Subsidiarität 

Definition und Konkretisierung eines gesellschaftlichen Strukturprinzips

Wernher Brucks 

September, 1997


 Inhaltsverzeichnis 

1. Einleitung

2. Das Subsidiaritätsprinzip

2.1. Definition
2.2. Die katholische Soziallehre
2.3. Thomas von Aquin
2.4. Johannes Althusius
2.5. Oswald von Nell-Breuning
2.6. Quadragesimo anno

3. Aspekte der Subsidiarität

3.1. Die positive und die negative Seite des Subsidiaritätsprinzips
3.2. Falsch verstandene Subsidiarität
3.3. Verwandte Begriffe und Anwendungsbereiche der Subsidiarität

4. Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union

4.1. Das Subsidiaritätsprinzip in Deutschland und anderen Staaten
4.2. Subsidiarität als Leitlinie zur Regionalisierung

5. Die Schweiz und das Subsidiaritätsprinzip  

5.1. Föderalismus und Subsidiarität
5.2. Die neue Bundesverfassung

6. Zusammenfassung und Diskussion  

7. Literaturverzeichnis  


1. Einleitung 

Anlass zu dieser Arbeit war ein Seminar zum Thema "Die Gemeinde als politisches System" bei Herrn Prof. H. Geser. Die Gemeinde, oder ganz allgemein formuliert "lokale Gebietskörperschaft", ist eine der untersten Ebenen im politischen Gefüge. Mit dem Begriff "lokale Gebietskörperschaft", den auch die Schweizer Verfassung kennt, werden Gemeinde-ähnliche Strukturen bezeichnet, die in jedem Land vorhanden sind, nur andere Namen tragen, wie z.B. die französischen "communes". Waschkuhn (1994) sieht etwa für Deutschland folgende Schichtung der politisch-gesellschaftlichen Ebenen vor: Individuum, Familie, Vereinigungen, Gemeinden, Kreise, Regionen, Landschaftsverbände, Bundesländer, Bund und schliesslich die Europäische Union (EU). Für die Schweiz sehen die politisch-gesellschaftlichen Ebenen wohl ähnlich aus: Individuum, Familie, Verein, Gemeinde, Kanton und Bund. In der Schweizer Verfassung wird das Gemeinwesen tatsächlich aus den drei Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden konstituiert (Bundesrat, 1996). Ganz allgemein formuliert Robert von Mohl (1962; zit. nach Lecheler, 1993, 34) eine "Stufenordnung der Lebenskreise" - die Sphären des Individuums, der Familie, des Stammes, der Gemeinde, der Gesellschaft, des Staates und schliesslich der ganzen völkerrechtlichen Staatengemeinschaft.  

Geht man nun der Frage nach, wie Verantwortlichkeiten und Kompetenzen auf die einzelnen politischen oder gesellschaftlichen Ebenen verteilt werden sollen, dann trifft man rasch auf den Begriff der Subsidiarität. Dieses Prinzip aus der katholischen Soziallehre besagt, dass ein Problem auf der Ebene gelöst werden soll, auf der es sich stellt, solange eine höhere Instanz das Problem nicht besser lösen kann. Eine genauere Definition wird noch folgen. Das Subsidiaritätsprinzip regt zur Eigenständigkeit an, aber auch zur Hilfe zur Selbsthilfe. Das Subsidiaritätsprinzip wurde von verschiedener Seite aufgegriffen, so wird es angewendet in der Wirtschaft (Külp, 1962, 57), in der kirchlichen Wohlfahrt (vgl. Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg, 1997: "Unsere Arbeit basiert auf dem Subsidiaritätsprinzip"), in der Justiz (z.B. Verfassungsrecht), im Bildungswesen (vgl. Arbeitskreis Sozialpolitik des freiwilligen Zusammenschlusses von Studentinnenschaften, 1997) und nicht zuletzt in der Politik, wo es die Verteilung von Kompetenzen zwischen Zentralregierung und Gebietskörperschaften regeln kann. Die Autonomie einer Gemeinde wird durch das Prinzip der Subsidiarität gewährleistet, auf der anderen Seite entstehen der Gemeinde aber auch Verpflichtungen, die sie den höheren Ebenen gegenüber, z.B. dem Kanton oder dem Bund, einzuhalten hat. Weil das Prinzip der Subsidiarität auf ganz verschiedene Bereiche anwendbar ist und nicht nur auf die Politik beschränkt bleibt, ist es auch für den Soziologen ein interessantes Phänomen. Geser (1994) sieht den Soziologen geradezu dazu disponiert, sich diesem Phänomen anzunehmen, da es sich beim Subsidiaritätsbegriff gar um eine "allgemeine Form der Vergesellschaftung" (Georg Simmel; zit nach Geser, ebd.) handelt, die in Wirtschaftsbetrieben, Armeen, Kirchen, Schulen, Wohlfahrtseinrichtungen und beliebigen anderen Institutionen Anwendung findet. Nach Geser (ebd.) "erscheint die Idee der Subsidiarität typischerweise in relativ komplexen, hoch organisierten Sozialordnungen, in denen man plötzlich feststellt, dass in der Vergangenheit unbemerkt sehr weitgehende Prozesse der Zentralisierung abgelaufen sind, die - weil sie Unbehagen, Unruhe oder sogar revolutionäre Stimmungen auslösen - nach einem Korrektiv verlangen".  

Die EU hat das schon alte Prinzip der Subsidiarität, das eng verknüpft ist mit der politischen Idee des Föderalismus (Kleffner-Riedel, 1993, 39), wieder zum Stoff für Gespräche gemacht, indem sie es im Vertrag von Maastricht 1991 als ein Konzept für die Zusammenarbeit von EU- Zentrale in Brüssel und den Mitgliedsstaaten verankert hat. Es sollen durch diesen sozialphilosophischen Leitsatz EU- von Staatsaufgaben getrennt werden. Den Mitgliedsstaaten wurde das Subsidiaritätsprinzip von den Ministern des Europarats auch zur Anwendung im eigenen Land empfohlen, was aber nicht bindende Vereinbarung ist, sondern eben nur eine Empfehlung. So stellt Marcou (1993) in seinem Aufsatz über die lokalpolitische Entwicklung in Europa auch fest, dass noch keine Tendenz hin zur einheitlichen Anwendung des Subsidiaritätsprinzip zu beobachten sei. Dafür nennt er drei Gründe:  

Erstens sei die Entscheidung, ob eine bestimmte Aufgabe zentral oder dezentral zu lösen sei, nicht nur abhängig von Kriterien der Subsidiarität und der Effizienz. Subsidiarität geht eigentlich immer einher mit dezentralen Strukturen und wird als effizient angesehen. Marcou meint, es sei nicht immer ganz klar, dass eine lokale Gebietskörperschaft dezentrale Strukturen bevorzuge. Diese gäben ihr zwar mehr Autonomie, würden aber auf der anderen Seite die Gleichstellung mit anderen lokalen Gebietskörperschaften nicht sicherstellen.  

Zweitens ist nach Marcou (1993) das Prinzip der Subsidiarität in manchen bestehenden politischen Systemen, wie zum Beispiel in Frankreich oder in Grossbritannien nur schwer anwendbar, was einer Verbreitung des Prinzips im Wege steht. 

Drittens stellt Marcou fest, dass dem wohlgemeinten Prinzip der Subsidiarität die Tatsache entgegensteht, dass eine politische Aufgabe eben oft nicht nur von einer einzigen politischen Instanz gelöst werden kann. Es hat sich schon des öfteren als unmöglich erwiesen, die anstehenden öffentlichen Aufgaben in saubere Pakete auf die verschiedenen Instanzen der Verantwortung zu verteilen. Alle grossen politischen Felder beinhalten mehrere Ebenen der Verantwortlichkeit.

In dieser Arbeit wird zunächst auf den Begriff "Subsidiaritätsprinzip", dessen Geschichte und einige Aspekte der Subsidiarität näher eingegangen. Dann wird erklärt, wie das Prinzip im Vertrag von Maastricht verankert ist und wie es Eingang gefunden hat in die politische Landschaft Deutschlands und anderer Länder. Der Gedanke der Subsidiarität besteht natürlich nicht erst seit dem Vertrag von Maastricht, er ist im Gegenteil schon sehr alt. Deutschland wurde nur als exemplarischer Mitgliedsstaat der EU gewählt, weil es ausgesprochen föderalistische Strukturen hat und aus diesem Grund ein Vorreiter war bei der Einführung des Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht. Es repräsentiert aber keinesfalls die anderen Länder der EU, was die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips betrifft. Wie gerade oben an drei Punkten erläutert, kann kein einheitlicher Standard in der Anwendung des Prinzips in den Mitgliedsstaaten der EU gefunden werden. Am Ende wird die Frage auftauchen, ob und wie das Prinzip der Subsidiarität in der Schweiz verwirklicht ist bzw. zu verwirklichen wäre. Die Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip bleibt damit in dieser Arbeit auf den politisch-sozialen Bereich beschränkt. Es sei erwähnt, dass der Begriff der Subsidiarität auch aus vielen anderen Perspektiven ausgeleuchtet werden könnte, u.a. auch aus der soziologischen (vgl. Geser, 1994), dass dies aber in Hinblick auf die politische Thematik des Seminars, in dessen Rahmen diese Arbeit entstanden ist, unterlassen wurde. Es geht in dieser Arbeit vor allem darum, den Begriff der Subsidiarität einzuführen und anhand seiner neusten Wiederbelebung in der EU seine politische Anwendung zu demonstrieren.  

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2. Das Subsidiaritätsprinzip  

2.1. Definition 

Waschkuhn (1994) erwähnt die Anekdote, dass der frühere Präsident der EG-Kommission, Jaques Delors, einen Preis ausgesetzt haben soll: "Wer Subsidiarität verbindlich auf einer Schreibmaschinenseite definieren könne, solle mit DM 10`000 belobigt werden und einen Beratervertrag mit einem Jahresgehalt von DM 400`000 erhalten. Tatsächlich füllt die erklärende Literatur zum Begriff der Subsidiarität ganze Bücherregale. Der Begriff der Subsidiarität soll daher hier aus seiner Entstehungsgeschichte heraus erklärt werden. Vorab eine Definition aus Meyers Grossem Universallexikon (1985), um kurz eine grobe Ahnung zu vermitteln, was mit dem Begriff der Subsidiarität gemeint ist. Dieses Grundverständnis erleichtert im folgenden alle weiteren Versuche der Erklärung des Begriffes:  

Subsidiaritätsprinzip, der kath. Sozialphilosophie entnommenes Prinzip, wonach jede gesellschaftliche und staatliche Tätigkeit ihrem Wesen nach subsidiär (unterstützend und ersatzweise eintretend) sei, die höhere staatliche oder gesellschaftliche Einheit also nur dann helfend tätig werden und Funktionen der niederen Einheiten an sich ziehen darf, wenn deren Kräfte nicht ausreichen, diese Funktionen wahrzunehmen. Von fundamentaler Bedeutung wurde das Subsidiaritätsprinzip für die katholische Sozial- und Staatslehre. Nach 1945 hat das Subsidiaritätsprinzip in der Programmatik christlicher Parteien vor allem auf dem Gebiet der Sozial- und Bildungspolitik eine wichtige Rolle gespielt, sich aber nicht als allgemeingültiges rechtliches Prinzip durchgesetzt.

Diese Definition wird im Laufe des Kapitels noch um einige Punkte bereichert und auch noch ausführlicher erklärt werden. Da die katholische Soziallehre häufig als Ursprung des Prinzips genannt wird, was nebenbei nicht unumstritten ist, wird auf sie gleich genauer eingegangen. Die Auslegung des Begriffes "subsidiär" ist vielschichtig. Die verschiedenen Vorstellungen in Bezug auf diesen Begriff werden im Kapitel 3 als die "Aspekte der Subsidiarität" vorgestellt.  

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2.2. Die katholische Soziallehre 

Eigentlich kann man das Subsidiaritätsprinzip schon auf die griechische Philosophie, sprich Aristoteles, zurückführen (Kleffner-Riedel, 1993), was den Anspruch der katholischen Kirche, dieses Prinzip sozusagen erfunden zu haben, deutlich schmälert. Sicher ist jedoch, dass mit der Enzyklika "Quadragesimo Anno" von Papst Pius XI vom 15.5.1931 (vgl. dazu Waschkuhn, 1994) das Prinzip der Subsidiarität erstmals neuzeitlich formuliert wurde. Allerdings lassen sich bereits in der Bibel, wie für so vieles, Belege für die Existenz des Gedankens der Subsidiarität in grauer Vorzeit finden. Die Bibel wird zwar in der Enzyklika nicht zitiert, aber die "eigentlich klassische Stelle" (Schneider, 1990; zit. nach Lecheler 1993) für die biblische Begründung der Subsidiarität ist im Buch Exodus 18, 18-22. Dort gibt Jetro dem Mose folgenden Rat :  

"Du reibst dich ja vollständig auf, dich selbst und das Volk, das bei dir ist; denn die Aufgabe überschreitet deine Kräfte, du kannst sie allein nicht bewältigen. Höre jetzt auf mich! Ich will dir einen Rat geben: ....Du aber suche dir aus allen Leuten tüchtige, gottesfürchtige und zuverlässige Männer aus, die der Bestechung nicht zugänglich sind, setze sie über jene als Vorsteher über je eintausend, über je einhundert, über je fünfzig und über je zehn! .... Nur alle wichtigen Sachen sollen sie vor dich bringen, alles Geringfügige aber sollen sie selbst entscheiden! Entlaste also dich selber und lass jene mit dir die Verantwortung tragen! Wenn du es so machst und auch Gott es dir so befiehlt, dann kannst du bestehen und auch dieses Volk wird befriedigt heimgehen".

Gemäss dieses Bibelzitats, in dem bereits deutlich die Schichtung der Verantwortung in einer Gesellschaft umschrieben wird, entwickelte sich innerhalb der sozialen Lehre der katholischen Kirche das Konzept der Subsidiarität, das neben dem Konzept der Solidarität zum Kern der katholischen Soziallehre gehört (vgl. Külp, 1962). Im Laufe dieser Entwicklung sind einige Namen zu nennen, bevor über das entscheidende Werk, die Enzyklika "Quadragesimo Anno", gesprochen wird (vgl. Kap. 2.6.).  

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2.3. Thomas von Aquin 

"Die sozialphilosophische Grundkategorie der Subsidiarität im Kontext der katholischen Soziallehre geht theoriengeschichtlich auf den Theologen und Philosophen Thomas von Aquin (um 1225 -1274, heiliggesprochen 1323) zurück" (Waschkuhn, 1994). Vom Subsidiaritätsprinzip im heutigen Sinne kann in den Gedanken des Thomas von Aquin allerdings noch keine Rede sein. Er stellt zwar die göttliche Ordnung "lex aeterna" dar, die Rücksicht nimmt auf die irdische Ordnung "lex naturalis", aber dem Menschen wird keine echte Autonomie zugesprochen. Er kann sich nur innerhalb der durch Gott gesetzten Zwecke entfalten. Der Staat und die Kirche, beide Vertreter der göttlichen Ordnung, haben Vorrang vor jedwelchem Einzelinteresse. In diesen Gedanken kann man als ersten Schritt hin zur Subsidiarität erkennen, dass zwei verschiedene Ebenen gegenübergestellt werden, dem Menschen gegenüber Gott zumindest zugestanden wird, dass er vernunftsbedingten Gesetzen folgt. Allerdings interveniert Staat und Kirche in einem Ausmass in das private Leben des Menschen, das den Prinzipien der Subsidiarität, wonach das Individuum wenn immer möglich seine Aufgaben selbst erledigen soll, nicht gerecht wird.  

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2.4. Johannes Althusius 

Johannes Althusius (1557-1638), der übrigens nicht aus dem katholischen Sozialmillieu, sondern Parteigänger der protestantischen Fürsten war (Richter, 1987; zit. nach Waschkuhn, 1994), leitete aus dem Naturrecht den gegliederten Aufbau der Gesellschaft ab, so wie er in der Einleitung bereits beschrieben wurde. Er trug wesentlich zur Verbreitung der Föderalismus-Idee in Deutschland bei. Nach Waschkuhn (1994) sind Föderalismus und Subsidiarität hinsichtlich politischer Organisationsformen grundsätzlich aufeinander verwiesen. "Die verschiedenen Gemeinschaftsformen (private: Ehe, Familie und Verwandtschaft, öffentliche: Gemeinden/Städte, Provinzen und Landschaften) setzen sich zum Staat als der umfassendsten politischen Lebensgemeinschaft zusammen". Althusius ist damit dem heutigen Verständnis des Prinzips der Subsidiarität schon sehr viel näher als Aquin. Er unterscheidet mehrere Ebenen des Gemeinwesens und nicht nur Gott (vertreten durch Kirche und Staat) und die Menschen. In der Zeit, als bereits erste Beispiele gegen die Herrschaftskonzentration in Staaten bestanden (z.B. die Eidgenossenschaft) hielt er fest, dass es sowohl den Staat mit seinen Vertretern, als auch Untereinheiten, wie Regionen, Städte und Gemeinden gab, die ihre jeweiligen Rechte haben sollten. Wichtig ist dabei auch, dass er betont, dass alle Ebenen von der Privaten (z.B. Familie) über die ständische (Gilden, Zünfte) bis hin zu denen des Gemeinwesens (Stadt, Kanton, Bund) sich von unten nach oben vereinigen zum universalen Gesamtverband. Althusius stellt damit im Gegensatz zu Aquin den Menschen und nicht Gott in den Mittelpunkt des politischen Interesses, wenn er einen stufenförmigen Aufbau der Gesellschaft postuliert. Dies dürfte ein wichtiger Schritt gewesen sein und die katholische Soziallehre hat sich in der Formulierung des Subsidiaritätsprinzip stark auf diese Gedanken bezogen, allerdings unter Beibehaltung der thomistischen Teleologie (Waschkuhn, 1994). 

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2.5. Oswald von Nell-Breuning 

Oswald von Nell-Breuning (1889-1991), ein deutscher Sozialwissenschaftler und Jesuitenpater, hat an der Abfassung der päpstlichen Enzyklika "Quadragesimo anno" mitgearbeitet und die massgebliche deutsche Übersetzung erledigt. Es sind viele Dokumente vorhanden, in denen Nell-Breuning seine Idee der Subsidiarität vermittelt, die genau dem entspricht, was noch heute darunter verstanden wird. Für das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Kirche habe der Volksmund eine scherzhafte Wendung gefunden: "die Kirche nicht aus dem Dorf tragen"; denn: "Was im im Dorf, in der Ortsgemeinde geleistet werden kann, das trage man nicht an das grosse öffentliche Gemeinwesen Staat heran; was im engeren Kreis der Familie erledigt werden kann, damit befasse man nicht die Öffentlichkeit, was man selbst tun kann, damit behellige man nicht andere" (Nell-Breuning, 1977). Die Formen der Hilfe nehmen gemäss des Inhalts des Subsidiartätsprinzips folgende Reihenfolge ein: Zuerst Selbsthilfe, dann Nachbarschaftshilfe und schliesslich Fernhilfe (Nell-Breuning, 1985; zit. nach Waschkuhn, 1994). Daran sieht man, dass das Prinzip der Subsidiarität nicht nur für soziale Gebilde, wie z.B. Gemeinden und Kantone, gilt, sondern auch schon für den Einzelnen, für das Individuum. "Was der einzelne aus eigener Initiative und eigener Kraft leisten kann, darf die Gesellschaft ihm nicht entziehen und an sich reissen; ebensowenig darf das, was das kleinere und engere soziale Gebilde zu leisten und zum guten Ende zu führen vermag, ihm entzogen und umfassenderen und übergeordneten Sozialgebilden vorbehalten werden." Was Nell-Breuning (1990) sehr betont, ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Die beste Gemeinschaftshilfe, sei die Hilfe zur Selbsthilfe, daher soll die Selbsthilfe so lange wie nur irgend möglich gefördert werden. Erst wenn klar wird, dass ein Individuum oder ein Sozialgebilde aus eigener Kraft, auch mit Hilfe übergeordneter Instanzen, der Aufgabe nicht Herr wird, dann sollte die Aufgabe "nach oben" gereicht, die Kompetenz also abgegeben werden. Ausserdem impliziert dieses Konzept der Hilfe zur Selbsthilfe auch, dass eine Reihenfolge gegeben ist, wie die sozialen Gebilde des Gesamtgefüges einander helfen. "Jeweils das dem hilfbedürftigen Gliede am nächsten stehende Glied der ganzen Gemeinschaft (z.B. dem Staat), dessen Mittel und Kräfte dazu ausreichen, soll Hilfe leisten" (Nell-Breuning, ebd.). Ein etwas neueres Verständnis von Subsidiarität, aber ganz im Sinne Nell-Breunings, besteht darin, dass kleinere Einheiten ihre volle Leistungskraft erst dann erreichen können, wenn die grösseren Einheiten ihre Beistandspflicht auch wirklich erfüllen. Subsidiarität wird nicht als pures Vorrang-Nachrang-Prinzip verstanden, wonach die grössere Einheit erst eingreift, wenn die kleinere Einheit mit ihrem Latein am Ende ist, im Gegenteil ist es die Pflicht der übergeordneten Einheit, alle Mittel, sowohl materieller als auch ideeller Art, zur Verfügung zu stellen, die es der untergeordneten Einheit ermöglichen, selbst mit der Aufgabe fertig zu werden (Tschoepe, 1990, 67). Wann bei dieser Definition von Subsidiarität von einem Einschreiten der höheren Einheit gesprochen werden kann, ist unklar, der Übergang zwischen Hilfe zur Selbsthilfe und der Übernahme des Problems durch die höhere Einheit ist wohl recht fliessend.  

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2.6. Quadragesimo anno 

Über Thomas von Aquin, Johannes Althusius und Pater Gustav Gundlach (vgl. Lecheler, 1993, 31), auf den die Formulierungen von "Quadragesimo anno" zurückgehen, ist in der Soziallehre der katholischen Kirche das Subsidiaritätsprinzip immer differenzierter und umfassender geworden, bis es in der "Quadragesimo anno" schliesslich so formuliert wurde, wie es noch heute Gültigkeit hat: 

"Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstösst es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja nach ihrem Wesen und Begriff subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" (QA 79; zit. nach Pfürtner & Heierle, 1980).  

"Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung , die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müssten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch nur umso freier, stärker und schlagfertiger da. Für diejenigen Aufgaben, die in ihre ausschliessliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen gewachsen ist: durch Leitung, Überwachung, Nachdruck und Zügelung, je nach Umständen und Erfordernis. Darum mögen die staatlichen Machthaber sich überzeugt halten: Je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftung innegehalten wird, umso stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft da, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt" (QA 80; zit. nach Lecheler, 1993).

Obwohl die katholische Kirche die neuzeitliche Formulierung des Subsidiaritätsprinzips für sich in Anspruch nehmen kann und auch immer auf diese wegweisende Schrift hingewiesen wird, stellt Lecheler (1993) fest, dass die Wurzeln des Prinzip aber schon viel älter sind und schon bei der Politik des Aristoteles beginnen. "Diese Wurzeln sind äusserst vielfältig: Sie sind zu finden in einer personalistischen Philosophie, im Gedankengut des Föderalismus, wie vor allem in liberalen Staatsauffassungen". Dazu beschränken sich diese Wurzeln nicht auf Deutschland, wie oft angenommen wird. Das Subsidiaritätsprinzip ist von seinem Ursprung her weder ein "katholisches Prinzip" noch ist es ein "deutsch rechtliches" Prinzip. Überhaupt mutet es schon ein wenig kontrovers an, wenn eine Organisation wie die katholische Kirche mit so strikt hierarchischer Struktur ohne Durchlässigkeit zwischen den Ebenen ein Prinzip formuliert, dass von ihr selbst kaum eingehalten werden kann. Aber Pius XII. hat die Geltung des Prinzips gerade auch für die Kirche betont. Schliesslich muss man die viel zitierte Aussage im Hinterkopf haben, wonach es sich beim so wie oben formulierten Subsidiaritätsprinzip nicht um ein definierendes Gesetz handelt, dass eindeutig interpretierbar wäre. Es ist vielmehr ein formelles Prinzip, mit dem man konkrete Fragen nur beantworten kann, wenn man es im Rahmen der Gegebenheiten auf die spezielle Problemsituation anwendet. Dieser Grundsatz wurde längst erkannt. Auch in der neuesten Wiederbelebung des Prinzips durch die EU ist beinhaltet, dass das Prinzip individuell in den Mitgliedsstaaten anwendbar sei. Eine konkrete Ausformulierung über das wo und wie gibt es nicht.

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3. Aspekte der Subsidiarität 

Über Auslegungen und Interpretationen des Subsidiaritätsprinzip wird häufig gestritten, vor allem, wenn es darum geht, dieses theoretische Konzept in die Wirklichkeit umzusetzen. Konkretisierungen des Prinzips werden später noch das Thema dieser Arbeit sein. Vorher sollten einige Aspekte der Subsidiarität noch erwähnt werden, die sicherlich nicht von allen Autoren gleichermassen wichtig genommen werden, aber eben die Vielschichtigkeit des Phänomens "Subsidiarität" zeigen: 

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3.1. Die positive und die negative Seite des Subsidiaritätsprinzips 

Das Prinzip hat eine sogenannte negative Seite, die man auch als "Funktionssperre" bezeichnen könnte, und eine positive Seite, die als "Hilfe" bezeichnet werden kann. Wie ist das zu verstehen? Die Funktionssperre (negative Seite des Prinzips) bedeutet, dass eine übergeordnete Instanz nicht einfach eine Aufgabe an sich ziehen darf, die genau so gut von einer tiefer gelegenen Instanz erledigt werden könnte. Diese Funktionssperre dient also dem Schutz der Autonomie des Individuums, das ja die unterste Ebene in der gesellschaftlichen Schichtung einnimmt, oder dem Schutz einer lokalen Gebietskörperschaft. Eine Aufgabe wird primär immer zuerst der tiefst möglichen Instanz zugewiesen. Tritt der Fall auf, dass die betreffende Instanz nicht in der Lage ist, aus welchen Gründen auch immer, die Aufgabe zu bewältigen, dann soll die höhere Instanz helfend einschreiten (positive Seite), allerdings am besten, ohne die Aufgabe gleich selber zu lösen. Ziel wäre die besagte Hilfe zur Selbsthilfe. Erst wenn längerfristig absehbar ist, dass die Aufgabe von einer Instanz mit aller Hilfe nicht zu lösen ist, wäre eine Verlagerung der Kompetenz angemessen (Kleffner-Riedel, 1993). Oswald von Nell-Breuning (zit. nach Waschkuhn, 1994) bezeichnete das Subsidiaritätsprinzip aufgrund der Existenz dieser zwei Seiten als ein "Zuständigkeits- und als solches ein Rechtsprinzip, das, richtig verstanden, die goldene Mitte einhalte. Positiv gewendet wehrt es der invidualistischen, negativ gewendet der kollektiven Einseitigkeit". 

Zusammenfassend kann man sagen, dass auch in der öffentlichen Diskussion keine Einigkeit darüber herrscht, was genau man unter dem "Subsidiaritätsprinzip" zu verstehen haben soll, besser gesagt, wie man es konkret anwenden sollte. Gerade an den beiden oben genannten Aspekten entzündet sich immer wieder die Diskussion: Während Verfechter der negativen Seite auf den Gebrauch des Wortes in der Bedeutung von "ersatzweise" hinweisen, was die höhere Ebene zu einem Notbehelf werden lässt, wollen diejenigen, die dem Prinzip auch eine positive Seite abgewinnen, den Begriff in der Enzyklika eher mit "Hilfe" übersetzen. Er hätte somit die Hilfestellung durch die obere Gemeinschaft im Auge (Schima, 1993). In der heutigen Auslegung, z.B. durch die EU, wird das Subsidiaritätsprinzip ebenfalls als zweiseitig verstanden. Die Mitgliedstaaten der EU und ihre territorialen Untergliederungen berufen sich erwartungsgemäss in erster Linie auf die negative Seite. Die Organe der EU dagegen sind daran interessiert, durch Betonung der positiven Seite eine Rechtfertigung ihres Einschreitens zu schaffen. Es scheint so, als wäre es gerade diese Zweiseitigkeit des Prinzips, die seine Stärke ausmacht, denn jede beteiligte Ebene kann sich auf ihr Recht berufen, autonom zu sein, ohne dabei vollkommen auf sich allein gestellt zu sein. 

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3.2. Falsch verstandene Subsidiarität 

Das Wort Subsidiarität kommt vom lateinischen "subsidium", das soviel wie Hilfeleistung, Unterstützung oder Förderung heisst. Es wäre aber, wie aus den bisherigen Definitionen der Subsidiarität klar geworden sein sollte, ein grosser Fehler, Subsidiarität unter diesem Aspekt zu verstehen, denn es geht beim Subsidiaritätsprinzip nicht um eine einseitige Hilfeleistung. Für Nell-Breuning (1977) wäre es, als schränke man die Staatstätigkeit mit einem solchen Gebrauch des Wortes auf die Funktion von "Ersatz" oder "Notbehelf" ein: "Mit einem solchen Grundsatz bezöge man die Position des extremen Individualismus, für den der Einzelmensch alles und die Gemeinschaft nichts oder höchstens ein lästiges Anhängsel, ein bedauerlicherweise nicht ganz zu entbehrender Notbehelf ist. Ein solcher Grundsatz hätte mit dem echten ,Subsidiaritätsprinzip‘ nur den Namen, sachlich aber nichts gemein; er wäre eine Verkehrung ins Gegenteil."  

Die Lektüre der Enzyklika "Quadragesimo anno" macht klar, dass Subsidiarität dort in keiner Weise die Bedeutung von einfacher Hilfe hat. "Deswegen hat man auch versucht, das Fremdwort ,subsidiär‘ mit ,hilfreichem Beistand‘, ,ergänzendem Beistand‘ oder ,ergänzender Hilfe‘ zu übersetzen (Lecheler, 1993). Im klassischen lateinischen Sprachgebrauch versteht man unter "Subsidium" eine Ersatztruppe in der römischen Armee, die dann unterstützend zum Einsatz kommt, wenn man unterlegen ist, also eine Art Verstärkung. Es ist wohl auch nicht ausreichend, wenn man das "Subsidiaritätsprinzip" als eine einfache Sicherstellung der Hilfe von oben sieht. Einer der wichtigsten Aspekte, die ständige Autonomie jeder Ebene des sozialen Gefüges, würde dabei vernachlässigt werden. Es soll nicht der Fall sein, dass eine Aufgabe einfach von jemand anderem gelöst wird, wenn man sich selbst nicht in der Lage dazu sieht. Als Lehrer ist es ein Grundsatz der Pädagogik, den Schüler dazu anzuhalten, aus eigener Kraft zur Lösung einer Aufgabe zu kommen, ihm so das Gefühl zu vermitteln, er habe die Aufgabe selbständig gelöst. Die Hilfe, die man als Lehrperson dabei leistet, muss sehr fein balanciert sein. Sie sollte soweit gehen, dass ein möglicher Weg aufgezeichnet wird, die Aufgabe anzupacken, den Weg selbst muss der Schüler aber allein gehen, damit er ihn auch ein nächstes Mal noch weiss. Es gehört zu den allgemeinen Weisheiten der Menschheit, dass einen nur die eigene Erfahrung weiter bringt und es auf Dauer wenig hilft, wenn andere einem die Lösung seiner Probleme abnehmen. So wie ein Individuum im Laufe seiner Entwicklung nur autonom wird, wenn es eigene Erfahrungen machen durfte, so kann zum Beispiel auch eine Gemeinde ihre Autonomie nur erreichen, wenn der Staat sie lernen lässt, damit umzugehen, wenn damit auch das Risiko verbunden ist, dass man die Gemeinde überlastet. Dann kann der Staat gemäss dem Subsidiaritätsprinzip Hilfe zur Selbsthilfe leisten, der Gemeinde also die nötigen Mittel zur Verfügung stellen, um der Aufgabe gewachsen zu sein.  

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3.3. Verwandte Begriffe und Anwendungsbereiche der Subsidiarität 

Es wäre wie gesagt ein Trugschluss zu glauben, dass das Subsidiaritätsprinzip eine Erfindung der katholischen Soziallehre sei. Die ideengeschichtlichen Hintergründe für das Subsidiaritätsprinzip sind unter anderem zu suchen bei: Aristoteles, der reformierten Föderaltheorie, der Föderalismustheorie ab Althusius und bei der Menschenrechtstheorie ab Locke. So sind mit dem Phänomen der Subsidiarität aufgrund des vielschichtigen geschichtlichen Hintergrundes andere Begriffe in der einen oder anderen Weise verwandt: 

  • a. Föderalismus (vgl. Kap. 5.1.) 

  • b. Regionalismus (vgl. Kap. 4.2.) 

  • c. Vertikale Gewaltenteilung (Schichtung der Gesellschaft, vgl. Einleitung) 

  • d. Autonomie (vgl. Kap. 3.2.)  

  • e. Dezentralisierung (vgl. Einleitung; Marcou, 1993) oder auch: Volkssouveränität, Demokratie, Bürgernähe (vgl. EU-Vertrag Kap.4), Menschenrechte, Verhältnismässigkeitsgebot (vgl. Kap. 4.1.), Übermassverbot, weniger Staat, Hilfe zur Selbsthilfe (vgl. Kap. 3.1.), Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Privatisierung, Deregulierung, usw. (Riklin, 1994).

Es wäre müssig, an dieser Stelle alle möglichen Anwendungsbereiche des Subsidiaritätsprinzips aufzuzählen. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und könnte sowieso nicht erschöpfend erfolgen. Einen kurzen Eindruck von den vielfältigen Bereichen, in denen das Subsidiaritätsprinzip zur Anwendung kommt, erhält zum Beispiel, wer im Internet in den verschiedensten Bereichen Hinweise auf eine Erwähnung des Prinzips sucht. In der Einleitung sind ein paar dieser Bereiche erwähnt, von denen auch die Literatur [WWW-Dokumente] angegeben ist. Riklin (1994) in seinem Schlusswort eines interdisziplinären Symposiums des Liechtenstein-Instituts kategorisiert die Anwendungsmöglichkeiten des Subsidiaritätsprinzips nach der "Höhe" der beteiligten Ebenen. Danach sind vier Anwendungsbereiche zu unterscheiden: 

a. Zwischen einer überstaatlichen Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten (Maastrichter Vertrag); 

b. Zwischen dem Bundesstaat und seinen Gliedstaaten bzw. - im dezentralisierten Einheitsstaat - zwischen dem Staat und seinen Untereinheiten (Föderalismus- und Regionalismustheorie); 

c. Zwischen nichtstaatlichen Gemeinschaften wie Familie, Vereine, Genossenschaften, Religionsgemeinschaften usw. und Staat (Schwerpunkt der katholischen Soziallehre); 

d. Zwischen Individuen und irgendwelchen Gemeinschaften (Menschenrechte- und Demokratietheorie).

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4. Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union (EU) 

Mit der expliziten Ausformulierung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag von Maastricht über die Europäische Union wurde der Begriff der Subsidiarität zum Schlagwort in der Europäischen Politik. Das Subsidiaritätsprinzip wurde im Vertrag über die Europäische Union verankert mit dem Ziel, Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten abzugrenzen. Kleffner-Riedel (1993) führt die Einführung des Artikel 3 b EG-V, der das Subsidiaritätsprinzip enthält, unter anderem darauf zurück, dass der Vertrag dadurch für alle Mitgliedstaaten akzeptabler geworden war. Insbesondere nach dem negativen Ausgang des dänischen Referendums am 2.6.1992 und dem knappen Ergebnis des französischen Referendums am 20.9.1992 sei die Forderung nach Subsidiarität stärker denn je geworden. Insbesondere Deutschland und seine Bundesländer trieben die Aufnahme des Artikels 3b EG-V in den Vertrag voran (vgl. Kap. 4.1.). Schon in der Präambel findet sich das Subsidiaritätsprinzip wieder: 

Der elfte Spiegelspruch der Präambel lautet: 

"Entschlossen, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen, [...]"

Diese grundsätzliche Festsetzung des Subsidiaritätsprinzips zielt schon darauf hin, den "Bürgern" der EU den Vertrag von Maastricht schmackhaft zu machen, ihnen die Angst zu nehmen, dass über ihre Köpfe hinweg zentral Dinge entschieden würden, die eigentlich in ihren Zuständigkeitsbereich fallen würden. Tatsächlich wird genau diese Garantie im entscheidenden Artikel auch gegeben: 

Art. 3b EG-V schliesslich lautet: 

I. Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig.

II. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschliessliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Massnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. 

III. Die Massnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele des Vertrags erforderliche Mass hinaus. 

In diesem Artikel sind nach Lecheler (1993) drei Prinzipien - wenn auch mit schwerwiegenden Einschränkungen - verankert, die in einem engen inhaltlichen Zusammenhang miteinander stehen, aber trotzdem auseinandergehalten werden müssen : 

Abs. 1 beinhaltet das Prinzip der begrenzten Kompetenz. Dieses Prinzip ist zuständig für eine klare Aufteilung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaft (Union). Der Union stehen danach nur Kompetenzen zu, die ihr im Vertrag von Maastricht an anderer Stelle ausdrücklich zugewiesen worden sind.  

Abs. 2 ist das eigentlich Subsidiaritätsprinzip. Es ist vertraglich beschränkt auf Bereiche, die nicht in die ausschliessliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen, wie z.B. Umwelt- und Verbraucherschutz oder die gesamte Binnenmarktgesetzgebung. 

Abs. 3 schliesslich beinhaltet den Grundsatz der Erforderlichkeit, ein Ausschnitt aus dem allgemeinen Verhältnismässigkeitsgrundsatz. Dieser Passus soll garantieren, dass die Gemeinschaft, wenn sie einschreiten sollte, nicht mehr tut, als für das zu erreichende Ziel erforderlich wäre. Auch hier werden wie in Art. 1 die im Vertrag festgehaltenen Ziele als Kriterium herangezogen, ob eine Massnahme erforderlich ist. 

Auch das Prinzip der begrenzten Kompetenz aus Art. 1 nennt als Grenzen für ein mögliches Handeln der Gemeinschaft die im Vertrag zugewiesenen Bedürfnisse und die gesetzten Ziele. Keine dieser beiden Grenzen darf überschritten werden. Innerhalb dieser Grenzen operiert Abs. 2 und schränkt die Zuständigkeitsausübung ein (Schima, 1994). Da die Erforderlichkeit einer Massnahme an den umfassenden, manchmal vagen Zielen des Vertrages gemessen wird, dürfte es nach allgemeinem Empfinden im Einzelfall schwierig sein, zu entscheiden, ob ein Einschreiten der Gemeinschaft nach dem Wortlaut des Vertrages nun gerechtfertigt ist oder nicht. Die entscheidende Frage für Lecheler (1993) lautet demnach auch: "Wer definiert, wieviel Befugnisse die zentrale Einheit (z.B. EU) haben muss, um funktionieren zu können?" Solange diese Frage nicht beantwortet sei, drohe das Subsidiaritätsprinzip vom Grundsatz der Effektivität der Gemeinschaftsgewalt aufgehoben zu werden. Aus diesem Grund überwiegen bisher - soweit dies ersichtlich sei - die zurückhaltenden Beurteilungen seines Wertes. Eine weitere Gefahr, die dem Prinzip der Subsidiarität in der EU droht, wurde schon ganz allgemein unter Kap. 2.1. angesprochen beim Versuch, Subsidiarität einheitlich zu definieren. So schwer es ist, eine allgemein anerkannte Definition des Subsidiaritätsprinzips zu liefern, so schwer fällt es verständlicherweise den Mitgliedsstaaten der EU, das Prinzip (es ist eben nicht mehr als ein Prinzip) einheitlich zu konkretisieren. Lecheler (1993) äussert seine Bedenken, dass das Prinzip in Zukunft blosses Schlagwort bleibt und sich in den unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Konkretisierungsversuchen der Mitgliedstaaten auflöst.  

Es scheint nur natürlich, dass ein Grundsatz, der sehr allgemein formuliert wird, von verschiedenen Kulturen mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt wird. Wie Marcou (1993, vgl. Einleitung) schon gesagt hat, ist es nicht einmal der Fall, dass alle Staaten der EU aufgrund ihres politischen Systems überhaupt in der Lage sind, Subsidiarität in ihrer Politik zu beachten oder einen derartigen Grundsatz gar in ihre Verfassung aufzunehmen. Das Prinzip der Subsidiarität findet schliesslich Anwendung auf verschiedenen Ebenen des sozialen Gefüges. Damit es also "gelebt" werden kann, sollte nicht nur die Beziehung zwischen supranationaler Institution (EU) und einem Mitgliedstaat subsidiären Charakter haben, sondern auch die internen Strukturen des betreffenden Landes sollten subsidiär organisiert sein (vgl. Kap. 4.1.). Die diversen Konkretisierungen des Subsidiaritätsprinzips, wenn sie denn existent sind, in den Staaten Europas, auf einen Nenner zu bringen, dürfte sich als ähnlich schwer erweisen, wie die Erreichung vieler anderer Ziele, die sich die EU gesetzt hat, wie zum Beispiel die Einführung einer einheitlichen Währung, wobei man allerdings betreffend letzteres bis heute schon einen weiteren Weg gegangen ist.  

Eine weitere Kritik am Vertrag von Maastricht, im speziellen am darin enthaltenen Subsidiaritätsprinzip, bringt Schima (1994) vor, wenn er behauptet, dass das Prinzip im Vergleich zu seiner Ausformulierung durch die katholische Soziallehre im Maastrichter Vertrag in abgeschwächter Form etabliert ist: "So scheinen die Voraussetzungen für das Tätigwerden der Europäischen Gemeinschaft etwas weniger streng, als in der Formulierung in Quadragesimo anno. Ferner soll Art. 3 b Abs. 2 (jedenfalls nach Ansicht der EG-Kommission) nur bei der Ausübung, nicht aber schon bei der Verteilung von Zuständigkeiten wirken". Dies würde bedeuten, dass der Vertrag mit seiner Regelung zu spät eingreift. Wenn nämlich die Frage der Kompetenzaufteilung durch den Paragraphen 3 b tatsächlich nicht geklärt werden kann oder soll, dann wird die Kontrolle der Ausübung der Kompetenzen hinfällig. Schima (1994) ist weiterhin der Meinung, dass man von der Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag über die Europäische Union ohnehin nicht all zu viel erwarten dürfe. Sie sei als Ergebnis eines Kompromisses sprachlich misslungen und beruhe auf keinem klaren Konzept. Vor wie nach dem Vertragsabschluss seien daher von allen Seiten die Interpretationen des Prinzips angeboten worden, die den betreffenden Interessen am besten entsprechen würden.  

Harsche Kritik an der vertraglichen Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in Maastricht übt auch Manfred Brunner (1993), ehemaliger Kabinettchef bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Es sei eben nicht diskutiert worden über das, was gewesen sei, sondern die Kompetenzen der Gemeinschaft seien einfach erweitert worden, selbst in Bereichen wie der Kultur- oder Bildungspolitik. Man habe diese Kompetenzerweiterungen unter dem Deckmantel der Subsidiarität durchgeführt, der Vertrag an sich sei aber absolut antisubsidiär. Brunner bringt noch weitere Punkte an, warum der Gedanke der Subsidiarität an sich gut wäre und für die EU ein wichtiger Gedanke, warum aber seine Realisierung einen vollkommen falschen Weg genommen hat. Sein Zitat: "Ich persönlich bin nach dem, was ich in den vier Jahren bei der EG erlebt habe, zu dem Ergebnis gekommen, dieser Subsidiaritätsartikel gehört in die Gruppe der Verschleierungsparagraphen, von ihm sind keine wirklichen Auswirkungen zu erwarten."  

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4.1. Das Subsidiaritätsprinzip in Deutschland und anderen Staaten 

So wie das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht verankert ist, gilt es nur als Richtlinie. Es ist kein verbindliches Gesetz, nach dem sich die Mitgliedstaaten zu richten hätten, sondern ein Grundsatz, der in jedem Staat nach individueller Verwirklichung sucht. Die EU hat den Grundsatz der Subsidiarität aufgegriffen, um das Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten zu regeln. Die Minister des Europarates haben allerdings die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips den Mitgliedstaaten auch im eigenen Land empfohlen (Marcou, 1993). Die Aufnahme dieses Ratschlages und dessen Realisierung sind von Staat zu Staat verschieden. Das Prinzip der Subsidiarität gibt nur den Rahmen vor, der von den Regierungen individuell mit Inhalt gefüllt werden sollte. Am Beispiel Deutschland, das bei der Einführung des Prinzips in den Vertrag von Maastricht eine Vorreiterrolle spielte und das auch geschichtlich eng verbunden mit der Subsidiarität ist, soll in groben Zügen aufgezeigt werden, in wieweit und in welchen Gebieten das Subsidiaritätsprinzip existiert. 

In Deutschland waren es vor allem die Länder, die eine Beteiligung am europäischen Einigungsprozess forderten. Sie versuchten, durch ihre Einflussnahme auf die Verhandlungen der Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion die Weichen für einen dreistufigen Aufbau einer künftigen Union zu stellen, die aus den Ebenen Union - Mitgliedstaaten - Regionen oder Länder bestehen sollte (Kleffner-Riedel, 1993). An der Spitze also die Europäische Union, dann die Staaten, die Mitglied dieser Union sind und schliesslich eine Einheit, die als Region bezeichnet wird und in Deutschland konkret durch die Länder verkörpert wird. Die Idee eines Europas der Regionen ist in der EU sehr in Mode, wobei allerdings wiederum kein Konsens darüber herrscht, wo die regionalen Grenzen verlaufen sollten (vgl. Kap. 4.2.). Was die deutschen Länder ausserdem noch forderten, war a) die Mitwirkung an EG-Entscheidungsprozessen durch die Schaffung eines Regionalausschusses (vgl. Kap. 4.2.), b) die Mitwirkung im Ministerrat, c) ein eigenes Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof (EUGH). Mit der Art und Weise wie das Subsidiaritätsprinzip schliesslich im Vertrag von Maastricht verankert wurde, sind die deutschen Länder aber gar nicht so zufrieden. Ihrer Meinung nach sollte sich die Wirkung des Prinzips nicht von oben herab (zwischen EU und Mitgliedstaaten) ausbreiten, sondern sollte beginnen auf den unteren gesellschaftlichen Ebenen der Regionen und Kommunen. Diese Sichtweise ist aus dem Verständnis des Prinzips als eine Regelung von unten nach oben durchaus vertretbar. Manche Länder gehen sogar soweit, zu fordern, das Prinzip sollte zwischen öffentlichen und privaten Sphären (zwischen Staat und Individuum) vermitteln (vgl. Arnold, 1997).  

Die rechtliche Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips, also die Frage, ob es in irgend einer Form, mehr oder weniger explizit, als Rechtsgrundsatz oder gar als Verfassungsgrundsatz im Grundgesetz eines Staates verankert ist, steckt natürlich die Bedingungen ab, unter denen eine Konkretisierung des Prinzips geschehen kann. Wie sieht es damit in Deutschland aus? Im deutschen Grundgesetz ist erst seit dem 22.12.1992 der sogenannte "Europa-Artikel" in Kraft, der die Beachtung des Subsidiaritätsprinzip explizit fordert, im deutschen Verfassungsrecht allerdings ist das Prinzip bis heute nicht verankert (Lecheler, 1993). Vorher enthielt das Grundgesetz Deutschlands aber auch schon zum einen einige partielle Subsidiaritätsregeln über das Verhältnis des einzelnen, der Familie und privater Vereinigungen zum Staat und zum anderen wurde die Geltung des Subsidiaritätsprinzips für das Verhältnis der Gemeinden und Gemeindeverbände zum Staat diskutiert (Kleffner-Riedel, 1993). Vor der Einführung des neuen Europa-Artikels im deutschen Grundgesetz konnte das Subsidiaritätsprinzip in Deutschland allein für den Einzelmenschen im Verhältnis zum organisierten Handlungsapparat allgemeine verfassungsrechtliche Geltung beanspruchen (Schmitd-Jortzig, 1982, 17), mit der expliziten Ausformulierung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz kann man wohl davon ausgehen, dass es nun zwischen allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen verfassungsrechtlich abgesichert ist.  

Der neue Europa-Artikel des deutschen Grundgesetzes (Art. 23 Abs. 1 GG) lautet:  

"Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundsatz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet."

Im einfachen Gesetztesrecht finden sich nach Kleffner-Riedel (1993) bedeutsame Subsidiaritätsgedanken im Sozialhilferecht und in einigen Gemeindeordnungen. Die Tatsache, dass Deutschland der Gedanke der Subsidiarität schon vor dem Vertrag von Maastricht nicht fremd war, ja sogar implizit in Gesetzestexten zu finden war, erklärt, warum das Prinzip in Deutschland solchen Anklang fand, wenn es auch bis anhin gerade hier viele Kritiker hat (z.B. Brunner, 1993). Im Jahresbericht der deutschen Bundesregierung von 1995 wird auf jeden Fall ausdrücklich festgehalten, dass die Bundesregierung ihre Bemühungen zur Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips fortgesetzt hat. Sie sei der Überzeugung, dass eine konsequente Beachtung des Subsidiaritätsprinzips für die Akzeptanz der EU bei den Bürgern von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist (Bundesregierung, 1995; [WWW-Dokument]). In Staaten, die eine ausgesprochen föderalistische Struktur haben (vgl. Kap. 5.1.), wie Deutschland, Oesterreich oder die Schweiz, fällt die Anwendung des Prinzips einfacher, als in anderen Staaten, wie z.B. in Frankreich oder Grossbritannien. Es gab in der EU so auch bis 1993 (vgl. Lecheler, 1993) keinen einzigen Staat, der ein Verfassungsrechts- oder auch nur ein einfachgesetzliches Prinzip der Subsidiarität mit einem entsprechend klar zu umreissenden Inhalt kannte.  

Lecheler (1993) sagt z.B. über Grossbritannien, dass dort der Gedanke der Subsidiarität in der Tradition des Einheitsstaates und des zentralisierten politischen Systems eher wesensfremd zu sein scheint. Die reservierte Haltung Grossbritanniens gegenüber der Zentralisierung der Gemeinschaft wurde von Margaret Thatcher deutlich zum Ausdruck gebracht: "But working more closely together does not require power to be centralized in Brussels or decisions to be taken by an appointed bureaucracy. [...] We have not successfully rolled back the frontiers of the state in Britain, only to see them reimposed at a European level, with a European super-state exercising a new dominance from Brussels" (zit. nach Schima, 1994). So sagt Lecheler (1993) auch über Frankreich, mit seiner Vorstellung von der "einen und unteilbaren Republik" seit der Revolution, dem zentralisierten Einheitsstaat par excellence, dass Subsidiarität als "une notion mal connue" gilt, also als kaum bekannter Begriff; Rechtsprechung und Rechtsquellen gebrauchten, wenn überhaupt, das Wort Subsidiarität eher beiläufig. Die Literatur habe diesem Prinzip bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Allerdings würde sich zumindest das Wort "Subsidiarität" in Frankreich bei Politikern und Beamten nach und nach einbürgern. 

Es scheint grundsätzlich der Fall zu sein, dass Vertreter der romanischen Länder recht wenig mit dem Prinzip anfangen können. Es ist ihnen einfach wesens- und denkfremd. Sie können zwar die Definition auswendig lernen, aber sie können es aus sich selbst heraus nicht anwenden. Brunner (1993) behauptet, es hätte gerade in den südlichen EG-Staaten Reformpolitiker gegeben, die nur deshalb für einen Beitritt in die EG waren, um auf diesem Weg ihr Land zu verbessern. Von einem italienischen Politiker, dem man das Subsidiaritätsprinzip entgegenhalte, bekomme man in etwa diese Antwort: "Du hast ein Land, in dem die Dinge im Grunde in Ordnung sind, und in dem die politischen Zusammenhänge so funktionieren, dass anzunehmen ist, dass die Fragen, die nicht gelöst sind, demnächst gelöst werden; aber ein solches Land habe ich nicht. Bei uns funktioniert das Staatswesen nicht und es gibt auch überhaupt keine realistische Hoffnung, dass es demnächst funktionieren wird. Also führt die Anwendung des Subsidiaritätsprinzip dazu, dass verhindert wird, dass mein Land auf das Niveau der Europäischen Gemeinschaft aufschliesst. Die Lösung der Probleme in die Eigenverantwortung des Landes zu weisen, ist eine rein akademische Betrachtungsweise. Denn mein Land schafft es nicht, seine Probleme in Eigenverantwortung zu bewältigen." Brunner (ebd.) nimmt Italien als Beispiel für einen Staat, für den es unmöglich erscheint, das Subsidiaritätsprinzip einfach so zu anzuwenden, weil schon die Struktur des Staates und dessen Funktionstüchtigkeit nicht gegeben sind. Wenn die Staatlichkeit so beschaffen sei, dass es zwischen der Kleingruppe Familie oder bestenfalls noch dem Clan und dem Zentralstaat keine funktionierenden Zwischenebenen gibt, wenn nur der Zentralstaat einigermassen funktioniere und die Maffia auch noch gut organisiert sei, dazwischen aber nichts richtig funktioniere, dann werde es schwierig, diesen Leuten das Subsidiaritätsprinzip nahe legen zu wollen. Es ist nach Brunner (ebd.) augenscheinlich, dass das Subsidiaritätsprinzip eine Argumentationsweise entwickelter Staaten ist. 

Man kann wohl sagen, dass in einigen Ländern zumindest Anstrengungen unternommen werden, das Subsidiaritätsprinzip auch auf gesetzlicher Ebene zu etablieren, zumindest macht dies in Deutschland, Oesterreich, der Schweiz und bedingt auch in Frankreich den Anschein. Anderen Ländern dagegen scheint das Prinzip nicht gerade in die Wiege gelegt worden zu sein. Wie Marcou (1993, vgl. Einleitung) eben völlig richtig feststellt, ist es sehr schwierig, einheitliche Tendenzen in der Verwirklichung dieses "laschen" Grundsatzes im EU-Vertrag zu finden. In einigen Staaten ist zudem besagter Grundsatz insofern schon verwirklicht, dass er implizit in vielen Gesetzen in unterschiedlichen Bereichen, wie z.B. dem Sozialrecht, schon enthalten ist, allerdings nicht gestützt auf eine klare konfessionelle Formulierung. Es stellt sich die Frage, ob dies überhaupt von Nöten wäre, ob man die Idee der Subsidiarität nicht einfach in bestehende und neue Gesetze einbauen könnte, ohne dass ein Grundsatz in der Verfassung verankert wird, der dann sowieso zu viel Spielraum für Interpretation offenlässt. Nach dem Prinzip könnte es in die Verantwortung der Länder gelegt werden, in Zukunft mehr oder weniger subsidiäre Strukturen zu realisieren. Die Tatsache, dass dies nur im Rahmen eines ausgesprochen föderalistischen Systems (vgl. Kap 5.1.) zu bewerkstelligen ist, wird es einigen Ländern sehr schwer, vielleicht unmöglich machen. 

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4.2. Subsidiarität als Leitlinie zur Regionalisierung 

Der Maastrichter Vertrag wird in Art. A Abs. 2 bezeichnet als eine "neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden". In diesem Zusammenhang ist auch immer wieder die Rede vom "Europa der Regionen", wobei allerdings der Begriff der Region nicht genau definiert ist. Es ist in etwa im Sinne von Marcou (1992), dass man sich eine Region in Europa als ein Gebiet vorstellen kann, dass in der einen oder anderen Hinsicht einen Sinn macht. Einerseits könnte eine Region eine politische Einheit sein, wie zum Beispiel ein deutsches Bundesland. Andererseits kann man sich eine Region aber auch politisch übergreifend vorstellen, verbunden durch eine geographische Gegebenheit, wie zum Beispiel die "Region Bodensee", die durch den See zu einer Einheit wird, obwohl drei verschiedene Staaten daran beteiligt sind. So wie eine geographische Gegebenheit könnte es sich auch um ein kulturell bindendes Kriterium handeln, über das eine Region definiert wird. Marcou (1992) betont sogar, dass auf lokalpolitischer Ebene die Ziehung der Gebietsgrenzen so erfolgen sollte, dass eine Einheit des Systems am Ende auf politischer, sozialer und kultureller Ebene einen Sinn macht. Dieses Anliegen würde sicherlich auch bei einer Regionalisierung Europas zu beachten sein. Lecheler (1993) gibt folgende Definition für eine Region:  

Region als eine territoriale Einheit, die den lokalen bzw. kommunalen Bereich übersteigt, aber nur Teil einer grösseren Gesamteinheit ist. Regionen sind danach auch grenzüberschreitend denkbar. 

Allgemein wird die Region bestimmt durch: 

  • geographische Gegebenheiten und / oder 

  • ethnische, sprachliche, kulturelle und religiöse Gemeinsamkeiten und / oder gemeinsame historische Vergangenheit und / oder 

  • die wirtschaftliche Struktur bzw. durch gemeinsame ökonomische und kulturelle (auch Umwelt-)Interessen  

(Lecheler, 1993, 89).

Die Regionen Europas sollten deutliche Einheiten auf der Landkarte kennzeichnen und zusammen Europa als ganzes verkörpern. Unter sich sollten sie in Freundschaft, aber auch in Konkurrenz stehen. So soll die Regionalisierung unter anderem dazu dienen, den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben. Im Vertrag von Maastricht wird nicht bestimmt, was eine Region ist, aber es wird im Art. 198 a ein beratender Ausschuss errichtet, mit Vertretern der bestehenden regionalen und lokalen Gebietskörperschaften. Dieser Ausschuss nennt sich "Ausschuss der Regionen". Um hierbei eine gewisse Systematik in der Definition der bestehenden Regionen zu erreichen wurde jeder Mitgliedstaat in drei hierarchisch gegliederte Ebenen eingeteilt. Diese Systematik wird mit der Abkürzung NUTS bezeichnet (vgl. Abb 1). Nicht in jedem Land können jeder NUTS-Ebene Gebiete zugeteilt werden, da schon der Grösse des Landes wegen unterschiedliche Gebietsaufteilungen vorgenommen wurden. Diese Aufteilung, so wird oft kritisiert, entspricht meist nicht den ökonomischen und oft auch nicht den geographischen Gegebenheiten. Sie basiert auf der landesüblichen Aufteilung und ist wohl eher geschichtlich bedingt. Nach Lecheler (1993) ist der Begriff der Europäischen Region "nach diesem Sprachgebrauch eine rein statistisch / administrative Untergliederung zur Erleichterung von Fördermassnahmen der EG-Instanzen". 

Schima (1994) sieht durch die Anwendung des Subsidiaritätsprinzip zu Gunsten der dritten Ebene (der Regionen) auch die Gefahr im Anzug, dass sich die Regionen einer Beurteilung ihrer Kapazitäten durch Brüssel aussetzen. Bei einer Schwäche der derzeitigen Ausgestaltung des Regionalismus in einigen Mitgliedstaaten könne die Gemeinschaft in so gut wie jedem Fall zu dem Schluss kommen, ihr Einschreiten sei notwendig. Ausserdem wäre eine Beurteilung der Länderkompetenzen durch die Gemeinschaft in sich schon ein eklatanter Verstoss gegen das Subsidiaritätsprinzip. Die Angst Schimas ist in sofern begründet, als dass bei subsidiären Strukturen neben der erhöhten Autonomie der unteren Ebene eben auch die Gefahr besteht, dass einer unteren Ebene ganz einfach die Kompetenz, eine Aufgabe selber zu bewältigen, abgesprochen wird. Allerdings liegt die Beweislast dafür, die Aufgabe zu übernehmen, weil die untere Ebene nicht dazu fähig sei, dann aber bei der übergeordneten Ebene. Brüssel müsste klar darlegen, warum es im konkreten Fall besser in der Lage dazu ist, eine Aufgabe zu erledigen, als die betreffende Region. Das Problem der Kompetenz-Kompetenz (wer hat die Kompetenz, Kompetenzen zu beurteilen ?) stellt sich auf allen Ebenen in einem subsidiären Gefüge. Schima (1994) bringt noch weitere Kritik an, unter anderem, dass durch den Vertrag von Maastricht mit Kompetenzverlusten auf allen Ebenen zu rechnen ist und dass dagegen auch der Ausschuss der Regionen kein wirksames Mittel sei. Es ist seiner Meinung nach Aufgabe der Nationalstaaten, auf der Grundlage innerstaatlicher Zusammenarbeit mit ihren Untergliedern, gegenüber der Gemeinschaft dafür zu sorgen, dass das Subsidiaritätsprinzip beachtet wird. 

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5. Die Schweiz und das Subsidiaritätsprinzip 

Brunner (1993) versteht vollkommen, dass die Schweiz den Vertrag von Maastricht abgelehnt hat: "Ein so selbständiges und selbstbewusstes Volk wie die Schweiz lässt sich doch einen solchen Knebelungsvertrag nicht vor die Füsse werfen". Schon bei der Formulierung des Vertrages hätten die Erfahrungen der EFTA-Staaten, z.B. in Bezug auf Subsidiarität, miteinbezogen werden müssen. Bei einer möglichen Neuauflage des Vertrages müsste dies auf jeden Fall getan werden. Es sei einfach eine Zumutung, hochentwickelten, subsidiär und föderal strukturierten Staaten, wie Oesterreich oder der Schweiz, zu sagen, sie müssten den Vertrag mit dem darin enthaltenen Verständnis der Subsidiarität übernehmen und auch alles, was die Kommission in Zukunft beschliesst, oder sie könnten nicht dabei sein. Damit wird schon angetönt, dass die Schweiz, was die Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip in der EU betrifft, durchaus einen förderlichen Beitrag leisten könnte, wenn sie denn überhaupt jemals Mitglied im Staatenbund werden sollte. Auch als Nichtmitglied, aber in Hinblick auf eine eventuelle Anwärterschaft, wäre es nach Brunner (ebd.) angebracht, die Schweiz als Paradebeispiel für einen föderalen Staat um Rat und Mithilfe zu fragen, denn gerade in einem föderal organisierten System fällt das Subsidiaritätsprinzip auf fruchtbaren Boden. Trifft das auch tatsächlich auf die Schweiz zu? 

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5.1. Föderalismus und Subsidiarität 

Der Begriff "Föderalismus" stammt vom lateinischen Wort "foedus" ab und bedeutet, dass sich kleinere politische Einheiten unter Wahrung ihrer Selbständigkeit zu grösseren politischen Einheiten zusammenschliessen. Als politisches Ordnungsprinzip zielt Föderalismus also darauf ab, Einheit mit Vielfalt zu verbinden (Weiss, 1993).  

Clemens Stewing (1992) sieht den Zusammenhang zwischen Föderalismus und Subsidiarität folgendermassen: "Subsidiarität ist damit die abstrakt-rationale Erkenntnis von der Notwendigkeit, eine Aufgabenzuweisung an die kleinste dazu fähige Einheit zu treffen. Föderalismus ist die dafür am ehesten geeignete Staatsform der konkret willensmässigen Durchsetzung dieser Erkenntnis. Insoweit bedeutet Subsidiarität die materielle Ausfüllung der Föderalismusidee. Damit gibt Subsidiarität keine Legitimation für Föderalismus, sondern beide ergänzen sich nur" (Schmitt; zit. nach Stewing, 1992, 25). 

In einer schon etwas alten, aber in Bezug auf den Föderalismus in der Schweiz unverändert aktuellen Arbeit von Dr. Hans Stadler von 1951 wird der schweizerische Föderalismus mit dem Subsidiaritätsprinzip verglichen. Dabei kommt Stadler zu folgenden Ergebnissen: Die schweizerische föderalistische Idee weist das Zusammenspiel von vier Komponenten auf, die alle in einem besonderen Verhältnis stehen zur Idee der Subsidiarität : 

a) Die Rechtfertigung des Föderalismus aus der Geschichte 

Der schweizerische Staat hat seine Wurzeln nicht in einem abstrakten Staatsideal, sondern im Reichtum der vielgegliederten Heimat. Der staatsrechtliche Föderalismus gehört eben zum wesentlichen Bestandteil dieser Heimat und ihrer Geschichte. Nach Stadler (ebd.) kann die Geschichte eine materielle Determination der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bewirken. 

b) Die bündische Idee 

Sie ist eng verbunden mit dem geschichtlich ausgerichteten Föderalismus, betont aber im Gegensatz zu ihm im besonderen die gestaltende Kraft des politischen Willens. Die von der geschichtlichen Entwicklung in Europa getrennte Behandlung der bündischen Idee erlaubt auch, ihre besondere Eigenart zu zeigen und einen neuen Vergleichspunkt zum Subsidiaritätsprinzip zu gewinnen. 

c) Die politische Motivierung 

Ein höchstes politisches Gut ist die Ruhe und Ordnung im Staate. Das "Wunder", dass in der Schweiz viele verschiedene Sprach- und Kulturgruppen friedlich zusammenleben, wird nach Stadler vielfach auf den staatsrechtlichen Föderalismus zurückgeführt. Wie bei a) und b) wird auch hier von einer bestimmten (historischen) Sachlage ausgegangen, aber es wird eine Norm darübergestellt, die das im innerstaatlichen Frieden verkörperte gemeine Wohl ist.  

d) Die staatstheoretische Begründung 

Nach Stadler eine damals in der Schweiz recht neue Sichtweise, die den Föderalismus aus philosophischer Perspektive betrachtet. Im Mittelpunkt dieser Philosophie steht die menschliche Person in ihrer gottesgeschaffenen Würde. Die Grundlage ist bewusst christlich. Der Föderalismus sichert die Freiheit vom Staate; er ist aber auch Garant der Freiheit zum Staate. Der staatsrechtliche Föderalismus besitzt die engste Berührung mit der Subsidiaritätslehre, allerdings erreicht die föderalistische Philosophie nicht die Abstraktheit des Subsidiaritätsprinzips.

In allen vier Fällen hält Stadler ausdrücklich fest, dass er nur die Möglichkeit, nicht aber das Bestehen einer Legitimierung der schweizerischen Kantone durch das Subsidiaritätsprinzip behauptet. In dieser Hinsicht ist er mit Stewing (vgl. oben) überein, dass Subsidiarität keine Legitimation für Föderalismus ist. Stadler ist nur der föderalistischen Struktur zwischen Bund und Kantonen nachgegangen, nicht aber zwischen tieferen Ebenen, wie den Gemeinden und den Kantonen. In allen vier Begründungsarten, vor allem bei a) und b), findet man die Betonung des Konkret-Willensmässigen gegenüber dem abstrakt-rationalen Gehalt des Subsidiaritätsprinzips. Das rührt nach Stadler daher, dass das föderalistische Denken eine konkrete staatsrechtliche Erscheinung zum Mittelpunkt hat. Das vielberufene Wunder der Eidgenossenschaft sei nur von ihr selbst her zu begreifen, nicht aber von einer ideologischen Leitlinie oder abstrakten Doktrin her. Da aber diese Wirklichkeit mit einer Ordnung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips verwandte Züge aufweise, sei darin auch die inhaltliche Verwandtschaft der beiden Ideen vorgegeben. Auf`s Ganze gesehen, so Stadler, bringt die föderalistische Gedankenwelt eine wertvolle Bereicherung für die Subsidiaritätslehre. Ihr Wert liegt auf dem Gebiete der Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips: Sie liefert gewissermassen sekundäre Anwendungsnormen. 

Die Erkenntnisse Stadlers bezüglich der Beziehung des schweizerischen Föderalismus und der Idee der Subsidiarität sind zeitlos und wahrscheinlich in groben Zügen auch auf andere föderalistische Staatsgebilde übertragbar. Wie seit Stadler die weitere Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips in der schweizerischen Politik war, scheint schlecht belegt zu sein. Es konnten keine Hinweise gefunden werden, dass eine ausdrückliche Auseinandersetzung auf politischer Ebene mit dem Subsidiaritätsprinzip stattgefunden hat. Schweizerische Gesetze und Verfassungsgrundsätze, die dem Sinn nach dem Subsidiaritätsprinzip entsprechen, existierten schon immer und sind wohl auf die enge Verwandtschaft zum Föderalismus zurückzuführen, aufgrund dessen besagte Grundsätze niedergeschrieben wurden. In der Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung soll das Subsidiaritätsprinzip jedoch seinen festen Platz haben.  

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5.2. Die neue Bundesverfassung 

In Erfüllung eines Bundesbeschlusses vom 3.Juni 1987 über die Totalrevision der Bundesverfassung liegt in der Botschaft des Bundesrates 96 (Bundesrat, 1996) ein Entwurf zu einer neuen Bundesverfassung vor. In diesem Vorschlag wird mehrfach, aber vor allem an einer Stelle konkret das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsgrundsatz aufgeführt. 

Der 3. Titel regelt das Verhältnis von Bund und Kantonen und die Aufgabenzuteilung zwischen diesen beiden Ebenen des Bundesstaates. Der Verfassungsentwurf macht in diesem Teil ein grundlegendes Strukturprinzip der Verfassungsordnung sichtbar: die Bundesstaatlichkeit. In der Vernehmlassung haben vor allem die Kantone gewünscht, dass in der künftigen Bundesverfassung die Eigenständigkeit der Kantone als Bausteine und Träger der schweizerischen Eidgenossenschaft zum Ausdruck kommt. Angeregt wurde unter anderem eine umfassende Wiedergabe des Grundsatzes der Subsidiarität, weil dieser eine Maxime des schweizerischen Föderalismus ist. 

Der Entwurf sieht an der entscheidenden Stelle folgendermassen aus: 

Nach Absatz 3 (des Artikel 34 [VE 96]; Anm. d. Verf.) hat der Bund bei seinem Handeln den Grundsatz der Subsidiarität zu beachten. Die Verankerung des Subsidiaritätsgedankens in der Verfassung trägt einem von der Konferenz der Kantonsregierungen sowie von vielen Kantonen im Rahmen der Vernehmlassung geäusserten Anliegen Rechnung. Beim Grundsatz der Subsidiarität handelt es sich um ein ursprünglich theologisch-gesellschaftspolitisches Prinzip, das aber zunehmend auch auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Ebenen gegliederter Staatswesen übertragen worden ist und sich inzwischen namentlich im Recht der Europäischen Union ausdrücklich niedergeschlagen hat. Dem Grundsatz der Subsidiarität im Bundesstaat liegt die Idee zugrunde, dass der Bund nicht Aufgaben an sich ziehen soll, welche die Gliedstaaten ebenso gut erfüllen können, für die es also keinen zwingenden Grund zur bundesweiten Vereinheitlichung gibt. Im schweizerischen Bundesstaat ist die von der Verfassung vorgenommene Aufgabenteilung Ausdruck dieses Gedankens. Der Verfassungsgeber hat dem Bund Aufgaben übertragen, wenn und soweit er eine Bundeslösung für erforderlich hält. Als staatspolitische Handlungsmaxime ist das Subsidiaritätsprinzip auch Richtlinie für die Ausgestaltung der Rechtsordnung durch den Bundesgesetzgeber. Namentlich in Rechtsbereichen, in denen dem Bund nur eine Rahmengesetzgebungskompetenz zukommt, wird das Subsidiaritätsprinzip einen gewissen Einfluss auf die Regelungsintensität ausüben. Das Subsidiaritätsprinzip steht dabei naturgemäss in einem Spannungsverhältnis zum Demokratieprinzip, dem nach schweizerischem Staatsverständnis grosses Gewicht beizumessen ist. Inwieweit sich aus dem Subsidiaritätsgedanken eigentliche Handlungsschranken für den Bundesgesetzgeber ableiten lassen, ist bis heute unbeantwortet.

Die geplante Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in der eidgenössischen Verfassung entspricht dem allgemeinen Verständnis des Subsidiaritätsgedankens und ist inhaltlich letztlich identisch mit dem entsprechenden Artikel im Vertrag von Maastricht. Dies bedeutet natürlich auch, dass sich neben den Stärken, wie in der EU, eben auch die Schwächen dieses für Interpretation recht offenen Konzepts zeigen werden. Echte Konkretisierungen müssen in der Formulierung von einfachen Gesetzestexten verwirklicht werden, bevor man an eine Anwendung denken kann. Es fällt auf, dass der Verfassungsvorschlag nur die Beziehung zwischen Kantonen und Bund in den Brennpunkt des Interesses stellt. Die Stellung der Gemeinden wird zwar an anderer Stelle der Verfassungsvorschlags thematisiert, ihnen werden als autonome Gebietskörperschaften gewisse Selbstverwaltungsaufgaben zugestanden, das Subsidiaritätsprinzip wird in diese Überlegungen jedoch nicht eingebracht. Es scheint fast so, als würde der Grundsatz der Subsidiarität nur auf dem Boden des Föderalismus, der sich in der Schweiz durch den Zusammenschluss der Kantone zum Bund verwirklicht, politisch gedeihen können. Das kann durchaus historische Wurzeln haben. Sinn und Zweck wäre allerdings eine subsidiäre Organisation zwischen allen politischen Ebenen, also auch zwischen den Kantonen und den Gemeinden. Ohne dieser Idee nachgegangen zu sein, könnte der Grund dafür darin liegen, dass es in der eidgenössischen Verfassung heisst, dass die Kantone aufgrund ihrer jeweiligen Verfassung das Mass der kommunalen Entscheidungsfreiheit, also die Autonomie der Gemeinde, bestimmen. Es müsste also auf kantonaler Ebene das Subsidiaritätsprinzip Eingang in die Verfassungen finden, um eine vollständig subsidiäre Organisation des politischen Gebildes Schweiz zu ermöglichen.  

Rein zufällig ist der Verfasser in einer Boulevardzeitung auf ein Inserat einer schweizerischen politischen Partei gestossen, in dem eine Formulierung gebraucht wurde, die schon auf eine gewisse gedankliche Präsenz des Subsidiaritätsprinzips in der Schweiz schliessen lässt. Die politische Ausrichtung der Partei sowie das vermittelnde Medium sind in diesem Zusammenhang von keiner Bedeutung. Es soll nur auf die Präsenz des Subsidiaritätsgedankens aufmerksam gemacht werden: 

Die SVP ist überzeugt, dass ein Staat nur dann überleben kann, wenn er den Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben überlässt [...]. Nur dort, wo der Mensch sich aus eigener Kraft nicht zu helfen vermag, hat der Staat einzugreifen (Inserat im "Blick" vom 9. September 1997).

Angesprochen wird das Verhältnis vom Staat zum Individuum, das nach Definition (vgl. Kap. 2.6.) ebenfalls subsidiären Charakter haben kann. 

Inhalt


6. Zusammenfassung und Diskussion 

Um das Subsidiaritätsprinzip verstehen zu können, ist es angebracht, seine Entstehungsgeschichte zu verfolgen. Tatsächlich ist es schon recht alt, wenn man bedenkt, dass erst die Aufklärung den Menschen als autonomes Individuum anerkannte, das in der Lage ist, die Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen. Dass ausgerechnet die katholische Kirche im Rahmen ihrer zugegeben verdienstvollen Soziallehre einen wichtigen Teil zur Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips beitrug, mutet schon paradox an, wenn man bedenkt, dass gerade diese Organisation sich nicht durch starke Dezentralisierung und hohe Transparenz auszeichnet. Noch heute steht der Papst an unangefochten hoher Stelle und kann bis in die äussersten Verzweigungen des Systems seinen Einfluss in lokalen Fragen geltend machen.  

In der heutigen Formulierung des Prinzips wird dem Individuum, sowie jeder organisierten Gruppe von Individuen, z.B. einem Verein, einer Gemeinde oder einem Kanton das Recht auf zumindest partielle Autonomie vor der zentralen Gewalt zugestanden. Es wurde bis hierhin nur im Rahmen der politischen Organisation über den Subsidiaritätsgedanken gesprochen. Ganz allgemein soziologisch-gesellschaftliche Gedanken über die Entstehung von Subsidiarität in einem System macht sich der Soziologe Hans Geser (1994): 

Ein zentral gesteuertes System ist demnach jederzeit in der Lage, die eigenen Strukturen zu dezentralisieren, was angesagt wäre, wenn daraus ein Autonomiegewinn und eine Effizienzsteigerung resultieren. Umgekehrt kann ein dezentral strukturiertes System sich eben nicht selber zentralisieren. Geser (ebd.) empfiehlt daher, dass auf die Erzeugung und Aufrechterhaltung von Organisationen mit zentralen Strukturen hingearbeitet werden müsse, weil diese alle Optionen offen hätten, inklusive der der Dezentralisierung. Ein vollkommen neues Licht auf die Verteilung von Kompetenzen in einem sozialen Gebilde wirft die Sichtweise, dass "zentralisierte Kontrolle" und "dezentralisierte Kontrolle" als zwei voneinander weitgehend unabhängige Dimensionen gesehen werden und dass der Umfang an zu verteilender Kontrolle oder Kompetenz variieren kann. Ein Arbeiter möchte vielleicht mehr Kontrolle, d.h. mehr Kompetenzen haben, aber nicht auf Kosten des Managements, dessen Autorität überhaupt nicht beschnitten werden soll. Das bedeutet, es muss die Quantität an ausübbarer Kontrolle erhöht werden. Durch den Kontrollzuwachs in der unteren Ebene wird auch die Position der zentralen Gewalt verstärkt. Geser (ebd.) räumt ein, dass es paradox klingt, dass sowohl die umfassenden, wie auch die niedrigen Systemebenen gleichzeitig eine Stärkung erleben, nennt dafür aber folgende Gründe: 

1. Autonomere Subsysteme sind leistungsfähiger und deshalb besser in der Lage, wertvolle Leistungsbeiträge für das Gesamtsystem zu erbringen. 

2. Autonomere Subsysteme sind "zufriedener" und deshalb eher bereit, die Autorität des Gesamtsystems zu akzeptieren.  

3. Durch Dezentralisierung kann man die Leistungsspitze von operativen Tätigkeiten entlasten und das Gesamtsystem kann seine Kapazitäten besser dazu nutzen, um übergreifende Systemfunktionen besser auszuüben und die Subeinheiten wirkungsvoller zu steuern.

Diese Gedanken, hier eher im wirtschaftlichen Bereich gedacht, lassen sich auch auf ein politisches System adaptieren. Es leuchtet z.B. ein, dass eine Gemeinde, wenn sie über hohe Autonomie verfügt, leistungsfähiger wird, da sie nicht ständig den bürokratischen Weg zur Zentralregierung, evt. dem Kanton gehen muss, sondern an Ort und Stelle Entscheidungen treffen kann (vgl. Punkt 1).  

Gerade Punkt 2 scheint im speziellen auch für kleine politische Einheiten, wie Gemeinden zu gelten. Wenn der eingeschworenen Gemeinschaft einer kleinen Gemeinde Autonomie gegeben wird, so wird dies mit Wohlwollen quittiert werden. Gerade in sehr kleinen politischen Einheiten kommt ein starker Gemeinschaftssinn auf, der sich auch gegen die zentrale Gewalt richten kann, wenn diese versucht, die Autonomie der kleinen Gruppe zu beschneiden.  

Im Umweltschutzbereich hat sich deutlich gezeigt, dass es angebracht ist, die Nutzung lokaler Ressourcen, wie einen See oder auch Wegrechte, auf lokaler Ebene zu steuern. Das Gesamtsystem wird dadurch entlastet und kann die Art und Weise, wie die lokalen Einheiten arbeiten, besser harmonisieren. Die Zentralregierung gibt ein Muster vor, wie man mit bestimmten Aufgaben auf lokaler Ebene umgehen sollte (vgl. Punkt 3).  

Es zeigt sich, dass der Gedanke der Subsidiarität für eine Staatengemeinschaft wie die EU von immanenter Wichtigkeit ist. Es gibt Aufgaben, die auf jeden Fall zentral angegangen werden sollten, wie zum Beispiel die Formulierung von Luftreinhaltungsverordnungen, es gibt andere Aufgaben, die ganz klar in den Zuständigkeitsbereich der autonomen Mitglieder der EU fallen. Die Schwierigkeiten, die durch die Heterogenität der europäischen Staatengemeinschaft entstehen, zeigen sich natürlich auch beim Versuch einer einheitlichen Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips. Manche Staaten der EU sollten erst einmal intern subsidiäre Strukturen aufbauen, bevor sie in ein subsidiäres Verhältnis zu einer europäischen Zentralregierung treten. Was die Schweiz betrifft, so ist sie, ohne einen möglichen EU-Beitritt diskutieren zu wollen, auf dem Weg, Vorbildfunktion in Sachen Subsidiarität zu übernehmen. Dies nicht zuletzt, weil der historisch gewachsene schweizerische Föderalismus für den politisch-philosophischen Gedanken der Subsidiarität der beste Nährboden ist. Es bleibt abzuwarten, was die Schweiz und im besonderen die EU politisch aus diesem Grundsatz herausholen. Weil das Subsidiaritätsprinzip beide Ebenen, die untere und die übergeordnete, mit Pflichten und Rechten versieht, ist es ein gerechtes Prinzip, das aber wie alle Prinzipien falsch ausgelegt werden kann. Es braucht den vernunftbegabten Menschen, der dem Prinzip in einer gegebenen Umwelt Sinn gibt. Oswald von Nell-Breuning hat gesagt: "Um gute Politik zu machen, reichen noch so gut Prinzipien allein nicht aus, auch nicht das Subsidiaritätsprinzip, aber Prinzipien können und gerade das Subsidiaritätsprinzip kann in hervorragendem Mass richtungsweisend dazu beitragen, gute Politik zu machen, eine gute politische Ordnung zu schaffen" (Nell-Breuning, 1990; zit. nach Riklin, 1994). 

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Last update: 03 Feb 15

 

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