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Das Erwachen des Bewusstseins

Der Übergang vom präoperativen zum operativen Denken in der kognitiven Evolution.

Untersucht und dargelegt am Beispiel der Traumschilderungen in den Homerischen Epen Illias und Odyssee.

Christoph Zürcher

 

Inhalt

1 Vorwort

2 Theorie der kognitiven Entwicklung

2.1 Die Grundprinzipien der Entwicklungspsychologie

2.1.1 Denken an sich: Grundannahmen
2.1.2 Stadien der kongnitiven Entwicklung

2.2. «Begrifflicher Realismus» und archaische Traumvorstellung

2.2.1 «Begrifflicher Realismus»: Begriffsklärung
2.2.2 Archaische Traumdeutung

3 Homer: «Präoperatives» oder «operatives» Denken?

3.1. Einleitung
3.2. Die «präoperativen» Träume

3.2.1 Der Traum des Agamemnon
3.2.2 Der Traum der Penelope von Iphtime
3.2.3 Der Traum des Achilles
3.2.4 Der Traum der Nausikaa

3.3 Die «operativen» Träume

3.3.1 Der traumhafte Lauf des Achilles
3.3.2 Penelopes Traum von den Gänsen
3.3.3 Penelopes Traum von Odysseus
3.3.4 Der Wachtraum des Odysseus

4 Fazit

5 Bibliographie

5.1 Quellentexte
5.2 Sekundärliteratur


1 Vorwort

Karl Jaspers bezeichnet die Zeit von 800-200 vor Christus als die Achsenzeit [1]. In dieser Zeit drängte sich nach Jaspers Ausserordentliches zusammen. In China lebte Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie. In Indien nahmen die Upanischaden Gestalt an, lebte Buddha. In Iran hinterlies Zarthustra seine Spuren, in Palästina traten die Propheten auf und in Griechenland gaben Homer, Parmenides, Heraklit und Platon Zeugnis eines neuen Bewusstseins. Das Neue, so Jaspers, habe in allen drei Welten darin bestanden, dass der Mensch sich plötzlich seines Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewusst geworden ist. Das Neue war das Erwachen des Bewusstseins.

In diesem Zeitalter sind nach Jaspers die Grundkategorien hervorgebracht worden, in denen wir bis heute denken. Es ist der nicht ganz bescheidene Anspruch der vorliegenden Arbeit, aufzuzeigen, welche Art von Reflexion es war, die die Bedingungen schuf, für diese fundamentale geistige Entwicklung. An Hand von Homers Werken «Illias» und «Odyssee» soll dargelegt werden, dass das Einzigartige der Wendezeit in einem Bewusstsein bestand, das sowohl auf archaischem, als auch auf modernem Denken basierte. Mit den Worten des Anthropologen Christopher Robert Hallpike ausgedrückt, hat sich beim Menschen in den besagten Jahrhunderten die kongnitive Entwicklung von der «präoperativen» zur «operativen» Stufe vollzogen.[2]

Die nachfolgende Abhandlung will zeigen, dass dieser kognitive Übergang in Homers «Illias» und der «Odyssee» zu erkennen ist – konkret in der ambivalenten Art, wie Träume interpretiert worden sind. Nur vermuten lässt sich selbstverständlich, dass zwischen dieser kognitiven Übergangszone und der beispiellosen geistigen Kreativität in Homers Folgezeit ein kausaler Zusammenhang besteht.

Für die Untersuchung der homerischen Traumdeutung wurde in erster Linie vom analytischen Instrumentarium der Entwicklungspsychologie Gebrauch gemacht. Entwicklungspsychologen wie Piaget gehen davon aus, dass das Kind die Entwicklung der kognitven Fähigkeiten vom «präoperativen» Niveau auf das «operative», im Alter zwischen 6 und 11 Jahren durchlebt [3]. Hallpike gebührt das Verdienst, diese entwicklungspsychologischen Erkenntnisse für die Anthropologie und Ethnologie fruchtbar gemacht zu haben. Er hat aufgezeigt dass, was für die kognitive Entwicklung des Kindes zutrifft, auch für die kognitive Entwicklung eines Kollektivs seine Gültigkeit hat.

Inwieweit diese Übertragung entwicklungspsychologischer Prinzipien auf die Anthropologie überhaupt zulässig ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter erörtert werden. Dass die geistige Entwicklung eines Individuums mit der geistige Entwicklung der Menscheit im Gesammten vergleichbar ist, wird demnach mehr oder weniger diskussionslos vorausgesetzt. [4]

Die «kindliche Art» des Denkens ist nach Hallpike bei primitiven Völkern bis heute anzutreffen. Der kognitive Schritt, der das Kind mit 11 Jahren vollzieht, vollzog sich auf der Ebene der «modernen» westlichen Gesellschaft nach der Ansicht Hallpikes in den besagten Jahrhunderten vor Christi Geburt. [5]

Ein wichtiges Kriterium für die kognitive Entwicklung vom «präoperativen» zum «operativen» Denken bildet für Hallpike die Überwindung des sogennanten «Begrifflichen Realismus». Der begriffliche Realist ist sich der vermittelnden Funktion seines Geistes noch nicht bewusst. Das führt unter anderem dazu, dass er zwischen «inneren» Zuständen und äusseren Tatsachen nicht unterscheiden kann. Eine Folgeerscheinung davon ist, dass das Individuum, das den «Begrifflichen Realismus» noch nicht überwunden hat –sei es ein Kind unserer Gesellschaft oder ein Erwachsener in einem archaischen Kollektiv – Träume für materielle Bilder ausserhalb seines Körpers hält und nicht für unsichtbare Vorgänge in seinem Kopf. [6]

Die vorliegende Arbeit ist in ihren Grundannahmen diesen Thesen Hallpikes verpflichtet. Der Begriff des «Begriffliche Realismus» wird demnach nicht nur als ein brauchbares Analyseinstrument zur Festlegung der Stufe der kognitiven Entwicklung betrachtet auf der sich ein Individuum innerhalb unserer Gesellschaft befindet. Es wird in Anlehnung an Hallpikes Arbeiten davon ausgegangen, dass der Tatbestand des «Begrifflichen Realismus» auch Aufschluss darüber gibt, auf welcher kognitiven Entwicklungssstufe sich ein Kollektiv befindet.

Da es im Rahmen dieser Arbeit ummöglich ist, alle von Hallpike aufgestellten Kriterien des «Begrifflichen Realismus» im Einzelnen zu diskutieren, werden wir uns auf die Untersuchung der für den «begrifflichen Realismus» typischen Vorstellungen des Traumes beschränken. Dies geschieht umso beherzter, als zweifellos behauptet werden kann, dass unter allen für den «Begrifflichen Realismus» typischen subjektiven Phänomenen, Träume die auffälligsten sind.

Das Kollektiv, dessen geistige Entwicklungssstufe im Rahmen dieser Arbeit zur Diskussion stehen soll, ist die Homerische Gesellschaft. Eine vorläufige Grundannahme zu dieser Gesellschaft ist die, dass sie eine Gesellschaft in einer kognitiven Übergangsphase ist, also weder eigentlich mehr archaisch, noch eigentlich modern denkt, sondern eine Gesellschaft ist, in der die beiden Denkstufen gleichzeitig anzutreffen sind.

Mit dem Begriff der «Homerischen Gesellschaft» ist nicht die fiktive Gemeinschaft gemeint, die in den Epen «Illias» und «Odyssee» tatsächlich geschildert wird. Vielmehr wollen wir damit das realhistorische Kollektiv ansprechen, auf das man –gestützt auf die besagten Werke Homers – gewisse Rückschlüsse ziehen kann. Realhistorisch und geographisch ist damit grob gesagt die Gesellschaft gemeint, die in der von Karl Jasper bezeichneten «Achsenzeit» den östlichen Mittelmeerraum bevölkert hat. Die Vorstellungen Homers werden mangels Vergleichsmöglichkeiten und im Sinne einer nicht zu komplexen Untersuchsanordnung, als für die Homerische Gesellschaft repräsentativ angesehen.

Das literaturhistorische Problem der Datierbarkeit des Textes soll hier ebenfalls nicht weiter diskutiert werden. Ebensowenig wird zur Frage der noch immer strittigen Autorenschaft des Textes Stellung genommen. Wir vertreten die Meinung, dass sowohl die Frage der exakten Entstehungszeit des Textes, als auch das Problem, ob hinter den Texten «Illias» und «Odyssee» einer oder mehrere Autoren stehen, für die spezifische Problemstellung dieser Arbeit nur von zweitrangiger Bedeutung ist.

Ein Problem, das sich ganz allgemein bei der Verwertung einer literarischen Quelle für sozialhistorische Erkenntnisse stellt, kann hingegen nicht ganz unerwähnt bleiben. Denn die Tatsache, dass die von Homer geschilderten Träume in erster Linie dichterisches Stilmittel eines Individuums (oder im Fall der «Mehr-Autoren»-Theorie zumindest eines sehr beschränkten Personenkreises) sind, ist im Zusammenhang mit sozialhistorischer Forschungsarbeit sicher eine problematische.

Es ist davon auszugehen, dass sie für eine realhistorische Aussage zuerst einmal nur bedingte, oder zumindest eine höchst ambivalente Gültigkeit besitzen. Die stark von einer personifizierten Götterwelt geprägten Träume zum Beispiel, könnten durchaus schon um 500 vor Christus nur noch standartisierte und typisierte Erzählelemente gewesen sein, die weder der realen Vorstellung des Autors entsprachen, noch derjenigen einer breiteren Bevölkerungsschicht. Wie Dodds nachgewiesen hat, gibt es keine direkten Parallelen zwischen einem authentischen Volksglauben und den von Homer geschilderten Glaubenspraktiken. [7]

Es gibt aber unserer Meinung nach durchaus gute Gründe, die für die Verwendbarkeit von literarischen Quellen auch im Rahmen einer soziologischen Untersuchung sprechen. Und dies insbesondere im Bezug auf ein geistiges Phänomen, wie es Träume ohne Zweifel sind. Werte und Normen stellen nämlich innerhalb des in einer Erzählung geschilderten Materials Aspekte dar, die vom Autor mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weniger bewusst komponiert und imitiert worden sind, als zum Beispiel die Ausrüstung der Krieger [8]. Mentalität und Geisteshaltung sind das, was auch im fiktivsten Werk meinst «real» und «zeitgenössisch» bleibt [9]. Es ist daher wohl nicht vermessen, im Bezug auf die Schilderung geistiger Bewusstseinszustände, in unserem Fall die Art wie Menschen ihre Träume wahrnehmen, auch bei Homer von einer gewissen Unbefangenheit auszugehen.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Teile. In einem ersten Teil sollen kurz die Grundprinzipien der Entwicklungspsychologie und deren von Hallpike aufgezeigten Relevanz für evolutionstheoretische Überlegungen rekapituliert werden. Im zweiten Teil gilt es dann abzuklären, welche Traumschilderungen in der «Illias» und in der «Odyssee» eher auf «präoperativen» und welche eher auf «operativen» Denkvorgängen schliessen lassen.

Zur Strukturierung der ambivalenten Lage, insbesondere was die Traumarten betrifft, wurden in der historischen Forschung bis anhin drei Begriffspaare eingeführt. Von Hundt stammt die Terminologie der «Aussen-und Innenträume» [10]. Hey verwendet das Begriffspaar der «exoterischen» und der «esoterischen» Traumauffassung [11]. Dodds unterscheidet in Anlehnung an Rose «materielle», «seelische» und «symbolische» Träume [12]. Unsere eigene Terminologie bezieht sich ganz auf die Entwicklungspsychologie. Die bei Homer geschilderten Träume werden demnach in «präoperative» und «operative» eingeteilt. In jeden Fall nicht so sehr, weil sie ausschliesslich die eine oder andere kognitive Entwicklungssstufe widerspiegeln, aber jeweils in überwiegendem Masse.

Inhalt


2 Theorie der kognitiven Entwicklung

2.1. Die Grundprinzipien der Entwicklungspsychologie

2.1.1 Denken an sich: Grundannahmen

Bevor darüber entschieden werden kann, inwieweit sich in der Homerischen Gesellschaft «präoperatives» und «operatives» Denken die Waage gehalten haben, muss eine viel grundlegendere Frage beantwortet werden. Die Frage nämlich, was Denken überhaupt ist. Hallpike meint dazu in Bezugnahme auf Piaget: «Denken ist ein sich selbst regulierendes System, das danach strebt, in ein Gleichgewicht mit seiner Umgebung zu kommen, indem es stabile Vorstellungen konstruiert, die die Veränderlichkeit und Schwankungen eben dieser Umwelt überwinden». [13]

Denken beschäftigt sich demnach fortwährend damit, eine Art Ordnung zu schaffen und der Wirklichkeit einen Gesammtsinn zu verleihen. Wie noch zu zeigen sein wird, besteht die Kunstfertigkeit des Denkens nun gerade darin, das Mittelmass zu halten zwischen Ordnung und Chaos, Abstraktion und konkreter Anschauung, so dass das konstruierte Weltbild zwar in von der Wirklichkeit losgelösten Abstraktionen stabilisiert, die fortwährenden Veränderungen dieser Wirklichkeit aber trotz allem weiterhin in die vorgeformte Struktur eingeordnet werden kann und die Abstraktion nicht zum, wie Hallpike es formuliert, Authismus degeneriert. [14]

Die kognitive Entwicklung ist nach Piaget ein besonderer Aspekt der allgemeinen organischen Anpassung an die Umwelt. Die Gesetzmässigkeiten, durch die das kognitive Wachstum gelenkt werden, gelten für die Menschen in allen Gesellschaften. Diese Gesetzmässigkeiten bewirken eine Entwicklung der geistigen Funktionen in einem doppelten Prozess. Dieser doppelte Prozess besteht aus:

1. Akkomodation: Anpassung an die Umwelt
2. Assimilation: Anpassung der Umwelt an die bestehenden kognitiven Strukturen

Dieser Prozess wird von Hallpike in Anlehnung an Piaget als «Äquilibration» bezeichnet und ist grundsätzlich als nie abgeschlossen zu betrachten. [15]

Diese Vorstellung von Denken als einem fortwährenden Äquilibrieren zwischen Anpassung an die Umwelt und Anpassung an die individuellen Denkstrukturen, steht in Kontrast zu anderen Denk–und Lerntheorien.

Für Lévis-Strauss, dessen Konzeption des Denkens als «nativistische Theorie» bezeichnet wird, ist der Geist von Anfang an mit einer ganzen Reihe von angeborenen Strukturen ausgestattet. Diese Strukturen werden für Lévis-Strauss nicht durch die Interaktion mit der Umwelt entfaltet, sondern bestenfalls in verschiedenen Kulturen durch soziale Institutionen selektioniert und stärker spezialisiert. Die Möglichkeit, dass geistige Strukturen durch den Prozess der Interaktion und der Äquilibration mit der Umwelt hervorgebracht werden können, wird nicht in Betracht gezogen. [16]

Dies ist auch unter den sozialdeterministischen Theoretikern der Fall. Nach der sozial-deterministischen Theorie ist der individuelle Geist einem Sozialisierungsprozess ausgesetzt, bei dem die Sprache als der dominierende Einflussfaktor betrachtet wird. Das traditionelle Wissen, die Klassifizierunstypen und die grundsätzlichen Annahmen über die Wirklichkeit wie man sie in jeder Kultur findet – Raum, Zeit, Kausalität oder eben die Vorstellung von der Natur des Traumes – werden nach dieser Auffassung im Geiste des Individuums wie die Stücke eines Puzzles nach und nach zusammengefügt. Die kognitive Entwicklung ist für die Sozialdeterministen wie zum Beispiel Needham oder Dürkheim, keine Äqulibration zwischen Akkomodation und Assimilation, sondern ein reiner Akummulierungsprozess. [17]

Besonders die Vorstellung, das Denken sei grundsätzlich an die Sprache gebunden, setzt die sozialdeterministische Schule in deutliche Distanz zu den Theorien Piagets und Hallpikes. Für die Sozialdeterministen gibt es kein «non-verbales» Denken. Soziologen wie Dürkheim würden das Denken auf der subverbalen Stufe wohl ähnlich wie Freud als «unbewusste» Vorgänge bezeichnen.

Hallpike hingegen geht wie gesagt davon aus, dass es auch ein gewissermassen praktisches Denken – ein Denken des Handelns – gibt, das unartikuliert und vor allem auch «unbewusst» bleiben kann. Ein Denken das non-verbal funktioniert, für Piaget und Hallpike aber gleichsam ein Denken ist, da es wie die sprachliche Interaktion dem Prinzip einer Akkomodation und Assimilation an die Umwelt entspricht.

Das «non-verbale» Denken ist für Hallpike ein Schlüsselbegriff, um die gesammte Entwicklung des menschlichen Geistes in eine umfassende Theorie einordnen zu können. [18]

Wir halten also fest:

  1. Denken ist ein interaktiver Prozess, der von einem fortwährenden Äquilibrieren zwischen Akkomodation (Anpassung an die physische und soziale Umwelt) und Assimilation (Anpassung der physischen und sozialen Umwelt an die bestehenden Denkstrukturen) besteht.
  2. Denken ist nicht an die Sprache gebunden, sondern kann auch durch Handlung und über das Bild erfolgen.

2.1.2 Stadien der kongnitiven Entwicklung

Piaget unterscheidet grundsätzlich drei Stadien der kognitiven Entwicklung:

  1. Die sensomotorische Stufe
  2. Die präoperative Stufe
  3. Die operative Stufe

Es gibt nach Piaget somit drei Wege zum «Wissen». 1. Druch Handlung und deren Koordination, durch Bilder und konkrete Symbole und durch konventionelle Zeichensysteme, für die die Sprache das wichtigste Beispiel ist [19]. Allgemein ist zu sagen: Das Äqulibrationsprinzip gilt auf allen kognitiven Stufen.

Das Kind gelangt von der Stufe der Handlung über das Stadium des inneren Bildes zur rein verbalen Vorstellung und Analyse. Ein kognitives Gleichgewicht, das auf einer dieser Stufen anfänglich befriedigend und verhältnisnässig stabil ist, wird unter dem Druck einer neuen Erfahrung brüchig und muss dann auf einer höheren kognitiven Stufe rekonstruiert werden.

Wie schon zu Anfang erwähnt, wird von Hallpike die Meinung vertreten, dass sich diese Prinzipien grundsätzlich auf die Anthropologie und die Ethnologie übertragen lassen. Hallpike verwehrt sich zwar gegen die Auffassung viktorianischer Denktradition, die primitive Völker als «kindisch» und ihr Denken als «in den Kinderschuhen der Vernunft steckend» abzutun pflegte. Trotzdem beharrt er auf der Ansicht, die kognitive Entwicklung der Menschheit im Gesammten weise auffällige Ähnlichkeiten mit derjenigen jedes Individuums im Einzelnen auf. Als Beweis dient ihm dazu unter anderem der Befund, wonach Ähnlichkeiten zwischen den Kausalbegriffen der Vorsokratiker und Kindern in unserer Gesellschaft bestehen. [20]

Bei einer nähren Betrachtung der einzelnen kognitiven Entwicklungsstufen, wollen wir uns in der Folge auf die Darlegung der Wesenszüge des «präoperativen» und des «operativen» Denkens beschränken, weil sie im Gegensatz zu der «frühkindlich-sensomotorischen» Stufe diejenigen Entwicklungsstadien sind, die für die nachfolgenden Betrachtungen die grösste Relevanz besitzen.

2.1.2.1 Das «präoperative» und das «operative» Denken

Die Unterschiede zwischen «präoperativem» und «operativem» Denken lassen sich in Anlehnung an Hallpike folgendermassen zusammenfassen:

  1. «Präoperatives» Denken ist zwar zu einer geistigen «Verbildlichung» nicht aber zu einer Zerlegung, einer Analyse dieses geistigen Bildes (wie das «operative» Denken) fähig.
  2. Die Art der «präoperativen» Klassifikation ist komplexiv und nicht systematisch, wie diejenige der «operativen» Denkprozesse. Subjektive Assoziationen werden auf der «präoperativen» Entwicklungssstufe für wirkliche Relationen gehalten und zu Komplexen zusammengefasst. Das führt zu Klassen, die mehr durch «Zugehörigkeit» als durch «Ähnlichkeit» charakterisiert sind. Präoperatives Denken erfolgt in Analogien und nicht in taxonomischen Klassen und Systemen, wie sie für das «operative» Denken die Regel sind.
  3. Transitivität wird auf der «präoperativen» Denkstufe nicht begriffen. Präoperatives Denken ist unfähig, sich zwei Zustände gleichzeitig vorzustellen, beispielsweise dass wenn A grösser B grösser C ist, auch gilt, dass A grösser C ist.
  4. Das Denkmuster des «präoperativen» Denkens ist transduktiv: Es schliesst vom Besonderen auf das Besondere. Induktive wie auch deduktive Schlussfolgerungen wie sie für das «operative» Denken bezeichnend sind – Grundvoraussetzung um hierarchische Klassen und integrierte Systeme von Beziehungen zu bilden – werden nicht begriffen. Ein rein hypothetisches Denken auf der Grundlage der logischen Implikation von Aussagen, die von den Zwängen der persönlichen Erfahrung völlig frei sind, ist im «präoperativen» Stadium nicht möglich.
  5. «Präoperatives» Denken ist in hohem Masse egozentrisch. Das Kind weiss zwar, dass es ein von anderen Objekten verschiedenes physisches Objekt ist, nicht aber, dass es eine eigene Meinung hat, die von seiner Umwelt nicht immer geteilt wird.
  6. Kausalität wird nicht als ein Netz von Beziehungen zwischen den Dingen begriffen, sondern mehr als ein Erwachen oder Sichtbarwerden von latenten und selbständigen Kräften, die zu den einzelnen Gegenständen gehören. Gegenstände haben in der «präoperativen» Weltsicht demnach einen Willen und ein Bewusstsein.
  7. «Präoperatives» Denken ist sich der vermittelnden Funktion des Geistes bei der Übersetzung von Sinneserfahrungen in geistige Vorstellungen noch nicht bewusst. Träume werden als kleine materielle Bilder angesehen, die man im Zimmer betrachtet. Diese Art der Wirklichkeitswahrnehmung wird als «Begrifflicher Realismus» bezeichnet. [21]

Wir wollen uns in der Folge näher mit diesem, für die Unterssuchung der Homerischen Träume entscheidenden, geistigen Phänomen beschäftigen.

Inhalt


2.2 «Begrifflicher Realismus» und archaische Traumvorstellung

2.2.1 «Begrifflicher Realismus»: Begriffsklärung

Das Weltbild des archaischen Menschen ist nach Hallipke unmittelbar, subjektiv und absolut. Seinem Urteil fehlt jede Form von dem, was wir als Objektivität bezeichnen würden. Es ist sich der Relativität seiner eigenen Wahrnehmungen und der vermittelnden Funktion seines Geistes nicht bewusst. Hallpike bezeichnet diesen Umstand in Anlehnung an Piaget als «Begrifflichen Realismus». [22]

2.2.2 Archaische Traumdeutung

Der begriffliche Realist sieht die Welt um sich herum also prinzipiell subjektiv. Unter allen subjektiv hervorgebrachten geistigen Phänomenen sind die Träume die auffälligsten. In primitiven Gesellschaften, so die Meinung Hallpikes, entsprechen die verbreiteten Meinungen über die Natur der Träume im allgemeinen dem Modell des «Begrifflichen Realismus». Träume sind demnach auf der Stufe des «präoperativen» Denkens, Erfahrungen äusseren Ursprungs, nicht Bilderfolgen, die im Kopf des Träumers entstehen. Primitive gehen in ihrer Deutung von Träumen davon aus, dass diese Erfahrungen nicht etwa vom Körper und seinen Sinnesorganen, sondern von der Seele gemacht werden. [23]

Von der Traumdeutung der Griechen sagt Dodds ganz allgemein: «Es fällt auf, dass die Sprache, die von den Griechen zu allen Zeiten für die Beschreibung von Träumen verschiedenster Art verwendet wird, durch eine Art von Traum suggeriert zu werden scheint, bei dem der Träumer der passive Empfänger einer objektiven Bilderfolge ist. Die Griechen sagen nie wie wir; ein Traum haben, sondern immer; einen Traum sehen (...). Der Ausdruck eignet sich nur für Träume des passiven Typs, aber er wird auch verwendet, wenn der Träumer selbst die zentrale Figur in der Traumhandlung ist». [24]

Und im Bezug auf die in den Werken von Homer geschilderten Träume meint Dodds: «In den meisten ihrer Traumschilderungen behandeln die homerischen Dichter das Geschehen, als ob es eine 'objektive Tatsache' wäre. Der Traum hat üblicherweise die Form eines Besuches, der einem schlafenden Mann oder einer schlafenden Frau durch eine einzelne Traumfigur abgestattet wird.» Dodds vertritt die Meiung, dass diese Traumfigur «objektiv im Raum» existiert und «unabhängig vom Träumer» ist. [25]

Hallpike macht darauf aufmerksam, dass die von Dodds geschilderte Art der Traumdeutung nicht die einzige archaische Art der Interpretation von Traumerfahrungen sein muss. In vielen primitiven Gesellschaften, so Hallpike, werden Träume auch durchaus symbolisch gedeutet. [26]

Man könnte nun annehmen, diese symbolische Interpretation der Träume stelle ein kognitiv fortgeschrittenes Stadium im Verständnis ihrer Natur dar, weil sie von ihrem sichtbaren Inhalt her als «irreal» behandelt würden. Dodds zitiert in diesem Zusammenhang die Theorie von H.J. Rose wonach es beim Verstehen der Träume drei vorwissenschaftliche Stadien gibt. «1. dass die Traumbilder als objektive Tatsachen begriffen werden; 2. dass angenommen wird, es werde von der Seele oder einer der Seelen (...) etwas gesehen, das in der geistigen Welt oder so geschehe; 3. dass die Träume durch einen komplizierten Symbolismus gedeutet werden». [27]

Hallpike macht aber darauf aufmerksam, dass auch eine symbolische Interpretation der Träume, noch immer alle Anzeichen des «Begrifflichen Realismus» und somit des «präoperativen» Denkens beinhalte. Er stützt sich dabei einerseits auf seinen Befund, dass Primitive Symbole nicht bloss als assoziative Versinnbildlichungen begreiffen, sondern als in einer physischen Verbindung zum Symbolisierten stehend. Anderseits gibt er vor allem zu bedenken, dass auch bei einer symbolischen Deutung des Traumgeschehens, dessen Ursprung in der Aussenwelt nicht eigentlich bestritten wird. «Gleich wie die Vorstellung, die Träume seinen Erfahrungen der Seele, die zugrunde liegende Annnahme eines äusseren Ursprungs dieser Träume beibehält, wird diese Annahme auch durch die Deutung der Träume als Symbole nicht überwunden». [28]

Im Sinne dieser Überlegung glauben wir bei der folgenden Untersuchung homerischer Träume, innerhalb der «präoperativen» Träume auf eine Unterscheidung zwischen «symbolischen» und «seelischen» Traumvorstellungen verzichten zu können. Im Gegensatz zu der Auffassung von Dodds und anderen, sind wir aber der Meinung, dass die Homerischen Träume nicht ausschliesslich archaischer Natur sind, sondern dass durchaus auch Traumdeutungen anzutreffen sind, die die Voraussetzungen des «operativen Denkens» insofern erfüllen, als dass sie den «Begrifflichen Realismus» klar überwunden haben.

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3 Homer: «Präoperatives» oder «operatives» Denken?

3.1. Einleitung

Wie schon dargelegt, gehen wir davon aus, dass im Werke Homers sowohl «präoperatives» als auch «operatives» Denken widerspiegelt wird. Dies basierend auf dem Prinzip der Entwicklungspsychologie, wonach auch bei einem kognitiven Wachstum, frühere Denkstufen erhalten bleiben. Wie sich aber zeigen soll, ist die Prägnanz des gleichzeitigen Auftretens von «präoperativen» und «operativen» Denkmustern bei Homer bemerkenswert und in ihrem Einfluss auf die von Jaspers angesprochene geistige Blütezeit zweifellos erläuterungswürdig. Wir wollen nun aber zuerst aufzeigen, welche der acht Träume, die in der «Illias» und in der «Odyssee» geschildert werden, jeweils Ausdruck «präoperativen», und welche Ausdruck «operativen» Denkens sind.

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3.2. Die «präoperativen» Träume

3.2.1 Der Traum des Agamemnon

Der Traum des Agamemnon [29] gilt für Hundt als für die homerische Vorstellung von Träumen am Repräsentativsten [30]. Hundt geht mit Hey darin einig, dass der Agamemnon-Traum, als einer der historisch ältesten innerhalb des Homerischen Werkes zu bezeichnen ist. [31]

Um Achill Genugtuung für die ihm angetane Beleidigung zu verschaffen, will Zeus den Agamemnon zu einer Schlacht veranlassen, die für die Achäer ungünstig auslaufen soll. Er schickt ihm also den «Oneiros» [32], der ihn in der Gestalt des Nestor zum Kampf antreibt und ihm Hoffnung auf den Sieg macht. Der Sender des Traums ist Zeus. Für Hey nun ist der «Oneiros» in diesem Fall als ein «Traumdämon», als eine ausserhalb des Träumenden, als eine physisch existente Figur zu verstehen.

Dasselbe nimmt Hundt an. Hey spricht von einem «exoterischen» Traumgebilde [33]. Hundt bezeichnet den Traum des Agamemnon als «Aussentraum» [34]. Zu diesem Schluss kommt Hundt vor allem darum, weil er bei der Bedeutung von «Oneiros» in diesem Fall von einem Traumbild ausgeht, das schon «vor dem Traum» und auch nach dem Traum als «göttliches Wesen irgendwelcher Art existierte». Hey gibt der «ausserweltlichen» Gegenständlichkeit des «Oneiros» noch zusätzlich Gewicht, indem er auf die Selbständigkeit verweist, mit der sich die Traumgestalt – in diesem Fall in der From von Nestor – in der Vorstellung des Träumenden bewegt. Die Eigenständigkeit erblickt Hey vor allem in dem Umstand, dass der «Oneiros» den ihm von Zeus gegebenen Auftrag sehr eigenständig interpretiert. Einerseits tadelt das Traumbild den Agamemnon auf eigene Inititative hin und ohne von Zeus dazu angehalten worden zu sein. Anderseits nimmt das Traumbild nach eigenem Ermessen die Gestalt des Nestors an. [35]

Der Traum des Agamemnon muss also entwicklungspsychologisch als ein «präoperativer» Traum bezeichnet werden. Der Träumende hat den «Begrifflichen Realismus» noch nicht überwunden. Er projeziert ganz offensichtlich innere Vorgänge in die Aussenwelt, so dass ein Traum kein psychologisches Phänomen, sondern reales Geschehnis wird.

3.2.2 Der Traum der Penelope von Iphtime

Als «Abklatsch» des eben geschilderten Traums des Agamemnon bezeichnet Hey den ersten Traum in der «Odyssee», den Traum der Penelope von ihrer Schwester Iphtime. [36]

Odysseus Sohn Telemach ist unterwegs auf der Reise nach Pylos, um über den Verbleib seines Vaters Erkundungen einzuziehen. Sorgen rauben Penelope den Schlaf. Sie weiss, dass die Freier einen Anschlag auf Telemach planen. Sie liegt lange wach, doch schliesslich schläft sie ein. Athene beschliesst sie zu besuchen. Dazu bildet sie ein «Eidolon» [37], einen Traumboten, in diesem Fall in der Gestalt von Penelopes Schwester Iphthime. Diese Gestalt schwebt durch das Loch beim Türriemen in die Kammer der Penelope und beruhigt diese: Telemach werde unversehrt zurückkommen. Danach verschwindet das «Eidolon» wieder auf demselben Weg auf dem es gekommen ist und löst sich in Luft auf.

Dieser Traum ist das einzige Beispiel im Werke Homers für die Vorstellung, dass der Traum von einer Gottheit aus dem Nichts geschaffen werden kann. Unter anderem wird dadurch wohl auch impliziert, dass der Traum nicht nichts ist, sondern gegenständlichen Charakter hat, also annäherungsweise von der gleichen Beschaffenheit gedacht wird, wie Gegenstände und Menschen, denen man im Wachzustand begegnet. Auch die räumlichen Hinweise (Zugang durch das Loch an der Tür, Iphtime stellt sich am Kopfende von Penelopes Bett auf usw.) sind Beleg dieses gegenständlichen und somit «präoperativen» Traumverständnisses.

Hundt betont, dass an keiner anderen Stelle des Epos, die Stofflichkeit des Traumbildes so klar in Erscheinung tritt. Trotzdem scheut sich Hundt, diesen Traum allzu leichtfertig der Kategorie der «Aussenträume» zuzuordnen. Er glaubt Anzeichen erkennen zu können, dass Homer an die von ihm geschilderte handfeste Materialität des Geschehens selbt nicht mehr glaubte. Beweis ist ihm an dieser Stelle vor allem die schon von Hey im Zusammenhang mit dem Traum Agamemnons beobachtete Selbständigkeit des Traumboten. Im Fall von Iphtime scheint Hundt diese Selbständigkeit so sehr übertrieben, dass er sich fragt, ob nicht der ganze Traum ein standartisiertes, übernommenes Element innerhalb der Erzählung darstellt. [38]

Die ausgesprochene Materialität des Traumes hindert Hundt aber nicht daran, gerade in diesem Traum «grosse psychologische Einfühlung» seitens des Autos am Werk zu sehen. Er führt dazu die «lebenswahr» beobachteten Überreste des Wachzutandes an, die Penelope dazu veranlassen, sich zu wundern, warum die Schwester hier an ihrem Bette steht, wo sie doch so weit entfernt wohnt. [39]

Es gibt also Anzeichen dafür, dass Homer bei der Schilderung des Traums der Penelope gewisse Einsichten, die in der Regel mit «operativen» Denkprozessen in Zusammenhang gebracht werden, nicht ganz verschlossen geblieben sind. In Anbetracht der überaus deutlichen Materialität des Traumgeschehens scheint es uns aber dennnoch angebracht, den Traum als mehrheitlich von «präoperativen» Vorstellungen dominiert zu betrachten.

3.2.3 Der Traum des Achilles

Der Traum in dem Patroklos dem Achill erscheint, ist für Hey Ausdruck der «historisch ältesten Auffassung» aller Traumschilderungen in der «Illias» und der «Odyssee». Dies vor allem darum, weil darin das reale Auftreten eines Verstorbenen geschildert wird.

Patroklos ist gefallen. Die Totenklage ist vorüber. Achill hat sich an den Meeresstrand begeben. Erschöpft legt er sich nieder und schläft ein. Nun tritt die «Psyche», die «Bildseele» [40] des Patroklos ans Kopfende des Schlafenden. Patroklos erbittet von Achill sofort bestattet zu werden, weil die Totengeister ihn ansonsten nicht in den Hades gelangen lassen. Er prophezeit dem Achill zudem den Tod und bittet, die Überreste seines Körpers mögen mit denen Achills zusammen bestattet werden. Achill verspricht dem verstorbenen Freund seine Bitten zu erfüllen, will ihn noch umarmen, doch da versinkt die «Psyche» des Patroklos wie Rauch in der Erde. [41]

Hey ist der Meinung, dass der Achilles-Traum der wohl eindeutigste Vertreter derjenigen Gattung Traum ist, für die «das Sehen des Träumenden ein realer Vorgang ist, so dass das, was er sieht, ein realer Gegenstand wird» [42]. Für Hundt hingegen ist der Traum des Achilles keineswegs so eindeutig von «Aussenvorstellungen» dominiert. Hundt wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob dem Dichter bei der Schilderung dieses Traums nicht auch gewisse psychologische Vorstellungen vertraut sein mussten. Der Wunsch – also ein «innerer», ein psychologischer Grund - den geliebten Toten zu sehen, ruft diesen Toten in den Schilderungen Homers erst herbei. Neben der als «präoperativ» zu bezeichnenden Vorstellung, dass Tote, solange sie noch nicht verbrannt sind, als «Psyche» in der Nähe ihres Körpers vorhanden sind, wird von Homer somit auch auf den Zusammenhang zwischen dem innerlichen Geschehen eines Träumenden und dem von ihm geträumten Traume hingewiesen. Ob dies hingegen bewusst geschah, ist eine offene Frage und wird uns im Fall eines Traumes der Penelope weiter unten noch eingehender beschäftigen.

Hundt macht im Bezug auf den psychologischen Gehalt von Homers Traumdeutung auch entsprechende Einschränkungen. Er macht insbesondere darauf aufmerksam, dass es schwierig ist abzuschätzen, was von Homers Beschreibungen unreflektiertem dichterischem Feingefühl, und was echter psychologischer Analyse zuzuschreiben ist. Unter anderem auch darum, teilt Hundt den Traum des Achilles schlussendlich in seine Kategorie der «Aussenträume» ein. Wir teilen seine Ansichten. In der Terminologie der Entwicklungspsychologie ist der Traum somit als «präoperativ» zu bezeichnen.

3.2.4 Der Traum der Nausikaa

Während Odysseus, der sich nur mit äusserster Mühe aus dem Sturm an Land retten konnte, im Gebüsch nicht weit vom Meer erschöpft die Nacht verbringt, hat Nausikaa einen Traum. Athene tritt in der Gestalt einer Freundin zu ihr und tadelt sie wegen ihrer Trägheit. Ihre Hochzeit sei nicht fern und es müssten noch Kleider gewaschen werden. Athene, in der Gestalt der Freundin, macht desshalb den Vorschlag, anderntags an den Fluss zum Waschen zu fahren. Nachdem Athene dies der Nausikaa im Schlaf aufgetragen hat, kehrt sie auf den Olymp zurück.

Die Annnahme der Autor haben im Bezug auf den Traum der Nausikaa um die vermittelnde Funktion des Geistes beim Träumen gewusst, wird von Hundt klar abgelehnt. Es sei zwar naheliegend aus dem Umstand, dass Nausikaa gerade zu diesem Zeitpunkt von ihrer Hochzeit träumte, zu folgern, Homer sei sich bewusst gewesen, dass der Traum eine Art bildgewordener Wunsch sei. Noch naheliegender ist aber für Hundt, dass der Autor auf der Suche nach einem erzählerischen Mittel um Nausikaa an den Strand zu bringen, irgend ein Motiv aus ihrem «Gedanken- und Wunschkreis» wählen musste. Hundt folgert: «Nausikaa von ihrer Hochzeit träumen zu lassen, ist zwar ein psychologisch gut begründeter Zug, aber kein Zug von Traumverständnis im modernen Sinne». [43]

Wir schliessen uns diesem Urteil an und würden behaupten, dass der Traum der Nausikaa genügend Anzeichen von «Begrifflichem Realismus» bietet, um ihn in die Kategorie der «präoperativen» Traumvorstellungen einordnen zu können.

Inhalt

3.3 Die «operativen» Träume

Wir haben betont, dass es bezeichnend für die Traumvorstellungen Homers ist, dass man gleichzeitig «präoperative» als auch Vorstellungen, die im Sinne Hallpikes als «operativ» zu deuten wären, anzutreffen pflegt. Im vorangegangenen Kapitel haben wir die vier Traumschilderungen vorgeführt, die von Anschauungen dominiert zu sein scheinen, wie sie auf dem «präoperativen» Entwicklungsniveau typisch sind. Der Träumende ist sich in jedem Fall nicht der vermittelnden Funktion seines Geistes bewusst. Die Träume sind reale, materielle Geschehnisse, wie man sie auch im Wachzustand erlebt.

In diesem Kapitel wollen wir zeigen, dass man im Werke Homers auch auf ein anderes Traumverständnis trifft. Wir wollen uns nun denjenigen Träumen zuwenden, aus denen ein «operatives» Bewusstsein spricht.

3.3.1 Der traumhafte Lauf des Achilles

Achill verfolgt den Hektor um die Stadt. Der Lauf zieht sich hin, aber Achill scheint es nicht möglich einen entscheidenden Vorteil zu erringen [44]. Für die Beschreibung dieses Gleichgewichts zwischen Flüchtendem und Verfolgendem wird ein Traumerlebnis beigezogen. Geschildert wird das allgemein bekannte Traumphänomen, des trotz grösster Anstrengung nicht «Von-der-Stelle-Kommens».

Hundt ist der Meinung, dass dieser Traum keiner Stilisierung bedurfte, da er keine Funktion innerhalb des Handlungsablaufs zu erfüllen hat. Hundt hält den Lauf des Achill daher für «authentischer», als alle anderen Traumerlebnisse in Homers Epen. Mit diesem Traum, so Hundt, bringe Homer eine allgemein bekannte Form des Traumes zum Ausdruck. Mit der Präsentation dieser Vorstellung trete Homer «mit einem Schritt aus der mythischen Traumwelt seiner Helden in die alltägliche seiner Hörer über». [45]

Wir sind ebenfalls der Meinung, dass es gute Gründe gibt, im Fall des traumhaften Laufs des Achilles, «operatives» Verständnis für die Natur des Traumes anzunehmen. Einerseits gibt es keine «äussere» Macht oder Erscheinung, die in irgend einer Form als real existierend bezeichnet werden müsste. Anderseits ist die Verbindung einer angstvollen Situation und der Illusion des «Stehen-bleibens» bemerkenswert. Erlaubt diese Schilderung doch die Interpretation, dass es Homer scheinbar möglich war, Träume – in diesem Fall also das «Nicht-von-der-Stelle-kommen» – als in einem kausalen Verhältnis zu seinem Innenleben stehend – in diesem Fall der Angst – zu erkennen.

Der traumhafte Lauf des Achilles muss also im Sinne der Entwicklungspsychologie als ein «operativer» Traum verstanden werden. Nicht umbedingt der Träumende selbst ist sich in diesem Fall zwar der vermittelnden Funktion seines Geistes bewusst, sehr wohl aber derjenige, der sich die Traumsituation ausgedacht hat.

3.3.2 Penelopes Traum von den Gänsen

Penelope erzählt diesen Traum während eines nächtlichen Gesprächs, das sie mit Odysseus führt, ohne über dessen wahre Identität indess schon aufgeklärt zu sein. Dem für sie noch Fremden schildert sie, wie sie von einem Adler geträumt habe. Der Adler habe ihre Gänse getötet bevor er davongeflogen sei, um gleich darauf wieder zurückzukehren und mit menschlicher Stimme eine Erklärung für den Vorfall abzugeben. Er forderte Penelope auf, Mut zu fassen. Es sei kein Traum, sondern Wirklichkeit, was sie eben gesehen habe. Die Gänse seien die Freier, er selbst aber sei Odysseus, der jetzt zurück gekommen sei [46]. Odysseus wird von Penelope aufgefordert den Traum zu deuten. Dieser erklärt, es sei keine andere Erklärung des Geschehens, als die schon im Traum enthaltene möglich.

Armory hat in ihrer Arbeit «Omens and Dremas in the Odyssey» mit Hilfe Freuds Erkenntnissen zum Traume versucht, Rückschlüsse auf die Psychologie der geschilderten Figuren zu ziehen. Sie ist der Meinung, dass Homer im Falle des Gänse-Traums eindeutig das darstellen will, was in den Gedanken der Schlafenden vor sich geht, auch wenn er die Geschehnisse so darstellt, als ob es sich dabei um eine äussere Realität handle. [47]

Der naheliegendeste Grund die Meinung von Armory zu teilen liegt sicher darin, dass man nicht einerseits Odysseus erklären lassen kann, der Traum sei kein Traum sondern Wirklichkeit, ohne sich selber überhaupt vorstellen zu können, dass ein Traum auch etwas anderes als die Wirklichkeit sein könnte. Einen unserer Meinung nach etwas weniger naheliegenden Grund anzunehmen, dass Homer den Traum tatsächlich dem «Innenleben» der Penelope entspringen lässt, liefert Russo. Dass Penelope weine, so Russo, als die Gänse (als Symbol für die Freier) getötet werden zeige, dass Penelope die Freier mehr schätze, als sie sich bis anhin einzugestehen wagte. Aber vor allem zeige das Weinen der Penelope, dass Homer diese vom Umbewussten motivierte Haltung Penelopes im Traum zum Ausdruck bringen will. Homer, so das Fazit Russos, versteht in diesem Fall also das Unbewusste als Quelle des Traums. [48]

Auf die schon angesprochene Debatte über die Dimensionen des «Unbewussten» von Freud soll hier nicht noch einmal eingetreten werden. Eine Unterscheidung in «unbewusstes» oder nur «unartikuliertes» oder «non-verbal» Gedachtes, scheint uns für die Beurteilung des Gänse-Traums zweitrangig zu sein. Es soll uns nicht nur in diesem Fall darum gehen zu beurteilen, ob der Autor eine Vorstellung des «inneren» Ursprungs des Traumes gehabt hat. Ob man eine Handlung schlussendlich als «unbewusst» oder «non-verbal» bezeichnet, hat auf die Frage der «Innerlichkeit» so weit wir das beurteilen können, keinen Einfluss.

So oder so spricht aber vieles dafür, dass Homer den Gänse-Traum als «innerlich» motiviert angesehen hat. Es sei in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass Penelope sich nach dem Traum plötzlich zur Entscheidung durchringen kann, den Bogenkampf unter den Freiern abzuhalten, der über ihr weiteres Schicksal entscheiden soll. Dies, so meinen wir, zeigt den Selbsterkennungscharakter, der der Traum für sie gehabt haben muss. Der Traum hat Penelope über sich selbst etwas erfahren lassen. Er hat in Bilder und vor allem auch Worte gefasst was sie schon immer «non-verbal», oder «unterbewusst» dachte. Dass sie nämlich den Freiern gegenüber nicht so feindselig eingestellt war, wie sie sich bisher gewagt hatte einzugestehen. Damit konnte sie dem Bogenkampf nun gelassener entgegen sehen. Würde einer der Freier gewinnen, so würde sie sich in ihr Schicksal fügen können. Würde Odysseus in letzter Minute noch auftauchen – um so besser. Die verschiedentlich geäusserte Meinung, Penelopes Entscheidung den Bogenkampf abzuhalten, sei von Homer mangelhaft motiviert beschrieben, ist somit zu widersprechen.

Auf einen weiteren Grund warum es nahe liegt, dass der Gänse-Traum «operativen» Denkprozessen entsprungen ist, macht Hey aufmerksam. Er glaubt nachweisen zu können, dass Penelopes Traum eine der jüngsten innerhalb des Werkes Homer darstellt. Zwischen dem Traum des Achilles vom toten Patroklos und dem Gänse-Traum der Penelope kommen nach den Schätzungen von Hey, je nachdem welcher Autoren-These man anhängt, 50 bis 150 Jahre zu liegen. [49]

Russo verweist uns noch auf einen weiteren Umstand, der den «operativen» Charakter der Traumvorstellung unterstreicht. Es handelt sich dabei um die ganz allgemein, sehr misstrauische Haltung der Penelope gegenüber ihrem Traum. Nicht nur hat sie der schon im Traum gegebenen Deutung wenig Glauben geschenkt. Sie bleibt auch nach der neuerlichen Interpretation des Traumes durch Odysseus misstrauisch. Davon, dass Penelope den Traum als etwas wirklich, materiell Geschehenes verstanden hat, kann also keine Rede sein. Es scheint viel mehr so, als sei sie sich, und somit auch Homer, der trügerischen Vermittlerfunktion des Geistes in diesem Fall sehr wohl bewusst gewesen. Um ihre ambivalenten Gefühle ausdrücken zu können, greift Penelope zur Methapher vom «elfenbeinernen und hörnernen Tor» durch das alle Träume kommen. Dodds nimmt an, dass diese Vorstellung dem Volksglauben entsprungen sei [50]. Russo schliesst sich dieser Meinung an. Er sieht aber die Wichtigkeit der Textstelle weniger darin, dass in dieser wie Hey aufgezeigt hat jungen Textstelle, alte Glaubenselemente betont werden, sondern vielmehr darin, dass Penelope durch die Methapher vom «elfenbeinernen» und «hörnernen» Tor, ein fundamentales Misstrauen und eine deutliche Distanz zu ihren eigenen Träumen demonstriert. [51]

Auf einen weiteren interessanten Aspekt macht Armory aufmerksam. Die entsprechende Stelle im Werk hat für Armory daher grosse Bedeutung, weil sie zeigt, wie der Dichter Homer mit Hilfe von Methaphern Elemente eines alten Volksglaubens in einen neuen Zusammenhang stellt und so den Übergang von einem, wie sie es nennt «mythischen zu einem rationalen Bewusstsein» vollkommen fliessend und organisch zu überbrücken verstand. [52]

Wie die Entwicklungspsychologie festgestellt hat, ist der von Armory mit Bewunderung zur Kenntnis genommene Umstand, keineswegs aussergewöhnlich. Hallpike hat festgehalten, dass es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen «alten» und «modernen» Arten des Denkens gibt. Wir können vielmehr alle auf einer ganzen Reihe verschiedener geistiger Stufen operieren. Frühere Stufen des Denkens bleiben immer vorhanden [53]. Dass Homer aber im Falle des Gänse-Traums schon zur Einsicht gekommen sein muss, dass der Geist bei der Wahrnehmung von Träumen eine vermittelnde Funktion erfüllt, darüber kann es kaum Zweifel geben. Penelopes Traum von den Gäsen ist somit ein «operativer» Traum.

3.3.3 Penelopes Traum von Odysseus

Noch «operativer» als Penelopes Traum von den Gänsen mutet ihr Traum von Odysseus an. [54]

Penelope klagt, dass ihr nicht einmal der Schlaf, der doch sonst alles vergessen lasse, Ruhe vor ihrem Kummer schenke. So habe in der Nacht Odysseus bei ihr gelegen, in der Gestalt, wie er bei der Abfahrt nach Troja ausgesehen habe.

Für Hundt ist diese Textstelle nur aus einem Traumbewusstsein erklärbar, das sich über den «inneren» Ursprung des Traumgeschehens klar war [55]. Für Hey hingegen handelt es sich bei der besagten Textstelle gar nicht um einen Traum. Er geht von der Auffassung aus, dass was von Homer geschildert wird, mehr die Form einer Vision hat, da Penelope im entsprechenden Zeitpunkt nicht schlafend gewesen sei. Er räumt hingegen ein, dass sich die Vision, vom Traum in der Auffassung der Griechen nicht wesentlich unterscheidet. [56]

Russo ist zwar ebenfalls vom «inneren» Ursprung des Traums der Penelope überzeugt. Er gibt aber zu bedenken, dass die Basis auf der Hundt klassifiziert, in diesem Fall einen gewissen Widerspruch offenbart. Die von Hundt einmal in einen «Aussentraum» (Od. IV 795 ff.) und einmal in einen «Innentraum» (Od. XX 87 ff) eingeteilten Träume der Penelope, weisen nach der Meinung Russos nämlich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede auf.

Russo hält fest, dass an beiden Stellen die griechischen Wendungen « ouk onar all' hypar» und «eikelos autoi» Verwendung finden. Während nun Hundt bei Od. IV 795 ff. «ouk onar all'hypar» noch in dem Sinne interpretiert, dass Penelope kein Traumgebilde, sondern die Wirklichkeit gesehen hat, deutet er dieselbe Wendung in Od. XX 87 ff. in dem Sinne, als ob es die Wirklichkeit gewesen ist. Demzufolge wird aus dem ersten Traum ein «Aussentraum», der von einer realen äusseren Wirklichkeit der Gestalt ausgeht, und aus dem zweiten Traum ein «Innentraum», der das Geschehen als ein «inneres» Produkt des Träumenden versteht. Bei der Wendung «eikolos autoi» verfährt Hundt in gleicher Weise. Während er den Ausdruck in einem Fall noch mit «eine Gestalt, wie er» interpretiert, verflüchtigt er im anderen Fall die Bedeutung der Worte gewissermassen und übersetzt: «eine Gestalt, die wie er aussah». Entsprechend stellt er logischerweise eine abnehmende «Handfestigkeit» zwischen den Träumen fest.

Der «innerliche» Charakter der durch den Traum der Penelope von Odysseus zum Ausdruck kommenden Vorstellung kann durch die nicht ganz widerspruchsfreie Methodik von Hundt aber kaum in Abrede gestellt werden. Russo weist darauf hin, dass der Odysseus, der von Penelope im Traum gesehen wird, das Produkt der eingehenden Schilderung ist, die der als Bettler verkleidete Odysseus gegeben hat, um seine Bekanntschaft mit dem von Penelope Vermissten unter Beweis zu stellen. Russo verweist auf die Erkenntnisse der Psychologie, wonach Träume Sedimente aus den Erfahrungen des im Wachzustand erlebten Tages sind. Bemerkenswert findet Russo in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass Homer gerade diejenigen Wacherfahrungen Penelopes im Traume aktiviert, die mit einem Wunsch verbunden sind, in diesem Fall Penelopes Wunsch nach Odysseus Rückkehr. Für Russo ist dies Beleg genung, um Homer hier ein Verständnis für die psychologischen Zusammenhänge von Wünschen und Träumen attestieren zu können. [57]

Auch Hundt meint: «Die psychologischen Zusammenhänge können dem Dichter nicht unbekannt gewesen sein». Er weist aber wohl richterweise auch darauf hin, dass «auch wenn der Dichter wusste, dass man von Menschen träumt, nach denen man sich sehnt, er noch nicht gewusst haben muss, dass eben das Sehnen selber (und nicht etwas «Äusserliches» A. d. Autors) den Traum schon hervorbringt». [58]

3.3.4 Der Wachtraum des Odysseus

In der Dämmerung, halbwach auf seinem Lager ausgestreckt, wird sich Odysseus plötzlich des Wehklagens von Penelope in ihrer Schlafkammer bewusst. Halb schlafend noch scheint es ihm, als stünde Penelope am Kopfende seines Lagers und hätte ihn schon erkannt. [59]

Diese kurze Textstelle ist nun in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Auf einen Aspekt macht uns Russo aufmerksam. Um zu beschreiben, was in Odysseus Geist passiert, fehlt es dem Dichter offensichtlich an den abstrakten Ausdrucksmöglichkeiten, wie es nur das «formal operative» Denken kennt. Was Homer an dieser Stelle zu beschreiben versucht ist ein innerer Vorgang, für den das frühe Griechisch noch keinen Ausdruck besass.

Bemerkenswert ist nun, dass Homer trotz der fehlenden sprachlichen Mittel eine Umschreibung für eine geistige Tätigkeit zu finden versucht. Dieser Umstand zeigt wohl in aller Klarheit, wie sehr Homer im Bezug auf die Beschreibung «innerer» Zustände an die Grenzen des «präoperativen» Denkens vorzustossen im Stande war und vor allem auch dass, wie von der Entwicklungspsychologie behauptet, kognitives Wachstum durch Interaktion mit der Umwelt, in diesem Fall dem Problem ein Phänomen in Worte zu fassen, vollzogen wird.

Homer «sah» zwar den Umstand des inneren Ursprungs des Wachtraumes schon. Er war aber nur unvollständig in der Lage, diesen Umstand auf einer vollständig abstrakten Ebene des Denkens auszudrücken. Dies ist nun genau der Vorgang, mit dem Hallpike den Wachstumsprozess vom «präoperativen» zum «operativen» Denken umreisst. Das Denken entwicklelt sich von der geistigen «Verbildlichung» hin zur Zerlegung und Analyse, die ganz ohne Anschauug auskommt. Das Denken erlebt die «Versprachlichung». Homers Schilderung des Wachtraums des Odysseus kann als Ausdruck dieser Übergangsphase vom «präoperativen» zum «operativen» Denken verstanden werden.

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4 Fazit

Wir halten also fest: Es konnte aufgezeigt werden, dass in den Traumschilderungen Homers in entwicklungspsychologischer Terminologie ausgedrückt, sowohl «präoperative» als auch «operative» Denkprozesse zu erkennen sind. Es gibt Anzeichen dafür, dass die älteren Textstellen eher dem «präoperativen», die jüngeren Textstellen eher dem «operativen» Denkmuster entsprechen. In den meisten Träumen lassen sich sowohl die eine, als auch die andere kognitive Entwicklungssstufe erkennen. Dies würde ganz den Grundprinzipien der Entwicklungspsychologie entsprechen, wonach sich das Denken zwar vom «präoperativen» zum «operativen» Verhalten hin entwickelt, frühere Denkstufen aber immer existent bleiben.

Lässt man das Problem der dichterischen Stilisierung beiseite, so muss man zum Schluss kommen, dass bei Homer die «präoperativen», die «operativen» Vorstellung überwiegen. Geht man hingegen davon aus, dass in der Verdichtung Homers Traumvorstellungen eher «konservativer» ausgefallen sind als dass sie eigentlich waren, so lässt sich sagen, dass das von Homer widergegebne Traumverständnis im Bezug auf die psychologischen Zusammenhänge, und somit auch der Tatsache der vermittelnden Funktion des Geistes gegenüber, als sehr aufgeschlossen zu bezeichnen ist. Homer war demanch kaum mehr ein begrifflicher Realist.

Zusammenfassend kann man sagen: Der Mensch im Homerischen Epos sieht zwar seine Leidenschaften und Wünsche auch im Traum lebendig, aber das kann er ganz ohne Verwunderung aufnehmen. Auch wenn er kaum noch an die reale Existenz der in den Träumen gesehenen Figuren glauben mag, bleiben die Traumbilder doch mehrheitlich von «äusseren» Kräften bewirkt. Die Befreiung vom «Begrifflichen Realismus» ist dem Homerischen Menschen noch nicht ganz geglückt, er ist aber auch nicht mehr ganz darin gefangen.

Man kann sich wundern, dass man den Schritt auf eine «höhere» geistige Stufe so lange nicht getan hat, waren einmal erste Zweifel an der materiellen Wirklichkeit der «Innerlichkeit» aufgetreten. Wie schon erwähnt hat Hallpike darauf hingewiesen, dass es noch bei den Vorsokratikern zahlreiche Hinweise von «Begrifflichem Realismus» gab. Es scheint, als sei es dem Menschen der Antike, auch im Umfeld zunehmender Rationalität in Denken und Handeln weiterhin das Natürlichste gewesen, die Götter überall am Werke zu sehen. «Präoperatives» und «operatives» Denken scheinen sich in der Homerischen Gesellschaft somit lange Zeit in einer Art Schwebe gehalten zu haben, ohne sich gegenseitig ganz verdrängen zu können.

Ob die Phase geistiger Kreativität in Homers Folgezeit, die in der abendländischen Geschichte bedeutend und in ihrem Nachhall wohl ohne Beispiel ist, mit diesem Schwebezustand zwischen analogem und kategorischen Denken in einer kausalen Verbindung steht, kann selbstverständlich nur vermutet werden. Gründe die für eine solche Verbindung sprechen, finden wir hingegen schon bei grundlegenden Postulaten der Entwicklungspsychologie.

Wir rekapitulieren: Besteht auch, wie wir schon ausgeführt haben, die kognitive Entwicklung in einer fortwährenden Loslösung des Denkens von dem «hic et nunc» der konkreten, phänomenalen Aspekten der Wirklichkeit, in Richtung einer Fähigkeit, rein begrifflich, ohne raum-zeitliche Zwänge zu operieren, so impliziert dennnoch jede Stufe des Denkens eine Rekonstruktion der früheren Stufe mit einem höheren Grad von begrifflicher Beweglichkeit, Allgemeinheit und umfassender Ausgewogenheit. Hallpike meint: «Kognitiv wie affektiv haben wir in unserer Gesellschaft (...) immer wieder die Neigung, auf elementarere Denkstufen zurückzufallen, wenn wir im kreativen Denken mit schwierigen Problemen ringen oder emotional an der Lösung interessiert sind». [60]

Der geistige Entwicklungsschub der «Achsenzeit» kann auf jeden Fall nicht auf rein formales Denken zurückgeführt werden. Zu offensichtlich ist die Präsenz «präoperativen» Denkens. Das epochale geistige Erwachen, das seinen Ausdruck in den religiösen und philosophischen Orientierungssystemen fand, die bis heute die Bewussstseinsbasis der abenländischen Zivilisation bilden, war somit nicht das Resultat von abstraktem, hochformalen Denken alleine.

Wir wagen somit zu behaupten: Das «höchste» Niveau unserer geistigen Problemlösungskompetenzen, das grösste Potential einer geistigen Entwicklung, scheinen wir demnach nicht in der Perfektion rein formaler Operationen zu errreichen, sondern vielmehr in der Kombination verschiedener kognitiver Stufen, eine Fähigkeit, die vermutlich in den Jahrhunderten vor Christi Geburt in breiten Bevölkerungsschichten des östlichen Mittelmeerraums ganz natürlich anzutreffen war.

Ein Denken zwischen Mythos und Logos scheint die Basis für die grössten geistigen Leistungen zu sein. Oder wie Werner formuliert: «Präoperative Denkweisen sind nicht nur als Grundlagen allen geistigen Seins ständig da, «sie sind von vitaler Bedeutung als Träger der höchsten From von Geistigkeit». [61]

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5 Bibliographie

5.1 Quellentexte

Homer: Illias, aus dem Griechischen übersetzt von Johann Heinrich Voss, Hsg. Peter von der Mühll, Zürich 1980.

Homer: Odyssee, aus dem Griechischen übersetzt von Johann Heirich Voss, Hsg. Peter von der Mühll, Zürich 1980.


5.2 Sekundärliteratur

Apel, H.: Verwandschaft, Gott und Geld, zur Organisation archaischer, ägyptischer und antiker Gesellschaft, Frankfurt 1982.

Armory, Anne Reinberg: Omens and Dreams in the Odyssey, HSCP 63, 1958.

Cauer, Paul: Grundfragen der Homerkritik, Leipzig 1909.

Dodds, E.R.: The Greeks and the Irrational, Boston 1957.

Durkheim,E.: Les fonctions mentales dans les sociétes inférieures, in: Année sociologique, 12, 33-37, 1913.

Hallpike, Ch., R.: Die Grundlagen primitiven Denkens, Stuttgart 1984.

Hey, Oskar: Der Traumglaube der Antike, München 1908.

Hundt, Joachim: Der Traumglaube bei Homer, Greifswald 1935.

Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949.

Latacz, Joachim: Homer, München, Zürich 1985.

Lévis-Strauss, C.: Das wilde Denken, Frankfurt, 1981.

Nestle, Wilhem: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940.

Piaget, J.: Die Psychologie des Kindes, Stuttgart, 1972.

Piaget, J.: Sprechen und Denken des Kindes, Neuchâtel, 1972.

Piaget, J.: Urteil und Denkprozess des Kindes, Düsseldorf 1972.

Russo, Joseph: Interview and Aftermath: Dream, Fantasy and Intuition in Odyssey 19 and 20, AJP 103.

Werner, H.: Comperative Psychology of Mental Development, New York, 1948.

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Anmerkungen:

Vorwort:

1 Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich 1949.

2 Hallpike, Christopher, Robert: Die Grundlagen primitiven Denkens, Stuttgart, 1984.

3 Hallpike, S. 448.

4 Für eine umfassende Diskussion der Problematik siehe: Hallipke, S. 59 ff.

5 Hallpike, S. 448.

6 Hallpike, S. 481.

7 Dodds, E.R.: The Greeks and the Irrational, Berkeley, Los Angeles, 1951.

8 Gerade in diesem Punkt haben sich die von Homer geschilderten Requisiten durch archäologische Funde als im einzelnen zwar authentisch, in ihrer Kombination aber als reine Phantasiekonstellationen herausgestellt.

9 Für diese naive, unreflektiverte Beschreibung geistiger Grundhaltungen, gibt es in der Literaturgeschichte bekanntlich viele Beispiele. Eines der Erstaunlichsten ist dabei sicherlich Shakespeare. Er, der als differenzierter Kenner menschlicher Motive bekannt war, war unfähig, oder nicht Willens, die geistige Haltung seiner Zeitgenossen zu transzendieren. Die Gedanken mit denen er die Griechen und Römer in seinen Tragödien aussstattete, die Interessen von denen er sie erfüllt zeigte, sind ganz und gar die der Engländer seiner Zeit.

10 Hundt, Joachim: Der Traumglaube bei Homer, Greifswald, 1935, S. 34.

11 Hey, Oskar: Der Traumglaube der Antike, München 1908, S. 11.

12 Dodds, E.R.: The Greeks and the Irrational, Berkeley, Los Angels, 1951, S. 104.

Kapitel 2.1.1:

13 Hallpike, S. 20.

14 Hallipike, S. 555 ff.

15 Hallpike, S. 20.

16 Piaget, J.: Der Strukturalismus,S. 102-114, Stuttgart 1973.

17 Hallpike, S. 17.

18 Das Konzept des «non-verbalen» Denkens setzt die Entwicklungspsychologen wie angedeutet auch in Distanz zur Psychologie Freunds. So macht Hallpike klar, dass das Nichtartikulierte nicht wie Freud annimmt, dasselbe ist wie das Unbewusste. Nichtartikuliertes muss nach Hallpike auch nicht zwangsläufig das Verdrängte sein. Wenn jemand nicht im Stande ist etwas in Worte zu kleiden, so die Auffassung Hallpikes, so kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass er versucht, dieses Etwas zu verdrängen. Die kognitive Beschäftigung kann sich sehrwohl auch non-verbal vollziehen. Viel wichtiger als der Begriff der «Verdrängung», so Hallpike, ist der Begriff des «Begrifflichen Realismus». (Siehe: Hallpike, S. 189 ff.)

Kapitel 2.1.2:

19 Zit. aus: Hallpike, S. 41.

20 Hallpike, S.56.

21 Hallpike, S. 27 ff.

22 Hallpike, S. 447.

Kapitel 2.2:

23 Hallpike, S. 481.

24 Dodds, E.R.: The Greeks and the Irrational, Berkeley, Los Angeles, 1951, S. 105.

25 Dodds, S. 104.

26 Hallpike, S. 483.

27 Zit aus: Dodds, S. 104. Dodds macht in diesem Zusammenhang auf ein Charakteristikum der kognitiven Entwicklung aufmerksam, das auch von der Entwicklungspsychologie erkannt worden ist. So betont Dodds, dass diese von Rose dargelegte theoretische Abfolge, nicht mit der historischen Entwicklung der Griechen über die Träume übereinstimmt. «Wenn man Homer betrachtet, so sieht man, dass das erste und das dritte Stadium von Rose in beiden Epen nebeneinander vorkommen, ohne dass anscheinend die Unvereinbarkeit bewusst wird, doch das zweite Stadium fehlt vollständig (und felt weiter in der bekannten griechischen Literatur bis ins 5. Jahrhundert, wo es in einem Fragment von Pindar erstmals vorkommt), (Dodds, S. 104).

28 Hallpike, S. 485.

Kapitel 3.2.1:

29 Homer: Illias, II, 6 ff.

30 Hundt, S. 44.

31 Hey, S. 10., Hundt, S. 44.

32 Dem in allen Traumschilderungen zentralen Begriff des «Oneiros» wird nicht bei allen Autoren dieselbe Bedeutung zugeordnet. Allen Deutungsversuchen gemeinsam ist zumindest die Tendenz, «Oneiros» weniger als der «Traum» im Ganzen zu verstehen, sondern damit vielmehr die im Traum auftretende Figur bezeichnet zu glauben. Wie sich in der Folge noch zeigen wird, entscheidet gerade die Art der Deutung von «Onairos» darüber, ob der Traum eher als ein «präoperativer» oder als ein «operativer» angesehen werden muss.

33 Hey, S. 11.

34 Hundt, S.44.

35 Hey, S. 11.

Kapitel 3.2.2:

36 Homer: Odyssee, IV 795 ff.

37 Die Begriffe «Eidolon» und «Oneiros» sind nur bedingt auseinander zu halten. Sowohl bei Hundt als auch bei Hey besteht keine präzise Abgrenzung der Begriffe. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass mit «Eidolon» eher die von den Göttern geschickte, einzig für den Traum erschaffene Gestalt gemeint ist. «Eidolon» mit «Traumbote» zu übersetzen wie es bei Hundt Usus ist, scheint demzufolge sinnvoll. Der «Oneiros» hingegen scheint eher eine Figur zu bezeichnen, die auch ohne einen Auftrag von höherer Stelle an die Träumenden heranzutreten pflegte. Die von Hey hervorgehobene Selbständigkeit des Nestors im Traum des Agamemnon kann somit auch als Begründung dafür dienen, dass Nestor nicht als «Eidolon», sondern als «Oneiros» bezeichnet wird.

38 Hundt, S. 68.

39 Hundt, S.68.

Kapitel 3.2.3:

40 Auf den Seeelenglauben und die Vorstellung der «Bildseele» soll hier nicht weiter eingegangen werden. Umfassend erörtert ist das Thema bei Hundt, S. 13 ff.

41 Homer: Illias, XXIII 65 ff.

42 Hey, S. 10.

Kapitel 3.2.4:

43 Hundt, S. 73.

Kapitel 3.3.1:

44 Homer: Illias, XXII, 199 ff.

45 Hundt, S. 83.

Kapitel 3.3.2:

46 Homer: Odyssee, XIX 535 ff.

47 Armory, Anne, Reinberg: Omens and Dreams in the Odyssey, HSCP 63, S. 517-519.

48 Russo, Joseph: Interview and Aftermath: Dreams, Fantasy and Intuition in Odyssey 19 and 20, AJP 103, S. 4-18.

49 Hey, S. 15. Wie Cauer nachgewiesen hat, ist das Werk Homers im Überblick gekennzeichnet, von einer zunehmenden Freizügigkeit in From und Stil, einer Entwicklung von stark typisierten und stilisierten Elementen, hin zu mehr Spontanität und einer breiteren Variation von Stoff und Form. Das Element der Traumschilderung dürfte, so lässt sich vermuten, keine Ausnahme gewesen sein. Die Annahme scheint berechtigt, dass die in der Realität verbreitete Traumvorstellung somit eher den Schilderungen der späteren Textstellen entspricht, da frühere Textstellen durch die Dominanz übernommener, fester Stilelemente, im Vergleich mit den Vorstellungen der Zuhörer eher «konservative» Vorstellungen auszudrücken pflegten. Es ist in diesem Zusammenhang hingegen durchaus wichtig darauf hinzuweisen, dass einer stilistischen Befreiung immer eine entsprechende Befreiung von überkommenen Werten vorangehen muss.

50 Dodds, S. 107.

51 Russo, S. 11.

52 Armory, S. 518.

53 Hallpike, S. 51.

Kapitel 3.3.3:

54 Homer: Odyssee, XX 87 ff.

55 Hundt, S. 91.

56 Hey, S. 14.

57 Russo, S. 13.

58 Hundt, S. 92.

Kapitel 3.3.4:

59 Homer: Odysseus, XX 92 ff.

Kapitel 4:

60 Hallpike, S, 51.

61 Werner, H.: Comparative Psychology of Mental Development, New York, 1948, S.4

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Last update: 20.09.06


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