Bibliographische Zitation:
Geser Hans: Die Zukunft der Kirchen im Kräftefeld sozio-kultureller Entwicklungen. In: Sociology in Switzerland: Sociology of Religion. Online Publikationen. Zuerich, 1997 http://socio.ch/relsoc/t_hgeser1.pdf


 

Die Zukunft der Kirchen im Kräftefeld sozio-kultureller Entwicklungen

Prof. Dr. Hans Geser

1997  

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Inhalt

1. Die Dauerspannung zwischen Bewahrung und Erneuerung als Konstitutionsmerkmal der Kirchen

2. Gesellschaftliche Differenzierung

3. "Individualisierung"

4. "Pluralisierung"

5. Die Herausforderungen der "Re-ethisierung"

6. Das Internet als Medium religiöser Kommunikation ?

7. "Säkularisierung" ?

Fussnotenverzeichnis

Literatur


1. Die Dauerspannung zwischen Bewahrung und Erneuerung als Konstitutionsmerkmal der Kirchen

Aus soziologischer Sicht faszinieren die Kirchen durch ihren Anspruch, die beiden widerstrebenden Ziele

  • der Bewahrung und aktiven Artikulation absolut gesetzter Traditionen und

  • der Öffnung gegenüber aktuellen Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft

auf hohem Niveau miteinander zu verbinden.

Mit ihrer ganzen Existenzweise suchen sie gegen das offensichtliche Dilemma anzukämpfen, dass ein starres Festhalten an Altem eine defensive Abwehrhaltung gegenüber Neuem erfordert (z.B. im Fall fundamentalistischer Sekten), und dass uneingeschränkte Offenheit für Aktuelles verlangt, die hergebrachte Identität zur Disposition zu stellen und von teuren Traditionen schmerzhaft Abschied zu nehmen.

Auf theologischer Ebene kann man beispielsweise feststellen, dass Zeitgeistströmungen wie der Existenzialismus, die Psychoanalyse, der revolutionäre Marxismus, der Ökologismus und Feminismus in manchen kirchlichen Kreisen nicht nur Gehör gefunden haben, sondern sogar in besonders radikaler (z.B. utopistisch überhöhter) Ausprägung vertreten werden - während gleichzeitig die Verpflichtung aufrechterhalten bleibt, sie mit den Grundlagen des Evangeliums in explizite Verbindung zu setzen und mit den traditionellen Gegebenheiten der Theologie einerseits und der kirchlichen Organisation andererseits konsistent zu integrieren.[1]

Und auf pastoraler Ebene kann man konstatieren, dass traditionelle Rollenbilder des Pfarrers (als "Seelsorger", "guter Hirte" u.a.) unter dem Einfluss der modernen Humanwissenschaft und des Wohlfahrtsstaats durch neue Rollenkonzepte (z.B. "professioneller Nachbar" oder "sozialer Betreuer") überlagert worden sind, ohne deswegen ausrangiert zu werden und aus dem Gesichtskreis zu verschwinden (vgl. Hesser 1980).

Mit seiner Neigung, Neues zum Alten hinzuzufügen, ohne das Alte zu eliminieren, unterscheiden sich die Kirchen von den meisten übrigen gesellschaftlichen Institutionen, die entweder der Traditionsbewahrung den Vorrang lassen (z.B. fundamentalistische Sekten, Opernhäuser und Lateinschulen), oder umgekehrt unter dem Druck externer Anpassung dazu genötigt sind, Traditionen ad acta zu legen (z.B. Wirtschaft, Wissenschaft und Politik) (vgl. Geser 1991: 572f.)

Dank dieser Eigenschaft ist die Religion - neben dem Recht[2] - dazu prädestiniert, zu dem Schauplatz zu werden, wo sich (z.T. stellvertretend für viele andere Bereiche der Gesellschaft) die Auseinandersetzung zwischen "Tradition" und "Moderne" (und die Erarbeitung von Synthese zwischen Altem und Neuem) vollzieht.

Als Folge ihrer Disposition, Altes und Neues unvermittelt aufeinandertreffen zu lassen, ohne die dadurch entstehenden Widersprüche im vornherein zu eliminieren, tendieren Kirchen dazu, auf Dauer

1) überdurchschnittlich konfliktive Institutionen zu sein, die damit zurechtkommen müssen, dass gleichzeitig über vielerlei Fragen Meinungsverschiedenheiten grundsätzlichster Art ausgetragen werden müssen;

2) überdurchschnittlich explizite Institutionen zu sein: weil die genannten Kollisionen zur Folge haben, dass, sich sowohl die Traditionen wie die sie gefährdenden neuen Entwicklungen nie selbstverständlich werden können, sondern als andauernd problematisch im Bewusstsein bleiben und im Medium der Sprache (d.h. in Diskussionen und Schrifttum) artikuliert werden müssen, um sie miteinander in Verbindung zu setzen.

Konfliktivität und Explizität wiederum sind günstige Voraussetzungen für eine dauerhafte endogene Dynamik: allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die mit dem Dissens verknüpften Spannungen innerhalb des Systems verbleiben und nicht dadurch verschwinden, dass abweichende Gruppen sich abspalten oder aus der Kirche emigrieren.[3]

Unter solchen Bedingungen verschärfen sich diese innerkirchlichen Spannungen natürlich in dem Masse, als die sozio-kulturellen Wandlungen vielfältiger und rascher werden und die Ansprüche auf unversehrte Bewahrung der identitätsstiftenden religiösen Grundlagen und Traditionen an Intensität gewinnen.

Im folgenden sollen einige aktuelle Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft näher erläutert werden, von denen angenommen werden kann, dass sie die Kirchen - in ihrer Eigenschaft als "Vermittlungsmaschinerien zwischen Tradition und Wandel" - zukünftig vermehrt in Anspruch nehmen.

Inhalt


2. Gesellschaftliche Differenzierung

Frühere, vorindustrielle Gesellschaften waren "einfach" in dem Sinne, dass sie segmentär in eine Vielzahl ähnlicher Subeinheiten (z.B. Familien, Bauerngehöfte, Dörfer, Städte) gegliedert waren, in denen überall relativ vergleichbare individuelle Wertorientierungen und Denkweisen, sowie soziale Beziehungsstrukturen vorzufinden waren.

Religiöse Verkündigung stellte sich in jener Zeit vorwiegend als das quantitative Problem: in jeder Gegend allen Bewohnern dieselbe Lehre zu verkünden sowie in jeder Ortschaft eine Kirche zu bauen und eine (mit einem "Allzweckseelsorger" versehene) Pfarrei einzurichten.

Moderne Gesellschaften sind demgegenüber zunehmend differenziert

  • in "institutionelle Ordnungen" (z.B. Wirtschaft, Politik, Medizin, Wissenschaft, Bildung u.a.), in denen je eigene, nicht aufeinander reduzierbare Fundamentalwerte, Basisnormen, Zwecksetzungen und Weltanschauungen (d.h. Auffassungen vom Menschen, der Natur und Gesellschaft) ihre Geltung haben;

  • in berufliche Spezialmilieus, deren Mitglieder ihre je eigenen Problemhorizonte, ethischen Normensysteme und Verhaltenspraktiken (bis hin zum professionellen Sprachjargon) kultivieren;

- in zahllose subkulturell differenzierte Gruppen und "Szenen" (z.B. Rockers, Feministinnen, Ökologisten, Computer-Hackers), in denen je eigene alltagsweltliche Lebensstile ausgebildet werden.

Religiöse Verkündigung stellt sich unter solch neuen Bedingungen zunehmend als das qualitative Problem, diese vielfältigen Aktionsfelder und Bevölkerungssegmente dadurch zu durchdringen, indem man die biblische Botschaft in die termini dieser höchst unterschiedlichen Problemkontexte und Erfahrungswelten übersetzt (also zum Beispiel: die Implikationen des christlichen Liebesgebots für die Arbeit von Politikern, Managern, Biologen und Psychotherapeuten und für den Umgang mit Aidskranken, Asylanten, Arbeitslosen usw. sichtbar zu machen).

Früher erforderte der Auftrag der Missionierung und Verkündigung vor allem, die Strapazen weiter und gefährlicher Reisen auf sich zu nehmen und in unwirtlicher Diaspora die Auseinandersetzungen mit "Heiden" oder "Andersgläubigen" zu bestehen.

Heute bedeutet dieser selbe Auftrag beispielsweise: sich unter Rockers zu mischen, in verrufendste städtische "Rotlichtmilieus" einzudringen, mit Drogen- und Aidskranken Freundschaft zu schliessen und in jedem Sozialkontext nach den dort geltenden Kriterien Respekt und Einfluss zu gewinnen.

Ebenso bedeutet er, sich (z.B. durch eigene Berufsausbildung) über die ethischen Entscheidungsprobleme im Kontext einer spezifischen Institution oder Profession kundig zu machen, um von deren Angehörigen überhaupt ernstgenommen zu werden.

Da die Kirchen bisher am traditionellen Muster einer segmentär-territorialen Differenzierung (in lokale Allzweckpfarreien) festgehalten haben, haben sie diese qualitative Differenzierung ihres Verkündigungsauftrags bisher weitgehend versäumt, und die Gesellschaft ist in diesem zweiten, qualitativen Sinne bisher weitgehend unchristianisiert geblieben.

Um diese Aufgabe in Angriff zu nehmen, müssten die Kirchen vor allem erkennen, dass

a) moderne Individuen infolge ihrer vielfältigen Rollen eine multiple, fragmentierte personale Identität besitzen und deshalb in verschiedenen Handlungsfeldern einer separaten, spezifisch gestalteten "Christianisierung" bedürfen;

b) neben Individuen immer mehr auch Organisationen und Institutionen einer "pastoralen Betreuung" bedürfen, weil sie - als juristische Personen - heute die vorrangigen moralischen Handlungssubjekte (im guten wie im bösen Sinne) sind, die mit ihren Normsetzungen und Einzelentscheidungen das Schicksal der Menschen bestimmen (vgl. z.B. Geser 1990).

Ein Programm zur "Christianisierung der Institutionen und Subkulturen" würde mit Sicherheit eine Dezentralisierung und Entbürokratisierung der Kirchen bewirken: weil individualistische Pioniere Auftrieb erhalten, die ihren Verkündigungsauftrag nicht auf der Basis eines formellen Pfarreramts, sondern im Rahmen ihrer Mitgliedschaft zu spezifischen Kontaktnetzen, Gruppenkollektiven oder Berufskategorien betreiben.[4]

Inhalt


3. "Individualisierung"

Dem Christentum selbst (wie auch den übrigen Universalreligionen) verdanken wir die Vorstellung, dass das Individuum fähig (und auch dazu aufgerufen) ist, sich aus den Bindungen seiner Herkunft zu befreien, um sich innerlich zu erneuern und im persönlichen Verhältnis zu Gott seinen eigenen Heilsweg zu beschreiten.

Neuartig (und für die etablierten Kirchen höchst problematisch) ist allerdings die seit der Renaissance um sich greifende Idee eines autonomen Individuums, das durch sein eigenes schöpferisches Handeln seine Persönlichkeit erzeugt und ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt seiner eigenen Selbstverwirklichung fort entwickelt (vgl. Heller 1982: 88).

Dadurch stellt sich nicht nur in der Religion, sondern auch in allen übrigen Gesellschaftsbereichen radikal die Frage, welche Chancen der Konsensbildung und Gruppensolidarität (ja sogar: welche Möglichkeiten interpersoneller Kommmunikation) noch bestehen bleiben, wenn dieser Egozentrismus allgemein dominiert.

Für die Kirchen - wie auch für alle übrigen konsensbedürftigen Institutionen - ist es offensichtlich keine Lösung, im Sinne von Thomas Hobbes den Zentrifugalismus der Individuen durch Subordination eine souveräne Zwangsautorität zu unterbinden oder wie Adam Smith darauf zu bauen, dass im kompetitiven Marktaustausch eine "invisible hand" wirksam ist, die selbsttätig eine harmonische Sozialordnung generiert.

Vielmehr sind sie ganz unmittelbar den Erosionstendenzen ausgesetzt, die aus der zunehmenden Autonomie (bzw. "Eigenselektivität") der Einzelindividuen gegenüber den religiösen Traditionen und Institutionen entstehen.

Diese Destabilisierungen entstehen insbesondere durch das sich völlig verändernde Verhältnis des Menschen zur kulturellen Tradition.

In früheren Gesellschaften traten kulturelle Traditionen den Menschen als alternativlos-verbindliche Bestände verpflichtender kollektiver Werte, Normen, Ideen und Verhaltenspraktiken entgegen: als "Herrschaft der Toten über die Lebenden" (Herbert Spencer), in die man in früher Kindheit ohne eigenes Zutun hineinwuchs, und in der man durch vielerlei soziale Kontrollen in der Regel lebenslänglich festhalten würde.

Demzufolge war "Tradition" etwas, was die Gesellschaft als Ganzes zusammenhielt und die Menschen desselben Geburtsstandes oder derselben Region einander miteinander verband, indem sie einen Fundus konsensualer Denkweisen und Verständigungsmöglichkeiten vermittelte.

Demgegenüber erfährt das emanzipierte Individuum heute die kulturellen Traditionsbestände als riesiges Reservoir von Alternativen, zu denen es autonom Stellung beziehen und aus denen es - unter dem Gesichtspunkt seiner eigenen Interessenlage und Selbstverwirklichung - seine eigenen Selektionen treffen kann.

Anstatt "posttraditional" (wie z.B. bei A. Giddens) sollte unsere Gesellschaft eher als "polytraditional" bezeichnet werden: denn es gab noch nie eine Zeit, in der so zahlreiche kulturelle Schöpfungen verschiedenster Epochen greifbar waren und - zumindest in einem kleinen sozialen Kreis- das Objekt bewusster Aneignung und Pflege bildeten.

Genau umgekehrt zu früher ist die "Tradition" nun aber zu einem Faktor geworden, der die Menschen eher voneinander trennt als miteinander verbindet und die Gesellschaft insgesamt eher fragmentiert als integriert.

Denn je mehr sich die Individuen im Zuge ihrer Bildung mit den überkommenen Traditionsbeständen befassen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie unterschiedliche Selektionen treffen (oder auch: aufgrund ihrer spezifischen persönlichen Eigenheiten demselben Kulturprodukt (z.B. dem Faust, Hamlet oder einem Buch der Bibel) höchst verschiedenartige Bedeutungen unterlegen.

Dementsprechend hat sich auch der früher scharf ausgeprägte Gegensatz zwischen "Traditionalismus" und "Progressivismus" stark relativiert: denn in ihrer Eigenschaft als gigantischer "variety pool" liefert die Vergangenheit selber die Rohmaterialien, aus deren Rekombination ständig neue kulturelle Produktionen entstehen.[5]

So müssen alle Kirchen heute zur Kenntnis nehmen, dass sich ihre Anhänger seit den 50er- Jahren verstärkt zu "Auswahlchristen" (Urs Altermatt) entwickelt haben, die sich einerseits gegenüber manchen Aspekten der konfessionellen Lehre und Kultpraxis indifferent oder ablehnend verhalten und die christlichen Angebote andererseits mit Elementen des New Age, fernöstlicher Meditation, jungianischer Psychologie, Astrologie usw. zu einem auf ihre persönlichen Bedürfnisse zugeschnittenen "religiösen Cocktail" kombinieren.[6]

So sind beispielsweise in den USA über 60% der Bevölkerung der Meinung, man sollte die Lehren verschiedener Religionen explorieren, anstatt sich mit seiner eigenen angestammten Religion zu bescheiden (Roof 1993:165).

Auf den ersten Blick paradox, nach weiterem Nachdenken aber sehr logisch ist die Vermutung, dass der momentan um sich greifende evangelikale Fundamentalismus in einem engen positiven Verhältnis zur zunehmenden Individualisierung der Glaubensaneignung steht.

Der Zusammenhang besteht darin, dass sich autonome Christen darauf verwiesen sehen, unabhängig von kirchlichen Traditionen und Autoritäten selbständig nach der religiösen Wahrheit zu suchen. Theologisch ungeschult, aber stark beeinflusst vom modernen populärwissenschaftlichen Glauben an die Exaktheit menschlichen Wissens, gelangen sie leicht dazu, die biblischen Quellentexte in objektivistisch-wörtlicher Weise zu verstehen (vgl. Marsden 1983).

Oder anders gesagt: die wörtliche (=fundamentalistische) Deutung der Heiligen Schriften nimmt insofern Aufschwung, als es infolge des Zerfalls geistlicher Kirchenautorität immer schwieriger wird, irgendeine nichtwörtliche (d.h. theologisch vermittelte) Deutung konsensual durchzusetzen.

Auf der Ebene der örtlichen Pfarreien wird die Individualisierung zudem darin spürbar, dass die an die Seelsorger und das übrige pastorale Personal gerichteten Leistungsanforderungen und Rollenerwartungen immer heterogener (und im Zeitverlauf variabler) werden.

Immer mehr werden sie zu eigentlichen "Mikrogesellschaften", in denen sich die ganze Vielfalt verschiedener sozialer Gruppen, Werthaltungen und Lebenspraktiken der (post-)modernen Gesellschaft widerspiegelt.

Dies hat beispielsweise zur Folge, dass

  • immer mehr Fragen (z.B. Pfarrerwahl, kirchliche Organisation und Aktivitäten usw.) ins Kreuzfeuer lokalpolitischer Meinungskontroversen geraten;

  • die Seelsorger mit einem immer breiteren und variableren Spektrum verschiedenartiger Ansprüche und Zumutungen konfrontiert sind und sich bei der Wahl und Gewichtung ihrer Aktivitäten zu immer grösserer Selektivität gezwungen sehen;

  • das Predigen immer schwieriger wird, weil es immer weniger gelingt, eine bei allen Besuchern eines Gottesdienstes gleichermassen "ankommende" Sprache zu finden;

  • das "Rollenprofil" des Pfarrers im Vergleich zu anderen Berufen immer undeutlichere Züge annimmt: so dass es auch immer weniger gelingt, optimale und erfolgssichere Kriterien der Rekrutierung und der Ausbildung zu definieren.

Derartige Probleme könnten leicht zum Anlass genommen werden, um vom universellen Integrationsanspruch der "Volkskirche" Abschied zu nehmen und sich an ein zum vornherein homogeneres Publikum zu adressieren.[7]

Ernsthafte Bestandesprobleme entstehen für die Kirchen heute dadurch, dass sie sich immer weniger auf die stabilisierenden Wirkungen familiärer Sozialisation verlassen können.

Hat die Familie früher dafür gesorgt, dass religiöse Glaubensinhalte und -praktiken sowie konfessionelle Identifikationen ohne Zutun kirchlicher Organisation zuverlässig von einer Generation auf die nächste übertragen wurden, ist es heute beispielsweise typisch, dass die beiden Eltern verschiedenen Religionen anhängen oder überhaupt nicht praktizieren, sich vielleicht scheiden lassen, der religiösen Erziehung ihrer Kinder kaum Bedeutung beimessen und in den meisten Fällen der Meinung sind, dass sich ihre Kinder später selbständig in voller Freiheit für oder gegen eine Religion entscheiden sollten.

Für das Individuum bedeutet dies, dass seine religiöse Zugehörigkeit und Glaubensrichtung immer mehr das Produkt einer eigenen bewussten Entscheidung darstellt, die nach der Kindheit (und im Verlauf des Erwachsenendaseins vielleicht mehrmals) getroffen wird und von den Eltern und Verwandten wohl beeinflusst, aber nicht determiniert werden kann.

Für die Kirchen folgt daraus, dass sie immer mehr eigene Aktivitäten aufwenden und immer mehr "Responsivität" entwickeln müssen, um bestehende Anhänger festzuhalten und neue Mitglieder zu gewinnen. Immer mehr teilen sie mit Vereinen, Verbänden und anderen "freiwilligen Vereinigungen" die Eigenschaft, dass sich ihre Anhänger nicht durch vererbte, alternativ-zugeschriebene Zugehörigkeit, sondern aufgrund spezifischer Motivlagen und Erwartungen an sie gebunden fühlen und im Lichte der kirchlichen "Leistungen" (und einem Blick auf religiöse "Konkurrenzangebote") dauernd überprüfen, ob sie ihre Mitgliedschaft aufrechterhalten wollen.[8]

Ebenso stehen sie vor dem Problem, dass es immer mehr von ihren institutionellen Aktivitäten (z.B. im Schulunterricht oder auf publizistischer Ebene) abhängt, ob die von ihnen betreuten religiösen Inhalte überhaupt noch weitervermittelt werden.

Dies wiederum bedeutet, dass sie auf eine zuverlässige Alimentierung mit öffentlichen Steuermitteln dringlicher als je angewiesen sind, weil eine Reduktion dieser Einnahmen (wie sie z.B. bei einer vollumfänglichen Trennung von Kirche und Staat absehbar wäre) sie daran hindern könnte, diesen institutionellen Auftrag angemessen zu erfüllen.[9]

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4. "Pluralisierung"

Bis in die 60er-Jahre war die Meinung vorherrschend, dass im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung zwar die Individuen immer verschiedenartiger würden, die sozialen Gruppen dagegen sich immer artiger in eine gemeinsame übergreifende "Zivilkultur" einfügen würden.

So war man davon überzeugt, dass lokale und ethnische Partikularkulturen zum Verschwinden verurteilt seien, auf der Basis "universeller" Menschenrechte eine weltweit gültige Moral- und Rechtsordnung entstehen würde und die zentrifugalen Tendenzen zwischen religiösen Konfessionen zunehmend durch einen umfassenden Ökumenismus überlagert würden.

Dementsprechend wird in den führenden soziologischen Gesellschaftstheorien (Parsons, Luhmann u.a.) heute noch behauptet, dass die wesentlichen Integrationsprobleme moderner Gesellschaften aus ihrer funktionalen Differenzierung (in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion usw.) und nicht etwa aus ihren segmentären Fragmentierungen (in koexistierende Nationen, Ethnien, Religionen, Subkulturen usw.) entstehen würden.

Demgegenüber muss man heute einen Trend zur "Postmoderne" in dem Sinne konstatieren, dass sowohl innerhalb wie zwischen den Religionen Trends zur Heterogenisierung und Pluralisierung die Oberhand ergriffen haben, die zu vielfältigen Divergenzen und Auseinandersetzungen Anlass geben und in absehbarer Zukunft allen ökumenischen Integrationsbestrebungen im Wege stehen dürften (vgl. Marty 1993: 12ff.).

Auf einer ersten Ebene stellt man fest, dass sich der Schwerpunkt religiöser Aktivitäten - in paradoxer Gegenläufigkeit zur globalen Reichweite unserer Informationen und Interdependenzen - immer mehr auf das Niveau der lokalen Pfarrgemeinde verschiebt (Marty 1993: 17ff.), und dass die partikuläre Kulturen der ansässigen Bevölkerungsgruppen in der Gottesdienstliturgie (z. B. in Gesang, Kleidung, Tanz, Bildern, Sprachdiktion usw.) immer ungehinderter zur Geltung kommen (Roof 1993:159).

In Gemeinden mit multikultureller Bevölkerung werden dementsprechend auch die religiösen Riten zunehmend multikulturell geprägt.

Dafür sind zum Teil dieselben nüchternen Gründe wirksam, die auch in der Politik zu einer Stärkung der Regionen und Gemeinden gegenüber dem Nationalstaat (bzw. zu einer Auflösung grösserer in kleine Staaten) führen: nämlich das zunehmende Bedürfnis kritisch gesinnter Bürger, die Verwendung ihrer Steuergelder aus der Nähe besser überwachen und beeinflussen zu können (vgl. Geser 1993).[10]

Darüber hinaus scheint sich dieser Trend zur lokalen Abkapselung und Introversion auch aus weniger rationalen Motiven zu nähren: etwas aus dem zunehmenden Bedürfnis nach "ganzheitlichem Gemeinschaftserleben", wie es - wenn überhaupt - noch am ehesten im konkreten lokalen Pfarreileben erfahrbar wird (Marty 1993: 18).

Zum zweiten stellt man fest, dass zusätzlich zu den traditionellen Lokal- und Volkskulturen zusätzliche (dazu querverlaufende) Gruppendifferenzierungen an Bedeutung gewonnen haben, die an zugeschriebenen Merkmalen des Geschlechts (Feminismus !), des Alters ("Jugendreligionen" ) oder des sozio-ökonomischen Status ("Kirche der Armen") festmachen oder sich entlang ideologischer Polarisierungen ("Konservative" vs. "Progressive") ausgebildet haben (vgl. z.B. Marty 1993).

Durch diese Öffnung gegenüber Partikulargruppen und deren subkulturellen Werten, Normen und Geschmackspräferenzen gewinnen die Kirchen ohne Zweifel zusätzliche Quellen der Teilnahmemotivation: aber auf Kosten der inneren Homogenität (zumindest auf der Ebene kultischer Formen, wohl aber auch auf dem Niveau der Glaubensinhalte und der moralischen Prinzipien).

Die Vielfalt solcher - etwa an der Kunterbuntheit moderner Kirchentage sichtbar werdender - Gruppenbildungen bedeutet, dass die traditionellen interkonfessionellen Spaltungen durch - meist sehr viel virulentere intrakonfessionelle Fronten der Auseinandersetzung überlagert werden.

Die übergreifenden, die Kirche als Ganzes charakterisierenden Formen und Inhalte verlieren im Zuge dieses Zentrifugalismus immer mehr an Gewicht.

Im Gefolge könnte die Kirche den Charakter einer schieren "Rahmenorganisation" annehmen deren einzige Aufgabe noch darin besteht, den verschiedenen Subgruppen bei der Durchführung ihrer eigenen Aktivitäten helfend und begleitend (d.h. "subsidiär") zur Seite zu stehen.[11]

Ähnlich wie momentan der Sozialhilfesektor[12] könnten in Zukunft auch die Kirchen durch eine Vielzahl informeller "Selbsthilfegruppen" kolonisiert werden, die seitens des professionellen Personals zwar eine gewisse "Animation", organisatorische Betreuung und theologische Artikulationshilfe, nicht mehr aber eine pastorale Führung und Unterweisung im konventionellen Sinne erfahren.

In Kombination mit dem obgenannten Lokalismus führt die zunehmende Differenzierung von Partikulargruppen dazu, dass die Ortspfarreien hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Mitglieder und der Mannigfaltigkeit ihrer Wünsche, und Forderungen immer heterogener (und konfliktiver) werden.

Selbst im kleinen Dorf widerspiegeln sich heute mikroskopisch die fundamentalen Spaltungen zwischen Alters- , Geschlechts- und ideologischen Richtungsgruppen, die den Zusammenhalt der Kirche insgesamt bedrohen.

Dies bedeutet einerseits, dass solche Spaltungen auf der überlokalen Kirchenebene nicht mehr so brisant sind, weil sie in den lokalen Subeinheiten auf informelle Weise "kleingearbeitet" werden. An unzähligen Orten wird z.B. versucht, einen Modus Vivendi zwischen den "Fundamentalisten" und "Liberalen" zu finden oder in eine traditionellerweise ziemlich androzentrische Institution Frauenanliegen zu integrieren.

Andererseits wird es aber unvermeidlich, dass die Pfarreien eine wachsende Binnenpolitisierung erfahren: weil es immer divergierendere Auffassungen darüber gibt, wie eine Pfarrei organisiert sein und welche Aktivitäten sie entfalten solle, mit welchen Personen die verschiedenen Ämter (Pfarrer, Katechet, Gemeindehelfer etc.) besetzt werden sollen.

Als Folge werden die religiösen Amtsträger ebenso wie die aktiven Laien in immer höherem Masse durch rein innerkommunale Fragen absorbiert, so dass sie für äussere Aktionen immer weniger freie Valenzen übrig haben.

Vor allem sinkt die Fähigkeit der Ortspfarreien zur externen Artikulation und zur konsistenten Mitarbeit auf höheren kirchlichen Ebenen, weil es ihnen immer weniger gelingt, eine einheitliche Position zu externen, überlokalen Fragen zu erarbeiten und mit klarer, eindeutiger Stimme zum Ausdruck zu bringen.

Ein dritter Aspekt der Pluralisierung besteht darin, dass innerhalb unserer Gesellschaft (und vor allem auch innerhalb der grösseren Städte) immer mehr christliche und nichtchristliche religiöse Gruppierungen koexistieren.

Die Gründe dafür liegen zum einen in den internationalen Migrationsbewegungen, zum andern aber auch in der Sympathie wachsender Bevölkerungskreise für nichtwestliche Religionen und schliesslich auch in der zunehmenden Tendenz, verschüttete (z.B. adventistische, okkult-gnostische oder mystische) Traditionen unserer eigenen abendländischen Kultur wiederzubeleben (vgl. Melton 1993).

Vor allem in der Zeit zwischen 1960 und 1973 sind zahlreiche neue religiösen Organisationen entstanden, die sich - ohne bereits bestehende Gruppierungen zu verdrängen - als erstaunlich überlebens-, expansions- und konsolidierungsfähig erwiesen haben.

Da es sich bei vielen von ihnen um die Ableger der auf andern Kontinenten dominierenden Religionen (Hinduismus, Buddhismus u.a.) handelt, muss von jetzt an wohl mit ihrer stabilen Präsenz in unserer Gesellschaft gerechnet werden (Melton 1993).

Andererseits kann ein notorisch unscharfer Religionsbegriff innerhalb des Rechts auch zahlreiche Gruppierungen mit völlig andersartigen (z.B. wirtschaftlichen oder machtpolitischen) Interessen dazu verleiten, sich nach aussen als "Religion" zu präsentieren, um aus den damit verknüpften gesetzlichen Vergünstigungen (Steuerfreiheit, Schutz durch das Antirassismusgesetz u.a.) Nutzen zu ziehen.

So navigieren wir heute auf das offene Meer einer unübersehbar bunten "postmodernen" Gesellschaft, in der nicht mehr gesichert ist, ob die Anhänger sämtliche Bekenntnisse noch in eine einheitliche Rechtsordnung integriert werden können oder ob sich unsere Toleranznormen auch gegenüber offensichtlich Intolerante durchhalten lassen.

Manche Religionen mögen schätzen, dass im Zuge dieser ihr bisheriger Hauptgegner Schiffbruch erleidet: das aufklärerische "Projekt der Moderne", dessen Ziel darin bestanden hat, die in der Reformation verlorene Einheit des Glaubens durch eine - noch zwingendere und universellere - "Einheit der Vernunft" zu ersetzen. Denn die Erfahrung eines unausweichlichen Pluralismus mag der - z.B. von Wolfhart Pannenberg vertretenen - Ansicht Vorschub leisten, dass verbindliche Normen heute nicht mehr durch autonome Vernunft, sondern nur durch Rekurs auf religiöse Glaubensprämissen begründbar seien (vgl. z. B. Türk 1990: 108ff.).

Eine vierte Manifestationsform religiöser Pluralisierung besteht schliesslich darin, dass das Christentum (und das von ihm inspirierte Gebäude westlicher Kultur) auf internationaler Ebene seine angestammte Hegemonialstellung einbüsst und sich immer mehr gezwungen sieht, andere Religionen als gleichberechtigte (oder gar dominierende) Partner zu akzeptieren.

Seit der Zeit der Missionierung, wie sie im Rahmen imperialer Kolonisierungen stattgefunden hat, haben sich die christlichen Kirchen westlicher Länder angewöhnt, mit den mächtigeren Staaten dieser Welt im Bunde zu stehen und von ihnen Flankenschutz zu erhalten bei ihrem Bestreben, allen nichtwestlichen Kulturen weltweit homogene Doktrinen und Kultuformen zu oktroyieren.[13]

Nur in relativ wenigen Regionen haben sie sich bisher an eine Situation der Machtlosigkeit und defensiven Anpassung gewöhnen müssen.

Genau diese eher demütige als triumphierende Haltung dürfte in Zukunft aber immer mehr für die christlichen Kirchen insgesamt kennzeichnend werden, weil das Christentum auf globaler Ebene gegenüber anderen grossen Religionen (Islam, Hinduismus, Konfuzianismus) ständig an Boden verliert.

Der dreifache Grund dafür besteht darin, dass

  • weltweit immer geringere Prozentanteile der Menschheit christlichen Konfessionen angehören;

  • verschiedene traditionell christliche Länder (insbesondere Europas) einen Rückgang der Religiosität erfahren;

  • die hoch entwickelten westlichen Länder ihren hegemonialen Status in der Weltgesellschaft allmählich verlieren, den sie in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg (unter Führung der USA) innehatten.

Dieses letztere Phänomen wiederum ist dadurch bedingt, dass

1) zahlreiche der momentan am meisten wachsenden Volkswirtschaften (Japan, Südkorea, China) nichtchristlichen Kulturkreisen angehören;

2) auch die ärmeren Länder der Dritten Welt aus immer intensiver und wirksamer in der globalen Öffentlichkeit agieren.

So wird es vor allem in der rasch wachsenden Sphäre internationaler (staatlicher und nichtstaatlicher) Organisationen immer häufiger vorkommen, dass die christlichen Länder sich in der Minderheit vorfinden und die neue Erfahrung machen, dass ihre Wertorientierungen, Menschenrechtsprinzipien usw. nicht auf ungeteilte Zustimmung stossen.

Als Folge davon darf vielleicht mit einer neuen (diesmal exogen induzierten) Welle "defensiver ökumenischer Solidarisierung" gerechnet werden: weil es für die verschiedenen Kirchen - rationale Einsicht vorausgesetzt! - wichtiger wird, sich gemeinsam gegen ihre nichtchristliche Umwelt zu behaupten als ihre traditionellen Differenzen untereinander zu betonen.

Angesichts der erneut anwachsenden Virulenz zahlreicher nichtchristlicher Religionen ist es wahrscheinlich, dass auch die christlichen Völker einen Schub "exogener religiöser Reaktivierung" erfahren, weil sie nicht umhin können, sich im Verkehr mit Andersgläubigen wieder explizit auf ihre angestammte Christlichkeit zu besinnen.

So können uns beispielsweise islamische Fundamentalisten ins Bewusstsein rufen, dass wir mit unseren "Menschenrechten" entgegen unserem Selbstverständnis keineswegs "universell gültige", sondern spezifisch christlich eingefärbte Wertmassstäbe verbreiten.

Umgekehrt wäre allerdings auch denkbar, dass querverlaufende interreligiöse Allianzen an Boden gewinnen, indem z.B. die Liberalen, Fundamentalisten, Gnostiker oder Mystiker verschiedener traditioneller Hochreligionen ihre Gemeinsamkeiten entdecken.

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5. Die Herausforderungen der "Re-ethisierung"

Zusammen mit dem Judentum und dem Islam hat das Christentum die Eigenschaft, sich relativ einseitig mit moralischen Werten zu verbinden.

Insbesondere im Neuen Testament bestimmt sich das Verhältnis des Menschen zu Gott einseitig durch sein moralisch gutes Denken und Handeln (im Sinne des Liebesgebots), und nicht etwa dadurch, ob er Wissen und Erfahrung besitzt, politischen Spürsinn hat, künstlerisch kreativ ist, sich dem Schutz bedrohter Landschaften widmet oder durch weise Gesetzgebung und Rechtsprechung brilliert.

Damit steht es in einer gewissen Distanz zum Alten Testament, wo nichtmoralische Werte immerhin marginal (z.B. im Buch der Weisheit, im Hohelied u.a.) zur Geltung kommen; und in einem noch viel fundamentaleren Gegensatz zur griechischen Tradition, wo die Liebe zur Weisheit und zum Schönen (ebenso wie auch politisch-rechtliche Werte) den Vorrang haben.

So erhalten philanthropisch gesinnte Menschen im Vergleich zu Wissenschaftlern, Künstlern, Sportlern, Unternehmern oder Politikern sehr viel bessere Möglichkeiten, ihrem Handeln eine besondere religiöse Dignität zuzuschreiben und sich - zumindest im katholischen Kontext - ein von "gutem Gewissen" begleitetes Selbstwertgefühl zu verschaffen.[14]

Dies macht verständlich, warum so zahlreiche neuere Entwicklungen in der westlichen Gesellschaft von einer expliziten Distanznahme zur christlichen Religion begleitet waren: z.B. die Renaissance mit ihrer Emphase der Ästhetik und Kreativität, die Zeit der Aufklärung und Verwissenschaftlichung mit ihrem Primat auf Erkenntnis; sowie der Liberalismus mit seiner Intention, eine auf den Prinzipien ökonomischer Effizienz einerseits und politischer Rechtsstaatlichkeit andererseits beruhende Gesellschaftsordnung zu begründen.[15]

Würde die (z.B. von Niklas Luhmann vehement vertretene) These zutreffen, wonach die den verschiedenen institutionellen Ordnungen zugrundeliegenden Werte immer mehr verabsolutiert und gegenüber der Moral verselbständigt werden, müsste dies in einer zunehmendem Marginalisierung des religiösen Einflusses auf die Gesellschaft sichtbar werden.

Viele aktuelle Ereignisse und Entwicklungen sprechen nun aber eher für die gegenteilige These, dass moralische Bewertungs- und Entscheidungskriterien momentan in praktisch allen Gesellschaftsbereichen wieder an Bedeutung gewinnen.

So stehen beispielsweise in der Innenpolitik stehen immer häufiger Fragen im Vordergrund, die nicht durch das Aushandeln von Interessen gelöst werden können, sondern eine Entscheidung zwischen konfligierenden Werten nötig machen (z.B. in der Abtreibungsfrage, beim Tierschutz, der Asylpolitik usw. (vgl. z.B. Inglehart 1989)).

War die internationale Aussenpolitik früher durch kühl-utilitaristische Überlegungen der "Staatsraison" bestimmt, sind heute immer mehr humanitäre Überlegungen dafür massgebend, ob beispielsweise ein Handelsboykott verhängt wird oder ob ein Einsatz von Blauhelmsoldaten erfolgt. Dementsprechend scheint sich der früher einseitig gefechtsorientierte Soldat immer mehr zum "miles protector" (Däniker 1992) zu entwickeln, der sich ständig genötigt sieht, moralische Entscheidungen zu treffen (vgl. Geser 1995: 89ff.).

Von privatwirtschaftlichen Unternehmen wird gefordert, sich bei Personaleinstellungen und Entlassungen ihrer "moralischen Verantwortung" bewusst zu werden, unmoralische Geldwaschgeschäfte zu vermeiden, nicht in Länder, die Menschenrechte verletzen, zu exportieren und ihre Mitarbeiter(innen) vor sexueller Belästigung zu schützen.

Und von der Wissenschaft wird verlangt, auf tierquälerische Experimente zu verzichten oder gar Forschungsthemen zu vermeiden, die - wie z.B. die Frage nach dem Einfluss der Rasse auf das Intelligenzniveau - den Normen der "political correctness" widersprechen.

Ebenso sehen sich Ärzte im Zusammenhang bei der Sterbehilfe oder mit der Zuteilung knapper Ersatzorgane mit kaum lösbaren ethischen Dilemmas konfrontiert und "Genchirurgen" müssen akzeptieren, dass nicht mehr das "technisch Mögliche", sondern das "moralisch Vertretbare" die Grenzen ihrer Tätigkeit bestimmt.

So entsteht eine rasch wachsende und sich endlos diversifizierende Nachfrage nach ethischen Orientierungen und nach auf fundamentalen Moralwerten basierenden Entscheidungsnormen: ein Grund dafür, warum Kirchenvertreter zunehmend zu Kongressen, Work-shops oder Fernsehdiskussionen eingeladen werden und immer häufiger die Frage auftritt, wie den "die Kirche" zu verschiedenen ethischen Problemen "denkt" - und all dies trotz der andererseits ebenso anwachsenden Weigerung, eine über der moralischen Autonomie des Einzelindividuums stehende geistliche Führungsautorität gelten zu lassen.

Diese Paradoxie erklärt sich mindestens teilweise dadurch, dass man auf dem Gebiet der materialen Ethik relativ stark auf die Religion angewiesen ist, weil die säkulare Philosophie (insbesondere seit Kant) sich weitgehend auf eine formale Ethik zurückgezogen hat, rein prozedurale Fragen (z.B. nach welchen Regeln ein ethischer Diskurs stattfinden muss) in den Vordergrund stellt und deshalb für die konkrete Entscheidungspraxis wenig Hilfestellung bietet.

So wird den Kirchen frei und franko von der modernen Gesellschaft eine immens umfangreiche und ständig expandierende Entfaltungsnische angeboten - und es bleibt allein ihnen überlassen, ob und wie sie sich selbst mit diesen Herausforderungen (die zu einer verstärkten kircheninternen Spezialisierung auf der Ebene der Theologie und Pastoralrollen nötigen würden) konfrontieren.

Eine gesteigerte moralische Mitverantwortung ergibt sich für die Kirchen indirekt auch aus den weltpolitischen Ereignissen, die seit 1989 nicht nur die internationale Szene, sondern auch die Verhältnisse innerhalb unserer Gesellschaft nachhaltig verändert haben. So hat der Zusammenbruch der staatssozialistischen Länder insbesondere dazu geführt, dass die westlichen Prinzipien der Marktwirtschaft und des kompetitiven Individalismus universell und alternativenlos vorherrschend geworden sind. Die Proponenten anderer Gesellschaftsmodelle sind im wahrsten Wortsinne heimatlos geworden, da sie keine ernstzunehmenden politischen Bewegungen, Parteien und Regimes mehr finden, die ihren Ideen eine Stütze und eine Chance zukünftiger Verwirklichung verleihen.

Vor allem hat ein Verlust an utopischem Denken stattgefunden, das uns davor bewahren könnte, uns die Zukunft ausschliesslich als Fortschreibung und defensive Bewahrung des Bestehenden vorzustellen (vgl. Sölle 1995). Hier erweist sich eine funktionale Eigenheit der Kirchen als wichtig, die erstmals von den amerikanischen Soziologen Zald und McCarthy explizit hervorgehoben wurde: ihre Fähigkeit, als "Auffangstationen" und "Überwinterungsorte" ("half-way houses") für in der Gesellschaft momentan deaktualisierte (oder gar: auf Dauer diskreditierte) Ideen zu dienen (vgl. Zald/McCarthy 1991:67 ff.).

So hat sich die - in den späten 60er Jahren noch allgemein aktuelle - Problematik des weltweiten Nord-Süd-Gefälles heute weitgehend in kirchliche und kirchennahe Kreise zurückgezogen; marxistisch inspirierte Konzeptionen gesellschaftlicher Revolution und Umverteilung werden innerhalb Lateinamerikas fast nur noch innerhalb der "Kirche der Armen" kultiviert; und das utopistische Denken und Hoffen mag momentan wieder in den eschatologisch-adventistischer Gruppierungen flüchten, von denen es historisch ursprünglich seinen Ausgangspunkt genommen hat.

Kirchen haben den Charakter "trojanischer Pferde", insofern in ihnen im unauffälligen (und weder moralisch noch politisch diskreditierbaren) Rahmen innerlicher Frömmigkeit und friedlicher Gottesdienstversammlungen Ideen gehegt werden, die momentan vielleicht nicht politisierbar sind, bereits morgen aber in der Form breiter sozialer Bewegung auf die Öffentlichkeit Einfluss nehmen (vgl. Geser 1991: 572).

Man kann davon ausgehen, dass diese autonom-kritische Funktion der Kirchen durchaus im längerfristigen Interesse der Gesamtgesellschaft liegt, auch wenn sie kurzfristig in vieler Hinsicht irritiert. Der Grund dafür liegt darin, dass die westliche Gesellschaft seit dem Untergang alternativer Gesellschaftsformen dazu genötigt ist, von jetzt an ihre ganze weitere Evolution endogen aus eigenen "Bordmitteln" zu bestreiten. Dies impliziert, dass sie (systemtheoretisch gesprochen) einen hinreichend reich dotierten "variety pool" von alternativen Ideen und Konzeptionen aufrechterhalten muss (bzw. sollte), um in Situationen, wo Innovationen gefragt sind, darauf zurückgreifen zu können.

Insofern dies zutrifft, müsste auch ein weit verbreitetes Interesse bestehen, die Kirchen als eine von Wirtschaft und Politik gleichermassen unabhängige "Dritte Kraft" aufrechtzuerhalten - und die Kirchen sollten äusserst bestrebt sein, diesen Autonomiestatus zu bewahren und auszubauen.

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6. Das Internet als Medium religiöser Kommunikation?

Ungeachtet aller technologischer Entwicklungen haben die Kirchen an der Kirchenpredigt als vorrangigem Medium religiöser Kommunikation festgehalten.

Dies verdient deshalb Beachtung, ja Verwunderung, weil - objektiv gesehen - beim sonntäglichen räumlichen Beisammensein der Gläubigen (insb. bei abnehmender Teilnehmerzahl) auch sehr viel symmetrischere und informellere Formen der Kommunikation möglich wären.

Prinzipiell besitzt die Predigt eine viel höhere Affinität zu den etablierten modernen Massenmedien (Presse, Radio und Fernsehen), die aus technischen Gründen bloss einen zentrifugalen Informationstransport (von einem Sender an viele Rezipienten) erlauben.

Mit den - momentan in rasanter Ausbreitung befindlichen - weltweiten Computernetzwerken ist nun aber ein völlig neuartiges Medium des Informationsaustausches entstanden, das aufgrund seiner vielseitigen Eigenschaften geeignet ist, das Kommunikationsverhalten in allen Gesellschaftsbereichen wahrscheinlich mindestens so grundlegend wie früher die Briefpost und das Telefon zu revolutionieren.

Als einzige verfügbare Technologie besitzen Computernetzwerke das Merkmal, dass

a) radial- zentrifugale Kommunikationen ( von einem zu vielen)

b) radial-zentripetale Kommunikationen (von vielen zu einem)

c) multilaterale Kommunikationen (von vielen zu vielen)

d) bilaterale Kommunikationen (vom einem zum andern)

in gleicher Weise (und in beliebiger Variation und Kombination) möglich sind - und dies alles unabhängig von zeitlichen und räumlichen Beschränkungen, wie sie heute z.B. noch die Briefpost und den Telefonverkehr behindern.

Damit wird es erstmals beispielsweise möglich, dass im Rahmen desselben Mediums und innert kürzester Zeit weltweit

  • von einem Sender aus eine Botschaft verbreitet wird

  • die Rezipienten dem Sender über ihre Reaktionen Rückmeldung erstatten

  • zwischen beliebigen Rezipienten (bi- oder multilateral) ein Meinungsaustausch stattfinden kann.

Damit kann das "katholische" Modell telekommunikativer Fernbetreuung mit seiner radikalen, unüberbrückbaren Segregation von aktiven Sendern und passiven Rezipienten durch ein "radikalprotestantisches" Modell ersetzt werden, in dem alle Mitwirkungen abwechselnd (und nach eigenem Wunsch) als Emittenten oder Rezipienten fungieren.

Völlig neu ist, dass dieser - bisher vor allem von pfingstlichen Sekten gepflegte - horizontal-demokratische Kommunikationsmodus nun nicht mehr an kleine lokale Kongregationen gebunden ist, sondern auch in "virtuellen Online-Gemeinschaften" mit einem über die ganze Erde verstreuten Anhängerbestand stattfinden können.

Dies hat unter anderem zur Folge, dass auch Individuen, die aufgrund ihrer mit höchst seltenen, spezialisierten oder gar abstrus-ausgefallenen religiösen Interessen und Glaubensrichtungen bisher zur Einsamkeit verurteilt waren, nun genügend Gleichgesinnte finden, um eine stabile Gruppe zu bilden und ihre Religion im kommunikativen Austausch zu artikulieren und weiterzuentwickeln. Mit andern Worten: der Prozess der religiösen Pluralisierung könnte in bisher ungeahntem Masse Auftrieb erhalten, indem auch höchst minoritäre, vielleicht während Jahrhunderten in Vergessenheit geratene Schriften, Sektengründer, Glaubensrichtungen und Kultformen wieder eine kollektive Beachtung und Betreuung erfahren. Vor allem aber wird der höchst ungerechte Zustand beendet, dass nur die Bewohner grosser Städte Zugang zu einem sehr diversifizierten "religiösen Angebot" besitzen, während ländlicheren Bevölkerungen auf wenigen dominanten Konfessionen verwiesen sind, die in ihrem Dorf eine Kultstätte und Pfarreiorganisation besitzen.

Des weiteren ist von Bedeutung, dass Computernetzwerke zur Verfertigung "multimedialer" Kommunikationsbotschaften einladen, bei denen sich Bilder, Filmsequenzen, Graphiken, Töne und gesprochene Worte komplementär zu einer semantischen Einheit verbinden.

In noch weitergehendem Umfang werden die Errungenschaften der "Virtual Reality" in Zukunft die Erzeugung und Vermittlung integraler Erlebniszustände bieten, die Ähnlichkeit mit Träumen, Rauschzuständen, Drogentrips und paranormalen "out-of-body-experiences" besitzen: also mit Erfahrungen, die mit der Sphäre des Numinosen traditionellerweise in enger Verbindung stehen (vgl. z.B. Bertlein 1994; Pimentel/Teixeira 1993).

Schliesslich erweist es sich als wichtig, dass sich die Kommunikationspartner in Computernetzen ausschliesslich über ihre expliziten Botschaften verständigen, während implizite Begleitinformationen (z.B. Statuseigenschaften, Mimik, Gestik oder Tonfall des Senders, bzw. sogar sein Name, Geschlecht und Standort) ausgefiltert werden.

Dies hat beispielsweise zur Folge, dass Charisma, Überzeugungskraft und andere personengebundene Einflussfaktoren kaum zur Geltung gelangen und nur die Nachricht an sich und für sich (z.B. als Text mit der ihm immanenten Bedeutung) Objekt der Dekodierung und Verständigung bildet.

Ein derart weitgehendes Inkognito wiederum erleichtert es den Teilnehmern, ihre Meinungen ohne Rücksichten "authentisch" zum Ausdruck zu bringen, ihren emotionalen Regungen freien Lauf zu lassen ("flaming") und auch Autoritätspersonen virulent zu kritisieren.

Daraus erklärt sich der empirische Befund, dass Computernetzwerke sehr viel geeigneter sind, innerhalb einer Gruppe Dissens und Konflikt anstatt Konsens und Zusammenhalt zu stiften: und dass auch vorgängig homogen scheinende Gruppen plötzlich auseinanderbrechen, weil bislang schamhaft schweigende abweichende Minderheiten plötzlich lautstark das Wort ergreifen (vgl. z.B. Hiltz/Turoff 1993: passim).

Die dezentralisierende und informalisierende Wirkung der Computernetzwerke passt gut in einen allgemeineren sozio-kulturellen Trend, der durch eine zunehmende Dekonstruktion zentraler Führungsautorität gekennzeichnet ist. So stellt man fest, dass die seit Ende der 60er Jahre aufgetretenen "Neuen Sozialen Bewegungen" (Neue Linke, Ökologie-, Friedens- und Frauenbewegung u.a.) allesamt durch eine eher dezentrale, multiple und unstabile Führungsstruktur gekennzeichnet sind: eine Eigenheit, mit der sie sich von den Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Leninismus, Faschismus, McCarthyismus etc.) drastisch unterscheiden.

Dies erlaubt den Schluss, dass auch zukünftige religiöse Gruppenbildungen (die den allgemeineren Gesetzmässigkeiten "sozialer Bewegungen" in vieler Hinsicht entsprechen) eine eher dezentrale, durch ein Vorherrschen horizontaler Koordinationsmechanismen charakterisierte Binnenorganisation aufweisen werden.

Empirische Hinweise für die wachsende Instabilität zentralistischer Führungsstrukturen zeigen sich beispielsweise darin, dass die "Teleevangelisten" in den USA seit den 80er Jahren im Rückzug begriffen sind (vgl. Hadden 1993) und dass einige besonders autoritär geführte Sekten in jüngerer Zeit ein besonders schlimmes Ende ( durch kollektiven Selbstmord) genommen haben.

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7. "Säkularisierung"?

Seit der Zeit der Aufklärung hält sich die populärwissenschaftliche Vorstellung, dass die Modernisierung der Gesellschaft zwingend von einem Rückgang in der allgemeinen Religiosität und im Einfluss der Kirchen begleitet sei - und sie scheint heute angesichts abnehmender Teilnahme an Gottesdienst und zunehmender Kirchenaustritte erneut Auftrieb zu erhalten.

In einer etwas umfassenderen Optik wird aber sichtbar, dass Europa heute unter allen Kontinenten der Erde eine kulturelle Sonderstellung einnimmt, insofern hier sowohl religiöse Glaubenssysteme (wie andererseits auch nationalistische Ideologien) eine auffällig geringe (und seit dem Zweiten Weltkrieg abnehmende) Bedeutung haben.

Daraus entsteht ein Vakuum an individueller und kollektiver Sinnorientierung, das beispielsweise in der extrem ökonomistischen Orientierung der EU seinen Ausdruck findet.

In den meisten übrigen Weltregionen kann dagegen eine konstante oder gar zunehmende Bedeutung der Religion (und der sie tragenden Kollektive und Institutionen) beobachtet werden, ohne dass ein klarer Zusammenhang mit dem sozio-ökonomischen Entwicklungsniveau oder dem Bildungs- und Informationsniveau der Bevölkerung auszumachen wäre.

In den USA zum Beispiel ist der Prozentanteil sonntäglicher Kirchgänger zwischen 1940 und 1959 von 40% auf 59% (!) angestiegen und hat sich seither auf einem stabilen Niveau (von ca 41-43%) eingepegelt, das immer noch leicht über demjenigen der Vorkriegsjahre liegt (Glogg 1993; Zald/McCarthy 1987). Im gleichen Zeitraum ist sowohl die Zahl christlicher Kirchen, Sekten und Denominationen wie auch die Zahl nichtchristlicher Gruppierungen kontinuierlich angewachsen, und die meisten neugegründeten Gruppen sind keineswegs wieder am Absterben, sondern haben sich auf erstaunliche Weise konsolidiert (vgl. Melton 1993).

Ebenso hat sich der Prozentanteil der gottesgläubigen Amerikanern seit 1944 bis heute auf demselben Niveau von 95% (!) gehalten, und der Anteil derjenigen, die in Jesus den Sohn Gottes anerkennen, hat sich zwischen 1952 und 1988 gar leicht (auf 84%) erhöht. (Glogg 1993).

Angesichts der generell starken kulturellen Führungsrolle der USA innerhalb der westlichen Hemisphäre ist die Vorstellung nicht abwegig, dass auch Europa - mit einem gewissen time lag - von diesem Trend religiöser Reaktivierung und Pluralisierung erfasst werden dürfte.

Dies wird höchst wahrscheinlich aber nur dann geschehen, wenn durch eine weitgehende staatliche Deregulierung des religiösen Sektors die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass

1) zahlreiche Gruppierungen sich gleichberechtigt nebeneinandet entfalten können;

2) die jetzigen Monopolkirchen sich gegenüber ihren Gläubigen "responsiver" als heute verhalten müssen, um ein hinreichendes freiwilliges Spendenaufkommen sicherzustellen.[16]

Ebenso wäre allerdings auch denkbar, dass aus den immer virulenteren religiösen Bewegungen in der Dritten Welt neue Glaubenssysteme hervorgehen, die - sei es durch aktive Missionierung oder durch freiwillige Übernahme - in den religiösen Vakuumszonen West- und Mitteleuropas heimisch werden. [17]

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Literatur

Bertlein, Reinhold F. New Edge - neueste Technik für alternde Hippies (Neue Zürcher Zeitung, 27. 5.94, 67).

Bibby, Reginald W. Fragmented Gods (Irwin, Toronto 1987).

Däniker, G. (1992). Wende Golfkrieg. Vom Wesen und Gebrauch zukünftiger Streitkräfte (Frauenfeld: Huber Verlag).

Geser, Hans Die neue Weltordnung im Spannungsfeld zwischen Kleinstaatlichkeit und Internationalen Organisationen (in: Riklin, A. Wildhaber L. Wille H. (eds.) Kleinstaat und Menschenrechte. Festgabe für Gerard Batliner zum 65. Geburtstag. Helbing & Lichtenhahn, Basel / Frankfurt 1993, 199-226).

Geser, Hans Interorganisationelle Normkulturen (in: Haller, m./ Hoffmann-Nowotny, H.-J./Zapf, Wolfgang (Hrsg.) Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen, des 11. Österreichischen und des 8. Schweizerischen Kongresses für Soziologie, Campus Frankfurt/ New York 1989: 211-223).

Geser, Hans La nuova sfida dell'ordine mondiale: una prospettiva organizzative (in: Gobbicchi, Alessandro (ed.) La professione militare oggi, Franco-Angeli Milano 1995: 81-115).

Geser, Hans Zur Bedeutung der Kirchen in der modernen Gesellschaft (Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 3, 1991, 569-584).

Hadden, Jeffrey K. The Rise and Fall of American Teleevangelism (in: Roof, Wade Clark (ed.) Religion in the Nineties. Vol. 527 of THE ANNALS of the American Academy of Political and Social Science, Sage Publ. Newbury Park 1993: 113-130). Heller, Agnes Der Mensch der Renaissance (Edition Maschke, Köln 1982).

Hesser, Garry W. Organizational Dilemmas of Religious Professionals (Or, "I never Promised you a Rose Garden") (in: Scherer, Ross, P. (ed.) American Denominational Organization. William Carey Library, Pasadena 1980, 262-290).

Hiltz, Starr Roxanne/Turoff, Murray The Network nation: Human Communication via Computer MIT Press. Cambridge Mass, 1993 (revised edition).

Hornsby-Smith, Michael P. The Changing Parish (Routledge, London/New York 1989).

Inglehart, Ronald Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt (Campus, Frankfurt /New York 1989).

Kübler, Robert Kirchliches Handeln auf verschiedenen Ebenen und seine Finanzierung (in: Jahresbericht 1990 der evang.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, 15-16).

Marsden, George M. Preachers of Paradox: The Religious New Right in Historical Perspective (in: Douglas Mary/Tipton St. M. (eds.) Religion and America. Spirituality in a Secular Life, Beacon Press, Boston 1983, 150-168).

Martin, David Revived Dogma and New Cult (in: Douglas, Mary/ Tipton Steven (eds.) Religion and America, Beacon Press, Boston 1983, 111-129).

Marty, Marin E. Where the Energies go (in: Roof, Wade Clark (ed.) Religion in the Nineties. Vol. 527 of THE ANNALS of the American Academy of Political and Social Science, Sage Publ. Newbury Park 1993: 12-26).

Metz, Johann Baptist Jenseits bürgerlicher Religion (Kaiser Verlag, München 1980).

Olk, Thomas Der informelle Wohlfahrtsstaat - Beziehungsprobleme zwischen Sozialstaat und nicht-professionellem Hilfesektor (in: Olk, Thomas /Otto, Hans-Uwe (Hrsg.) Der Wohlfahrtsstaat in der Wende, Juventa Weinheim/München 1985: 122-151).

Oppl, H. (1989) Selbsthilfe als Herausforderung für Sozialarbeit. (in: Kardorff, Ernst von / Oppl, Hubert Selbsthilfe in der Wohlstandsgesellschaft. Minerva, München 1989: 35-58).

Pimentel, Ken/Teixeira, Kevin Virtual -Reality, Through the new Looking Glass. (Intel/Windcrest/McGraw-Hill Inc. 1993).

Roof, Wade Clark Toward the Year 2000: Reconstruction of Religious Space (in: Roof, Wade Clark (ed.) Religion in the Nineties. Vol. 527 of THE ANNALS of the American Academy of Political and Social Science, Sage Publ. Newbury Park 1993: 157-171).

Sölle, Dorothee "Der Vogel Wunschlos fliegt nicht weit" (Interview mit D. S. im "Tages Anzeiger", 24. 2. 1995: 2).

Stoodt, Hans Christoph Formen kirchlicher Arbeit an der Schwelle von der Industrie- zur Risikogesellschaft (in: Pastoraltheologie, 80, 1991/3, 116-132).

Türk, Hans-Joachim Postmoderne (Grünewald Verlag/Quell Verlag, Mainz/Stuttgart 1990).

Zald, M. N., & McCarthy, J. D. (1987) Religious Groups as Crucibles of Social Movements (in M. N. Zald & J. D. McCarthy (Eds.), Social Movements in an Organizational Society (pp. 67-96), New Brunswick/Oxford: Transaction Books).

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Fussnotenverzeichnis

[1] So stellt die - jüngst in der Stadt Bern vollzogene - kirchliche Trauung eines homosexuellen Männerpaars insofern ein aussergewöhnlich kühnes Unterfangen dar, als damit die Ambition verbunden wird, eine noch nicht einmal im säkularen Zivilstaat anerkannte Konzeption der "Schwulenehe" an eine im Vergleich zu genau diesem Zivilstaat viel ältere religiös-kirchliche Tradition zu assimilieren.

[2] Auch die Rechtsinstitutionen sind in ihrer zentralen Funktion damit befasst, Tradition und Wandel miteinander zu verbinden. Im Gegensatz zu den Kirchen verfügen sie aber nicht über die Option, Altes und Neues in seiner Widersprüchlichkeit nebeneinander koexistieren und miteinander ringen zu lassen, weil von ihnen verlangt wird, beides in ein einheitliches, zu jedem Zeitpunkt logisch konsistentes Normensystem zu integrieren.

[3]Im Lichte dieser Argumentation muss der katholischen Kirche - in paradoxem Widerspruch zum manifesten Konservativismus des zentralen Apparats - ein besonders hohes Potential für zukünftigen endogenen Wandel zugesprochen werden, weil auch einflussreiche Exponenten mit stark dissentierenden Positionen (Küng, Drewermann, Ranke-Heinemann, Boff u.a.) eine ausgeprägte Neigung zeigen, innerhalb der Kirche zu verbleiben.

[4]Das Festhalten der Kirche am Territorialprinzip kommt allen säkularen Kreisen sehr gelegen: weil es zur Folge hat, dass sich die Kirche "von selber" marginalisiert, ohne dass aktive Massnahmen, die auf Beschränkung kirchlichen Einfluss zielen nötig wären. Dies findet häufig in der proverbialen Redeweise ihren Ausdruck, dass "die Kirche im Dorf bleiben" solle. Genau dies aber muss in Frage gestellt werden, weil damit impliziert wird, dass wesentlichste und expansivste Handlungsfelder unserer Gesellschaft ausserhalb des kirchlichen Einflusses bleiben (vgl. z.B. Stoodt 1991).

[5]Frühneuzeitliche Illustrationsbeispiele dafür bieten bereits die Renaissance und die Reformation, deren innovativen Ansprüche sich mit dem Rückgriff auf eine vormitttelalterliche Begründungstradition (die Antike bzw. das Urchristentum) verbanden.

[6] vgl. zu diesem Konzept der "Religion à la carte" : Bibby 1987.

[7] Natürlich werden diese Gefahren der Desorganisation und des Kommunikationszusammenbruchs dadurch verstärkt, dass auch die Pfarrer selber zu individualistischen "Auswahlchristen" werden, die sich selber nicht mehr zumuten, gegenüber den Gläubigen die Kirche integral zu repräsentieren.

[8] Generell hat diese Reversibilität der Mitgliedschaft zur Folge, dass religiöse Zugehörigkeit ein relativ bewusstes, Gegenstand für Reflexion und Diskussion bietendes Thema bleibt.

Oder umgekehrt: gerade zunehmende religiöse Gleichgültigkeit kann kirchliche Mitgliedschaft zementieren: weil gerade die sehr randständigen Kirchenanhänger gar nicht genügend Reflexion aufbringen, um sich mit dieser Zugehörigkeit kritisch auseinanderzusetzen. Im extremen Fall wissen sie nicht einmal, welcher Kirche sie angehören; und da sie von den kirchlichen Aktivitäten mangels Interesse auch nichts wissen, fehlt ihnen die Basis, um in begründeter Weise kritisch-unzufrieden zu sein.

Ebenso wird Bewusstheit dadurch gefördert, dass man religiöse Glaubenslehren nicht mehr integral, sondern in selektiver Weise rezipiert.

So leben heute z.B. die meisten Katholiken mit dem Bewusstsein, in wesentlichen Aspekten ihres Lebens gegen die Morallehren der Kirche zu verstossen (z.B. in ihrer Haltung zu Abtreibung oder vorehelicher Sexualität).

Genau dadurch ist man aber auf bewusstere Weise Kirchenmitglied als jemand, der die gesamte konfessionelle Kultur mit der Muttermilch eingesogen hat und als ungefragte Tradition gelten lässt, die keinen Anlass zu bewusster Auseinandersetzung bietet.

[9] Abgesehen von der Finanzierung müssen die Kirchen natürlich auch dafür sorgen, dass für die pädagogischen und publizistischen Aufgaben hinreichend zahlreiches und qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. So gehört es zur besonderen Problematik der Katholischen Kirche, dass sie ihren akuten Priestermangel ausgerechnet zu einer Zeit erlebt, wo die Reproduktion ihrer konfessionellen Doktrinen, Wertorientierungen und Normen mehr als jemals von der Präsenz und Aktivität ihres formellen (klerikalen) Personals abhängig wäre.

[10] Hierzulande wird der extreme Lokalismus (der im Fall der Zürcher Landeskirche z.B. in einem Steueranteil von 85% für die Gemeindepfarreien sichtbar wird (vgl. Kübler 1990)) nicht zuletzt dadurch genährt, dass die überlokalen Aktivitäten der Kirchen in wachsendem Masse als politisch kontrovers empfunden werden.

[11] Im Falle der katholischen Kirche wäre dies dann die konsequente Realisierung des sog. "Subsidiaritätsprinzips", das sie in ihrer Soziallehre zwar schon seit Jahrzehnten verkündet - ohne es andererseits in ihrem innerkirchlichen Bereich gelten zu lassen.

[12] vgl. zu den aktuellen Entwicklungen im Sozialhilfesektor: Olk 1985: 122 ff.; Oppl 1989: 35ff.

[13] So kann im Falle der katholischen Kirche etwa bis zum Jahr 1960 von einer "tridentinischen Epoche" gesprochen werden, die durch die Dominanz der im Konzil von Trient festgelegten lateinischen Liturgieformen (auf Kosten aller lokalen Volkskulturen) gekennzeichnet war.

[14] Im protestantischen Kosmos herrscht zwar insofern eine grössere Offenheit für nichtmoralische Werte, als jeder Beruf als in derselben Weise "gottgefällig" angesehen wird (Luther) und ein ökonomisch erfolgreiches Arbeitsleben gar als besonders günstiges Zeichen der Auserwähltheit gilt (Calvin). Andererseits hat sich vor allem der Pietismus bemüht, die - vom Neuen Testament her präjudizierte - Vorrangigkeit moralischer Werte wiederherzustellen.

[15] Folgerichtig haben viele dieser Strömungen häufiger in der griechisch-römischen Antike statt in der jüdisch-christlichen Tradition ihre metaphyisch-axiologische Begründungsbasis gefunden.

[16] Gemäss dem Konzept der "Religious Economy" nimmt die "Nachfrage" nach religiösen Aktivitäten in dem Masse zu, wie die "Anbieter" in Konkurrenz zueinander stehen und dadurch gezwungen sind, auf die vielfältigen (und sich ständig wandelnden) Präferenzen ihrer "Klientele" Rücksicht zu nehmen (vgl. Zald/McCarthy 1987). In Übereinstimmung damit zeigt sich beispielsweise, dass in Ländern mit staatlichen Monopolkirchen (z.B. England, Norwegen, Schweden u.a.) besonders geringe Prozentanteile der formalen Mitgliederschaft den Gottesdienst besuchen (ca. 3-5%) (vgl. Martin 1983).

[17]In diesem Sinne schreibt beispielsweise J.B. Metz der südamerikanischen "Kirche der Armen" eine providentielle Bedeutung für die Erneuerung der katholischen Gesamtkirche zu: weil er beeindruckt feststellt, dass sich hier das Volk der Gläubigen zum erstenmal vom "Objekt kirchlicher Betreuung" zum eigentlichen "Subjekt der Kirche" emanzipiert (vgl. Metz 1980:22).

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Last update: 25 Okt. 20

 

Editor:

 

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich

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