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Sociology of Work and Organization 

 

Bibilographische Zitation:
Geser, Hans:
Die Destabilisierung der Arbeitswelt. Neue Risiken und Chancen. In: Sociology in Switzerland: Sociology of Work and Organization. Online Publikationen. Zürich 1994. http://socio.ch/arbeit/t_hgeser1.htm


 

Die Destabilisierung der Arbeitswelt:

Neue Risiken und Chancen

Prof. Dr. Hans Geser
hg@socio.ch

Zürich, 1994


Oekonomische, technologische und organisatorische Entwicklungen tragen momentan dazu bei, die privatwirtschaftliche Arbeitswelt in einen labileren Zustand (beschleunigten und unberechenbareren Wandels) überzuführen. Dadurch entstehen einerseits beunruhigende Ungewissheiten, die durch eine Intensivierung der Sozialforschung nur teilweise beseitigt werden können. Andererseits erweitern sich aber auch die Alternativenspielräume, so dass die Arbeitswelt stärker als bisher in den Zugriff gesellschaftspolitischer Gestaltung rückt.


Im Lichte oberflächlicher statistischer Befunde scheint die Arbeitswelt an Bedeutung immer mehr zu verlieren, weil sich die Erwerbsquote säkular verringert, die Wochen- und Jahresarbeitszeiten abnehmen und die subjektive Identifikation mit traditionellen Arbeitswerten sinkt.

Andererseits aber erweist sich die Arbeitswelt heute als der eigentliche Kernbereich der Gesellschaft, der - direkt oder indirekt - praktisch alle individuellen Lebensbereiche und institutionellen Handlungsfelder bestimmt.

Daraus entsteht die Paradoxie, dass sie zunehmend als Fundament für anspruchsvolle Stabilitätserwartungen, Planungen und Institutionalisierungen in Anspruch genommen wird, obwohl sie andauernd vielfältigen Wandlungen unterliegt, die sich in jüngster Zeit in auffälliger Weise beschleunigt haben.

Auf der individuellen Ebene stellt man beispielsweise fest, dass immer mehr Erwerbstätige

a) sich durch aufwendige und zeitraubende Ausbildungsprozesse irreversibel und lebenslang an spezifische professionelle Berufe (Medizin, Jurisprudenz, Architektur usw. ) binden;

b) aufgrund wachsender sozialer Ortsbindungen weniger als z.B. noch vor 30 Jahren bereit sind, aus beruflichen Gründen ihre Wohngemeinde (oder gar ihr Geburtsland) zu verlassen;

c) sich an Entlöhnungssysteme gewöhnt haben, in denen nicht so sehr flexible Markt- und Leistungskriterien, sondern starre, berechenbare Zuteilungsregeln (nach Qualifikationsstufen, Dienstalter, "Teuerung" usw.) dominieren.

Wie kaum je zuvor in der Geschichte haben heute breiteste Bevölkerungsschichten ihre Lebensführung auf stabile berufliche Einkommenserwartungen gegründet, weil sie einerseits monatlich hohe Fixkosten (Miete, Krankenkasse u.a.) bezahlen müssen, und andererseits weniger als beispielsweise noch in der Krise der 30er Jahre darauf zählen können, im Schutze einer solidarischen Familiengemeinschaft oder auf subsistenzwirtschaftlicher Basis ein berufsunabhängiges Auskommen zu finden.

Analog dazu haben wir mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats ein in gefährlich hohem Ausmass auf die Arbeitswelt, abgestütztes Institutionengefüge errichtet: z.B. eine fast ausschliesslich über Lohnprozente finanzierte Sozialversicherung, ein Scheidungsrecht, das berufliche Einkommenschancen für alleinstehende Frauen impliziert, sowie ein Verkehrs- und Raumplanungssystem, das auf spezifischen Prämissen hinsichtlich der räumlichen Verteilung von Betriebsstätten und Arbeitsplätzen, basiert.

Rigide Anspruchshaltungen und Institutionalisierungen dieser Art machen verständlich, warum die momentan erkennbaren, in täglichen Zeitungsmeldungen dokumentierten, Wandlungstendenzen in der Arbeitswelt verbreitetes Unbehagen wecken. Es handelt sich dabei um zwar rezessionsbedingt beschleunigte, im Kern aber irreversible Entwicklungen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, die Arbeitswelt in einen Zustand generell erhöhter Fluidität und unberechenbarer Wandelbarkeit zu versetzen.

1) Aufgrund jüngster Liberalisierungen in der internationalen Wirtschaft (Binnenmarkt, Oeffnung Osteuropas, WTO-Abkommen) ist es heute viel wahrscheinlicher als noch vor wenigen Jahren, dass in nächster Zeit in massivem Umfang Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden und die Schweizer Wirtschaft genötigt sein wird, ihre Funktionsrolle in der internationalen Arbeitsteilung neu (d.h. spezialisierter als bisher) zu definieren.

Gleichzeitig aber ist die Antizipierbarkeit solcher Entwicklungen ausserordentlich gering, weil sie einerseits vom Verhalten anderer Staaten, und andererseits - wie die von N. Hayek veranstaltete Revitalisierung der Schweizer Uhrenindustrie illustriert - von zufälligen personellen Gegebenheiten beeinflusst werden.

2) Die Welt der Unternehmen ist durch gigantische Take Overs, Fusionen und neue synergische Allianzen in derart fluiden Zustand geraten, dass selbst grösste und zu nationalen Institutionen avancierte Firmen (wie z.B. die Swissair) nur noch höchst ungewisse Ueberlebens- und Entwicklungschancen besitzen.

Auch hier sind es äusserst fluide und unvorhersehbare Prozesse (z. B. Verläufe von Fusionsverhandlungen), die über die Kontinuierung oder Aufhebung vieler Tausender Arbeitsplätze entscheiden.

3) Auf betrieblicher Ebene entstehen die Instabilitäten dadurch, dass den Unternehmern heute eine Vielzahl alternativer Organisationskonzepte zur Verfügung stehen, bei deren Auswahl oft nicht zwingende ökonomische Motive, sondern momentan beliebte "Management-Philosophien"  den Ausschlag geben.

Das Konzept des "lean management" beispielsweise impliziert drastische Personalreduktionen vor allem auf den mittleren Kaderebenen und in den Stabsabteilungen der Headquarters, wo bisher viele "geschützte Nischen" für eher professionell als kommerziell orientierte Akademiker zur Verfügung standen.

Im Falle der Schweiz hat beispielsweise die innerhalb weniger Monate vollzogene Restrukturierung der ABB in 5'000 Profit Centers, die von der Aufhebung von über 3'000 zentralen Stabsstellen begleitet war, weltweit grosse Beachtung gefunden.

Falls derartige Beispiele Schule machen, wird die Privatwirtschaft auf Kaderebene bald nur noch Erwerbstätigen jüngeren Alters Chancen bieten, die bereit sind, Linienverantwortung zu tragen und sich den rauen Wind der Marktkonkurrenz um die Nase wehen zu lassen. (Alle anderen dürften sich zunehmend auf den öffentlichen Arbeitsmarkt verwiesen sehen, der sich gegenüber der Privatwirtschaft immer schärfer als "Stabilitätsinsel" profiliert).

4) Die Verbreitung von Computern und computergestützten Fertigungstechnologien (z.B. CNC-Maschinen) hat zur Folge, dass auch die kleinen und kleinsten Betriebe - wie sie für unsere heimische Wirtschaft traditionell typisch sind - einem raschen und dramatischen Wandel ihrer Betriebsabläufe und beruflichen Rollenstrukturen unterliegen. Mit dem Eindringen dieser Technologien in den Dienstleistungsbereich werden zudem auch Branchen mit bisher eher traditioneller Produktionsweise (z.B. Handel, Banken und Versicherungen) von noch nicht absehbaren Wellen der Arbeitsrationalisierung erfasst.

Im Vergleich zur klassischen Maschinentechnologie ist der Einfluss des Computers auf die Arbeitswelt sehr viel schwerer abzuschätzen, weil die Informatisierung wahlweise dazu benutzt werden kann, arbeitsteilige Spezialisierung zu erhöhen oder zu verringern, Hierarchien zu verfestigen oder abzuschwächen, bestehende Aufgaben zu rationalisieren oder völlig neue Aufgaben zu erschliessen.

Ebenso ist bisher völlig offen, in welchem Umfang die neuen Möglichkeiten raumindifferenter Kooperation (im Rahmen von Telearbeit, Satellitenbüros, Video-Konferenzen usw.) Verwendung finden.

In den nächsten 30 Jahren werden infrastrukturelle Grossinnovationen im Bereich des Informationstransports (Glasfaserverkabelung) und des Energietransports (Hochtemperatur-Supraleitung) für die Arbeitswelt in jeder Hinsicht völlig neue Rahmenbedingungen schaffen, deren Auswirkungen aber heute selbst mit der Phantasie eines Science Fiction Autoren kaum antizipierbar sind.

5) Schliesslich hat die aktuelle Rezession offensichtlich als Katalysator für die Durchsetzung verschiedener Massnahmen der Deregulierung und Flexibilisierung gewirkt, die es den Arbeitgebern erlauben, Anstellungsbedingungen, Arbeitszeitregelungen und Entlöhnungen variabler (d.h. leistungs- und marktabhängiger) zu gestalten.

Auch die neuen kollektivvertraglichen Regelungen (z.B. der deutschen Metallarbeiterschaft) gehen dahin, den Erwerbstätigen (im Interesse der Arbeitsplatzerhaltung) mehr Ungewissheit über ihre künftigen Einkommen, zeitlichen Beanspruchungen und Arbeitsinhalte zuzumuten.

An die Stelle der traditionellen 100%-Lebensstelle mag zukünftig die "portionierte Arbeit" treten, bei der sich die Erwerbstätigen mit einer dauernd wechselnden Konfiguration von Teilzeitstellen materiell über Wasser halten - oder auch eine unkontrollierte Expansion der "Schattenarbeit", die sich der administrativen Erfassung entzieht.

Jedenfalls sind die formellen Rahmenbedingungen für variablere Arbeitsgestaltungen gelegt, die sowohl mit den partikulären Bedürfnissen verschiedener Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wie auch mit den Wandlungen der Wertekultur oder der privaten Lebensführung in besserer Übereinstimmung gehalten werden können.

Es ist verständlich, dass die Labilisierung der Arbeitswelt vorderhand vor allem unter negativen Vorzeichen ins Bewusstsein tritt, weil sie mit den habitualisierten Stabilitätserwartungen (auf individueller und institutioneller Ebene) kollidiert, die Möglichkeiten für rationale Handlungsplanungen (z.B. von Ausbildungsgängen) verringert, erhöhte Lern- und Anpassungsbereitschaften fordert und die Ausbildung neuer - für bisher Privilegierte schmerzhafte - Formen der Risikoumverteilung erzwingt.

Erst nach und nach dürften in positiver Sichtweise auch die immensen Gewinne an Gestaltungsmöglichkeiten deutlich werden, die beispielsweise daraus entstehen, dass eine liberalisierte Weltwirtschaft mehr Alternativen branchenmässiger Spezialisierung eröffnet und die Informatik mehr Freiheitsgrade in der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse erschliesst.

Mit vielen dieser Optionen sind derart fundamentale gesellschaftliche Auswirkungen verbunden, dass sie nicht den Unternehmern - denen sie primär zuwachsen - überlassen werden, sondern in einem breiten öffentlich-politischen Rahmen diskutiert und entschieden werden sollten.

Den Sozialwissenschaften fällt in dieser neuen Situation die doppelte - über die bisherige empirische Forschung weit hinausreichende - Aufgabe zu

1) im Sinne einer prospektiv orientierten Dauerüberwachung die Öffentlichkeit regelmässig und in kurzen Zeitabständen über in Gang befindliche sowie von den Unternehmen beabsichtigte Wandlungen der Arbeitswelt zu informieren;
2) im Blick auf die gesellschaftspolitische Steuerung dieser Entwicklungen auf der Basis der neuentstandenen Handlungsspielräume alternative Entwicklungsszenarien zu konzipieren und die Realisierungs- und Akzeptanzchancen möglicher Neuerungen (z.B. Telearbeit, "Job-Sharing", Bildungsurlaub usw.) zu überprüfen.

Erheblich stärker als bisher wird es zukünftig von der Verfügbarkeit wissenschaftlich erarbeiteter Erkenntnisse abhängen, ob die Teilnehmer am Arbeitsmarkt hinreichend informiert sind, um sich rational und zukunftsorientiert zu verhalten, und ob Verbände und politische Instanzen in die Lage versetzt werden, anstatt rein reaktiv auch präventiv und aktiv-mitgestaltend tätig zu werden.

Keine Forschung vermag allerdings jene beunruhigenden objektiven Ungewissheiten zu beseitigen, durch die sich die neue Arbeitswelt (ganz ähnlich wie die neue internationale Staatenwelt nach dem Kalten Krieg) dem Zugriff längerfristigen Prognosen und Planungen immer mehr entzieht.

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Last update: 02 Feb. 15

 

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Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
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hg@socio.ch