Werte, Identität und Neue Soziale Bewegungen Ralf Sonderegger 1997
5. Werte und ihr Wandel in der Moderne 12. Identitätskrise als Handlungspotential
"Sehnsucht nach Werten - Die ratlose Gesellschaft" betitelte FOCUS ihre Ausgabe vom 17. März 1997. Die soziale Welt scheint in einer Orientierungskrise zu stecken. Traditionelle Pflicht- und Gemeinschaftsorientierungen verblassen zunehmend und an ihre Stelle treten individuelle Freiheiten, der Drang (oder Zwang) nach Selbstverwirklichung und auch geistiger Wandel. Diese `Ich-Orientierung' bringt aber auch Unsicherheiten und Gefahren, die zum Nach- und Umdenken anregen. Aus diesem Wandel in Richtung Individualismus scheinen neue Bedürfnisse zu entstehen, aber auch ein neues Gefühl von Verantwortung. Aus dem Manko an gesellschaftlicher Aufgabe und Verpflichtung erhalten Begriffe wie Solidarität und Teilnahme eine neue Bedeutung. Wenn von aussen keine klare Orientierung mehr vorgegeben wird, müssen wir sie halt selbst suchen. "[der moderne Mensch] ist darauf angewiesen, die Drehbücher seines individuellen Lebens selber zu schreiben, die Landkarten für seine Orientierung in der Gesellschaft selber zu zeichnen, über seine Biographie, seine Persönlichkeit, sein Selbstverständnis selber Regie zu führen." (Hitzler/Honer, 308, 1994) Was hat das nun mit Neuen Sozialen Bewegungen zu tun? Nach meiner Ansicht sind Neue Soziale Bewegungen nicht nur Ausdruck äusserer Veränderungen. Ich denke, dass sie für die Aktivisten auch eine innere, latente Funktion erfüllen, die für die Motivation der Teilnehmer sogar zentral ist. Sie stellen eine Handlungsrahmen dar, in dem die Teilnehmer ihrem Bedürfnis nach kohärentem und sinnvollem Leben entsprechen können. Durch das Anstreben eines externen Zieles schaffen sie sich die Möglichkeit, sich konkret mit den Problemen auseinanderzusetzen, die zu inneren Widersprüchen und Unsicherheiten führten. Die latente Funktion wäre also, innere Spannung abzubauen: man handelt nicht (nur) um die Welt zu verbessern, sondern um eine `harmonische' Beziehung zwischen sich und der Umwelt herzustellen. Entsprechend versuche ich in dieser Arbeit eine Verbindung zwischen den Neuen Sozialen Bewegungen und den Aktivisten, den handelnden Individuen herzustellen. Die Grundthese lautet, dass die Ursachen zum Handeln sowohl ausserhalb wie auch innerhalb des Individuums zu finden sind. Die Äusseren sind in der Regel offensichtlich: Umweltverschmutzung, drohender Ökokollaps, zerstörerische Kriege, menschliche Ungerechtigkeiten, Arbeitslosigkeit usw. Nur reicht ein objektiver Missstand kaum, um jemanden zum Handeln zu bringen, vor allem wenn er nicht direkt betroffen ist. Es braucht zusätzlich eine Wertvorstellung, eine persönliche Motivation, um aktiv zu werden. Gerade bei den `idealistischen' Neuen Sozialen Bewegungen, wie der Menschenrechtsbewegung oder der Friedensbewegung (wie z.B. eine Kampagne gegen die Folterungen in der Türkei oder gegen das Pelztragen) kommt dieser Gedanke zum Ausdruck. Es braucht nicht unbedingt einen akuten persönlichen Notstand, sondern es reicht unter Umständen eine innere Überzeugung, eine Identifizierung mit gewissen Werten, um aktiv zu werden, auch wenn kein direkten Bezug zur eigenen Lebenssituation besteht. Um uns dieser These zu nähern, betrachten wir den inneren Kern der Bewegungen, die verbindende Idee der Teilnehmer und die Motivation zur gemeinsamen Tätigkeit. Grundsätzlich geht es um die Frage, wie kollektives Handeln überhaupt zustande kommt. Im Spezifischen soll aber über das Phänomen gewisser Neuer Sozialen Bewegungen nachgedacht werden, wo Leute nach scheinbar idealistischen, in gewisser Hinsicht sogar altruistischen Kriterien aktiv werden. Das bedeutet, dass im Handeln selbst ein Eigenwert liegen muss, der sich entscheidend auf die Aktivität auswirken kann. Nach dem Motto: "Der Weg ist das Ziel" liegt in ihm die Möglichkeit, eine direkte Beziehung zur Umwelt aufzubauen, in der wir uns als aktives und kreierendes Mitglied erfahren können. Es geht also nicht nur um eine bessere Welt, sondern auch um eine sinnvolle Auseinandersetzung mit der wahrgenommenen Welt, um eine Integration in die Gemeinschaft und eine Bestätigung der persönlichen Wertvorstellung und Identität. Das würde bedeuten, dass im Kern der Neuen Sozialen Bewegungen nicht nur eine gemeinsame Idee einer besseren Gesellschaft, sondern auch das gemeinsame Bedürfnis nach sinnvoller und integrierender Tätigkeit steckt. Grundlagen des Handelns sind dann sowohl äussere Umstände wie auch innere Grundwerte und Bedürfnisse, wobei sich beides Gegenseitig bedingt und beeinflusst. Durch das Handeln `verändern' wir die Welt und durch die Welt werden wir geformt und beeinflusst. Das Phänomen der `idealistischen' Neuen Sozialen Bewegungen ist um so interessanter, da gerade die moderne, entwickelte Welt wenig Motivation bietet, den gegebenen Umständen und dem Lauf der Geschichte entgegenzutreten. Die grossen Ideologien haben an Zugkraft verloren (z.B. Marxismus, realer Sozialismus, Maoismus, aber auch das Wachstumsprinzip des Kapitalismus) und die Wissenschaft ist an Grenzen gestossen. Die Welt scheint sich zwar noch weiter zu drehen, doch politisch entsteht nur wenig Neues, zumindest sind keine konkreten Lösungsvorschläge zu den anstehenden Problemen sichtbar. "In den zeitgenössischen Diskussionen wird die andere Gesellschaft nicht mehr durch die parlamentarische Debatten neuer Gesetze erwartet, sondern durch die Umsetzung von Mikroelektronik, Gentechnologie und Informationsmedien" (Beck, 86, 358). Die Ideen nach sinnvoller Betätigung versanden in der Vielseitigkeit der Möglichkeiten und der Komplexität der Erfahrungen. Es geht uns noch immer zu gut, um wirklich aufzustehen; das Trittbrettfahren ist zu lukrativ und der Preis der Auflehnung zu hoch; wer Widerstand leistet, kann eigentlich nur verlieren. Und trotzdem können wir die Welt, so wie sie sich uns präsentiert, nicht akzeptieren. Wenn wir einen Wert zu unserer Umwelt und eigenen Person herstellen wollen, müssen wir eine Beziehung zu der durch uns erfahrenen Welt herstellen. Jegliches Handeln wird von einzelnen Subjekten ausgeführt. Wenn es nun aber zu gemeinsamem Wirken kommen soll, muss eine verbindende Idee, ein geteiltes Schicksal - gemeinsame Werte - vorhanden sein. In dieser Verbindung, in der gemeinsamen Suche nach einer integrierten Identität, liegt ein zentraler Nenner jeglicher Bewegung. Zumindest in dieser Arbeit soll die Aufmerksamkeit auf diesen Aspekt gelenkt werden. Es sind Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Wärme und Aufgehobenheit, die den Menschen zusammenbringen. Viele der modernen Entwicklungen brachten uns von diesem Zustand weg. Stichwörter dazu sind: Enttraditionalisierung, abstrakte Lebenswelt durch technischen Fortschritt, differenzierte und entfremdete Arbeit, Geld als Kommunikationsmittel, unpersönliche Institutionen. Generell gesagt eine Entmystifizierung oder Entzauberung der Lebenswelt. Das nicht mehr direkt aufeinander angewiesen sein und sich vermehrt indirekt mit sich und der Welt zu arrangieren, hat ein Vakuum hinterlassen, das aufgefüllt werden muss. Dieses Bedürfnis nach Gemeinschaft, diese Sehnsucht nach verbindenden Werten scheint mir eine Haupttriebfeder zu sein, um überhaupt aus der gegebenen Passivität auszubrechen! Das Vakuum besteht nun nicht nur aus einer Leere, sondern zusätzlich aus einer widerspruchsvollen Lebenssituation. Der Fortschritt hat alte Werte wegrationalisiert, ohne dass es ihm gelang, eine überzeugende Wegleitung für die Zukunft (und Gegenwart) zu entwickeln. Dadurch wird es zunehmend schwieriger, ein konsistentes und über die Zeit bestehendes Identitätsbild herzustellen, was bei zu grossen Widersprüchen zu inneren Spannungen führt. Um diese Spannung zu überwinden, sind verschiedene Reaktionen denkbar: gleichgültige Passivität und gedankenloser Konsum, Rückzug in eine eigene, bessere Lebenswelt (z.B. religiöse Sekten oder Aussteigerkommunen), aber auch eine aktive Konfrontation mit der Umwelt, direkt als Vorbild oder Märtyrer oder indirekt über politische Institutionen. Im Zentrum steht dann eine motivierende Ideologie, die Überzeugung, dass es sich lohnt, für die inneren Werte einzustehen und der Wille und Glaube, es auch wirklich zu tun. Daher auch der Vergleich mit Camus Sisyphos: sein Schicksal wurde von den Göttern auferlegt. Indem er es aber zu akzeptieren begann und sich mit ihm auseinandersetzte, wurde es zum (vielleicht einzigen) sinnhaften Wert seiner Existenz. Wenn man in der wahrgenommenen Welt den einzigen Bezugsrahmen des menschlichen Strebens sieht, muss man sich mit ihr auseinandersetzen. Dies ist eine Herausforderung und Chance zugleich, einen zentralen Wert, eine Orientierung ins Leben zu integrieren, um damit die eigene Person und die erfahrene Umwelt in Einklang zu bringen. Bei Rucht wird Soziale Bewegung folgendermassen definiert: "Eine soziale Bewegung ist ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests - notfalls bis hin zur Gewaltanwendung - herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen" (1994, 77) Bei Scott tönt es ganz ähnlich: "A social movement is a collective actor constituted by individuals who understand themselves to have common interests and, for at least some significant part of their social existence, a common identity. Social movements are distinguished from other collective actors, such as polititcal parties and pressure groups, in that they have mass mobilization, or the threat of mobilization, as their prime source of social sanction, and hence of power. They are further distinguished from other collectivities, such as voluntary associations or clubs, in being chiefly concerned to defend or change society, or the relative position of the group in society" (1990, 6). Soziale Bewegungen zielen auf eine bewusste Änderung der Gesellschaftsordnung und setzen voraus, dass diese Ordnung wandelbar und veränderbar ist. Sie müssen also glauben, dass die Menschen kollektiv in der Lage sind, sozialen Wandel bewusst herbeizuführen. Entsprechend sind es eher "moderne" Phänomene, die erst nach der "Entdeckung" der menschlichen Gestaltbarkeit sozialer Verhältnisse auftraten. Die Bewegungen sind schwer von anderen kollektiven Aktivisten, wie Parteien oder Verbände, abzugrenzen. Ursprünglich meinte man vor allem die Bewegung der industriellen Arbeiterklasse, unterdessen ist es ein gemeinsamer Nenner für inhaltlich sehr heterogene Bewegungen. Allgemein formuliert bezeichnen sie einen Protest gegen die jeweils bestehenden sozialen Verhältnisse. Um kollektiv handeln zu können, braucht es einen gemeinsamen Nenner, eine gemeinsame Identität. Die Bewegungen werden daher auch durch folgende drei Elemente gekennzeichnet:
Da sie ohne kontinuierliche Organisations- und Machtbasis auskommen müssen, sind sie auf eine breite Aktionsbasis angewiesen und setzen daher oft auf die Sensibilisierung und Mobilisierung der Öffentlichkeit. Weiter sind sie auf ein wandelbares Ziel ausgerichtet sind und unterstehen selbst natürlich auch dem Wandel: sie erreichen ihr Ziel und lösen sich auf, verwandeln sich in eine andere Bewegung oder scheitern an unerreichbaren Ideen. Zur Beschreibung Sozialer Bewegungen haben sich vor allem zwei Ansätze herauskristallisiert: der `Resource-Mobilization-Ansatz', der mit `rational choice' Überlegungen operiert - die Bewegungen werden als rational kalkulierende Akteure verstanden, deren Mobilisierungspotential davon abhängig ist, wieviel und wie gut sie Geld, Zeit, Qualifikation und Aufmerksamkeit mobilisieren können - und der `New Social Movement-Ansatz', der mehr die Wurzeln der Bewegung und kulturelle oder gesellschaftliche Hintergründe betrachtet. Vereinfachend kann man sagen, dass der Resource-Mobilization-Ansatz zwar zu erklären vermag, wie es zu sozialen Bewegungen kommt, aber nicht warum, während der New Social Movement-Ansatz wiederum zu erklären sucht, warum es zu sozialen Bewegungen kommt, aber nicht wie: "Structural theories, based on systems analysis, explain why but no how a movement is established and survives... By contrast, resource mobilization models regard such action as mere data and fail to examine its meaning and orientation" (Melucci, 1989, 22-23). Unter den Sammelbegriff `Neue Soziale Bewegungen' zählt man vor allem die seit den 80er Jahren sich stark vermehrenden Bürgerinitiativen, alternativen Projekten, die neu entstandenen Frauen-, Friedens-, Ökologie und Anti-Nuklearbewegungen sowie der parlamentarische Einfluss der Grünen Parteien und Listen. Bei Scott werden die Neuen Sozialen Bewegungen vor allem durch folgende vier Charakteristiken bezeichnet:
Diese Bewegungen traten vor allem im deutschsprachigen Raum auf und es ist umstritten, wie weit die Bezeichnung `neu' zutrifft. Bei Dalton/Küchler wird es folgendermassen umschrieben: "We contend that the ideological bond between the core members determines the nature of the movement. It provides the prime criterion in determining whether the qualifier `new' ist theoretically meaningful. ...This ideological bond has two major traits: a humanistic critique of the prevailing system and the dominant culture, in particular a deep concern about the threats to the futuer of the human race, and a resolve to fight for a better world here and now with little, if any, inclination to escape into some spiritual refuge" (1990, 278). Bei Dalton/Küchler ist die Verbindung zwischen den Zentrums-Mitgliedern das bestimmende Element. Wenn wir ihnen folgen wollen, müssen wir diesen geteilten Glauben - die ideologische Verbindung - näher betrachten. Obwohl viel von Ideologie und Identität gesprochen wird, wird die persönliche Motivation der Mitglieder vernachlässigt. Kollektives Handeln besteht schlussendlich aber immer aus individuellem Handeln und dieses richtet sich entsprechend nach individuellen Interessen. Die Frage lautet also, wie aus individuellem Interesse kollektives Bewusstsein entstehen kann, oder umgekehrt, wie Bewusstsein sich in Interessen verwandelt. Da es in dieser Arbeit die Frage nach der Motivation im Zentrum steht, verfolgen wir diesen Ast. Versuchen wir uns den möglichen Bewegungsgründen anzunähern. Wie kommt es zu kollektivem Handeln? Als Handeln bezeichnen wir aktives Tun oder auch Unterlassen. "Handeln soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äusseres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heissen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. `Soziales' Handeln aber soll ein solches Handeln heissen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist." (Weber, 1976, 11). Beim sozialen Handeln verfolgt der Handelnde eine Absicht, die an eine Erwartung knüpft. Dieser muss man sich aber nicht immer bewusst sein. "Das reale Handeln verläuft in der grossen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewusstheit oder Unbewusstheit seines `gemeinten Sinns'" (ebda, 12). Dem Handeln können verschiedene Absichten zugrundeliegen, den eingeschränkten Idealtypus gibt es kaum. Auch der `Idealist' verfolgt einen spezifischen Zweck und will etwas konkretes Bewirken. Im Hintergrund begleitet ihn aber eine Wertvorstellung, nach der er sich orientiert, so dass dem Handeln ein Eigenwert innewohnt. Um das Handeln beschreiben zu können, müssen wir es verstehen. Um es verstehen zu können, müssen wir uns in die Lage der einzelnen Akteure versetzen. Wo könnten bei den Neuen Sozialen Bewegungen die spezifischen Kriterien liegen, die das Handeln bestimmen? 5. Werte und ihr Wandel in der Moderne Für die Theorie der Neuen Sozialen Bewegungen sind die Veränderungen in der Weltanschauung, der sogenannte `Wertewandel', von grosser Bedeutung. In seinem Buch "The Silent Revolution" untersucht R. Inglehart den Einfluss kultureller Veränderung auf die Gesellschaft der entwickelten Industriegesellschaft. Er weist nach, dass sich die Wertvorstellungen in der westlichen Gesellschaft signifikant verschoben haben; während früher materielles Wohlergehen und physische Sicherheit im Vordergrund standen, wird heute mehr Gewicht auf die Lebensqualität gelegt. Seine These ist, dass durch diesen gesellschaftlichen Wandel auch politisch eine Verschiebung stattfindet. "Die etablierten Parteien, die jahrzehntelang bei der Mobilisierung politischer Partizipation eine entscheidende Rolle gespielt haben, haben für die Unterstützung der neuen Bewegungen nur noch eine marginale Bedeutung. Die neuen sozialen Bewegungen verkörpern eine andere Form der politischen Partizipation. Sie ist weniger Eliten-gelenkt, als es in der Vergangenheit im allgemeinen der Fall war, und wird in weit höherem Masse von den Wertvorstellungen, der Ideologie und der politischen Kompetenz des einzelnen geprägt. Die neuen Sozialen Bewegungen sind neu und zwar nicht nur in ihren Zielsetzungen, sondern auch in ihrem politischen Stil und durch die Faktoren, die ihre Aktivisten mobilisieren" (Inglehart, 89, 486). Was uns weiter interessiert, ist die Mobilisierung der Aktivisten. Inglehart sagt, dass die Partizipation aus verschiedenen Faktoren resultiert: "Auf einer Ebene ist sie Ausdruck von objektiv existierenden Problemen wie Umweltverschmutzung, Ausbeutung der Frau, Kälte und Unpersönlichkeit der Industriegesellschaft oder Kriegsgefahr. Menschen beteiligen sich nur selten an politischen Aktionen, wenn kein aktuelles Problem ansteht. ... Aber Menschen handeln nur, wenn sie ein bestimmtes Ziel vor Augen haben; die Tatsache allein, dass Probleme oder Organisationen existieren, hätte keinerlei Konsequenzen, wenn nicht ein Wertsystem oder eine Ideologie die Menschen zum handeln motivierte" (ebda, 461). Entscheidend für das Handeln ist das "neue" Wertsystem. Dieses bezieht sich auf Punkte wie:
Solche neuen Werte werden im Gegensatz zu alten Werten wie Wirtschaftswachstum, unbeschränkte Nutzung der Natur, technologische Entfremdung und Akkumulation der Risiken immer stärker favorisiert. Diese Entwicklung belegt ein deutliches Unbehagen an der Modernität und resultiert aus der Erfahrung mit einer hochkomplexen, modernen Welt. Die Ausrichtung von sozialem Handeln bedarf einer Orientierung, Leitlinien. Es ist gebunden an kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Werte bezeichnen eine Präferenzordnung zwischen verschiedenen Vorstellungen. Sie fallen nicht vom Himmel, sondern hängen von verschiedenen Faktoren ab, wie Bildung, Erfahrung, Status, Normen etc. Einerseits werden sie aus vorgegebenen Mustern übernommen, andererseits können und werden sie dauernd verändert. Werte bilden die allgemeinsten Leitlinien für zweckgerichtetes Handeln und leiten so das menschliche Handeln. Sie bezeichnen einen erwünschten Endzustand und können dem Streben als Richtschnur dienen. Ohne sie wäre der Mensch orientierungslos und entsprechend handlungsunfähig. "Die Handlungsziele der Sozialpersönlichkeit sind demgemäss nicht nur durch physiologisch relevante Primärbedürfnisse und Antriebe determiniert, sondern ganz entscheidend durch gelernte Werte, die die vorgegebenen Antriebskräfte überformen und an der Herausbildung sekundärer Motive beteiligt sind" (Hillmann, 1989, 61). Das soziokulturelle Umfeld, das unter anderem die Wertorientierung des einzelnen bestimmt, scheint einen entscheidenden Einfluss auf das Handeln auszuüben. Diese Beweggründe kann man als Motive bezeichnen. Sie sind bewusst oder unbewusst auf die Verwirklichung bestimmter Werte abgerichtet. Aus einer Werthaltung können spezifische Interessen folgern, die zu zweckrationalem Handeln führen, Interessen können aber auch die Werthaltung beeinflussen. Wenn man nach dem Ursprung der Werte fragt, hat man das Gefühl, dass sie eher unbewusst und beiläufig entstanden sind. Man könnte sie als Endprodukt der Sozialisation bezeichnen, die so auch äusseren Veränderungen unterliegt. "In einem `Wertsystem' spiegelt sich die gesamte Sozialisation eines Menschen wider, vor allem die Sozialisation in den frühen Jahren" (Inglehart, 1989, 461). Wie nun der Mensch die Welt beeinflusst, wird er rückwirkend auch wieder geformt. Die natürlichen Lebensbedingungen haben sich in den letzten Jahre stark verändert. "In der modernen Zeit tragen neue Technologien, Wirtschaftsweisen, Herrschaftssysteme, Lebensstile und Konsummöglichkeiten verstärkt zum weltweiten Wertwandel bei. Der Kern eines neuen Umwertungsprozesses bildet die Aufwertung der `quality of life'. Verstärkt wird er durch das Eindringen von alternativen Lebensweisen und Religionen durch Immigranten, Reisen in ferne Länder, internationaler Handelsverkehr, neue Kommunikationsmittel etc." (Hillmann, 1989, 146). Quantitatives Wirtschaftswachstum, gesteigerter Konsum und drohende Umweltkrise führten zu einer `Infragestellung' der gegebenen Wertschätzung, da plötzlich grundlegendere Werte wie Leben und Überleben bedroht werden. Dieser Werte-Widerspruch wird je nach Bildungsgrad, Sensibilität, Informationsstand und Interessenlage unterschiedlich bewältigt: während die einen die Umweltkrise zu bagatellisieren versuchen, werden andere zum Handeln motiviert. Nach der Identitätstheorie der `kognitiven Dissonanz' (Hillmann) ist der Mensch bestrebt, eine Harmonie - Konsistenz und Kongruenz - zwischen seinen Meinungen, Kenntnissen und Wertvorstellungen herzustellen. "Je mehr sich eine Person einer Dissonanz bewusst wird und je mehr diese in das personale Selbstverständnis hineingreift, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit für eine kognitive Veränderung oder schliesslich sogar für eine Verhaltensänderung" (ebda, 153). Bevor wir uns dem Problem der Identitätsfindung in der modernen Gesellschaft zuwenden, konzentrieren wir uns nochmals auf die äusseren Umstände. In seinem Werk "Risikogesellschaft" beschreibt U. Beck den Übergang der Industriegesellschaft in eine neue Gestalt. Den Wandel sieht er folgendermassen: Aus dem nicht mehr zu akzeptierenden überliefertem Modell folgen Fragen, die nach dem alten Denkmuster keine Antwort ermöglichen. Aus diesen nicht einzuordnenden Risiken erwächst eine Unsicherheit, die sich immer weniger hinter Institutionen und pauschalen Abfindungen verstecken können. Der moderne Mensch ist sich diesen Risiken bewusst, es fehlt ihm aber die Fähigkeit, diese durch sein Weltbild und seine Funktion zu integrieren. Im Zentrum der Betrachtung steht also ein Wert, eine persönliche Vorstellung und Gewichtung der Risiken. Diese sind es auch, die uns zum Handeln bewegen. "Wir werden heute aktiv, um die Probleme oder Krisen von morgen und übermorgen zu verhindern, abzumildern, Vorsorge zu leisten - oder eben gar nicht" (Beck, 1986, 44). Ein neues Bewusstsein entwickelt sich. Einerseits dehnt sich der Horizont in die Zukunft aus, vor allem aber wechselt das Verhältnis zur Natur: Beck sieht es als "das Ende der Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft" (ebda, 107), Umweltprobleme sind auch gesellschaftliche Probleme und schlussendlich Probleme des einzelnen. Neben der neuen `Risikoverteilung' erscheint ein zweiter Schwerpunkt der Moderne: die Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensform und die Individualisierung sozialer Ungleichheit: Überlieferte und sozialisierte Basisselbstverständlichkeiten - wie soziale Klassen, Familienformen, Berufe - bilden sich zurück und schaffen neue biographische und kulturelle Unsicherheiten. Männer und Frauen werden aus traditionellen Formen und Rollenzuweisungen freigesetzt, handlungsleitende Normen wie Religion werden entzaubert, dafür entstehen neue Kontroll- und Integrationsmechanismen über Bildung, Konsum, Moden etc. "An die Stelle traditioneller Bindungen und Sozialformen treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewusstseinsform durchsetzt, zu Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen" (ebda, 210). Die Biographien fallen auf einem selbst zurück, es herrscht somit aber auch der Zwang, den Lebenslauf selbst und möglichst attraktiv oder sinnvoll zu gestalten. Nicht mehr das `haben', sondern das `sein' rückt in den Vordergrund. Der Beruf und die Freizeit werden zu den tragenden Identitätsvermittler. Dieser Modernisierungsprozess führt zu einer veränderten Wahrnehmung, zu einer allgemeinen Reflexivität. Während früher hauptsächlich externe Gefahren (das heisst die Natur) die Risiken schuf, so sind es heute vor allem durch Technik und Wissenschaft konstruierte Bedrohungen. Da die Wissenschaft aber gleichzeitig Ursache, Vermittler (als Definitionsmedium) und potentielle Lösungsquelle ist, muss sie sich auch in Widersprüche verwickeln und an Überzeugungskraft verlieren. Bei Melucci wird u.a. die nukleare Bedrohung erwähnt: "The nuclear problem is an extreme and paradoxical example of the social capacity to intervene on society itself. It is the ultimate expression of an `artificial', or socially constructed self-reflexive social life" (Melucci, 1989, 84). Der Glaube an einen kohärenten Fortschritt geht verloren, es müssen neue Modell und Wege gesucht werden. Diese Entwicklung schlägt sich aber kaum im politischen Prozess nieder, der sich hauptsächlich nach wirtschaftlichen Faktoren ausrichtet. Auf der politischen Bühne ist dieser Wechsel klar erkennbar: Die etablierten Parteien können sich immer weniger auf feste Stammwähler verlassen und müssen den Bürger - und vermehrt die Bürgerin - mit allen Mitteln umwerben. Diese wählen aber weniger nach vorgegebenen Grundmustern, sondern nach aktuellen und spezifischen Sachlagen. Aus dieser Tendenz kann eine Veränderung des Bewusstseins gefolgert werden. Die politische Aktivität könnte als Ausbruch aus der politischen Unmündigkeit gefolgert werden. Aus der passiven Akzeptanz der vorgegebenen Muster folgt die reale Partizipation. Wie man sich selbst als individuelle Einheit wahrnimmt, betrachtet man die äussere Welt aus der eigenen Perspektive. Es eröffnete sich die paradoxe Situation, dass technologische Entwicklungen nur noch von wenigen Spezialisten beurteilt werden können, die Auswirkungen aber allgemeines und globales Ausmass angenommen haben. Die realen Gefahren haben dabei vor allem (aber nicht nur) symbolischen Wert. Ein `Weltkrieg' könnte die Vernichtung der ganzen Menschheit bedeuten. Durch dieses Bewusstsein werden wir unumgänglich mit den eigenen Grenzen der Entwicklung konfrontiert. Wir sind fähig geworden, die Erde unwiederbringlich auszubeuten, zu zerstören oder zu mutieren. Die Konstruktion der Selbst-Destruktion musste auch zu einer bisher unbekannten Selbst-Reflexion führen. Der erreichte Zustand ist irreversibel; was sich einmal in der Erfahrung oder im Bewusstsein festgesetzt hat, lässt sich nicht mehr ignorieren. Das einzige, was bleibt, ist zu lernen, mit ihm umzugehen. Durch das Bewusstsein dieser Unberechenbarkeit muss ein neues Gefühl von Verantwortung folgern, eine Eigenverantwortung, die den Bezug zur Umwelt nicht entbehren kann. Wenn wir aber davon ausgehen, dass äussere Bedingungen nicht unbedingt ausreichen, um zu reagieren, was für Prozesse laufen dann innerlich ab? Wie in der komplexen Gesellschaft die Beziehung zu der äusseren Welt sich komplett veränderte, so wechselten auch die internen Bezugspunkte. Traditionelle Identitätszuweisungen durch Religion, Klassenzugehörigkeit, Partei etc. haben sich verloren und neue, klare Muster sind (noch) keine ersichtlich. Trotzdem strebt der Mensch nach einer Orientierung, er braucht eine klare Vorstellung von sich selbst. "The possibility that an individual will say with conviction and continuity `I am x,y, or z' becomes increasingly uncertain. The need to re-establish coninually who I am and what it is that assures the continuity of my biography becomes stronger. A `homelessness' of personal identity is created..." (ebda, 1989,109). Blättern wir ein paar Seiten zurück und denken an die Definition von `Sozialen Bewegungen'. Melucci unterscheidet dabei drei Dimensionen. Erstens ist es eine Form von kollektiver Aktion, die aufgrund von Solidaritätsgefühlen geleistet wird. Zweitens äussern sie sich in einem Konflikt und stehen in Opposition zu einer Gegenmeinung und drittens brechen sie die Toleranzgrenzen des Systems; sie wollen ja etwas verändern. Weiter fragt er aber auch, wie die einzelnen Individuen involviert werden. Kollektive Aktionen lohnen sich für den einzelnen nicht, wenn er den Verdienst auch ohne seine Beteiligung erhalten könnte (Olsons `free-rider'-Argument). Es braucht weiter die Überzeugung, dass wenn niemand handelt, der einzelne nicht nur nichts gewinnt, sondern verliert. Um überhaupt soweit zu kommen und seine Erwartungen formulieren zu können, muss er sich seiner Situation und seiner selbst bewusst sein, also seine Identität kennen. "Expectations, which are socially constructed, enable actors to relate to their external world. I propose that only if individual actors can recognize their coherence and continuity as actors will they be able to write their own script of social reality and compare expectations and outcomes. Thus, any theory of collective action which incorporates the concept of expectations presupposes a theory of identity" (ebda, 1989, 32). Zur Formulierung von Erwartungen wird also eine Identität vorausgesetzt. Identität kann generell als Grundelement von Beziehungen und somit von sozialem Handeln bezeichnet werden: "Überdauernde Interaktionsbeziehungen und damit Gesellschaften sind nur möglich, wenn der andere weiss, wer ich bin. Dazu muss ich dem anderen deutlich machen, wer ich bin. Das kann ich nur, wenn ich weiss, wer ich bin, und das wiederum hängt davon ab, was ich bislang aus meiner Umwelt erfahren habe über mich und wie ich diese Erfahrung über mich selbst zu einem Bild über mich selbst zusammenfüge, von dem ich sage: Das bin ich!" (Frey, 1987, 6). Gerade aber dieses Wissen über sich selbst wird immer schwieriger herzustellen. Emanzipation von aller Fremdbestimmtheit (wie Religion, Patriarchat oder Familie) führten zu neuen Möglichkeiten der Selbstbestimmung, verpflichten aber auch zu einer individuellen Lebensgestaltung. Und das auf ein Ziel hin, das gesellschaftlich nicht mehr klar vorgegeben ist. Dieses persönliche Grundrecht zur Autonomie führt so zu einer Verpflichtung zur Individualität. Gerade in dieser Betonung der Einzigartigkeit, in der Selbstbestimmung jedes einzelnen, liegt die Identitätsnorm der modernen Welt. Diese hat auch ihre Tücken, da der einzelne mit seiner Aufgabe, Individualität her- oder darzustellen, zunehmend alleine gelassen wird. "Einzigartig ist, wer sich selbstverwirklicht, aber wie er das tun soll, bleibt ihm überlassen. Erlaubt ist, was gefällt oder gut ist, aber was gefällt oder gut ist, sagt ihm niemand mehr. Es fehlt die allgemeinverbindliche Orientierung" (Frey, 1987, 10). Wie bildet sich die Identität in der Moderne? Identität erfordert als erstes die Festlegung wesentlicher, identitätskonstitutiver Merkmale. Weiter berührt sie aber noch zwei weitere Dimensionen: die biographisch-vertikale über die Zeit (=Kontinuität) und die sozial-horizontale über die verschiedenen Rollenkontexte (=Konsistenz). Die Identitätsbildung löst sich mit der Zeit immer stärker von vorgegebenen Mustern und fällt in den persönlichen Kompetenzbereich. Sie vollzieht sich entsprechend nicht mehr als einmaliger, geradliniger Akt, sondern kann jederzeit revidiert und verändert werden, wie etwa Berufs-, Partner-, oder Konfessionswechsel zeigen. Andererseits stellt sich auch die Konsistenz in Frage, wenn widersprüchliche Erfahrungen gemacht werden, die sich verdrängen lassen und eigene Konsistenz in Frage stellen. Man fliegt in die Ferien, um die intakte Natur zu geniessen, wird im Ferienparadies von bettelnden Kindern belagert und trennt die aus dem Konsumrausch anfallenden Abfälle. Durch die moderne Entwicklung wurden die alten Normen `dekonstruiert', ohne sie aber durch Neue zu ersetzen. Die ökonomischen und technologischen Umgestaltungen der modernen Zeit haben feste Lebensformen und Sinnzusammenhänge aufgelockert und zu weitreichenden Freisetzungen geführt. Das Individuum wurde seiner selbstverständlichen Identität geraubt, dafür eröffneten sich aber auch neue Freiheiten und Gestaltungsräume. Wenn nun aber die innere Orientierung nicht mit den von aussen vermittelten Werten übereinstimmt, bildet sich eine Wertediskrepanz, die ihren Schatten auf die eigene Identifikation zurückwirft. Um dieses Manko an innerer Kohärenz zu füllen, wird eine persönliche Reaktion gefordert. Siegert/Chapmann nennen diese Situation den `selbstinduzierten Identitätswandel'. Es ist die Veränderung des Identitätsgefühls in Verbindung mit der veränderten Interpretation und Bewertung der eigenen und fremden Lebenszusammenhänge. Die Antworten zu Identitätsfragen werden durch Wissenssysteme wie Religion, Kultur und Alltag vorgegeben oder geformt. Wie nun tendenziell die identitätssichernde Kraft von Institutionen abnehmen und Integrations- und Überzeugungskraft verlieren, führen sie den einzelnen zur aktiven Suche nach sinnstiftenden Alternativen. Das Problem ist dabei nicht der Mangel an gesellschaftlichen Orientierungsangeboten, sondern die fehlende Sinnhaftigkeit in Verbindung mit einer als bedrückend empfundenen sozialen Realität. Die folgende Reaktion kann gesellschaftlicher Rückzug, (z.B. Neue Religiöse Bewegung), wie auch gesellschaftliches Engagement sein. "Wo traditionell zentrale Bereiche der Lebenswelt von Sinnentzug bedroht sind (z.B. Religion, Familie), ist der Ausweg, die Arbeit mit Sinn zu befrachten, so sinnlos nicht" (Baethge, 1994, 254). 12. Identitätskrise als Handlungspotential Wie wirkt sich das auf das Handeln aus? Angesichts der objektiven Widersprüche ist Konsistenz vom Individuum allein nicht herzustellen. Identitätsbildung gelingt nur in Teilbereichen, wobei Inkonsistenzen ausgeblendet werden. Ausser beim `vollkommenen Rückzug' (z.B. religiöse Sekte, Aussteiger etc.) gelingt das Ausblenden aber meistens nicht vollständig, ein latentes Wissen bleibt und entwertet das Befinden. Es kann zur Identitäts-Dauerkrise kommen. Diese These wird von Gertrud Nunner-Winkler anhand von zwei Beispielen erläutert, die auch zum spezifischen Inhalt der Neuen Sozialen Bewegungen gehören, dem Problem der Umweltzerstörung und der Bedrohung durch einen Atomkrieg. In beiden Beispielen geht es um Widersprüche zwischen unterschiedlichen individuellen Interessen bzw. moralischen Verpflichtungen und der Diskrepanz zwischen der individuellen Handlungsebene und der Systemebene des Problems. Umweltzerstörung: Obwohl die Umweltgefährdung in den Augen der Bevölkerung ein gewichtiges Problem darstellt, sieht der Grossteil sich eher als Betroffene und Leidende und nicht so sehr als Verantwortliche und Handelnde. Es ergibt sich die widersprüchliche Situation, dass man auf der einen Seite die Umweltschäden beklagt, auf der anderen Seite aber selbst dazu beiträgt. Wie geht man nun mit diesem Widerspruch um? Nach Nunner-Winkler ergeben sich drei Möglichkeiten: Der Widerspruch wird verdrängt (oder mit eventuell schlechtem Gewissen ausgehalten), der einzelne löst den persönlichen Widerspruch durch eigenes umweltfreundliches Handeln oder er versucht im grösseren Rahmen auf eine Veränderung zu wirken, indem er sich zum Beispiel für eine umweltfreundlichere Politik einsetzt. Wie Olson gezeigt hat, ist der einzelne kaum zum Handeln bereit, da in der Grossgruppe die soziale Kontrolle versagt und jeder versucht, seinen eigenen Interessen gemäss zu handeln (in diesem Fall eben nicht) und seinen Beitrag - der ihm ausserordentlich grosse Kosten verursacht, der Allgemeinheit jedoch nur wenig Gewinn bringt - der Allgemeinheit vorzuenthalten. Dennoch bleibt ein Bewusstsein von Inkonsistenz: Schliesslich wäre das Handeln aller wirksam und das Handeln des einzelnen ist Teil des Handelns aller. Wenn nun das Interesse überwiegt, mit sich und seinen Idealen im Reinen zu sein, kann es trotz des Mehraufwandes zu sozialem Handeln kommen. Wegen der Erfahrung, dass das Tun einzelner wenig bewirkt, wählt man nicht die Strategie des Märtyrers, sondern versucht (z.B. über gemeinsame politische Engagements), die Strukturen zu verändern. Atomkrieg: Ein weiteres Beispiel wäre die Bedrohung durch einen Atomkrieg. "Der Atomkrieg stellt eine Bedrohung dar, die individuelles Handeln herausfordert und zugleich als ohnmächtig erweist und damit als wahrscheinlichste Reaktionsform Abwehr produziert" (ebda, 172). Ein weiterer Motivationsgrund aus der Inkonsistenz lässt sich hier erläutern. Die Gefahr eines Atomkriegs stellt eine unermessliche Bedrohung dar. Sie wird noch dadurch gesteigert, dass sie durch die Menschen geschaffen ist und somit Glauben an die Sinnhaftigkeit des menschlichen Strebens grundsätzlich in Frage stellt. Da individueller Rückzug oder Flucht hier kaum möglich ist und die instrumentellen Handlungsmöglichkeiten des einzelnen gering sind, steht der Hang zur inneren Abwehr, das heisst Verleugnung, Intellektualisierung, oder Rationalisierung, das heisst das Abwägen zwischen Kosten und Nutzen, nahe: Politisches Handeln verursacht Kosten - daraus resultiert ja gerade die politische Apathie der Bürger. Wenn Handeln Kosten verursacht, aber zugleich als verpflichtend gesehen wird (wer kann schon akzeptieren, dass sein Leben potentiell bedroht ist), liegen Entschuldigungen und Rechtfertigungen nahe, wobei dann die eigene Machtlosigkeit überbetont und/oder die Vielzahl von verschiedenen Handlungsverpflichtungen gegeneinander ausgespielt werden. Es müssen also Rechtfertigungen und Entschuldigungen gefunden werden, die das Nichthandeln legitimieren. Wie nun das Handeln kosten verursacht, kostet auch das Aufrechterhalten von Abwehr Energie und gelingt meistens nicht vollständig, lässt also eine Inkosistenz zurück. "Wenngleich das Wissen um die Bedrohung in gewissem Umfang latent gehalten werden kann, so begleitet es doch unterschwellig alles Tun und entwertet es damit zugleich. Es ist dieses immer wieder aufbrechende Wissen, das als Symptom für die letztliche Unlösbarkeit der Identitätskrise gelten muss" (ebda, 175). Bei diesem Bewusstsein gelingt es dem Individuum nicht, Konsistenz in seine Lebensführung zu bringen, da diese nicht einmal mit dem grundlegendsten Lebensinteresse, dem einer sicheren Zukunft, übereinstimmt. Zusätzlich wird diese Inkonsistenz in der modernen Welt direkter und stärker erlebt, da die zunehmende Freisetzung von sozialer Kontrolle und sozialen Zwänge keine (oder zumindest weniger) Entlastung bieten. Wenn nun die Widersprüche zwischen der Person und der erfahrenen Welt zu gross werden, kann eine aktive Teilnahme, trotz den hohen individuellen Kosten, zu einer Entlastung führen. Die Neuen Sozialen Bewegungen hätten entsprechend die latente Funktion, den Mitgliedern eine sinnhafte und kohärente Identität zu vermitteln, die Möglichkeit, vor sich selbst und seinen Werten bestehen zu können. Gerade in dieser Orientierungs-Sehnsucht sehe ich ein Aktivitätspotential für Neue Soziale Bewegungen. Die Entwurzelung führt zum individuellen Betrachten der Lebenssituation, und die bewusste Erfahrung der Umwelt fordert auf zum eigenverantwortlichen Handeln. Wenn wir davon ausgehen, dass durch kollektives Handeln Kosten entstehen, müssen für den einzelnen individuelle Anreize bestehen, die ihn zum Handeln motivieren. Die aktive Teilnahme bietet eine Orientierung an einer gemeinsamen Idee, die einem einen festen Ort in der Gesellschaft zuweist. Man fühlt sich nicht mehr sinnlos und unnütz in die Welt geworfen, sondern hat eine konkrete Aufgabe, eine Idee, die eine Verbindung zwischen der wahrgenommenen äusseren Welt und der Selbsterfahrung durch Selbstreflexion herstellt. Dadurch wird das persönliche Verhältnis zur Umwelt harmonisiert und die Identität stabilisiert. Können wir zum Schluss eine Brücke zurück zu Küchler/Daltons Ansatz schlagen? Gemäss ihrer Betrachtung war das zentrale Element der Neuen Sozialen Bewegungen die gemeinsame Ideologie:"To summarize our view: we argue that the core members and their shared beliefs - their ideological bond - are the essence of a social movement, that the organizational manifestations are an epiphenomenon" (Dalton/Küchler, 1990, 282). Wenn wir uns an Parsons Definition halten (nach Enzyklopädie Philosophie und Wirtschaftstheorie) und unter Ideologie ein System von Ideen, Meinungen, Einstellungen und Werten verstehen, das sich innerhalb sozialer Gruppen bildet und dazu dient, das eigene Handeln zu legitimieren und fremdes Handeln zu beurteilen, dann wir die Verbindung offensichtlich. Handeln ist die Reaktion auf ein Bedürfnis, das befriedigt werden will. Durch die Aktionen der Bewegungen, zum Beispiel einem Protest, wird ein Bezug zur äusseren Welt hergestellt und im spezifischen auf die Risiken der modernen Welt hingewiesen. Diese Probleme sind universell und für alle ähnlich relevant. Diese Risiken werden von einer Sozialisations- und Bildungsgruppe, die sich etwa mit Ingleharts Postmaterialisten deckt, besonders sensibel wahrgenommen und kommuniziert. Durch diesen gemeinsamen Fremdbezug finden Leute zusammen, die so in ihrer Werthaltung und Betrachtungsweise gegenseitige Anerkennung und Bestätigung finden. Durch die Offensichtlichkeit und Objektivität wird auch das eigene Handeln legitimiert. Würde man aber nur die externen Aspekte betrachten, bliebe die Frage offen, wie es überhaupt zur Aktivität kommt, da die Chance zum Ändern dieser Probleme für den einzelnen äusserst gering sind. Hält man die Aktivisten nicht für hoffnungslose Utopisten, müssen andere - versteckte - Motivationsgründe gesucht werden. Würde jeder nur nach seinem - latenten - Bedürfnis handeln, gäbe es keinen Ausweg aus dem Dilemma. Luhmann schreibt über latente Funktionen, "dass sie latent bleiben müsssen, damit sie ihre Funktion adäquat erfüllen können" (Luhmann, 1984, 469). Er sagt weiter, dass Latenzschutz ein notwendiger Selbstschutz ist, um die Orientierbarkeit und Motivierbarkeit nicht zu verlieren. Und das gelingt über die manifeste Funktion. Ein gemeinsame Verbindung kann nur über gemeinsame Objekte oder Symbole gefunden werden. Würde sich jeder bei seinem Handeln nur auf sich selbst beziehen, würde man sich in seiner Selbstreferenz verlieren. Durch den gemeinsamen Problembezug schafft man sich eine gemeinsame Wertorientierung, eine Identität (oder Ideologie), die das eigene Handeln nach Aussen und vor sich selbst legitimiert. Trotzdem werden aber auch verborgene Bedürfnisse erfüllt, sonst wäre ein `idealistisches' Engagement nicht erklärbar. Es bliebe die Frage: "Was hat das mit mir zu tun? Wozu Protest, wenn uns dieses Thema in keiner Weise tangiert." Ob es sich nun um die Vorstellung einer gerechten Welt, um Umweltschutz oder um die unabsehbaren Risiken von Hochtechnologie handelt: "All these issues simultaneously touch upon the meaning of individual existence and the destiny of the human species" (Melucci, 1989, 11). In dieser Arbeit versuchte ich eine latente Funktion der Bewegungsfunktion aufzuzeigen: die Herstellung einer integrierten Identität. Diese ist in der modernen Welt immer weniger gesichert, da die Lebensform nicht mehr als schicksalshaft vorgegeben akzeptiert wird, sondern ein Resultat eigener Entscheidungen und Leistungen ist und der eigenen Verantwortung unterliegt. In dieser `entzauberten' Welt werde ich auf mich selbst zurückgeworfen und Orientierung muss selbstreflexiv gefunden werden. Äussere Einflüsse wirken auf die Person, die von dieser verarbeitet werden müssen. Durch die bleibende Abhängigkeit und Unbeeinflussbarkeit des gesellschaftlichen Umfeldes (z.B. dem technischen Fortschritt) stehen die Möglichkeiten im Gegensatz zu den Ansprüchen an Individualismus und eigenverantwortlichen Lebensführung. Eine Möglichkeit, diesem inneren Widerspruch zu begegnen, ist, die (vermeintlichen) Ursache zu bekämpfen. Indem ich mich aktiv mit meinen äusseren Problemen auseinandersetze, bringe ich auch meinen Selbstbezug in Harmonie. Wertewandel bedeutet nicht nur, dass sich die Orientierungen verändern, sondern, dass sich auch die persönlichen Bedürfnisse laufend verändern. Wenn wir die Welt als unvollkommen wahrnehmen, müssen wir uns auch selbst so auffassen. Die Widersprüche der Welt können wir nur lösen, indem wir die eigenen Widersprüche auflösen. "Erkenne dich selbst" heisst es beim Orakel zu Delphi. Um die Welt zu verstehen, muss man sich selbst verstehen, um äussere Phänomene - wie die Neuen Sozialen Bewegungen - zu erklären, muss man die inneren Einheiten erkennen. "...the core members and their shared beliefs - their `ideological bond'...", wie es bei Küchler/Dalton heisst (1990, 278). Bei dieser Arbeit geht es nicht darum, die Identitätskrise als das typische Merkmal Neuer Sozialer Bewegungen zu definieren. Ich versuchte aber zu zeigen, dass es wichtig ist, neben den offensichtlichen Bezügen nach weiteren - oft verborgenen - Kriterien zu suchen. Das Handeln erfüllt verschieden Funktionen, die oft im Dunkeln liegen und doch entscheidenden Einfluss ausüben können. Der einzelne Mensch steht zu dieser modernen Welt in einem so komplexen Verhältnis, dass es unmöglich ist, die verschiedenen offenen und latenten Beziehungen vollständig aufzudecken. Ich versuchte mich auf den Aspekt der Identitätskrise zu beschränken, sah aber, dass auch dieser in einem `weiten Feld' angesiedelt ist und den Rahmen einer solchen Arbeit bei weitem sprengen würde. Trotzdem kann man sagen, dass Gemeinsame Aktionen, Solidarität und Mithilfe nicht nur Ausdruck einer wahrgenommenen äusseren Welt sind, sondern auch das Bedürfnis nach gemeinsamer Bewältigung des inneren Konflikts widerspiegeln. "Die sozialen Bewegungen der achtziger Jahre haben oft zwei Ziele gleichzeitig verfolgt, einmal das unmittelbare, um dessentwillen sie gegründet wurden, also die Verhinderung der Stationierung von Raketen oder die Forderung nach gleichen Rechten für Frauen, und dann das latente Ziel der Schaffung eines Klimas der Solidarität". (Dahrendorf, 1992, 276). Solidarität würde ich in diesem Sinn als `Hilfe zur Selbsthilfe' verstehen. Die Sehnsucht nach Werten zeigt eine Orientierungslosigkeit, eine Hilflosigkeit, sich selbst zu sein und mit sich und der Welt klarzukommen. Wenn wir uns nach neuen gemeinsamen Werten sehnen, dann kaum (nur) um der besseren Welt willen, sondern vor allem zur eigenen Sicherheit. Was sonst gibt dem Leben Sinn und Bedeutung, wenn nicht die Tätigkeit? Wie aber können wir etwas tun, wenn wir den Wert nicht kennen und was vermittelt einen Wert, wenn nicht eine gemeinsame Orientierung? Lassen wir zum Schluss Dahrendorf seinen "Rat für die 1990er Jahre resumieren: Um des Himmels willen tut etwas! Tut etwas, das Bedeutung hat, weil es Spass macht und wichtig ist für die anderen. Es gibt genug zu tun in dieser unvollkommenen Welt." (ebda, 1992, 279). Bader, Veit Michael: Kollektives Handeln. Leske + Budrich, Opladen, 1991 Baethge, Martin: Arbeit und Identität. In: Beck/Beck-Gernsheim: Riskante Freiheiten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1994 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1986 Dahrendorf, Ralf: Der Moderne Soziale Konflikt. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1992 Dalton/Küchler (Hg): Challenging the Political Order. Polity Press, Oxford, 1990 Frank, André/Fuentes, Marta: Widerstand im Weltsystem. Promedia Verlag, Wien, 1990 Frey, Hans-Peter/Hausser, Karl (Hg): Identität. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, 1987 Hellmann, Kai-Uwe: Systemtheorie und Neue Soziale Bewegungen. Westdeutscher Verlag, Opladen, 1996 Herzka, Michael: Die Menschenrechtsbewegung in der Weltgesellschaft. Peter Lang AG, Bern, 1995 Hillmann, Karl-Heinz: Wertwandel. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1989 Hitzler, Ronald/Honer, Anne: Bastelexistenz. In: Beck/Beck-Gernsheim: Riskante Freiheiten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1994 Huber, Joseph: "Wer soll das alles ändern?". Rotbuch Verlag, Berlin, 1980 Inglehart, Ronald: Kultureller Umbruch; Wertwandel in der westlichen Welt. Campus Verlag, Frankfurt am Main, 1989 Keupp, Heiner: Identitätsverlust oder neue Identitätsentwürfe? In: Zoll, Rainer (Hg): Ein neues kulturelles Modell. Westdeutscher Verlag, Opladen, 1992 Keupp, Heiner/Bilden, Helga (Hg.): Verunsicherungen. Verlag für Psychologie, Göttingen, 1989 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Grundriss einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1984 Melucci, Alberto: Nomads of the present. Hutchinson Radius, London, 1989 Nunner-Winkler, Gertrud: Identität und Individualität. In: Soziale Welt 36, 1985 Nunner-Winkler, Gertrud: Identitätskrise ohne Lösung. In: Frey/Hauser (Hg), Identität, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, 1987 Rucht, Dieter: Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Campus Verlag, Frankfurt am Main, 1994 Scott, Alan: Ideology and the New Social Movements. Unwin Hyman, London, 1990 Siegert, Michael T./Chapman, Michael: Identitätsformation im Erwachsenenalter. In: Frey, Hans-Peter/Hausser, Karl, Identität. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, 1987 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. J.C.B. Mohr, Tübingen, 1976 Zoll, Rainer: Alltagssolidarität und Individualismus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1993 Last update: 06 Mrz 17 |
|||||||||||
Editor
|