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Social Movements,

Pressure Groups and Political Parties


 

Die neuen sozialen Bewegungen in der Schweiz

Teil 3

Margrit Knobel. 1997

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Inhalt

4. Die Organisation der neuen sozialen Bewegungen

4.1. Die Partizipation der Organisationen
4.2. Die Organisationsstruktur
4.2.1. Struktur der politischen Opportunitäten (POS) und Organisation
4.2.2. Statische Beschreibung
4.2.2.1. Die Domäne
4.2.2.2. Die Strukturen
4.2.2.2.1. Die intra-organisationelle Struktur
4.2.2.2.2.1. Die inter-organisationelle Struktur
4.2.2.2.2.2. Ueberblick über das Beziehungsnetz und diesbezügliche Konklusion

4. Die Organisation der neuen sozialen Bewegungen

Der Organisationsaspekt wird in doppelter Hinsicht untersucht, einerseits - im ersten Unterkapitel - ausgehend von den durchgeführten Aktionen als Partizipation der verschiedenen Organisationstypen an den Protestereignissen oder am Mobilisationsprozess, andererseits - im zweiten Unterkapitel - hinsichtlich Struktur der Organisationen, um letztere und deren Beziehung zum Mobilisationsprozess zu charakterisieren.

4.1. Die Partizipation der Organisationen

Die Analyse der Partizipation der Organisationen umfasst drei Aspekte: Die Unterstützung der Protestaktionen durch verschiedene Organisationstypen, die Zentralisierungs- oder die Dezentralisierungsstruktur der Partizipation der SMOs und die Zusammensetzung der Struktur der Alliierten der SMOs. Bei den im folgenden wiedergegebenen Resultaten ist die hohe Anzahl fehlender Angaben mitzuberücksichtigen, die sich aufgrund wahrscheinlich mangelnder Unterstützung von Organisationen überhaupt oder mangelnder Informationen in der als Quelle benutzten NZZ-Montag-Ausgabe ergibt.

Tab. 4.1: Partizipation der Organisationen der neuen sozialen Bewegungen und der andern sozialen Bewegungen 1975-1989

  NSB

 

Andere SB


Oekologie-

Bewegung

Solidaritäts-

Bewegung

Friedens-

Bewegung

Autonome Städt.

Bewegung

 

n=1319

n=1319

n=617

n=316

n=129

n=249

             
Allgemeine Struktur
           
- keine Unterstützung

59.2

53.4

26.7

34.5

34.9

79.1

- interne Unterstützung1)

28.8

26.6

66.9

49.4

48.8

18.9

- gemischte Unterstützung2)

5.1

1.0

2.7

7.3

7.8

1.2

- externe Unterstützung3)

6.9

19.0

3.7

8.9

8.5

0.8

Total

100.0

100.0

100.0

100.0

100.0

100.0

             
Struktur der internen

Unterstützung1)

           
- keine

66.1

72.4

30.5

43.4

43.3

79.9

- dezentralisiert4)

15.7

20.8

24.0

5.4

14.7

19.7

- gemischt/föderalistisch5)

2.2

0.4

2.6

1.6

2.3

0.4

- zentralisiert6)

16.1

6.3

42.9

49.7

39.5

0.0

Total

100.0

100.0

100.0

100.0

100.0

100.0

             
Struktur der externen

Unterstützung3)

           
- keine

88.1

80.0

94.0

83.9

83.7

98.0

- Partei der Linken

7.8

5.8

4.7

8.5

10.1

0.8

- Partei der Rechten

0.7

3.2

0.5

0.9

0.0

0.0

- andere Organisationen

2.2

10.3

0.6

5.7

3.9

0.4

- linke Parteien/andere

1.1

0.8

0.2

0.9

2.3

0.8

Total

100.0

100.0

100.0

100.0

100.0

100.0

1)nur SMOs partizipieren

2)SMOs und andere Typen von Organisationen (politische Parteien und andere) partizipieren

3)keine SMOs, sondern nur andere Typen von Organisationen partizipieren

4)nur regionale oder lokale SMOs partizipieren

5)nationale und regionale oder lokale SMOs partizipieren

6)nur nationale SMOs partizipieren

Quelle: Giugni 1991, S. 103-113

Inhalt

Die allgemeine Struktur der Unterstützung in Tabelle 4.1 betrachtet, findet die externe Unterstützung nicht die von McCarthy und Zald postulierte fundamentale Bedeutung bei den sozialen Bewegungen. Die Abhängigkeit der andern sozialen Bewegungen ist mit 19% grösser als diejenige der neuen sozialen Bewegungen mit lediglich 6.9% und hauptsächlich auf die in Punkt 1.2 bereits erwähnten, an Institutionen gebundenen drei Themenkomplexe Klassenprobleme traditioneller Art, Probleme mit dem Staatsapparat und solche im Bereich Bildung und Kultur zurückzuführen, die traditionellerweise zu den Forderungen politischer Parteien zählen. Etwas mehr als die Hälfte und damit eine hohe Anzahl der Ereignisse findet bei beiden Sektoren gar keine Unterstützung. Die Resultate der neuen sozialen Bewegungen bestätigen diejenigen im folgenden Unterkapitel behandelten: Diese haben mehr Beziehungen unter sich als mit andern Organisationen. Den sehr hohen Anteil an Protestereignissen ohne externe Unterstützung zeigt - der Studie gemäss - den Willen der neuen sozialen Bewegungen zur Distanzierung von institutionellen politischen Regeln (Giugni 1991: 110).

Die Differenzen der einzelnen Bewegungen resultieren aus der internen Struktur einer Bewegung, deren Distanz zu Interessenvermittlungs-Systemen und aus deren Typ. Bei der Autonomen Städtischen Bewegung, die als lokale Bewegung eine gänzlich dezentralisierte Struktur aufweist, oft - und für politische Parteien und eben mögliche Alliierte zu - radikale bzw. zu wenig gemässigte Strategien anwendet und auch zu möglichst grosser Unabhängigkeit von aller externen Intervention tendiert, macht sich eine starke - extern noch höhere - Isolation bemerkbar; von dieser Bewegung am stärksten organisiert ist mit neun Partizipationen die "Bewegung der Unzufriedenen", die Berner Bewegung, die sich - besonders 1987 - aktiv für die Reithalle in Bern als autonomes Kulturzentrum einsetzt. Von Interessenvermittlungs-Systemen abhängiger sind Solidaritäts- und Friedensbewegung, wobei beide, letztere mehr als erstere, durch andere, kleine linke Parteien unterstützt werden (s. dazu auch Tab. 4.2). Erstere wird zudem durch kirchliche Kreise und Syndikate unterstützt und weist, bedingt durch den internationalen und nationalen Charakter ihrer Mobilisation, die höchste Partizipation nationaler SMOs auf, wobei von diesen wiederum anzahlmässig die zentralamerikanischen Komitees mit 16 und Amnesty International mit 15 Ereignissen am meisten partizipieren. Die Friedensbewegung wird - wie die Oekologie-Bewegung - mehr durch regionale oder lokale und weniger durch nationale SMOs unterstützt als die Solidaritätsbewegung, wobei infolge des hohen Anteils an - auch von regionalen oder lokalen SMOs unterstützten - nationalen und internationalen Themen eine relativ hohe zentralisierte wie auch eine dezentralisierte Struktur der internen Unterstützung resultiert; die GSoA weist mit 9 die höchste Anzahl an partizipierten Aktionen auf. Die Oekologie-Bewegung ist aufgrund ihrer starken organisationellen Infrastruktur extern wenig abhängig (sie wird sehr oft von der SP unterstützt), zeigt sich aber - mit 66.9% als dem höchsten Wert aller vier Bewegungen - strukturell und intern als relativ stark abhängig; sie verzeichnet prozentual am meisten Partizipationen (von ihren einzelnen Bewegungen der VCS 45, der WWF 41, der SBN 36, die SGU 34 Partizipationen), welche Organisationen grösstenteils über lokale Sektionen verfügen, die autonom über eine Partizipation an Protesten entscheiden können. Oft partizipiert zu Beginn der Untersuchungsperiode auch die der SP nahestehende GAK und die der extremen Linken näherstehende GAGAK, beides regionale Organisationen, wie auch die IG Velo (ursprünglich eine Sektion des VCS, die dann autonom geworden ist) an vielen, nämlich 18 Aktionen partizipiert.

Aus der folgenden Tabelle geht - basierend auf der Stichprobe von 1416 (s. dazu Punkt 3, S. 12,

1. Abs.) - die Zusammensetzung der externen Unterstützung der neuen sozialen Bewegungen hervor (infolge Mehrfachpartizipation ist das Total höher als 100%).

Tab. 4.2: Externe Unterstützung der neuen sozialen Bewegungen 1975-1989

Sozialdemokratische Partei (SP)

34.1 %

Partei der Arbeit (PdA)

22.7 %

Andere, kleine Parteien der Linken

38.6 %

Parteien der Grünen oder Oekologie-Parteien

3.0 %

Rechte Parteien

9.1 %

Syndikate

14.4 %

Kirchen

6.1 %

Interessenverbände

12.9 %

Total

140.9 %

(n=132)

Quelle: Giugni 1991, S. 112

Der hohe Partizipationsanteil der SP, der wichtigsten schweizerischen linken Partei, zeigt sie als eine privilegierte Alliierte der neuen sozialen Bewegungen, deren Unterstützung einem Protest zu Erfolg verhilft, solange gemässigte Strategien angewendet werden (Giugni 1991: 112). Grösstenteils werden die neuen sozialen Bewegungen jedoch, nämlich zu rund 60%, durch kleine linke Parteien.

- direkt durch Partizipation oder weitaus häufiger indirekt verbal oder finanziell - unterstützt, und zwar aus folgenden Gründen: Letztere wie die neuen sozialen Bewegungen sind der Studie gemäss aus der StudentenInnen-Bewegung entstanden, stehen sich auch bezüglich politischem Potential, Ideologie und verwendeter Strategie nahe, beide sind in Opposition, die SP dagegen arbeitet grösstenteils mit den bürgerlichen Parteien zusammen (s. auch Punkt 1.2).

Inhalt

4.2. Die Organisationsstruktur

Die Studie analysiert drei Niveaus der organisationellen Struktur der neuen sozialen Bewegungen, als der bedeutendsten - und deswegen hauptsächlich untersucht - diejenige der individuellen, einzelnen Organisation, SMO, ferner auch das SMO-System einer sozialen Bewegung, SMI, sowie die Gesamtheit der SMO-Systeme eines Landes, SMS (Giugni 1995: 198, 203), die nach McCarthy und Zald (1977) folgendermassen definiert sind: "A social movement organisation (SMO) is a complex, or formal, organisation which identifies its goals with the preferences of a social movement or a counter-movement and attempts to implement those goals"; "all SMOs that have as their goal the attainment of the broadest preferences of a social movement constitute a social movement industry (SMI) - the organisational analogue of a social movement" (McCarthy und Zald: 1218-1219). Die beiden Autoren geben als Beispiel einer sozialen Bewegung die jüngste amerikanische Bürgerrechtsbewegung an, die verschiedene einzelne SMOs und einen grossen Teil der Bevölkerung umfasst und 'Gerechtigkeit für schwarze Amerikaner' zum Ziel oder Objekt hat. "The social movement sector (SMS) consists of all SMIs in a society no matter to which SM they are attached" (McCarthy und Zald: 1220).

Die folgende Liste gibt die untersuchten Organisationen wieder:

Oekologie-Bewegung
Friedensbewegung2)
World Wildlife Fund (WWF)
Schweizerischer Friedensrat (SFR)
Greenpeace
Schweizerische Friedensbewegung (SFB)
Schweizerischer Bund für Naturschutz (SBN)
Frauen für den Frieden (FFF)
Schweiz. Gesellschaft für Umweltschutz (SGU)
Arbeitsgemeinschaft für Rüstungskontrolle und
Verkehrsclub der Schweiz (VCS)
ein Waffenausfuhrverbot (ARW)
Schweizerische Energie-Stiftung (SES)
Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA)
Conférence Suisse des Anti-nucléaires (CSAN)1)
Conférence Suisse pour le Service Civil (CSSC)
Nord-Westschweizerische AKW-Gegner (NWA)1)

Contratom1)

Association pour l'Appel de Genève (APAG)1)
Autonome Städtische Bewegung

Radio Lora (RL)
Homosexuellen-Bewegung
Interessengemeinschaft Rote Fabrik (IGRF)
Organisation Suisse des Homosexuels (OSH)
Quartierzentrum Kanzlei (QZK)
Homosexuelle Arbeitsgruppe Zürich (HAZ)
Etat d'urgences (EU)
Dialogai
Intersquatt

1)Diese vier Bewegungen bilden die Anti-Atomenergie-Bewegung, die - ausnahmsweise und in diesem Unterkapitel - auch als eigene Bewegung betrachtet wird, da sie teilweise abweichend von der Oekologie-Bewegung relative Homogenität und ein eigenes politisches Potential (PP) aufweist.

2)Von der Friedensbewegung werden nur nationale Organisationen untersucht.

Die Auswahl erfolgt aufgrund folgender Kriterien. Die Oekologie-Bewegung als grösste der neuen sozialen Bewegungen weist an Organisationen ein zwischen den zwei idealtypisch extremsten Formen liegendes Kontinuum auf, wobei zwei der nationalen auch internationale Organisationen sind, nämlich WWF und Greenpeace. Untersucht werden die bedeutendsten Organisationen, z.B. als grössenmässig wichtigste der WWF, SBN, als rollenmässig wichtigste der VCS, SES, als politisch relevanteste die GSoA. Die ausgewählten Organisationen bilden keine repräsentative Stichprobe der jeweiligen neuen sozialen Bewegung, erlauben jedoch eine Analyse des Verhältnisses zwischen Organisationstyp und Aktivität einer Bewegung, d.h. zwischen Organisation und Mobilisation.

Das mittels des Modells von Kriesi untersuchte Organisationsniveau der neuen sozialen Bewegungen wird pro Bewegung insgesamt und nicht bei jeder einzelnen Bewegung betrachtet bezüglich folgender vier Aspekte: Die Domänen, die Strukturen, die Ressourcen und die Aktivitäten. Die Untersuchung erfolgt statisch (synchronisch) und - konzentriert auf gewisse, zum Verständnis der Entwicklung der SMOs, SMIs, SMSs notwendige Prozesse - dynamisch (diachronisch) durch Vergleichung der organisationellen Struktur der Bewegungen, um dann aufgrund der sich ergebenden internen Differenzierung eine mögliche Erklärung zu geben über deren Verschiedenheit auf dem Mobilisationsniveau, da gewisse Merkmale der Organisationsstruktur wie Mitgliederanzahl oder die Verfügbarkeit über Ressourcen den Aktionsspielraum einer sozialen Bewegung bestimmen. Es werden auch Modelle und Hypothesen geprüft, welche an der entsprechenden Stelle erläutert werden. Der Begriff der Institutionalisierung wird in diesem Unterkapitel im ersten Teil im weiteren Sinn als Tendenz grosser Organisationen zu formalen, professionellen Strukturen und zu gemässigten Aktionen verwendet, im zweiten Teil (s. Punkt 4.2.3.4) in einem engeren Sinn als Integrationsgrad einer Organisation in das etablierte Interessenvermittlungs-System.

Zuerst wird auf die Beziehungen zwischen der Struktur der politischen Opportunitäten (POS) und der Organisation der neuen sozialen Bewegungen eingegangen.

Inhalt

4.2.1. Struktur der politischen Opportunitäten (POS) und Organisation

Die hier zu prüfende Hypothese ist diese: Die Organisationsstruktur von neuen sozialen Bewegungen ist stärker, wenn letztere in offener Struktur politischer Opportunitäten (POS) agieren können, besonders dann, wenn die politischen Autoritäten integrative Strategien anwenden.

Tab. 4.3: Anzahl Mitglieder der vier bedeutendsten Organisationen der neuen sozialen Bewegungen1) und Anzahl Mitglieder von vier internationalen Organisationen in vier Ländern per 1989 (in Tausend)

(x 1000)
 

CH

BRD

NL

F

           
Oekologie-Bewegung
 

373 (4)

1024 (4)

1026 (4)

12 (3)

Solidaritätsbewegung
 

94 (4)

113 (4)

165 (3)

77 (4)

Friedensbewegung
 

16 (4)

25 (3)

k. A.2)

31 (4)

Homosexuellen-Bewegung
 

1 (3)

19 (3)

24 (3)

35 (4)

Total (abs.)
 

484(15)

1181(14)

1215(10)

155(15)

Total pro Million
 





EinwohnerInnen
 

74

19

81

3

           
Greenpeace
 

24

600

640

5

WWF
 

130

75

100

k. A.2)

Amnesty International
 

47

23

120

21

Terres des Hommes
 

30

40

66

28

Total (abs.)
 

231

738

926

54

Total pro Million
 





EinwohnerInnen
 

36

12

62

1

1)Ohne Organisationen, die andere Organisationen zu Mitgliedern haben; in Klammern ist die Anzahl der untersuchten Organisationen vermerkt.

2)keine Angaben

Quelle: Giugni 1995, S. 201 und 203

Die in Tab. 4.3 gezeigte Mitgliederanzahl der wichtigsten neuen sozialen Bewegungen der vier Länder bestätigt die Hypothese: Das Verhältnis Mitgliederanzahl pro Million EinwohnerInnen ist hoch und am höchsten in Ländern wie der Schweiz und den Niederlanden mit integrativer und demzufolge für Organisationen attraktiverer Strategie seitens politischer Autoritäten, tief und kleiner in eher eine Strategie der Exklusion betreibenden Ländern wie Frankreich und Deutschland. Ferner zeigt die Oekologie-Bewegung in der Schweiz, in Deutschland und den Niederlanden die höchste Mitgliederanzahl, in Frankreich - jedoch mit minderem Unterschied zu den andern Bewegungen - die Solidaritätsbewegung.

Tab. 4.4: Anzahl Mitglieder und finanzielle Ressourcen der Organisationen der neuen sozialen Bewegungen in vier Ländern per 1989 (in Tausend)

(x 1000)
 

Mitglieder

     

Finanzielle

Ressourcen

 

  Absolut
Relativ
n
  Absolut
Relativ
n
CH
  16'500 2'550 32   1'600 246 28
BRD
  62'700 1'020 19   3'590 58 27
NL
  59'200 3'940 21   3'940 263 13
F
  7'200 130 24   580 10 21

Quelle: Giugni 1995, S. 202

Auch die Organisationsstruktur v.a. bezüglich Mitgliederanzahl und finanzieller Ressourcen ist - wie aus Tab. 4.4 hervorgeht - in der Schweiz und in den Niederlanden viel bedeutender als in Frankreich und Deutschland. In der Schweiz ist durchschnittlich jede Person bei ungefähr zweieinhalb neuen sozialen Bewegungen Mitglied, in den Niederlanden mit dem höchsten Wert bei vier, in Frankreich ist nur ungefähr jede sechste Person einmal Mitglied einer neuen sozialen Bewegung, in Deutschland jede Person einmal Mitglied. Die neuen sozialen Bewegungen haben in den Niederlanden, in einem Land mit - tradionell - stark inklusiver Strategie, die stärkste - und diejenige der Schweiz übertreffende - Stellung, da deren Strategie - noch - die grössere Tendenz zur Förderung der Organisationsbildung aufweist als diejenige der Schweiz.

In der Schweiz geschieht diese Förderung auf informale Weise hie und da durch öffentliche Subventionen; ferner sind hier - infolge der Oeffnung der Strukturen der politischen Opportunitäten (POS) - die Konditionen für eine schwach engagierte, mit tiefen Kosten verbundene Partizipation an einer Bewegung, z.B. durch einen Mitgliederbeitrag, günstig und bei den neuen sozialen Bewegungen, besonders bei deren stärkster, der Oekologie-Bewegung, stark vertreten, da diese Partizipationsart auch eine gemässigte Kontestation beinhaltet, was im weiteren eine Erklärung liefert für die oben erwähnte - verglichen mit derjenigen der andern Länder - sehr hohe relative Mitgliederanzahl in der Schweiz. Da jedoch offensichtlich Unterschiede bestehen zwischen den einzelnen Bewegungen und - mehr noch - zwischen den einzelnen Organisationen, ist eine differenzierte Analyse der organisationellen Struktur der neuen sozialen Bewegungen in der Schweiz impliziert (Giugni 1995: 202).

Inhalt

4.2.2. Statische Beschreibung

4.2.2.1. Die Domäne

Die Beschreibung der Domäne der Organisationen bzw. der Strategie einer Organisation wird ausgehend vom SMO-Niveau zum SMI-Niveau vorgenommen und dabei wird zugleich in einem gewissen Mass die entsprechende neue soziale Bewegung - weiter - definiert.

Die Domäne einer Organisation ist durch vier Kriterien charakterisiert:

1. Durch territoriale Kriterien, welche nationale, regionale und lokale Organisationen unterscheiden.

2. Durch Mitgliederkriterien, welche die Art der Mitgliederrekrutierung untersuchen. Dazu wird Inklusivität/Exklusivität doppelt konzeptualisiert: Verlangt eine Organisation einen Beitritt, so rekrutiert sie die Mitglieder formal exklusiv, verlangt sie keinen Beitritt, so rekrutiert sie die Mitglieder informal inklusiv; in einer mehr soziologischen Perspektive wird Inklusivität/Exklusivität bezogen auf den Integrationsgrad und den Grad der Identität einer Gruppe, welche, je höher oder stärker ausgeprägt sie sind, desto weniger externe, nicht zum Kollektiv gehörende Personen als PartizipantenInnen an der Gruppe akzeptieren lassen.

3. Durch die Ziele der Organisation, durch deren Extensionsgrad oder deren Grad an Allgemeinheit.

Ziele können mehr oder weniger allgemein sein insofern, als sie interpretiert sind in sprachlich globalen und ausgearbeiteten, politischen Begriffen oder Ideen. Definitionsgemäss haben neue soziale Bewegungen zwar begrenzte Einzelziele, ihre ideologische Bestimmung jedoch ist universalistisch. Unterschieden werden Ziele, die allgemein sind, solche, die "issue-specific", d.h. einzeln, oder "action campaign-specific", je an eine Kampagne gebunden sind. Ferner lässt sich, je nach dem, auf wen die Ziele einer Organisation sich richten, unterscheiden zwischen intern - an der Gruppe, die die Vereinigung konstituiert - orientierten Organisationen, allgemein extern - an der öffentlichen Meinung - orientierten Organisationen und solchen mit einer extern auf das Besondere, Einzelne - auf öffentliche oder private Autoritäten - gerichteten Orientierung. Die neuen sozialen Bewegungen überhaupt haben eine bivalente Orientierung, d.h. sie orientieren sich am Allgemeinen und am Besonderen, Einzelnen, was bedeutet, dass sie einerseits die Leute für ihre Anliegen sensibilisieren und mobilisieren und andererseits auch politisch effektiv etwas erreichen wollen.

4. Durch das - zur Zielerreichung verwendete - Aktions-Repertoire, mittels welchem Kriterium eine Klassifikation der Organisationen nach radikaler oder gemässigter Aktionsform erfolgt. Nebst der von den sozialen Bewegungen - mangels anderer oder ungenügender traditioneller politischer Möglichkeiten - mehrheitlich privilegierten Mobilisation bevorzugen gewisse - im folgenden Text erwähnte - Organisationen andere der Aktivitäten wie Lobbying, Dienstleistung, soziale Aktivitäten, Mitgliederkontrolle.

Resultate:

Ausser CSAN, die eine Dachorganisation der Anti-Atomenergie-Bewegung ist, rekrutieren alle untersuchten Organisationen der Oekologie-Bewegung ihre Mitglieder nach exklusiven formalen Gesichtspunkten; ihr Generalisierungsgrad ist tiefer als zumindest derjenige der traditionellen politischen Parteien, was eine Unterscheidung von drei Gruppen zulässt: Grosse Organisationen mit generalisierter Orientierung (WWF, Greenpeace, SBN und SGU), spezialisierte Organisationen (VCS und SES), die an einen spezifischen Einsatz ("issue-specific"), ja sogar spezifisch an eine Kampagne von Aktionen gebundene ("action campaign-specific") Anti-Atomenergie-Bewegung. Die APAG weist eine auf das Einzelne, Besondere gerichtete, externe Orientierung auf, die restliche Oekologie-Bewegung mindestens teilweise eine allgemeine externe Orientierung. Die Oekologie-Bewegung hat - wie die neuen sozialen Bewegungen überhaupt - im Prinzip eine bivalente Orientierung. Ihrer Aktionsform nach sind die meisten Organisationen der Oekologie-Bewegung gemässigt, drei sind mindestens anfangs - konfrontativ, nicht gewalttätig - radikal, nämlich Greenpeace, die ansonsten dieselben Charakteristiken aufweist wie die übrigen grossen institutionalisierten Organisationen, CSAN und Contratom. Auf Greenpeace lässt sich das von der Studie zur Diskussion gestellte und hier geprüfte "Institutionalisierungs-Syndrom", dass grosse Organisationen - eventuell auf Kosten ihrer Kapazität, Leute über einen blossen Mitgliederbeitrag hinaus überhaupt noch mobilisieren zu können - eine Tendenz zu gemässigten Aktionen, zur Formalisierung, Professionalisierung, Zentralisierung, zur Zunahme primärer Ressourcen und zu politischem Zugang haben, nicht anwenden, welche Organisation sich - so die Studie erklärungshalber - durch spektakuläre Aktionen Zugang zu den Medien verschaffen und die Oeffentlichkeit auf die Probleme aufmerksam machen und ferner durch radikale Aktionen eben jenem "Syndrom der Institutionalisierung" entkommen will (Giugni 1995: 206-207). Mehrere Organisationen der sehr institutionalisierten Oekologie-Bewegung haben nebst der Mobilisation noch andere - auch privilegierte - Aktivitäten. Bei Greenpeace, CSAN und Contratom ist die Mobilisation dominante Aktivität, bei allen andern - zur Beeinflussung der politischen Autoritäten - Lobbying. WWF und VCS bevorzugen die Dienstleistung. Es muss aber zwischen der Anti-Atomenergie-Bewegung und der Oekologie-Bewegung ohne diese Bewegung unterschieden werden: Die Anti-Atomenergie-Bewegung steht der - nachfolgend behandelten - Friedensbewegung näher als die restliche Oekologie-Bewegung, und die Mitglieder oder mindestens die Aktivisten der Anti-Atomenergie-Bewegung wie der Friedensbewegung greifen ineinander über, d.h. deren politisches Potential (PP) ist ähnlich.

Im Gegensatz zur sich durch eine grosse Anzahl lokaler, informaler und monothematischer Organisationen ("single issue") charakterisierenden und demzufolge mehr dezentral strukturierten Oekologie-Bewegung ist die Friedensbewegung mehr national strukturiert, weil sie sich öfters politisch einsetzt und von ihren nationalen Organisationen nur die FFF mehr auf regionalem als auf nationalem Gebiet agiert. Vier ihrer sechs Organisationen, nämlich SFR, FFF, GSoA und CSSC rekrutieren ihre Mitglieder exklusiv, zwei, SFB und ARW, inklusiv. Alle sechs Organisationen sind bezüglich ihrer Ziele heterogen, drei, nämlich SFR, SFB und FFF, verfolgen allgemeine Ziele, drei, nämlich ARW, GSoA und CSSC, sind "issue specific" oder "action campaign-specific", wobei letztere drei auf die Lancierung einer Volksinitiative hin gegründet worden sind. Die Organisationen der Friedensbewegung weisen eine allgemeine oder öfters eine besondere externe Zielorientierung auf, wobei die - an besondere Gruppen gebundenen, bezüglich Mitgliederanzahl sehr differenten, zu einem grossen Teil aber ineinander übergreifenden - Organisationen CSSC und FFF auch über eine gewisse interne Zielorientierung verfügen. CSSC engagiert sich für Kriegsdienstgegner, FFF für den Frieden und für die Empanzipation der Frauen; infolge dieser auch subkulturellen Seite dieser beiden Organisationen dienen deren Ziele ebenfalls - und dies gegensätzlich zu den mehr instrumentellen Organisationen der Oekologie-Bewegung - der hauptsächlich über Interaktionen zwischen den PartizipantenInnen erreichbaren Produktion und Reproduktion der Identität. Die SFB ist als einzige kommunistisch orientiert und benutzt auch als einzige radikalere Aktionsformen. Das Aktions-Repertoire der Friedensbewegung beschränkt sich mehrheitlich auf die Mobilisation und ist - trotzdem - gemässigt, welches Faktum durch den pazifistischen Charakter wie die - oft bestehende - Beziehung zu religiösen Kreisen erklärt wird.

Die Autonome Städtische Bewegung verfügt über eine lokale Struktur und kennt somit nur lokale Organisationen, wobei drei in Zürich (RL, QZK, IGRF) und zwei in Genf (EU, Intersquatt) situiert sind. Die Organisationen der andern drei neuen sozialen Bewegungen weisen zwar mehrheitlich auch eine lokale Struktur auf, haben aber eben doch nationales Niveau erreicht (zu Veränderungen während der Untersuchungsphase siehe unten). Ausser RL, die einen formalen Mitgliederbeitritt verlangt, rekrutieren alle Organisationen ihre Mitglieder informal. Eine gewisse Informalität in organisatorischen Belangen überhaupt ist ein Charakterzug der Autonomen Städtischen Bewegung, der sich aus der Inklusivität als einer - durch Ablehnung eines finanziellen Mitgliederbeitrages erreichten - Idee der Offenheit und formalen Zwanglosigkeit gegenüber allen ergibt. Die Agitation nur auf lokaler Ebene und der beschränkte Umfang an Zielen (s. Punkt 3.2.1.1) lässt alle Organisationen - ausser RL, die eher allgemein ist - als "issue-specific" klassieren; die Ziele selbst sind - ausser diejenigen der QZK - extern am Besonderen, Einzelnen orientiert. Als konterkulturelle Bewegung sucht die Autonome Städtische Bewegung - gegensätzlich zu den vorher erwähnten subkulturellen Bewegungen - ihre Identität mittels ihres Protestes gegen lokale politische Autoritäten, in Interaktionen mit letzteren herzustellen, und zwar v.a. durch radikale Aktionen, letztere jedoch bei den in der Studie analysierten Bewegungen nicht der Fall sind. Infolge eines durch die Politik der Inklusion hervorgebrachten Institutionalisierungsprozesses und der durch die entsprechenden lokalen Autoritäten geführten Kooptierung (Konzession von staatlichen Subventionen) veränderte sich in der untersuchten Periode 1975-1989 der sich mit alternativen autonomen Kulturzentren befassende Teil der Autonomen Städtischen Bewegung (Giugni 1995: 209), hauptsächlich derjenige von Zürich und Genf: Gewisse Organisationen, v.a. IGRF und QZK in Zürich und EU in Genf, erhalten staatliche Subventionen, welches Faktum Konsequenzen mit sich bringt. Die bis anhin als Gegner figurierenden politischen Autoritäten wurden zu Alliierten der Bewegung, deren bisher radikale Strategie wechselte und wurde gemässigt und als Organisationen wurde sie immer weniger konterkulturell, blieben aber bezüglich ihres politischen Potentials konterkulturell; ferner veränderte sich die Orientierung der Aktionen, indem diese sich mehr auf Dienstleistung als auf Mobilisation verlagerten und die Bewegungen sich zu alternativen Kulturunternehmungen wandelten. Der sich mit dem Thema Wohnen auseinandersetzende Teil der Autonomen Städtischen Bewegung wie auch die Intersquatt haben keine solche Entwicklung durchgemacht. Jene, die Intersquatt, wurde nicht mittels öffentlicher Subventionen unterstützt und blieb hinsichtlich Aktions-Repertoire wie Aktionsorientierung konterkulturell.

Die OSH ist - vergleichbar mit dem SBN der Oekologie-Bewegung - die traditionelle Organisation der Homosexuellen-Bewegung und national, die beiden jüngeren Organisationen, die HAZ, 1968 entstanden und politisch engagierter als erstere, und Dialogai, 1982 gegründet, zur dritten Generation gehörend und eher apolitisch, sind lokal. Alle drei sind aufgrund ihres hohen Grades an Integration wie an Gruppenidentität exklusiv, verfolgen an sich mehrere verschiedene, auf eine Problematik bezogene Ziele, wobei ihre Problematik eine geringere Differenzierung aufweist als diejenige der Oekologie-Bewegung, und alle haben untereinander ähnliche Ziele und diese sind "issue-specific". Die Homosexuellen-Bewegung ist zwar als subkulturelle Organisation v.a. intern orientiert und die kollektive Identität ist demzufolge von zentraler Bedeutung, sie darf aber als eine benachteiligte soziale Gruppe den externen Aspekt nicht gänzlich vernachlässigen, wobei politische Forderungen - wie erwähnt - v.a. bei der HAZ Bedeutung haben. Diese doppelte Orientierung zeigt ihre entsprechende Wirkung beim Aktions-Repertoire: Wichtig sind Mobilisation wie soziale Aktionen. Für die Homosexuellen-Bewegung sind - wie für die subkulturellen Bewegungen allgemein - gemässigte Aktionen charakteristisch, wobei die HAZ - infolge ihres auf die StudentenInnen-Bewegung der 68er Jahre zurückgehenden Ursprungs - etwas radikaler ist.

Inhalt

4.2.2.2. Die Strukturen

Bei der zweiten Dimension der Analyse des organisationellen Aspektes, den Strukturen, wird die intra-organisationelle Struktur, d.h. die Beziehung zwischen den verschiedenen Untereinheiten der Organisationen, und die inter-organisationelle Struktur, d.h. die Beziehung einer Organisation zu andern Organisationen derselben Bewegung wie auch zu Organisationen einer andern oder anderer Bewegungen unterschieden.

4.2.2.2.1. Die intra-organisationelle Struktur

Kriterien zur Festlegung der intra-organisationellen Struktur einer sozialen Bewegung sind:

1. Unterscheidungskriterium: Es wird differenziert zwischen formalen und informalen Organisationen. Erstere verfügen aufgrund einer entsprechenden Entwicklung über Prozeduren und Strukturen, die eine Routinierung gewisser Aufgaben und Arbeiten - wie das Weiterfunktionieren bei einem Leadership-Wechsel - erlauben. Zur Festlegung der Formalisierung einer Organisation überhaupt scheinen vier Kriterien massgebend zu sein, nämlich: 1. Bürokratische Prozeduren für Entscheidungstreffungen; 2. Eine Arbeitsteilung mit formalen Positionen für verschiedene Funktionen;

3. Deutlich festgelegte (explizite) Kriterien zur Mitgliederrekrutierung und 4. Regeln zur Verwaltung oder Leitung territorialer und funktioneller Untereinheiten (Giugni 1995: 213).

2. Unterscheidungskriterium: Mittels des Indikators Anzahl der in ihr arbeitenden Personen wird zwischen professioneller und nicht-professioneller Organisation unterschieden.

3. Unterscheidungskriterium: Aufgrund des sich in der Entscheidungskompetenz und der Verwaltung von finanziellen Ressourcen äussernden Unabhängigkeits-/Abhängigkeitsgrades der territorialen Untereinheit (lokale Einheit) vom zentralen Niveau einer Organisation wird zwischen zentralisierten und dezentralisierten Organisationen differenziert. Das höchste Zentralisierungsniveau weist keine territoriale Differenzierung auf. Je nach Grad der Autonomie lassen sich - der Studie gemäss (Giugni 1995: 215) - fünf Typen von Organisationsmodellen unterscheiden:

1. Eine einheitliche nationale, bezüglich Autorität und Ressourcen zentralisierte Organisation mit regionalen Untereinheiten;

2. Eine einheitliche nationale Organisation mit regionalen Untereinheiten, von denen eine oder mehrere eigene Statuten haben;

3. Eine föderale Organisation, deren organisationelle Einheit auf jedem Niveau autonom ist und deren individuelle Mitglieder beiden Einheiten gleichzeitig angehören;

4. Eine konföderalistische, auf regionalem Niveau autonome Organisation, die den Charakter einer Dachorganisation hat und individuelle, bloss den regionalen Untereinheiten angehörende Mitglieder aufweist;

5. Affiliierte, aneinander angeschlossene Organisationen, die auf regionalem Niveau unabhängig sind, aber eine nominelle nationale Organisation haben, um auf dieser Ebene das Wort ergreifen zu können.

4. Unterscheidungskriterium: Durch Untersuchung der internen Struktur einer sozialen Bewegung auf möglicherweise bestehende interne Konflikte zwischen den Untereinheiten wie auf das mögliche Vorhandensein territorialer, funktionaler oder politischer (ideologischer) Abteilungen wird zwischen integrierten und fragmentierten Organisationen differenziert. Eine Fragmentierung ist jedoch in den meisten Fällen auf eine historische, nachher im Hintergrund weiterbestehende Ursache zurückzuführen.

Resultate:

Mittels der ersten beiden Unterscheidungskriterien untersucht, ergeben sich bei der Oekologie-Bewegung je drei Gruppen von Organisationen: Die grossen nationalen Organisationen WWF, SBN, SGU, VCS, SES, die sehr formal und sehr professionell sind, die zahlreich vorhandenen regionalen oder lokalen Organisationen, die sehr wenig formal und nicht-professionell sind, und die Organisationen der Anti-Atomenergie-Bewegung, die - ausser NWA - ziemlich informal und alle insgesamt nicht-professionell sind. Diese Resultate bestätigen die Hypothese, dass Formalisierung mit Professionalisierung verbunden ist (Giugni 1995: 214). Unterschieden mittels des dritten Kriteriums sind Greenpeace, SGU (die eine Sektion in der Westschweiz hat) und SES, die alle drei über einen zentralen Sitz verfügen, einheitliche nationale Organisationen und erreichen die höchste Zentralisierung. WWF, SBN, VCS haben, wie die Schweiz, eine föderale Struktur mit kantonalen Sektionen als territoriale Untereinheiten (Giugni 1995: 215). WWF und SBN haben eine stärker zentralisierte Struktur, VCS ist ziemlich dezentralisiert. Von der Anti-Atomenergie-Bewegung ist CSAN dezentralisiert, NWA zentralisiert, wobei diese Differenzierung die Opposition der - bereits bei der Gründung bestehenden - beiden Teile dieser Bewegung, fortschrittlich, progressiv der eine Teil und gemässigt der andere, aufzeigt. Diese beiden Organisationen weisen entsprechend der Dichotomie, die im Zusammenhang mit ihrer Entstehung oder aufgrund einer gewesenen Beziehung besteht, auch eine solche im Autonomiegrad auf: CSAN ist aus der GAGAK entstanden und ist eine Affiliation einer Anzahl von Organisationen (Giugni 1995: 215); die NWA ist an die GAK liiert gewesen und eine einheitliche nationale Organisation. Auf die beiden lokalen Organisationen, Contratom und APAG, lässt sich dieses Unterscheidungskriterium nicht anwenden. Mittels des vierten Unterscheidungskriteriums lassen sich folgende Resultate ermitteln. Ausser der schwach politischen, v.a. im Informationsbereich agierenden und eher integrierten APAG scheinen die Organisationen der Anti-Atomenergie-Bewegung zu den am stärksten fragmentierten zu zählen; seit den Jahren der grossen Mobilisation gegen die Zentrale in Kaiseraugst besteht eine starke Opposition zwischen Gemässigten und eher Radikalen. Von der restlichen Oekologie-Bewegung weisen die grossen nationalen Organisationen starke Integration - wie der WWF - bis starke Fragmentierung - wie Greenpeace - auf. Wie bei der Domäne zeigt die Anti-Atomenergie-Bewegung auch hier bei den Strukturen grössere Aehnlichkeit mit der - direkt anschliessend - behandelten Friedensbewegung als mit der restlichen Oekologie-Bewegung.

Ausser der Organisation SFR, die jedoch einen tieferen Grad an Formalisierung hat als z.B. der WWF und ein limitiertes entlohntes Personal, weist die Friedensbewegung eine - gradmässig - schwache Formalisierung auf und ist nicht-professionell. Bezüglich Zentralisierung/Dezentralisierung lassen sich als wesentliche Charakteristik der Friedensbewegung drei eher zentralisierte und drei sehr dezentralisierte Organisationen ermitteln, wobei sich bezüglich der Art der Struktur - bei insgesamt sechs Organisationen - vier verschiedene Typen ergeben, welches Faktum eine diesbezügliche Heterogenität der Friedensbewegung nachweist. Die grossen nationalen Organisationen der Oekologie-Bewegung sind diesbezüglich homogener. Ferner ist die Friedensbewegung - wie die Anti-Atomenergie-Bewegung - offensichtlich allgemein fragmentiert. Weniger Konsens zwischen den letzteren beiden ergibt sich bezüglich ihres Potentials, welches der Rekrutierung ihrer Bewegungen dient, v.a. bezogen auf die drei nationalen Umweltschutzorganisationen WWF, SBN, SGU.

Die Organisationen der Autonomen Städtischen Bewegung sind lokal und das dritte Unterscheidungskriterium deshalb nicht anwendbar. Zwei der restlichen drei Kriterien erweisen sich bei zwei Gruppen als verschieden. Einerseits gibt es vier institutionalisierte, eher formale, professionelle wie auch - infolge Abteilungen und interner Konflikte - stark, je Organisation jedoch gradmässig verschieden fragmentierte Organisationen, andererseits die - in jüngerer Zeit gegründete - Intersquatt, die im wesentlichen informal, nicht-professionell, wenig fragmentiert ist und die - des letzteren wegen - gegen innen eher integriert bleibt.

Die Homosexuellen-Bewegung ist - insgesamt betrachtet - eher nicht formal. Die einzelnen untersuchten Bewegungen differieren aber nach Alter bzw. Zeitpunkt ihrer Gründung: Die OSH verfügt

- infolge ihres längeren Bestehens und ihrer, in einer Zeit mit relativ formaler Struktur erfolgten Gründung - über mehrere Funktionen und interne Differenzierung, so über - bei einem Leadership-Wechsel weiterbestehende - Prozeduren und Strukturen für gewisse routinierte Aufgabenabwicklungen, und kann deswegen als formal betrachtet werden und ist als traditionelle Bewegung logischerweise auch die formalste. Die Homosexuellen-Bewegung ist nicht-professionell, was sich aus deren

- im folgenden Unterkapitel ersichtlich werdenden - geringen Ressourcen erklärt. Ueber festes, aber limitiertes Personal verfügt nur die HAZ. Zentralisiert ist nur die nationale OSH und zwar mehr infolge limitierter Ressourcen als aus freier Wahl. Eine der Organisationen erreicht einen hohen Grad an interner Integration. Keine der drei Organisationen - ausser vielleicht die OSH - weist ideologische oder strategische Tendenzen auf; interne Konflikte scheint es keine zu geben, wohl aber Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Organisationen.

Inhalt

4.2.2.2.2.1. Die inter-organisationelle Struktur

Die - hier vom Standpunkt der Organisation aus analysierte - inter-organisationelle Struktur (s. dazu auch Punkt 4 und 4.1, S. 25-26) betrifft die real existierenden Relationen zwischen verschiedenen Organisationen, zwischen ihnen und andern Typen von Organisationen, ganz speziell die Relationen zwischen ihnen und politischen Parteien und diejenigen zwischen ihnen und den Medien, die definiert sind mittels Kriterien, die eine Unterscheidung der Organisationen zulassen. Die drei, einer Organisation der neuen sozialen Bewegungen möglichen Beziehungen wie die aufgrund der letzteren vorgenommene Differenzierung sind die folgenden:

1. Beziehungen zu andern Organisationen, wobei sich folgende Beziehungen und folgender Mangel an der entsprechenden Beziehung unterscheiden lassen: Beziehungen zu Organisationen, die der gleichen neuen sozialen Bewegung angehören, durch welche eine Organisation diesbezüglich extern integriert oder - bei Fehlen - isoliert ist; Beziehungen zu Organisationen anderer neuer sozialer Bewegungen und solche zu andern sozialen Bewegungen, die im ersteren Fall Präsenz oder - bei fehlender Beziehung - Absenz von externen Beziehungen, im letzteren Fall von Unterstützung durch die Medien bedeuten; diese drei Beziehungsarten können folgende drei hauptsächliche Grundformen annehmen und lassen auch folgende weitere Differenzierung zu: Auf Solidaritätsbeziehung beruhende Integration, letztere vertikal in eine Dachorganisation und/oder horizontal in ein Allianzsystem mit andern Organisationen erfolgen kann, auf Indifferenz, Konkurrenz oder Wettbewerb beruhende Isolation. Von den weiter differenzierten formalen - eine Zusammenarbeit von Organisationen wiedergebenden - Solidaritätsnetzen und informalen Solidaritätsnetzen, die das politische Potential (PP) wie auch die kollektive Identität zu schaffen ermöglichen, sind - der Studie gemäss - eher die formalen Verbindungen in Betracht zu ziehen.

2. Beziehungen zu externen Interessenvermittlungs-Systemen, ganz speziell zu politischen Parteien, wobei unter Beziehung eine formale oder explizite Zusammenarbeit oder Mitarbeit verstanden wird und zwischen entsprechender externer Integration oder Isolation differenziert wird.

3. Beziehungen zu den Medien, die hauptsächlich aus solchen zu Zeitschriften und Fernsehen bestehen; dieser Aspekt hat - auch der Studie gemäss - in Analysen bis anhin zu wenig Beachtung gefunden. Die Medien selektionieren unter den Aktivitäten, wobei diese Filtrierung je nach Zeitschrift und je nach Bewegung differieren und zudem die Aktion einer Bewegung oder mindestens gewisser Organisationen beeinflussen kann. Beispielhaft dafür ist die für ihre spektakulären Aktionen bekannte Organisation Greenpeace, deren Aktionen denn in den Medien auch mehr Beachtung finden als andere. Eine Bewegung kann durch die Medien unterstützt werden oder nicht.

Resultate:

Insgesamt ist die Oekologie-Bewegung ziemlich integriert; die meisten untersuchten Organisationen sind in ein - innerhalb des Sektors der sozialen Bewegungen bestehendes - Beziehungsnetz integriert, die grossen nationalen Bewegungen nahezu in ein - auf diesen Typ von Bewegungen beschränktes - Intra-Bewegungsnetz. Ausser vielleicht Greenpeace haben alle Verbindungen zu Organisationen der Oekologie-Bewegung, zu solchen anderer neuer sozialer Bewegungen SGU und SES, zu andern Organisationen SBN, VCS, SES, zu politischen Parteien nur SES. Von der Anti-Atomenergie-Bewegung unterhalten alle vier Organisationen Verbindungen zu Organisationen derselben neuen sozialen Bewegung, zu solchen anderer neuer sozialer Bewegungen Contratom und APAG, zu politischen Parteien und somit nach aussen scheint nur Contratom Beziehungen zu haben, und zwar zu linken Parteien. Zwei der Organisationen, CSAN und NWA, beides Dachorganisationen, sind vertikal, "von oben nach unten" integriert, horizontal aber isoliert. Der interessanteste Aspekt ist jedoch die Ausbildung zweier Sektoren von Solidaritätsnetzen, die grossen nationalen Organisationen einerseits und die Organisationen der Anti-Atomenergie-Bewegung andererseits, wobei innerhalb der letzteren sich eine Dichotomie ausgebildet hat zwischen der CSAN angegliederten und der NWA angegliederten Organisationen (s. Punkt 4.2.2.2.1). Fast alle Oekologie-Bewegungen unterhalten gute Beziehungen zu den Massenkommunikationsmitteln, d.h. fast alle werden von letzteren - die Anti-Atomenergie-Bewegungen etwas weniger - unterstützt. Die nach sprachlicher Region bestehenden Unterschiede beiseite gelassen, bildet die Organisation CSAN - erklärbar durch ihre Radikalität - eine Ausnahme wie eventuell auch die sich für eine kleine Region gegen eine ausländische Nuklearzentrale (Creys-Malville) einsetzende Contratom, die möglicherweise teilweise Unterstützung durch Zeitschriften erhält.

Die Friedensbewegung insgesamt weist einen, sich im wesentlichen von demjenigen der Oekologie-Bewegung nicht unterscheidenden - Integrationsgrad auf. Innerhalb des Sektors der sozialen Bewegungen sind - ausser FFF und eventuell GSoA - alle Organisationen integriert, letztere beiden jedoch, wie auch die ARW, vertikal in eine Dachorganisation. Die Friedensbewegung ist somit horizontal gut integriert, vertikal jedoch, wie auch die Anti-Atomenergie-Bewegung, besser als die restliche Oekologie-Bewegung, was die grössere Aehnlichkeit jener beiden wieder einmal bestätigt. Zu externen Interessenvermittlungs-Systemen wie zu Parteien oder Interessenverbänden unterhält die Friedensbewegung - die Organisation FFF ausgenommen - Beziehungen in Form formaler Zusammenarbeit, die sich dadurch ergeben, dass mehrere AktivistenInnen von Organisationen der Friedensbewegung auch Mitglieder politischer Parteien - v.a. der POCH - sind. Dieses Faktum ist Grund, diese beiden Niveaus, soziale Bewegung und politische Partei, als zwei verschiedene Konzepte zu behandeln (s. Punkt 1.3). Die Massenkommunikationsmittel scheinen der Friedensbewegung nicht sehr günstig gesinnt zu sein: Nur eine ihrer Organisationen erhält deren bedingungslose Unterstützung.

Die Autonome Städtische Bewegung weist einen - den Erwartungen der Studie entgegengesetzten - schwachen Integrationsgrad auf. Diese basieren auf deren Klassifizierung als einer konterkulturellen Bewegung, die ihre kollektive Identität in einem Solidaritätsnetz wiederherstellt und deshalb einen starken Integrationsgrad aufweisen müsste. Nur die - im Wohnbereich agierende - Intersquatt ist horizontal - nicht nur allfällig und zudem nicht nur schwach - integriert und hat auch Verbindungen mit externen Interessenvermittlungs-Systemen und zwar mit politischen Parteien und Syndikaten. Diese seit der grossen Protestwelle von 1980-1981 bestehende Dichotomie zwischen Wohn- und Kulturbereich erklärt sich dadurch, dass Organisationen des Kulturbereichs wie IGRF und QZK sich ab diesem Zeitpunkt institutionalisiert haben wie apolitisch geworden sind und deshalb mehr Medienunterstützung erhalten als z.B. Intersquatt, die ihre politischen wie konterkulturellen Merkmale behalten hat.

Die Resultate der Homosexuellen-Bewegung sind eher den Erwartungen gemäss ausgefallen (letztere auf deren Klassifizierung als subkultureller Bewegung basieren): Der Integrationsgrad ist nicht hoch, aber verschieden. HAZ und Dialogai sind horizontal wie vertikal integriert, OSH ist isoliert, welcher Unterschied aus dem - bereits erwähnten (s. Punkt 4.2.2.1) - verschiedenen Ursprung resultiert. Zu externen Interessenvermittlungs-Systemen hat die - bekanntlich aus der StudentenInnen-Bewegung hervorgehende - HAZ infolge starker Politisierung Beziehungen, sie erhält politische Unterstützung durch Parteien und Syndikate. Die viel weniger politischen Organisationen OSH und Dialogai haben keine engen Beziehungen, erstere erzwungenermassen, letztere gewollt. Durch die Medien erhalten alle Organisationen Unterstützung, wobei diese für die OSH nicht bedingungslos ist. Dieses Faktum lässt sich - so die Studie - durch die ständig zunehmende Akzeptierung der Homosexuellen wie auch durch die gemässigten Aktionen dieser Organisationen erklären.

4.2.2.2.2.2. Ueberblick über das Beziehungsnetz und diesbezügliche Konklusion

Die Autonome Städtische Bewegung und die Homosexuellen-Bewegung, beides identitätsorientierte Bewegungen, sind beide horizontal, erstere zudem auch vertikal isolierter, welches Faktum der Studie gemäss darauf zurückzuführen ist, dass die Konkurrenz zwischen den Organisationen des Kulturbereichs grösser zu sein scheint als die Solidarität. Die Friedensbewegung verfügt über mehr Beziehungen zu politischen Parteien als die andern Bewegungen und zwischen ihr und der Anti-Atomenergie-Bewegung gibt es Beziehungen, zwischen der Friedensbewegung und der restlichen Oekologie-Bewegung jedoch nicht. Die Organisationen der letzteren - Greenpeace ausgenommen - weisen eine enge Zusammenarbeit auf, und während der Mobilisation gegen Nuklearzentralen gibt es auch zahlreiche Beziehungen zwischen ihnen und der Anti-Atomenergie-Bewegung. Dieses stark ausgebaute Beziehungsnetz kann höchstwahrscheinlich als Resultat des grösseren Umfanges an Themen oder Zielen der Oekologie-Bewegung gesehen werden: Atomkraftwerke bilden oder sind - wie aufgrund z.B. des Reaktorunfalls in Tschernobyl bekannt - auch real eine Gefahr für die Zerstörung der - ein weiteres Thema bildenden - Umwelt. Die einzelnen Organisationen wiederum sind voneinander verschieden: So spielt die Organisation WWF eine zentrale Rolle und verfügt über die meisten Beziehungen zu andern Bewegungen, andere Organisationen dagegen - wie NWA, IGRF, RL - sind gänzlich oder - wie Greenpeace - nahezu isoliert.

Zusammenfassend lässt sich somit aussagen, dass das Beziehungsnetz auf SMOs derselben Bewegung beschränkt ist und sich bezüglich Integration und Isolation eine Dichotomie ergibt zwischen strategie-orientierten und identitäts-orientierten Bewegungen.

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Last update: 06 Mrz 17

 

Editor

  Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich

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