflegt im Unbewussten
zu bleiben, sobald es über die nächste Stufe
der Zweckreihe hinaus nach den entfernteren oder letzten Zielen desselben
fragt; die Einordnung der einzelnen Erkenntnis in ein geschlossenes System
von Wahrheiten, ihre Dienstbarkeit als Mittel zu einem höchsten (>2)
Erkennen, Empfinden oder Handeln, ihre Zurückführung auf erste
Prinzipien dies alles sind Angelegenheiten, die in einem ideellen Weltbild
obenan stehen mögen, bei der tatsächlichen Bildung desselben
aber sowohl der Zeit als der Wichtigkeit nach nur Epilog sind.
Diesem geschichtlichen Gang sich entwickelnder Erkenntnis entspräche
es, wenn man insbesondere bei einer erst beginnenden Wissenschaft, wie
die Soziologie ist, alle Kraft an die Einzelforschung setzte, um ihr zunächst
einen Inhalt, eine gesicherte Bedeutung zu geben, und die Fragen der Methode
und der letzten Ziele so lange bei Seite ließe, bis man hinreichendes
tatsächliches Material für ihre Beantwortung hat, auch weil man
andernfalls in die Gefahr gerät, eine Form zu schaffen, ohne die Sicherheit
eines möglichen Inhaltes, ein Gesetzbuch ohne Subjekte, die ihm gehorchen,
eine Regel ohne Fälle, aus denen sie gezogen wird und die ihre Richtigkeit
gewährleisteten.
Dies im allgemeinen zugegeben, begründet doch der jetzige Zustand
der Wissenschaften einen Unterschied gegen die oben charakterisierten früheren
Arten, eine solche zustande zu bringen.
Wie sich moderne politische Revolutionen dadurch von denen primitiverer
Zeiten unterscheiden, dass man heute schon bekannte, anderwärts
verwirklichte und erprobte Zustände zu verwirklichen sucht, dass eine bewusste
Theorie vorangeht, der man die Praxis nachbildet: so
wird es auch durch die höhere Bewusstheit des modernen Geistes
gerechtfertigt, dass man aus der Fülle vorhandener Wissenschaften
und bewährter Theorien heraus die Umrisse, Formen und Ziele einer
Wissenschaft fixiere, bevor man an den tatsächlichen Aufbau derselben
geht. Ein besonderes Moment kommt noch für die Soziologie hinzu.
Sie ist eine eklektische Wissenschaft, insofern die Produkte anderer
Wissenschaften ihr Material bilden.
Sie verfährt mit den Ergebnissen der Geschichtsforschung, der Anthropologie,
der Statistik, der Psychologie wie mit Halbprodukten; sie wendet sich nicht
unmittelbar an das primitive Material, das andere Wissenschaften bearbeiten,
sondern, als Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz, schafft sie neue Synthesen
aus dem, was für jene schon Synthese ist.
In ihrem jetzigen Zustande gibt sie nur einen neuen Standpunkt für
die Betrachtung bekannter Tatsachen.
Deshalb aber ist es für sie besonders erforderlich, diesen Standpunkt
zu fixieren, weil die Wissenschaft allein von ihm ihren spezifischen Charakter
entlehnt, nicht aber von ihrem, den Tatsachen nach sonst schon bekannten
Material.
In diesem Fall sind die allgemeinen Gesichtspunkte, die Einheit des
letzten Zwecks, die Art der Forschung mit Recht das Erste, was in das Bewusstsein
zu heben ist; denn dies muss tatsächlich in ihm vorhanden (>3)
sein, damit es zu der neuen Wissenschaft komme, während andere mehr
von dem Material als von seiner Formung ausgehen, welche letztere bei ihnen
unmittelbarer durch das erstere gegeben wird.
Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass es sich dabei nur
um graduelle Unterschiede handelt, dass im letzten Grunde der Inhalt
keiner Wissenschaft aus bloßen objektiven Tatsachen besteht, sondern
immer eine Deutung und Formung derselben nach Kategorien und Normen enthält,
die für die betreffende Wissenschaft a priori sind, d.h. von dem auffassenden
Geiste an die an und für sich isolierten Tatsachen herangebracht werden.
Bei der Sozialwissenschaft findet nur ein quantitatives Überwiegen
des kombinatorischen Elementes gegenüber anderen Wissenschaften statt,
woher es denn bei ihr besonders gerechtfertigt erscheint, sich die Gesichtspunkte,
nach denen ihre Kombinationen erfolgen, zu theoretischem Bewusstsein zu bringen.
Damit ist indes natürlich nicht gemeint, dass es unbestrittener
und fest umgrenzter Definitionen für die Grundbegriffe der Soziologie
bedürfe, dass man z.B. von vornherein die Fragen beantworten
könne: was ist eine Gesellschaft? was ist ein Individuum? wie sind
gegenseitige psychische Wirkungen der Individuen auf einander möglich?
usw.; vielmehr wird man sich auch hier mit einer nur ungefähren Umgrenzung
des Gebietes begnügen und die völlige Einsicht in das Wesen der
Objekte von, aber nicht vor der Vollendung der Wissenschaft erwarten müssen,
wenn man nicht in den Irrtum der älteren Psychologie verfallen will:
man müsse zuerst das Wesen der Seele definiert haben, ehe man die
seelischen Erscheinungen wissenschaftlich erkennen könne.
Noch immer gilt die aristotelische Wahrheit, dass, was der Sache
nach das Erste ist, für unsere Erkenntnis das Späteste ist.
Im logisch systematischen Aufbau der Wissenschaft bilden freilich die
Definitionen der Grundbegriffe das Erste; allein erst eine fertige Wissenschaft
kann sich so vom Einfachsten und Klarsten aufbauen.
Wenn eine Wissenschaft erst zustande gebracht werden soll, muss man
von den unmittelbar gegebenen Problemen ausgehen, die immer höchst
kompliziert sind und sich erst allmählich in ihre Elemente auflösen
lassen.
Das einfachste Resultat des Denkens ist eben nicht das Resultat des
einfachsten Denkens.
Vielleicht ist das unmittelbar gegebene Problem auch gerade bei der
Sozialwissenschaft eines der kompliziertesten, die überhaupt denkbar
sind.
Ist der Mensch das höchste Gebilde, zu dem die natürliche
Entwicklung sich aufgipfelt, so ist er dies doch nur dadurch, dass ein Maximum verschiedenartiger Kräfte sich in ihm gehäuft hat,
die durch gegenseitige Modifizierung, Ausgleichung und Auslese eben (>4)
diesen Mikrokosmos zustande brachten; offenbar ist jede Organisation eine
um so höhere, je mannigfaltigere Kräfte sich in ihr im Gleichgewicht
befinden.
Ist nun schon das menschliche Einzelwesen mit einer fast unübersehbaren
Fülle latenter und wirkender Kräfte ausgestattet, so muss die Komplikation da noch eine viel größere werden, wo gegenseitige
Wirkungen solcher Wesen auf einander vorliegen und die Kompliziertheit
des einen, gewissermaßen mit der des andern sich multiplizierend,
eine Unermesslichkeit von Kombinationen ermöglicht.
Wenn es also die Aufgabe der Soziologie ist, die Formen des Zusammenseins
von Menschen zu beschreiben und die Regeln zu finden, nach denen das Individuum,
insofern es Mitglied einer Gruppe ist, und die Gruppen untereinander sich
verhalten, so hat die Kompliziertheit dieser Objekte eine Folge für
unsere Wissenschaft, die sie in einer erkenntnistheoretischen Beziehung,
der ich eine ausführliche Begründung widmen muss, neben
die Metaphysik und die Psychologie stellt.
Diese beiden haben nämlich das Eigentümliche, dass durchaus
entgegengesetzte Sätze in ihnen das gleiche Maß von Wahrscheinlichkeit
und Beweisbarkeit aufzeigen.
Dass die Welt im letzten Grunde absolut einheitlich und alle Individualisierung
und aller Unterschied nur ein täuschender Schein sei, kann man ebenso
plausibel machen, wie den Glauben an die absolute Individualität jedes
Teiles der Welt, in der nicht einmal ein Baumblatt dem andern völlig
gleich ist, und dass alle Vereinheitlichung nur eine subjektive Zutat
unsres Geistes, nur die Folge eines psychologischen Einheitstriebes sei,
für den keine objektive Berechtigung nachweisbar wäre; der durchgehende
Mechanismus und Materialismus im Weltgeschehen bildet ebenso einen letzten
metaphysischen Zielpunkt, wie im Gegenteil die Hinweisung auf ein Geistiges,
das überall durch die Erscheinungen hindurchblickt und den eigentlichen
letzten Sinn der Welt ausmacht; wenn ein Philosoph das Gehirn als das Dingansich
des Geistes bezeichnet hat, und ein anderer den Geist als das Dingansich
des Gehirns, so hat der eine ebenso tiefe und gewichtige Gründe für
seine Meinung angeführt, wie der andere.
Und Ähnliches beobachten wir in der Psychologie, wo ihr noch nicht
der Zusammenhang mit der Physiologie die Isolierung und damit die exaktere
Beobachtung der primitiven sinnlichen Grundlagen des Seelenlebens ermöglicht,
sondern wo es sich um Kausalverhältnisse der an der Oberfläche
Des Bewusstseins auftauchenden Gedanken, Gefühle, Willensakte
handelt.
Da sehen wir denn, dass persönliche Glückssteigerung
die Ursache von selbstloser Freundlichkeit ist, die den Andern gern ebenso
glücklich sehen möchte, wie man selbst ist, ebenso oft aber von
hartherzigem Stolz, dem das Verständnis für das Leiden anderer
abhanden gekommen ist; beides lässt sich psychologisch (>5) gleichmäßig
plausibel machen.
Und so deduzieren wir mit gleicher Wahrscheinlichkeit, dass die
Entfernung gewisse Empfindungen zweier Menschen für einander steigert,
wie dass sie sie schwächt; dass der Optimismus, aber auch
gerade der Pessimismus die Vorbedingung eines kräftigen ethischen
Handelns ist; dass die Liebe zu einem engeren Kreise von Menschen
das Herz nun auch für die Interessen weiterer Kreise empfänglich
macht, wie dass sie dasselbe gegen die letzteren abschließt
und verbaut.
Und ebenso wie der Inhalt lässt sich auch die Richtung der
psychologischen Verknüpfung umkehren, ohne an Richtigkeit einzubüssen.
Dass Unsittlichkeit die Ursache inneren Unglücks ist, wird
uns mit ebenso starken Gründen von dem einen Psychologen bewiesen,
wie von dem andern, dass das Unglück die Ursache der Demoralisierung
ist; dass der Glaube an gewisse religiöse Dogmen die Ursache
geistiger Unselbständigkeit und Verdummung wird, ist mit nicht schlechteren
Gründen und Beispielen bewiesen, wie das umgekehrte, dass die
geistige Unzulänglichkeit der Menschen eigentlich die Ursache sei,
die sie zum Glauben an überirdische Dinge greifen ließ.
Kurz, weder in metaphysischen noch in psychologischen Dingen findet
sich die Eindeutigkeit einer wissenschaftlichen Regel, sondern stets die
Möglichkeit, jeder Beobachtung oder Wahrscheinlichkeit die entgegengesetzte
entgegenzustellen.
Die Ursache dieser auffallenden Zweideutigkeit ist offenbar die, dass die Objekte, über deren Beziehungen ausgesagt wird, schon an und für
sich nicht eindeutig sind.
Das Ganze der Welt, von dem metaphysische Behauptungen sprechen, enthält
eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit von Einzelheiten, dass fast jede beliebige Behauptung über dasselbe eine Anzahl von Stützen
findet, die oft genug soviel psychologisches Gewicht besitzen, um entgegenstehende
Erfahrungen und Deutungen aus dem Bewusstsein zu verdrängen,
die nun ihrerseits in andern, gerade für sie disponierten Geistern
den Gesamtcharakter des Weltbildes bestimmen.
Das Falsche liegt nur darin, dass entweder eine partielle Wahrheit
zu einer absolut gültigen verallgemeinert, oder aus der Beobachtung
gewisser Tatsachen ein Schluss auf das Ganze gezogen wird, der unmöglich
wäre, wenn die Beobachtung noch weiter ausgedehnt wäre; also
sozusagen weniger Irrtümer im Inhalt des Urteils als in dessen Betonung,
mehr in der Quantität als in der Qualität.
Nahe dabei fließt die Quelle für die Unzulänglichkeit
der psychologischen Urteile.
Die Allgemeinbegriffe psychischer Funktionen, zwischen denen sie Verbindungen
stiften, sind so sehr allgemein und schließen eine solche Fülle
von Nuancen ein, dass je nach der Betonung der einen oder der andern
ganz verschiedene Folgen aus dem der Bezeichnung nach identischen Affekt
hervorgehen können; (>6) ein so weites Gebiet umfasst z.B. der
Begriff des Glücks oder der Religiosität, dass die von einander
abstehendsten Punkte desselben trotz des Enthaltenseins unter dem gleichen
Begriff durchaus als Ursachen heterogener Folgen verständlich sind.
Ganz Unrecht hat mithin keine jener allgemeinen psychologischen Sentenzen;
sie irren meistens nur darin, dass sie die spezifische Differenz vernachlässigen,
die, die in Rede stehenden Allgemeinbegriffe näher bestimmend, sie
bald in diese, bald in jene ganz entgegengesetzte Verbindung bringt.
Es ist ganz richtig, dass Trennung die Liebe steigert; aber nicht
Trennung überhaupt und Liebe überhaupt, sondern nur eine bestimmte
Art beider steht in diesem Verhältnis; und ebenso ist es richtig, dass Trennung die Liebe schwächt; aber nicht jede Trennung jede
Liebe, sondern eine gewisse Nuance der ersteren schwächt eine gewisse
Nuance der letzteren.
Hier ist auch insbesondere der Einfluss der Quantität des
seelischen Affekts im Auge zu behalten.
Wir können freilich gewisse Abänderungen einer Empfindung
nur unter die Denk und Sprachkategorie der Quantität bringen und bezeichnen
sie deshalb noch immer mit dem gleichen Begriff; tatsächlich aber
sind es auch innerliche, qualitative Veränderungen, die auf diese
Weise mit ihr vorgehen.
Wie ein großes Kapital zwar nur quantitativ anders ist, als ein
kleines, dennoch aber qualitativ ganz anders geartete wirtschaftliche Wirkungen
ausübt, so und noch viel mehr ist der Unterschied zwischen einer großen
und einer geringen Empfindung in Liebe und Hass, Stolz und Demut,
Lust und Leid ein nur scheinbar quantitativer, tatsächlich aber ein
so genereller, dass, wo über die psychologischen Beziehungen
einer Empfindung als solcher und im allgemeinen ausgesagt werden soll,
je nach dem Quantum derselben, über das man gerade Erfahrungen gesammelt
hat, die heterogensten Verbindungen derselben beweisbar sind.
Und nun das, was für die Analogie, die ich im Auge habe, das Wichtigste
ist.
Wo wir von der Verursachung irgend eines psychischen Ereignisses durch
ein anderes sprechen, da ist das letztere in der Isolierung und Selbständigkeit,
die sein sprachlicher Ausdruck anzeigt, doch nie die an sich zureichende
Veranlassung des ersteren; vielmehr gehört der ganze übrige bewusste und
unbewusste Seeleninhalt dazu, um, im Verein mit der neu eingetretenen
Bewegung, den weiteren Vorgang zuwege zu bringen.
Insofern man psychische Ereignisse wie Liebe, Hass, Glück,
oder Qualitäten wie Klugheit, Reizbarkeit, Demut und ähnliche
als Ursachen bezeichnet, fasst man in ihnen einen ganzen Komplex mannigfaltiger
Kräfte zusammen, die nur von jener besonders hervorgehobenen die Färbung
oder die Richtung empfangen.
Das Bestimmende hierbei ist nicht nur der allgemeine erkenntnistheoretische
Grund, dass die Wirkung jeder (>7) Kraft von dem sonstigen Gesamtzustand
des Wesens abhängt, an dem sie sich äußert, und so gewissermaßen
als die Resultante zwischen der hervorgehobenen Kraft und einer Anzahl
anderer, im gleichen Augenblick auf den gleichen Punkt wirkender anzusehen
ist; sondern speziell die menschliche Seele ist ein so außerordentlich
kompliziertes Gebilde, dass, wenn man einen Vorgang oder Zustand in
ihr unter einen einheitlichen Begriff bringt, dies immer nur eine Benennung
a potiori ist; es spielen stets so viele Prozesse zugleich in unserer Seele,
so viele Kräfte sind zugleich in ihr wirksam, dass die Feststellung
einer Kausalverbindung zwischen einfachen psychologischen Begriffen, wie
in den bisherigen Beispielen, immer ganz einseitig ist; nicht der eine
einheitliche Affekt geht in den andern einheitlichen über, sondern
Gesamtzustände tun dies, in denen jene etwa die Hauptsachen oder besonders
hell beleuchtete Punkte sind, deren entscheidende Nuancierung aber von
unzähligen gleichzeitigen Seeleninhalten herrührt.
Wie ein Ton seine Klangfarbe von den zugleich erklingenden Obertönen
erhält, wir also nicht den reinen Ton, sondern eine große Anzahl
von Tönen hören, von denen einer nur der hervortretendste, keineswegs
aber über den ästhetischen Eindruck allein entscheidende ist:
so hat jede Vorstellung und jedes Gefühl eine große Zahl psychischer
Begleiter, die es individualisieren und über seine weiteren Wirkungen
entscheiden.
Von der Fülle des gleichzeitigen psychischen Inhaltes treten immer
nur wenige führende Vorstellungen in das klare Bewusstsein, und
die Kausalverbindung, die man einmal zwischen ihnen beobachtet hat, ist
das nächste Mal schon nicht mehr gültig, weil inzwischen der
Gesamtzustand der Seele sich geändert hat und anderweitige Vorgänge
etwa das erste Mal in der Richtung jener Verbindung, das zweite Mal aber
ihr entgegenwirkten.
Dies ist der Grund, weshalb die Psychologie keine Gesetze im naturwissenschaftlichen
Sinne erreichen kann: weil wegen der Kompliziertheit ihrer Erscheinungen
keine isolierte einfache Kraftwirkung in der Seele zu beobachten ist, sondern
jede von so vielen Nebenerscheinungen begleitet wird, dass nie mit
vollkommener Sicherheit festzustellen ist, was denn nun wirklich die Ursache
einer gegebenen Folge oder die Folge einer gegebenen Ursache ist.
Trotzdem wäre es falsch, den metaphysischen und psychologischen
Aufstellungen deshalb nun den wissenschaftlichen Wert absprechen zu wollen.
Wenn sie auch nicht exakte Erkenntnis sind, so sind sie doch Vorläufer
derselben.
Sie orientieren doch einigermaßen über die Erscheinungen
und schaffen die Begriffe, durch deren allmähliche Verfeinerung, Wiederauflösung
und Zusammenfügung nach anderen Gesichtspunkten eine immer größere
Annäherung an die Wahrheit (>8) erreicht wird; sie stiften unter diesen
zwar einseitige Verbindungen, deren Einseitigkeit aber durch die entgegengesetzte
paralysiert wird; sie stellen wenigstens eine erste Organisierung der Massen
dar, wenn sie diese auch noch nicht soweit beherrschen, um zu den Beziehungen
der letzten einfachen Teile vorzudringen, in die die komplexen Erscheinungen
aufzulösen das letzte Ziel der Wissenschaft ist. In einer ähnlichen
Verfassung nun befindet sich die Soziologie.
Weil ihr Gegenstand eine solche Fülle von Bewegungen in sich schließt,
wird je nach den Beobachtungen und Tendenzen des Forschers bald die eine,
bald die andere als typisch und innerlich notwendig erscheinen; das Verhältnis
des Individuums zur Allgemeinheit, die Ursachen und die Formen der Gruppenbildung,
die Gegensätze und Übergänge der Klassen, die Entwicklung
des Verhältnisses zwischen Führenden und Beherrschten und unzählige
andere Angelegenheiten unserer Wissenschaft zeigen einen solchen Reichtum
von verschiedenartigen geschichtlichen Verwirklichungen, dass jede
einheitliche Normierung, jede Feststellung einer durchgehenden Form dieser
Verhältnisse einseitig sein muss und die entgegengesetztesten
Behauptungen darüber sich durch vielfache Beispiele belegen lassen.
Der tiefere Grund liegt auch hier in der Kompliziertheit der Objekte,
die der Auflösung in einfache Teile und deren primitive Kräfte
und Verhältnisse völlig widerstehen.
Jeder gesellschaftliche Vorgang oder Zustand, den wir uns zum Objekt
machen, ist die Erscheinung, bzw. Wirkung unzählig vieler tiefer gelegenen
Teilvorgänge.
Da nun die gleiche Wirkung von sehr verschiedenen Ursachen ausgehen
kann, so ist es möglich, dass die genau gleiche Erscheinung durch
ganz verschiedene Komplexe von Kräften hervorgebracht werde, die,
nachdem sie an einem Punkte zu der gleichen Wirkung zusammengegangen sind,
in ihrer weiteren, darüber hinausgehenden Entwicklung wieder völlig
verschiedene Formen annehmen.
Aus der Gleichheit zweier Zustände oder Perioden in großen
Entwicklungsreihen lässt sich deshalb noch nicht schließen, dass die Folge dieses Abschnitts in der einen der des gleich erscheinenden
in der andern gleich sein werde; im weiteren Verlaufe kommt dann die Verschiedenheit
der Ausgangspunkte wieder zur Geltung, die nur einer zufälligen und
vorübergehenden Gleichheit Platz gemacht hatte.
Eine Häufigkeit dieses Verhaltens wird natürlich da am wahrscheinlichsten
sein, wo die Fülle, die Komplikation und die Erkenntnisschwierigkeit
der einzelnen Faktoren und Teilursachen die größte ist.
Dies aber trifft, wie gesagt, bei den gesellschaftlichen Erscheinungen
im höchsten Maße zu; die primären Teile und Kräfte,
die diese zustande bringen, sind so unübersehbar mannigfaltig, dass hundertfach gleiche Erscheinungen eintreten, (>9) die im nächsten
Augenblicke in ganz verschiedene Weiterentwicklungen auslaufen gerade wie
die Kompliziertheit der seelischen Kräfte die ganz gleiche Bewusstseinserscheinung
bald mit einer, bald mit einer andern, genau entgegengesetzten Folge verbindet.
Auch in sonstigen Wissenschaften ist ähnliches zu beobachten.
In der Geschichte der Gesundheitslehre, insbesondere in den Theorien
der Ernährung, sehen wir oft die entgegengesetztesten Behauptungen
über den Wert eines Nahrungsmittels einander ablösen.
Innerhalb des menschlichen Körpers sind aber tatsächlich so
viele Kräfte tätig, dass eine neu eintretende Einwirkung
die verschiedenartigsten Folgen haben, die eine fördern, die andere
hemmen kann.
Deshalb irrt vielleicht keine jener Theorien ganz in dem Kausalverhältnis,
das sie zwischen dem Nahrungsmittel und dem menschlichen Organismus aufstellt,
sondern nur darin, dass sie dieses für das einzige und definitive
hält.
Sie vergisst, dass dasjenige, was in einem sehr komplizierten
System nach einer Seite hin entschieden wirkt, nach einer andern eine entschieden
entgegengesetzte Nebenwirkung haben kann, und überspringt die zeitlichen
und sachlichen Zwischenglieder, die sich zwischen die unmittelbare Wirkung
einer Kraft und den schließlichen Gesamtzustand des Ganzen, auf das
sie einseitig wirkt, einschieben.
Eben diese Unbestimmtheit in den schließlichen Erfolgen eines
Vorgangs am sozialen Körper, die zu so vielen Entgegengesetztheiten
im soziologischen Erkennen führt, veranlasst die gleichen auch
in den praktisch sozialen Angelegenheiten; die Mannigfaltigkeit und Feindseligkeit
der Parteien in diesen, von denen doch jede mit ihren Mitteln das gleiche
Ziel eines Glückseligkeitsmaximums für die Gesamtheit zu erreichen
glaubt, beweist jenen eigentümlichen, durch seine Kompliziertheit
jeder exakten Berechnung widerstrebenden Charakter des sozialen Materials.
Von Gesetzen der sozialen Entwicklung kann man deshalb nicht sprechen.
Zweifellos bewegt sich jedes Element einer Gesellschaft nach Naturgesetzen;
allein für das Ganze gibt es kein Gesetz; so wenig hier wie sonst
in der Natur erhebt sich über die Gesetze, die die Bewegungen der
kleinsten Teile regeln, ein höheres Gesetz, das diese Bewegungen nun
in immer gleicher Weise und zu dem gleichen Gesamteffekt zusammenschlösse.
Deshalb können wir nicht wissen, ob nicht in jedem von zwei gleich
erscheinenden gesellschaftlichen Zuständen Kräfte latent sind,
die im nächsten Augenblick völlig verschiedene Erscheinungen
aus jenen hervortreiben.
So ist auch die Differenzierung, über die im folgenden gehandelt
wird, keine besondere Kraft, kein in das Spiel der primären Mächte
der sozialen Gestaltung eingreifendes Gesetz, sondern nur der Ausdruck
für ein Phänomen, das aus der Wirkung der realen elementaren
Kräfte hervorgeht.
Und (>10) ferner: wo wir die Folge eines Komplexes einfacher Erscheinungen
festzustellen suchen, ist es nur durch die schwierigsten und auf höheren
Gebieten oft ganz unanwendbaren Methoden möglich, diejenige Erscheinung
festzustellen, die die allein oder wesentlich wirksame ist; wo überhaupt
Mannigfaltiges mit Mannigfaltigem in eine einheitlich erscheinende Beziehung
tritt, da ist überall dem Irrtum über die eigentlichen Träger
der Ursache wie der Wirkung Tür und Tor geöffnet.
Dieser Gesichtspunkt führt auf einen Einwand, den man vom erkenntnistheoretischen
Standpunkt gegen die Gesellschaftswissenschaft überhaupt erheben kann.
Der Begriff der Gesellschaft hat offenbar nur dann einen Sinn, wenn
er in irgend einem Gegensatz gegen die bloße Summe der Einzelnen
steht.
Denn fiele er mit letzterer zusammen, so scheint er nicht anders das
Objekt einer Wissenschaft sein zu können, als etwa »der Sternhimmel«
als Gegenstand der Astronomie zu bezeichnen ist; tatsächlich ist dies
doch nur ein Kollektivausdruck, und was die Astronomie feststellt, sind
nur die Bewegungen der einzelnen Sterne und die Gesetze, die diese regeln.
Ist die Gesellschaft nur eine in unserer Betrachtungsweise vor sich
gehende Zusammenfassung von Einzelnen, die die eigentlichen Realitäten
sind, so bilden diese und ihr Verhalten auch das eigentliche Objekt der
Wissenschaft, und der Begriff der Gesellschaft verflüchtigt sich.
Und wirklich scheint es sich so zu verhalten.
Was greifbar existiert, sind doch nur die einzelnen Menschen und ihre
Zustände und Bewegungen: deshalb könne es sich nur darum handeln
diese zu verstehen, während das rein durch ideelle Synthese entstandene,
nirgends zu greifende Gesellschaftswesen keinen Gegenstand eines auf Erforschung
der Wirklichkeit gerichteten Denkens bilden dürfe.
Der Grundgedanke dieses Zweifels an dem Sinn der Soziologie ist durchaus
richtig: wir müssen in der Tat so scharf wie möglich zwischen
den realen Wesen, die wir als objektive Einheiten ansehen dürfen und
den Zusammenfassungen derselben zu Komplexen, die als solche nur in unserem
synthetischen Geiste existieren, unterscheiden.
Und auf dem Rückgang auf jene beruht freilich alles realistische
Wissen; ja, die Erkenntnis der Allgemeinbegriffe, die ein noch immer spukender
Platonismus als Realitäten in unsere Weltanschauung einschwärzt,
als bloß subjektiver Gebilde und ihre Auflösung in die Summe
der allein realen Einzelerscheinungen ist eines der Hauptziele der modernen
Geistesbildung.
Allein wenn der Individualismus diese Kritik gegen den Gesellschaftsbegriff
richtet, so braucht man die Reflexion nur noch eine Stufe zu vertiefen,
um zu sehen, dass er damit zugleich sein eigenes Urteil spricht.
Denn auch der einzelne Mensch ist (>11) nicht die absolute Einheit,
die ein nur mit den letzten Realitäten rechnendes Erkennen fordert.
Die Vielheit, die schon der individuelle Mensch in und an sich aufweist,
als solche zu durchschauen, ist wie ich glaube eine der wichtigsten Vorbedingungen
für eine rationelle Grundlegung der Gesellschaftswissenschaft, der
ich deshalb hier näher treten möchte.
Solange der Mensch, ebenso wie alle organischen Arten, als ein Schöpfungsgedanke
Gottes galt, als ein Wesen, das mit all seinen Eigenschaften fertig ausgestattet
in die Welt trat, da lag es nahe und war fast erfordert, den einzelnen
Menschen als eine geschlossene Einheit anzusehen, als unteilbare Persönlichkeit,
deren »einfache« Seele in der einheitlichen Zusammengehörigkeit
ihrer körperlichen Organe Ausdruck und Analogie fand. Die entwicklungsgeschichtliche
Weltanschauung macht dies unmöglich.
Wenn wir die unermesslichen Wandlungen bedenken, die die Organismen
durchmachen mussten, ehe sie von ihren primitivsten Formen sich zum
Menschengeschlecht aufgipfeln konnten, die entsprechende Unermesslichkeit der Einflüsse und Lebensbedingungen, deren Zufälligkeiten und
Entgegengesetztheiten jede Generation ausgesetzt ist, endlich die organische
Bildsamkeit und die Vererbung, vermöge deren jeder dieser wechselnden
Zustände irgend ein Merkmal, eine Modifikation auf jeden Nachkommen
abgelagert hat: so erscheint jene absolute, metaphysische Einheit des Menschen
in einem sehr bedenklichen Lichte.
Er ist vielmehr die Summe und das Produkt der allermannigfaltigsten
Faktoren, von denen man sowohl der Qualität wie der Funktion nach
nur in sehr ungefährem und relativem Sinne sagen kann, dass sie
zu einer Einheit zusammengehen.
Auch ist es physiologisch längst anerkannt, dass jeder Organismus
sozusagen ein Staat aus Staaten ist, dass seine Teile immer noch eine
gewisse gegenseitige Unabhängigkeit besitzen und als eigentliche organische
Einheit nur die Zelle anzusehen ist; und auch diese letztere ist nur für
den Physiologen und nur insofern eine Einheit, als sie, abgesehen von den
aus bloßem Protoplasma bestehenden Wesen, das einfachste Gebilde
ist, an das sich noch Lebenserscheinungen knüpfen, während sie
an und für sich eine höchst komplizierte Zusammensetzung chemischer
Urbestandteile ist.
Wenn man den Individualismus wirklich konsequent verfolgt, so bleiben
als reale Wesen nur die punktuellen Atome übrig und alles Zusammengesetzte
fällt als solches unter den Gesichtspunkt der Realität geringeren
Grades.
Und was man sich unter der Einheit der Seele konkret zu denken habe,
weiß kein Mensch.
Dass irgendwo in uns ein bestimmtes Wesen säße, das
der alleinige und einfache Träger der psychischen Erscheinungen wäre,
ist ein völlig unbewiesener und erkenntnistheoretisch unhaltbarer
Glaubensartikel.
Und nicht nur auf die einheitliche Substanz (>12) der Seele müssen
wir verzichten, sondern auch unter ihren Inhalten ist keine wirkliche Einheit
zu entdecken; zwischen den Gedanken des Kindes und denen des Mannes, zwischen
unsern theoretischen Überzeugungen und unserm praktischen Handeln
zwischen den Leistungen unserer besten und denen unsere schwächsten
Stunden bestehen so viele Gegensätze, dass e absolut unmöglich
ist einen Punkt zu entdecken, von dem aus dies alles als harmonische Entwicklung
einer ursprünglichen Seeleneinheit erschiene.
Nichts als der ganz leere, formale Gedanke eines Ich bleibt, an dem
alle diese Wandlungen und Gegensätze vor sich gingen, der aber eben
auch nur ein Gedanke ist und deshalb nicht das sein kann, was, vorgeblich
über allen einzelnen Vorstellungen stehend, sie einheitlich
umschließt.
Dass wir also eine Summe von Atombewegungen und einzelnen Vorstellungen
zu der Geschichte eines »Individuums« zusammenfassen, ist schon
unexakt und subjektiv.
Dürfen wir wie jener Individualismus will, nur das als wahrhaft
objektiv Existenz ansehen, was an und für sich im objektiven Sinne
ein Einheit bildet, und ist alle Zusammensetzung solcher Einheiten zu einem
höheren Gebilde nur menschliche Synthese, der gegenüber die Wissenschaft
die Aufgabe der analysierende Zurückführung auf jene Einheiten
habe: so können wir auch nicht bei dem menschlichen Individuum stehen
bleiben, sondern müssen auch dies als eine subjektive Zusammenfassung
betrachten, während den Gegenstand der Wissenschaft nur die einheitlichen,
atomistischen Bestandteile derselben bildeten.
Ebenso richtig wie diese Forderung in der Theorie des Erkennens ist,
ebenso unerfüllbar ist sie in der Praxis desselben.
Statt des Ideales des Wissens, das die Geschichte jedes kleinsten Teiles
der Welt schreiben kann, müssen uns die Geschichte und die Regelmäßigkeiten
der Konglomerate genügen, die nach unsern subjektiven Denkkategorien
aus der objektiven Gesamtheit des Seins herausgeschnitten werden; der Vorwurf,
der diese Praxis trifft, gilt jedem Operieren mit dem menschlichen Individuum
so gut, wie dem mit der menschlichen Gesellschaft.
Die Frage, wie viele und welche realen Einheiten wir zu einer höheren,
aber nur subjektiven Einheit zusammenzufassen haben, deren Schicksale den
Gegenstand einer besonderen Wissenschaft bilden sollen ist nur eine Frage
der Praxis.
Wir haben also, die bloße Vorläufigkeit und den bloß
morphologischen Charakter solcher Erkenntnisse ein für allemal zugegeben,
nach dem Kriterium derartiger Zusammenfassungen, und wie weit diejenige
zu einer Gesellschaft ihm genügt, zu fragen.
Es ist mir nun unzweifelhaft, dass es nur einen Grund gibt, der
eine wenigstens relative Objektivität der (>13) Vereinheitlichung
abgibt: die Wechselwirkung der Teile.
Wir bezeichnen jeden Gegenstand in demselben Maße als einheitlich,
in dem seine Teile in gegenseitigen dynamischen Beziehungen stehen.
Darum gewährt ein Lebewesen so besonders die Erscheinung von Einheit,
weil wir in ihm die energischste Wirkung jedes Teils auf jeden beobachten,
während der Zusammenhang eines unorganischen Naturgebildes schwach
genug ist, um nach Abtrennung eines Teiles die andern in ihren Eigenschaften
und Funktionen im wesentlichen unverletzt zu lassen.
Innerhalb des persönlichen Seelenlebens ist trotz der vorhin erwähnten
Diskrepanz seiner Inhalte doch die funktionelle Beziehung höchst eng;
jede entlegenste oder noch so lange vergangene Vorstellung kann so sehr
auf jede andere wirken, dass hierfür freilich die Vorstellung
einer Einheit von dieser Seite her die größte Berechtigung besitzt.
Natürlich sind die Unterschiede solcher Berechtigungen nur gradweise;
als regulatives Weltprinzip müssen wir annehmen, dass Alles mit Allem
in irgend einer Wechselwirkung steht, dass zwischen jedem Punkte der
Welt und jedem andern Kräfte und hin und hergehende Beziehungen bestehen;
es kann uns deshalb logisch nicht verwehrt werden, beliebige Einheiten
herauszugreifen und sie zu dem Begriff eines Wesens zusammenzuschließen,
dessen Natur und Bewegungen wir nach historischen wie gesetzlichen Gesichtspunkten
festzustellen hätten.
Das Entscheidende hierbei ist nur, welche Zusammenfassung wissenschaftlich
zweckmäßig ist, wo die Wechselwirkung zwischen Wesen kräftig
genug ist, um durch ihre isolierte Behandlung gegenüber den Wechselwirkungen
jedes derselben mit allen andern Wesen eine hervorragende Aufklärung
zu versprechen, wobei es hauptsächlich darauf ankommt, ob die behandelte
Kombination eine häufige ist, so dass die Erkenntnis derselben
typisch sein kann und, wenn auch nicht Gesetzmäßigkeit, die
für die Erkenntnis den Wirkungen der einfachen Teile vorbehalten ist,
so doch Regelmäßigkeiten nachweist.
Die Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe der Wechselwirkungen
ihrer Teilhaber liegt in der Richtung des modernen Geisteslebens überhaupt:
das Feste, sich selbst Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung
aufzulösen und in allem Sein den historischen Prozess seines
Werdens zu erkennen.
Dass nun eine Wechselwirkung der Teile unter dem statt hat, was
wir eine Gesellschaft nennen, wird niemand leugnen.
Ein in sich völlig geschlossenes Wesen, eine absolute Einheit ist
die Gesellschaft nicht, so wenig wie das menschliche Individuum es ist.
Sie ist gegenüber den realen Wechselwirkungen der Teile nur sekundär,
nur Resultat, und zwar sowohl sachlich wie für die Betrachtung.
Wenn wir hier von der morphologischen Erscheinung absehen, in der freilich
der Einzelne ganz und gar das Produkt seiner (>14) sozialen Gruppe ist,
sondern vielmehr auf den letzten erkenntnistheoretischen Grund zurückgreifen,
so müssen wir sagen: es ist nicht eine Gesellschaftseinheit da, aus
deren einheitlichem Charakter sich nun Beschaffenheiten, Beziehungen, Wandlungen
der Teile ergäben, sondern es finden sich Beziehungen und Tätigkeiten
von Elementen, auf Grund deren dann erst die Einheit ausgesprochen werden
darf.
Diese Elemente sind nicht etwa an sich wirkliche Einheiten; aber sie
sind hier für die höheren Zusammenfassungen so zu behandeln,
weil jedes im Verhältnis zum andern einheitlich wirkt; darum
brauchen es auch nicht nur menschliche Personen zu sein, deren Wechselwirkung
die Gesellschaft konstituiert, sondern es können auch ganze Gruppen
sein, die mit andern zusammen wieder eine Gesellschaft ergeben.
Ist doch auch das physikalische und chemische Atom kein einfaches Wesen
im Sinne der Metaphysik, sondern absolut genommen immer weiter zerlegbar;
aber für die Betrachtung der betreffenden Wissenschaften ist dies
gleichgültig, weil es Tatsächlich als Einheit wirkt; so kommt
es auch für die soziologische Betrachtung nur sozusagen auf die empirischen
Atome an, auf Vorstellungen, Individuen, Gruppen, die als Einheiten wirken,
gleichviel ob sie an und für sich noch weiter teilbar sind.
In diesem Sinne, der von beiden Seiten her ein relativer ist, kann man
sagen, dass die Gesellschaft eine Einheit aus Einheiten ist.
Es ist aber nicht etwa eine innerliche, geschlossene Volkseinheit da,
welche das Recht, die Sitte, die Religion, die Sprache aus sich hervorgehen
ließe, sondern äußerlich in Berührung stehende soziale
Einheiten bilden durch Zweckmäßigkeit, Not und Gewalt bewogen
diese Inhalte und Formen unter sich aus, und dieses bewirkt oder vielmehr
bedeutet erst ihre Vereinheitlichung.
Und so darf man auch für die Erkenntnis nicht etwa mit dem Gesellschaftsbegriff
beginnen, aus dessen Bestimmtheit sich nun die Beziehungen und gegenseitigen
Wirkungen der Bestandteile ergäben, sondern diese müssen festgestellt
werden, und Gesellschaft ist nur der Name für die Summe dieser Wechselwirkungen,
der nur in dem Maße der Festgestelltheit dieser anwendbar ist.
Es ist deshalb kein einheitlich feststehender, sondern ein gradueller
Begriff, von dem auch ein Mehr oder Weniger anwendbar ist, je nach der
größeren Zahl und Innigkeit der zwischen den gegebenen Personen
bestehenden Wechselwirkungen.
Auf diese Weise verliert der Begriff der Gesellschaft ganz das Mystische,
das der individualistische Realismus in ihm sehen wollte.
Man scheint freilich nach dieser Definition der Gesellschaft auch zwei
kämpfende Staaten etwa für eine Gesellschaft erklären zu
müssen, da unter ihnen doch zweifellose Wechselwirkung stattfindet.
Trotz dieses Konfliktes mit dem Sprachgebrauch würde ich glauben,
es methodologisch (>15) verantworten zu können, wenn ich hier einfach
eine Ausnahme zugebe, einen Fall, auf den die Definition nicht passt.
Die Dinge und Ereignisse sind viel zu kompliziert und haben viel zu
flüssige Grenzen, als dass man auf eine Erklärung, die für
die Tatsache geeignet ist, verzichten sollte, weil sie auch auf andere
und sehr abweichende Tatsachen passt.
Man hat dann eben nur die spezifische Differenz zu suchen, die zu dem
Begriff der wechselwirkenden Personen oder Gruppen noch hinzugesetzt werden muss, um den üblichen Begriff der Gesellschaft im Gegensatz zu
dem der kämpfenden Parteien zu ergeben.
Man könnte etwa sagen, er sei eine Wechselwirkung, bei der das
Handeln für die eignen Zwecke zugleich die der andern fördert.
Allein ganz reicht auch dies nicht zu; denn man wird auch dasjenige
Zusammen noch immer Gesellschaft nennen, das nur durch den Zwang von einer
Seite und zum ausschließlichen Nutzen dieser gestiftet und gehalten
wird.
Ich glaube überhaupt: welche einfache und einheitliche Definition
der Gesellschaft man auch aufstellen mag, es wird immer ein Grenzgebiet
aufzufinden sein, auf dem sie sich nicht mit dem von unserer Vorstellung
der Gesellschaft umschriebenen Gebiete deckt.
Auch ist dies das Los aller Definitionen, die noch etwas mehr wollen,
als einen selbstgemachten Begriff beschreiben, und die infolgedessen ihren
Gegenstand völlig decken, weil ihr Gegenstand eben nichts anderes
ist, als was sie beschreiben; will man aber eine Definition so geben, dass sie zugleich in der Einheit ihres Inhalts einen gewissen sachlichen, in
der Natur der darunter fallenden Dinge selbst liegenden Zusammenhang kenntlich
macht, so macht sich in demselben Maße auch gleich die Inkongruenz
zwischen der Abrundung unserer Begriffe und der Fluktuation der Dinge geltend.
Es ist aber auch viel wichtiger, statt unsere Begriffe als abgeschlossene
Gebilde anzusehen, deren implizierten Inhalt man sich nur zu explizieren
hätte, sie als bloße Hinweisungen auf Wirklichkeiten zu behandeln,
deren eigentlicher Inhalt erst zu ergründen ist, nicht als Bilder,
die nur die helle Beleuchtung brauchen, um einen in sich vollendeten Inhalt
zu zeigen, sondern als Umrissskizzen, die erst der Erfüllung
harren.
So scheint mir die Vorstellung der wechselwirkenden Wesen jedenfalls
die im Gesellschaftsbegriff liegende Hinweisung auf die Beziehungen zwischen
Personen einigermaßen zu erfüllen.
Allein diese Bestimmung muss wenigstens quantitativ verengert werden,
und vielleicht erzielt sich hiermit wenigstens eine nähere Hinweisung
auf den Inhalt dessen, was wir Gesellschaft nennen.
Denn auch zwei Menschen, zwischen denen nur eine ephemere Beziehung
existiert, würden dem Obigen gemäß eine Gesellschaft bilden.
Prinzipiell muss das auch zugegeben werden; es ist nur ein Unterschied
des Grades zwischen der (>16) losesten Vereinigung von Menschen zu einem
gemeinsamen Werk oder Gespräch, dem flüchtigsten Auftauchen einer
Veränderung in jedem von ihnen, die durch eine vom andern ausgehende
Kraft bewirkt wird und der umfassendsten Einheit einer Klasse oder eines
Volkes in Sitte, Sprache, politischer Aktion.
Man kann aber die Grenze des eigentlich sozialen Wesens vielleicht da
erblicken, wo die Wechselwirkung der Personen untereinander nicht nur in
einem subjektiven Zustand oder Handeln derselben besteht, sondern ein objektives
Gebilde zustande bringt, das eine gewisse Unabhängigkeit von den einzelnen
daran teilhabenden Persönlichkeiten besitzt.
Wo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren, wenngleich
einzelne Mitglieder ausscheiden und neue eintreten; wo ein gemeinsamer
äußerer Besitz existiert, dessen Erwerb und über den die
Verfügung nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von Erkenntnissen
und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die durch die Teilnahme der
Einzelnen weder vermehrt noch vermindert werden, die, gewissermaßen
substantiell geworden, für jeden bereit liegen, der daran teilhaben
will; wo Recht, Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich
fügt und fügen muss, der in ein gewisses räumliches
Zusammensein mit andern eintritt da überall ist Gesellschaft, da hat
die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet, der sie eben als
gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die mit den unmittelbar
ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem augenblicklichen Verhalten verschwindet.
Man kann das Allgemeine in doppeltem Sinne verstehen: als dasjenige,
was, gewissermaßen zwischen den Einzelnen stehend, sie dadurch zusammenhält,
dass zwar jeder daran Teil hat, aber keiner es doch ganz und allein
besitzt; oder als dasjenige, was jeder besitzt und was nur durch den beziehenden
oder vergleichenden Geist als Allgemeines konstatiert wird.
Zwischen beiden Bedeutungen aber, die man die reale und die ideelle
Allgemeinheit nennen könnte, bestehen sehr tief gelegene Beziehungen.
Obgleich es nämlich sehr wohl möglich ist, dass die letztere
ohne die erstere vorkommt, so wird man doch wenigstens als heuristischen
Grundsatz annehmen können: wo sich gleiche Erscheinungen an äußerlich
in Berührung stehenden Individuen zeigen, ist von vornherein eine
gemeinsame Ursache anzunehmen; entsprechend deduziert Laplace aus der Tatsache, dass
die Umläufe der Planeten sämtlich in einer Richtung
und fast in einer Ebene vor sich gehen, es müsse dem eine gemeinsame
Ursache zu Grunde liegen, weil diese Übereinstimmung bei gegenseitiger
Unabhängigkeit ein nicht anzunehmender Zufall wäre; so beruht
die Entwicklungslehre auf dem Gedanken, dass die Ähnlichkeiten
aller Lebewesen (>17) untereinander es gar zu unwahrscheinlich machen, dass die Arten unabhängig von einander entstanden sind.
So gibt jede Gleichheit einer größeren Anzahl von Gesellschaftsgliedern
Anweisung auf eine gemeinsame, sie beeinflussende Ursache, auf eine Einheit,
in der die Wirkungen und Wechselwirkungen der Gesamtheit Körper gewonnen
haben und die nun, ihrerseits auf die Gesamtheit weiterwirkend, dies in
für alle gleichem Sinne tut.
Dass hierin sehr viele erkenntnistheoretische Schwierigkeiten liegen,
darf nicht verkannt werden.
Jene mystische Einheit des Gesellschaftswesens, die wir oben verwarfen,
scheint sich hier auf dem Wege wieder einschleichen zu wollen, dass sein Inhalt nun doch von der Vielheit und Zufälligkeit der Individuen
sich ablösen und ihnen gegenüberstehen soll.
Es stellt sich wieder das Bedenken ein, dass gewisse Realitäten
jenseits der Einzelnen existieren und doch offenbar, abgesehen von diesen,
nichts haben, woran sie existieren könnten.
Es ist ungefähr die gleiche Schwierigkeit, wie sie sich in dem
Verhältnis zwischen den Naturgesetzen und den Einzeldingen, die ihnen
unterworfen sind, auftut.
Denn ich wüsste keine Art von Wirklichkeit, die jenen Gesetzen
zuzuschreiben wäre, wenn es keine Dinge gäbe, auf die sie Anwendung
finden; andererseits scheint doch die Kraft des Gesetzes über den
Einzelfall seiner Verwirklichung hinauszuragen.
Wir stellen uns vor, dass, wenn ein solcher auch bis jetzt nie
eingetreten wäre, dennoch das Gesetz als ein allgemeines, sobald er
nur eintrete, seine Wirkung unweigerlich üben würde; ja, wenn
überhaupt die Kombinationen der Wirklichkeit nie zu den Bedingungen
dieser Wirkung führten, so haben wir dennoch die Vorstellung, dass dieses unrealisierte, bloß ideelle Naturgesetz noch eine Art von
Gültigkeit hätte, die es von einem bloßen Träume oder
einer logisch und physisch unmöglichen Phantasie unterschiede.
In diesem zwischen Realität und Idealität schwebenden Zustande
steht auch das Allgemeine, das die Individuen zu einer Gesellschaft zusammenbindet,
jedem von diesen gegenüber von ihm getragen und doch von ihm unabhängig.
So wenig man zu sagen wüsste, wo denn der Ort der Naturgesetze
sei, die wir als wahr anerkennen, wenn sie auch vielleicht nie eine absolut
reine Verwirklichung erfahren haben (wie z.B. die geometrischen Sätze),
so wenig ist der Ort dieser ungreifbaren intersubjektiven Substanz zu nennen,
die man als Volksseele oder als deren Inhalt bezeichnen könnte.
Sie umgibt jeden in jedem Augenblick, sie bietet uns den Lebensinhalt
dar, in dessen wechselnden Kombinationen die Individualität zu bestehen
pflegt aber wir wissen niemanden namhaft zu machen, von dem sie entsprungen
wäre, keinen einzelnen, (>18) über den sie nicht hinausragte,
und selbst wo wir den Beitrag einzelner Menschen meinen feststellen zu
können,
da bleibt noch immer die Frage, ob diese nicht auch ihr Wesentliches
von jenem öffentlichen Besitz empfangen haben, der sich in ihnen nur
konzentrierte oder originell formte.
Die Schwierigkeiten, die sich in dem Verhältnisse zwischen dem
Allgemeinen und dem Individuellen in soziologischer Beziehung finden, entsprechen
ganz denen, die es in rein erkenntnistheoretischer Hinsicht aufweist, wie
sie sich denn auch in den praktischen Schwierigkeiten und Kontroversen
über die reale Gestaltung dieses Verhältnisses spiegeln.
Ich glaube nun, dass die eigentümlichen Widersprüche,
die jenes Verhältnis im Theoretischen zeigt und die in dem mittelalterlichen,
aber noch immer in andern Formen fortlebenden Gegensatz von Nominalismus
und Realismus auffälligste Gestaltung gewonnen haben, eigentlich nur
aus mangelhafter Denkgewohnheit stammen können.
Die Formen und Kategorien unseres Denkens und unserer Ausdrücke
für das Gedachte haben sich zu Zeiten gebildet, in denen die primitiven
Geister von einerseits höchst einfachen, andererseits verworren komplizierten
Vorstellungen erfüllt waren, was durch die Einfachheit unkultivierter
Lebensinteressen und durch das Vorherrschen der psychologischen Assoziation
vor der logischen Abstraktion begreiflich wird.
Die Probleme späterer Zeiten drehen sich um Begriffe und Verhältnisse,
von denen die früheren keine Ahnung hatten, zu deren Bewältigung
aber nur diejenigen Denk und Sprechformen da sind, die von den letzteren
zu ganz anderen Zwecken geprägt sind; diese Formen sind längst
erstarrt, wenn es sich darum handelt, einen ganz neuen Inhalt in sie aufzunehmen,
der sich nie vollkommen mit ihnen decken wird und der eigentlich ganz andere,
jetzt aber nicht mehr herstellbare Denkbewegungen fordert.
Schon für die psychischen Vorgänge haben wir keine besonderen
Ausdrücke mehr, sondern müssen uns an die Vorstellungen äußerer
Sinne halten, wenn wir uns ihre Bewegungen, Reibungen, quantitativen Verhältnisse
etc. zum Bewusstsein bringen wollen, weil viel eher die Außenwelt
als die psychischen Ereignisse als solche Gegenstände der menschlichen
Aufmerksamkeit waren und, als die letzteren diese errangen, die Sprache
nicht mehr schöpferisch genug war, um eigenartige Ausdrücke für
sie zu formen, sondern zu Analogien mit den ganz inadäquaten Vorstellungen
des räumlichen Geschehens greifen musste.
Je allgemeiner und umfassender die Gegenstände unserer Fragestellung
sind, desto weiter liegen sie hinter dem Horizonte, der die Epoche der
Sprach und Denkbildung umgrenzte, desto unhaltbarere, oder nur durch eine
Umbildung der Denkformen (>19) sich lösende Widersprüche müssen
sich ergeben, wenn wir derartige Probleme, also etwa die Frage nach dem
Verhältnis zwischen Einzelding und Allgemeinbegriff, mit unseren jetzigen
Kategorien behandeln.
Es scheint mir, als ob die Erkenntnisschwierigkeiten, die das Verhältnis
zwischen dem Individuum und seiner sozialen Gruppe umgeben, aus einer entsprechenden
Ursache stammten.
Die Abhängigkeit von der Gattung und der Gesellschaft nämlich,
in der der Einzelne in den grundlegenden und wesentlichen Inhalten und
Beziehungen seines Lebens steht, ist eine so durchgängige und undurchbrechlich
gültige, dass sie nur schwer ein besonderes und klares Bewusstsein für sich erwirbt.
Der Mensch ist ein Unterschiedswesen; wie wir nie die absolute Größe
eines Reizes, sondern nur seinen Unterschied gegen den bisherigen Empfindungszustand
wahrnehmen, so haftet auch unser Interesse nicht an denjenigen Lebensinhalten,
die von jeher und überall die verbreiteten und allgemeinen sind, sondern
an denen, durch die sich jeder von jedem unterscheidet.
Die gemeinsame Grundlage, auf der sich alles Individuelle erst erhebt,
ist etwas Selbstverständliches und kann deshalb keine besondere Aufmerksamkeit
beanspruchen, die vielmehr ganz von den individuellen Unterschieden verbraucht
wird; denn alle praktischen Interessen, alle Bestimmung unserer Stellung
in der Welt, alle Benutzung anderer Menschen ruht auf diesen Unterschieden
zwischen Mensch und Mensch, während der gemeinsame Boden, auf dem
alles dies vorgeht, ein konstanter Faktor ist, den unser Bewusstsein vernachlässigen darf, weil er jeden der allein wichtigen Unterschiede
in der gleichen Weise berührt.
Wie Licht und Luft keinen ökonomischen Wert haben, weil sie allen
in gleicher Weise zugute kommen, so hat der Inhalt der Volksseele als solcher
oft insoweit keinen Bewusstseinswert, als keiner ihn in anderem Maße
besitzt, als der andere.
Auch hier kommt es zur Geltung, dass, was der Sache nach das Erste
ist, für unsere Erkenntnis das Letzte ist; und da findet denn die
neu geforderte Erkenntnis nur schwer Kategorien, in denen die Verhältnisse
ihres Inhalts sich widerspruchslos formulieren ließen, insbesondere
da, wo es sich um weiteste Gebiete handelt, für die es keine Analogien
gibt.
Das einzige Gebiet auf dem das Sozialgebilde als solches früh in
das Bewusstsein getreten ist, ist das der praktischen Politik viel
später das der kirchlichen Gemeinde.
Hier war der zu allem Bewusstwerden erforderte Unterschied durch den
Gegensatz gegen andere Gruppen gegeben, und außerdem fordert das
Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Allgemeinheit nach seiner
politischen Seite hin sehr fühlbar Beiträge des ersteren, was
denn immer ein stärkeres Bewusstsein (>20) erweckt als das Empfangen,
wie es in anderen Beziehungen zwischen dem Individuum und seiner Gruppe
für jenes vorherrscht.
Im Gegensatz zu den Bewegungen der ganzen Gruppe, die sich dem soziologischen
Denken als nächstes Objekt darboten, sollen die folgenden Überlegungen
im wesentlichen die Stellung und die Schicksale des Einzelnen zeichnen,
wie sie ihm durch diejenige Wechselwirkung mit den andern bereitet werden,
die ihn mit diesen zu einem sozialen Ganzen zusammenschließt.
Georg Simmel: Über soziale Differenzierung
Soziologische
und psychologische Untersuchungen
Duncker & Humblot, Leipzig 1890
1.
Kapitel: Zur Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaft
2.
Kapitel: Über Kollektivverantwortlichkeit
3.
Kapitel: Die Ausdehnung der Gruppe und die Ausbildung der
Individualität
4.
Kapitel: Das soziale Niveau
5.
Kapitel: Über die Kreuzung sozialer Kreise
6. Kapitel: Die Differenzierung und das Prinzip der
Kraftersparnis
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