Die Schweiz als Schnittfeld pluraler Unternehmens- und Betriebskulturen

Prof. Hans Geser

(Oktober 2005)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung und Fragestellung

2 Methodologie des Projekts und empirische Daten

3 Empirische Ergebnisse

3.1 Wachstumsdynamik
3.2
Beziehungen zur Marktumwelt
3.3
Divergenzen auf der Ebene personeller Qualifikation
3.4
Divergenzen auf der Ebene der formalen Organisation
3.5
Divergenzen auf technologischer Ebene

4 Schlussfolgerungen

Literatur


1 Einleitung und Fragestellung

Mit dem zählebigen Begriff der "Industriegesellschaft" ist - ähnlich wie mit Max Webers Konzept der "bürokratischen Herrschaft" die Vorstellung verbunden, dass wissenschaftlich-technische und administrative Sachzwänge in allen Gegenwartsgesellschaften zu praktisch identischen mesosozialen Kooperationsformen und Organisationsstrukturen führen, die ihrerseits dann zu weitgehenden Angleichungen auf Makroebene (z. B. im gesamtwirtschaftlichen und politischen System oder in der gesellschaftlichen Wertekultur) Anlass geben würden.

Seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben aber vielfältige komparative Forschungen gezeigt, dass es selbst im harten Kern grosser industrieller Produktionsanlagen Gestaltungsfreiräume gibt, in denen nationale oder regionale Kulturunterschiede wie auch die Präferenzen ökonomischer Eliten und Einzelunternehmer zum Ausdruck kommen können (vgl. z. B. Jürgens 1993; Heidenreich 1994, etc.). In ihrer frühen Vergleichsstudie haben Maurice et. al. beispielsweise gezeigt, dass in den grösseren Privatunternehmen Frankreichs, Deutschlands und Grossbritanniens divergierende Muster organisatorischer Differenzierung und Integration wie auch unterschiedliche Formen individueller Qualifizierung, Rekrutierung und Promotion vorherrschen, in denen sich die historisch gewachsenen makroinstitutionellen und kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Nationen widerspiegeln (Maurice/Sorge/Warner 1980). A fortiori sind lokale Traditions- und Kultureinflüsse in den vielen kleinbetrieblichen Firmennetzwerken spürbar, die als "Industrial Districts" in der internationalen Arbeitsteilung über lange Zeit hochspezialisierte Produktionsnischen besetzen (vgl. z. B. Piore & Sabel 1984; Becattini 1990; Bellandi 1989; Brusco 1990). Fundamentale Divergenzen bestehen vor allem auf der Ebene der betrieblichen Administrationsstrukturen und Managementstile, wo im Gegensatz zum technisch-operativen Bereich funktionale Sachzwänge zuwenig wirksam sind, um dem Überleben vormoderner Herrschafts- und Umgangsformen und dem Eindringen lokaler Kultur Widerstand entgegenzusetzen (vgl. z. B. D’Iribarne 1989; Hofstede 1984).

Mit dem Voranschreiten der Tertiarisierung schrumpfen die Produktionsbereiche, in denen Maschinen und technische Anlagen in deterministischer Weise ganz bestimmte individuelle Qualifikationsformen und Arbeitsabläufe sowie eindeutig festgelegte organisatorische Kooperations- und Kontrollstrukturen erzwingen. Statt dessen treten dienstleistende Tätigkeiten den Vordergrund, die sich im Interaktionsfeld zwischen Leistungserbringern und Leistungsempfängern konstituieren und dadurch vielfältigen sozio-kulturellen Prägungen unterliegen. Ebenso werden durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zusätzliche Freiräume der Arbeits- und Organisationsgestaltung erschlossen, indem die Kooperationsbeziehungen beispielsweise von raum-zeitlichen Restriktionen unabhängiger werden. Schliesslich kann ausgerechnet die Globalisierung, der so häufig eine homogenisierende Wirkung zugeschrieben wird, derartige kulturelle Divergenzprozesse katalysieren, weil sie alle lokalen und regionalen Wirtschaftssysteme dazu nötigt, sich noch stringenter auf bisher auf ihre angestammten traditionellen Qualifikationen und Produktionskapazitäten (z. B. ihr weltweit reputiertes Gastronomie- oder Kunstgewerbe) zu spezialisieren.

So stark solche Anpassungsprozesse die Integration in die globale Arbeitsteilung befördern können, so sehr können sie in geographischen Räumen desintegrative Folgewirkungen entfalten, die bisher noch kaum empirisch untersucht worden sind. So können innerhalb einer nationalen Volkswirtschaft wachsende Spannungen auftreten, weil sich ihre Subregionen wirtschaftlich in unterschiedliche Richtungen entwickeln (bzw. bei ihrem Versuch,  Anschluss an die moderne Weltwirtschaft zu finden, höchst unterschiedlich erfolgreich sind). Und noch viel stärker dürften transnationale "Harmonisierungen" (z. B. im Rahmen der EU) heute auf die Schranke stossen, dass die nationalen Wirtschaftsakteure z. B. in ihren Ansichten über Agrarsubventionen, Corporate Governance oder Berufsbildungspolitik zunehmend voneinander divergieren.

Vor allem wird es für ein Land immer mehr darauf ankommen, ob es zu den "monokulturellen" Nationen (wie z. B. Japan, Portugal oder Finnland) gehört, in denen auch zukünftig die Basis für eine einheitliche Wirtschafts- und Unternehmenskultur besteht, oder zu den "multikulturellen" Staaten (wie z. B. Russland oder die Schweiz), in denen verschiedene regionale Kulturen nebeneinander koexistieren.

Die Schweiz ist aus zwei Gründen ein interessanter Fall, weil sie

1.     aufgrund ihrer föderalistischen Binnenstruktur aus mehreren relativ stark voneinander segregierten regionalen Wirtschaftsräumen besteht;

2.     infolge ihrer besonderen geostrategischen und weltwirtschaftlichen Position zu einem Standort zahlreicher ausländischer Firmen geworden ist, die mindestens teilweise auch eine aus dem Herkunftsland importierte Unternehmenskultur entfalten.

Was die kulturelle Binnendifferenzierung betrifft, so müssen in erster Linie die drei Sprachregionen als relativ eigenständige Wirtschaftsräume betrachtet werden, die - abgesehen von ihrer geographischen Separiertheit - auch historisch eine unterschiedliche ökonomische Entwicklung vollzogen haben und sich in ihrer internationalen Orientierung stark auf das jeweils gleichsprachige Nachbarland (Deutschland, Frankreich und Italien) beziehen.

In einer früheren Untersuchung des Autors (vgl. Geser 2003) sind vor allem einige Unterschiede zwischen den deutschsprachigen und den französischen Landesteilen herausgearbeitet worden.

Die Wirtschaft der deutschen Schweiz nimmt seit der Gründung des Bundesstaats (1848) eine dominierende Stellung ein, die z. B. auch zur Folge hatte, dass sie bis heute grosse Teile der West- und Südschweizer Wirtschaft kontrolliert. Diese Erfolg basiert auf einer ausgeprägt wirtschaftsbezogenen, von hoher Arbeitsethik geprägten Wertekultur und führte zu einer stark exportorientierten, von kleineren und mittleren Betrieben beherrschten Unternehmenslandschaft, die sich im internationalen Umfeld bisher relativ gut behaupten konnte. So partizipieren Deutschschweizer Firmen intensiver am Qualitätswettbewerb und implementieren ein breiteres Spektrum von strategischen Massnahmen und internen Reorganisationsmassnahmen mit dem Zweck, sich an die veränderten Umweltbedingungen einer sich globalisierenden Wirtschaft zu adaptieren. Im Sinne moderner "lean Management" Konzepte werden Massnahmen der Flexibilisierung eingeführt, so dass sich Schwerpunkt des Qualifikationsprofils auf informellere Sozialkompetenzen und Fähigkeiten autonomer Selbststeuerung verschiebt. All diese Prozesse vollziehen sich im Rahmen eines traditionellen Systems der Berufsausbildung, das (im Sinne des hergebrachten "dualen Systems“) auf einer engen Koppelung der Ausbildungsprozesse mit der innerbetrieblichen Arbeitswelt insistiert, der Allgemeinbildung wenig Gewicht einräumt, mit einem geringen Bestand an akademisch gebildeten Mitarbeitern auskommt und auf zunehmende Qualifikationsbedürfnisse in erster Linie mit einer Expansion der praxisorientierten beruflichen Weiterbildung reagiert (Geser 2003).

Demgegenüber überwiegt bei den Firmen des französischen Sprachraums eine traditionellere, stärker an bürokratischen Prinzipien und formaler Ausbildung orientierte Struktur, die durch Tendenzen voranschreitender Rollenspezialisierung, ein hohes Gewicht auf Konformitätsnormen und einer geringen Bedeutung beruflicher Weiterbildungsmassnahmen gekennzeichnet sind. Unabhängig von funktionalen Organisations- und Arbeitserfordernissen werden bevorzugt Bewerber mit höheren allgemeinen Bildungsabschlüssen rekrutiert, während ausserberuflichen Erfahrungen und praxisbezogenen Weiterbildungsmassnahmen wenig Gewicht beigemessen wird (Geser 2003). Die Vermutung, dass es sich hier um zum Aussterben verurteilte historische Residuen handeln könnte, wird dadurch widerlegt, dass manche Unterschiede ausgerechnet bei jüngeren und grösseren Unternehmen sowie bei den Dienstleistungsfirmen expandierender Branchen am deutlichsten in Erscheinung treten (Geser 2003). Dennoch zeigt die Westschweizer Wirtschaft seit einigen Jahren Zeichen deutlicher Dynamisierung, die z. B. im Zuzug potenter ausländischer Firmen und im Wachsen erfolgreicher High-Tech-Unternehmungen (z. B. im Elektronik-, Medizinal-, und Chemiebereich) ihren Ausdruck findet (Pilet 1996).

Die Südschweiz schliesslich hat eine besonders isolierte und historisch verspätete Wirtschaftsentwicklung vollzogen: bedingt durch die periphere Lage des Kantons Tessin, dessen ökonomische Integration bis heute im Norden durch die Alpenmassiv und im Süden durch die italienische Zollgrenze beeinträchtigt wird. Während sich ab Mitte des 20. Jh. ein relativ starker, durch das Tourismus- und Finanzgewerbe dominierter Dienstleistungssektor entwickelt hat, ist der industrielle Sektor bis heute durch technologisch relativ wenig entwickelte und wenig innovationsfreudige Unternehmungen geprägt, die entsprechend krisenanfällig sind, viel ungelerntes Personal beschäftigen und im Landesvergleich die niedrigsten Löhne zahlen. Die Verfügbarkeit von billigen Arbeitskräften aus dem benachbarten lombardischen Ausland hat sich dabei als besondere Rationalisierungsbremse erwiesen. Dementsprechend haben konjunkturelle Schwankungen und strukturelle Wandlungen zu stärkeren Krisen als in den übrigen Landesteilen geführt, und die Arbeitslosenquoten sind seit den 1980er-Jahren überdurchschnittlich hoch.

All diese subnationalen Oekonomien müssen sich in einem lokalen Umfeld behaupten, in denen zunehmend auch Firmen in ausländischem Besitz als bedeutsame Akteure figurieren. Vieles spricht gegen die Vermutung, dass diese letzterenb einem einheitlichen vierten Typus zugeordnet werden können. Denn erstens befinden sich ihre Besitzer in unterschiedlichsten Herkunftsländern, in denen wiederum verschiedene Unternehmenskulturen vorherrschend sind; zweitens unterscheiden sie sich danach, ob sie von einem in die Schweiz eingewanderten Ausländer gegründet, von einer ausländischen Muttergesellschaft (z. B. als Filiale) geschaffen oder als ursprünglich schweizerische Firmen von ausländischen Investoren aufgekauft worden sind, und drittens differieren sie stark im Umfang, in dem sie auch einen ausländischen Mitarbeiterstab besitzen und von Managern ausländischer Provenienz geleitet werden. Dementsprechend divergieren sie auch im Ausmass, in dem sie sich an die heimische Unternehmenskultur assimiliert haben, bzw. inselhaft eine davon abweichende Kultur aufrechterhalten. Andererseits sind aber vielleicht in dem Sinne homogen, dass sie im Vergleich zu autochthonen Schweizer Firmen von überdurchschnittlich expansiven und im internationalen Raum anpassungsfähigen Unternehmern geleitet sind und im Durchschnitt wohl besonders erfolgreiche Teilbereiche ihrer jeweiligen Herkunftsökonomien repräsentieren.

In der nachfolgenden empirischen Analyse wird untersucht, wie sich Unternehmungen verschiedener Schweizer Sprachregionen untereinander sowie von in der Schweiz lokalisierten Firmen ausländischer Provenienz in verschiedenen Aspekten ihrer Umweltsituation, Aktivitäten und Binnenorganisation voneinander unterscheiden. Dabei werden die folgenden Leithypothesen unterstellt:

1) Die vier Unternehmenstypen zeigen unterschiedliche Muster wirtschaftlicher Dynamik, Kompetitivität und Innovativität: wobei die ausländischen und deutschschweizerischen Firmen gegenüber den romanischen Landesteilen eine gewisse Führungsstellung haben.

2) Diese Unterschiede externer Dynamik sind mit innerbetrieblichen Divergenzen auf

a) personeller Ebene (z. B. im Qualifikationsniveau der Belegschaft)
b) organisatorischer Ebene (z.B. im Einsatz neuer Organisationsmodelle der "lean production")
c) technologischer Ebene (z. B. in der Verwendung von IuK-Technologien) verknüpft.

3) Im Industriebereich, wo die Arbeitsprozesse durch sachfunktional-technische Faktoren determiniert werden, können sich solch kulturelle Unterschiede weniger gut entfalten als im Dienstleistungssektor, wo die Tätigkeiten einerseits weniger technologisch determiniert sind, andererseits aber stärkeren Prägungen durch die Mentalitäten und Bedürfnisse der jeweils in sie involvierten Mitarbeiter und Kunden unterliegen.

4) Die ausgeprägtesten interkulturellen Unterschiede finden sich in den Klein- und Mittelbetriebe, weil diese meist autochthon entstanden sind und deshalb einer besonders starken Prägung durch ihren partikularen lokalen Kontext (z. B. durch von ihren Mitarbeitern importierten Werte, Interaktionsformen, Führungsstile u.a.) unterliegen. Grössere Unternehmen divergieren weniger stark, insofern sie einerseits ihrer lokalen Umwelt autonomer gegenüberstehen und andererseits eher relativ universelle Formen betrieblicher Organisation übernehmen, die im nationalen und internationalen Raum Geltung haben.

Inhalt

2 Methodologie des Projekts und empirische Daten

Die nachfolgend präsentierten empirischen Ergebnisse stammen aus drei schriftlichen Befragungen von privaten Unternehmungen der gesamten Schweiz, die 1996, 1998 und 2000 von der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich durchgeführt worden und den Mitarbeitern am Soziologischen Institut der Universität Zürich für Analysen zur Verfügung gestellt worden sind.

Während die erste Umfrage (die in der vorliegenden Studie nur marginal benutzt wird), Aspekte des Marktumfeldes sowie innovative Firmenaktivitäten ins Zentrum gestellt hat, hat sich der zweite Survey (dem eine inzwischen stark modifizierte Stichprobe zugrunde lag) auf organisationsinterne Merkmale und Entwicklungen konzentriert: Das Hauptziel des an die Personalverantwortlichen der Firma gerichteten schriftlichen Fragebogens bestand darin, Basisinformationen über die Qualifikationsstruktur der Belegschaft und die Qualifikationsanforderungen an Mitarbeiter und Führungskräfte; über Aktivitäten im Bereich beruflicher Grund- und Weiterbildung zu erhalten, sowie auch über neuere Wandlungen auf der Ebene strategischer Aktivitäten und jüngste Massnahmen der Reorganisation. Die Stichprobe beruhte auf einer Auswahl von 7170 Firmen mit fünf oder mehr Mitarbeitern (auf der Basis der Betriebszählung 1995), die darauf ausgerichtet war, verschiedene Betriebsgrössenklassen von 28 Branchen adäquat zu repräsentieren. Die Ausschöpfungsquote betrug 30% (2132 Fälle). Die dritte Umfrage (vom Herbst 2000) wurde mit dem Ziel durchgeführt, von den präzisere Vergleichsdaten zu Arbeitszeit, Entlohnung und Weiterbildung sowie zum innerbetrieblichen Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien zu gewinnen. Für die grösseren Firmen (mit über 20 Mitarbeitern) wurde ein erweiterter Fragebogen verwendet, in dem zusätzlich verschiedene Aspekte der Organisationsstruktur und Arbeitskooperation erhoben wurden, 2000 Firmen (darunter 1150 grössere Unternehmen) haben den Fragebogen ausgefüllt retourniert.

Kontrolltests weisen darauf hin, dass die resultierenden Samples in ihrer proportionalen Zusammensetzung nicht wesentlich von den Ursprungsstichproben - die ein annäherungsweise repräsentatives Abbild der gesamtschweizerischen Privatwirtschaft darstellen - divergieren. Im besonderen sind auch die drei Sprachregionen sowohl hinsichtlich der Wirtschaftssektoren wie auch der Betriebsgrössenklassen in relativ äquilibrierter Weise repräsentiert. (Tab. 1)

Tabelle 1: Häufigkeitsverteilung der Unternehmungen: nach Wirtschaftssektor

 

Ausland

deutsch

franz.

Ital.

Ausland

deutsch

franz.

Ital.

Industrie

120

656

168

51

150(102)

711(429)

139(81)

50(28)

Bau

13

148

33

13

8(7)

137(83)

33(21)

11(8)

Dienstleist.

97

518

161

24

99(67)

507(258)

126(59)

29(13)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

bis 30 Ang.

65

649

186

37

72(22)

571(116)

133(31)

6(39)

31-200 Ang.

114

513

139

41

115(104)

561(475)

127(104)

37(43)

201+ Ang.

50

158

37

9

70(50)

223(179)

26(38)

6(8)

* Die Zahlen in Klammern bezeichnen die Anzahl der grösseren Firmen, die den erweiterten Fragebogen zurückgesandt haben.

 

Inhalt

3 Empirische Ergebnisse

3.1 Wachstumsdynamik

Im Zuge der Rezession und Globalisierung sind in den letzten Jahren sowohl die Schwächen der Schweizer Wirtschaft gegenüber dem Ausland wie auch die unterschiedlichen Wachstumspotentiale verschiedener Schweizer Regionen deutlicher als früher ans Licht getreten. Unter diesem Aspekt kann es nicht erstaunen, dass die Firmen unserer vier Vergleichskategorien auch im Untersuchungszeitraum 1997-99 in ihrer Wachstumsdynamik äusserst stark voneinander divergieren. Weitaus die grössten Expansionsschritte haben - sowohl im Industrie- wie im Dienstleistungssektor - die Firmen ausländischer Nationalität vollzogen, während die Unternehmungen der italienischen Sprachregion vor allem im Industriebereich die schwächste Performance zeigen (Figur 1). Offensichtlich bleibt der wirtschaftliche Wachstumsvorsprung der deutschen Schweiz auf den industriellen Sektor beschränkt, während im Dienstleistungssektor die drei Sprachregionen miteinander konvergieren, aber gemeinsam erheblich unter dem Leistungsniveau der im ausländischen Besitz befindlichen Konkurrenten bleiben.

Die Aufgliederung nach Grössenklassen macht deutlich, dass im Bereich der Kleinstbetriebe die grössten Leistungsdivergenzen bestehen: zwischen den 72 ausländischen Firmen, die in den zwei Stichjahren um durchschnittlich fast 20% gewachsen sind, und den 39 Tessiner Unternehmungen, die gar eine leichte Rückentwicklung ihrer Umsätze haben hinnehmen müssen. Ganz offensichtlich sind es die ausländischen Kleinbetriebe (vor allem des Dienstleistungssektors), die in der Schweizer Wirtschaft heute die grösste Dynamik entfalten - eine Entwicklung, die nach Inkraftsetzung der bilateralen Verträge noch an Bedeutung zunehmen dürfte, da es jetzt allen EU-Bürgern ohne weiteres möglich ist, in der Schweiz als Selbständige tätig zu werden. Des weiteren geht aus Figur 1 hervor, dass es im Tessin ausschliesslich die grösseren Unternehmungen (die sich häufig in auswärtigem, vor allem deutschschweizerischen Besitz befinden) sind, die eine gewisse ökonomische Dynamik erzeugen, während sich das Wachstum in der deutschen Schweiz am gleichmässigsten auf alle Grössenkategorien verteilt.

3.2 Beziehungen zur Marktumwelt

Es stellt sich die Frage, ob die Tessiner Firmen vielleicht durch einen besonders intensiven Konkurrenzdruck am Wachstum gehindert werden, während ausländische Unternehmen ihre überdurchschnittliche Expansion vielleicht einer Spezialisierung auf weniger kompetitive Nischenprodukte verdanken. Wie aus Figur 2 hervorgeht, ist genau das Gegenteil der Fall: in allen Wirtschaftssektoren und Betriebsgrössenklassen sind es die Tessiner Firmen, die am seltensten der Meinung sind, einem "sehr starken Konkurrenzdruck" gegenüberzustehen, während die ausländischen Firmen zumindest im Industriebereich und bei den grossen Betrieben eine schärfere Kompetitivität als die Unternehmen aller Schweizer Sprachregionen verspüren. Im Dienstleistungsbereich - und generell im KMU-Sektor - sind es allerdings die Firmen der deutschen Schweiz, die unter den widrigsten Konkurrenzbedingungen operieren. Diese Ergebnisse sind gut mit der Annahme vereinbar, dass hoch kompetitive Firmen in der Südschweiz (und teilweise auch in der Romandie) stärker als in den übrigen Regionen verschwunden sind, weil sie sich aufgrund mangelnder Adaptationskapazitäten als nicht überlebensfähig erwiesen haben. Erneut wird sichtbar, dass vor allem kleine und mittlere Betriebe kulturellen Prägungen unterliegen, während grössere Unternehmen in höherem Masse miteinander konvergieren.

Genauere Analysen zeigen nun allerdings, dass sich diese Unterschiede ausschliesslich auf den sogenannten "Qualitätswettbewerb" erstrecken: d. h. auf den Druck der Firmen, sich ihre Marktposition durch besonders hochwertige, zuverlässige (bzw. neuartige oder modisch-wechselnde) Produkte und Dienstleistungen zu sichern (Figur 3). Vor allem im Industriebereich sind es eindeutig die ausländischen und Deutschschweizer Unternehmen (aller Grössenklassen), die sich von ihren Konkurrenten zu einer Steigerung ihrer Qualitätsleistungen herausgefordert fühlen. Ganz anders verhält es sich im klassischen Bereich des Preiswettbewerbs, wo es darum geht, die Absatzchancen durch Kostenersparnisse bei der Erzeugung gegebener Produkte zu sichern. Hier sind es umgekehrt die Firmen der französischen und italienischen Sprachregion, die den schärfsten Effizienzdruck verspüren (Figur 4). So scheinen sich die Firmen der romanischen Schweiz eher einer Marktumwelt gegenüberzusehen, die primär die Einsparung von Kosten (z. B. durch niedrigere Löhne oder rationellere Verfahrensmethoden) erzwingt, während deutschsprachige und ausländische Unternehmen sich eher kreativeren Herausforderungen stellen, die den Einsatz qualifizierterer Humanressourcen, komplexerer Organisationsformen und fortgeschrittener Technologien erforderlich machen. Dementsprechend haben sie auch im Beobachtungszeitraum 1993-98 erheblich häufiger neuartige Produkte eingeführt (Figur 5).

Ähnlich wie beim Umsatzwachstum (vgl. Figur 1) zeigt sich auch bei der Innovativität, dass Kleinfirmen ausländischer Provenienz in der Schweizer Volkswirtschaft eine besonders dynamische Rolle entfalten, während bei den Mittelbetrieben die Deutschschweizer Unternehmen fast gleichziehen und bei den grösseren Firmen auch die Unterschiede zwischen den drei Landesteilen an Bedeutung verlieren. Überraschend ist allerdings, dass sich die unterschiedlichen Neigungen zur Produktinnovation nicht im Industriebereich, sondern im Dienstleistungssektor weitaus am deutlichsten manifestieren. Dies legt den Schluss nahe, dass regionale Divergenzen der wirtschaftlichen Dynamik keineswegs im Abnehmen begriffen sind, weil gerade die hoch die tertiarisierte Wirtschaft der Gegenwart und Zukunft besonders starken kulturellen Prägungen unterliegt.

Auffällig sind vor allem die Unterschiede im Ausmass, in denen für Firmen der verschiedenen Kulturräume ökologisch motivierte Produktverbesserungen vorgenommen haben. Hier sind es vor allem die (mittleren und grösseren) Industriebetriebe der deutschen Schweiz, die am häufigsten mit gutem Beispiel vorangegangen sind, während im Dienstleistungsbereich den ausländischen Unternehmen eine Führungsrolle zugekommen ist. Erneut zeigen die Dienstleistungsbetriebe des italienischen Sprachraums die niedrigste Innovativität (Figur 6).

3.3 Divergenzen auf der Ebene personeller Qualifikation

Die Unternehmen fast aller Schweizer Wirtschaftszweige weisen einen sehr hohen Anteil (durchschnittlich 47%) von Beschäftigten auf, die über einen beruflichen Lehrabschluss verfügen - auch wenn viele von ihnen in Berufen tätig sind, für die sie ursprünglich nicht ausgebildet wurden. Allerdings kann man feststellen, dass diese auf der dualen Lehrausbildung beruhende Qualifikationsstruktur vor allem in der deutschen Schweiz nach wie vor tief verankert ist, während in der Westschweiz und im Tessin (zum Teil aufgrund der stärkeren Präferenz für allgemeinbildende Schulen) weniger Lehrlinge ausgebildet werden (vgl. Geser 2003). Ebenso stehen viele ausländische Firmen der dualen Lehrausbildung distanziert gegenüber, da sie dieses Ausbildungssystem aus ihrem Herkunftskontext nicht kennen und deshalb nicht disponiert sind, in ihrer Organisationsstruktur Platz für berufliche Grundausbildung vorzusehen (Geser 1999). Zusätzlich zu solch kontextabhängigen Einflüssen ist nun allerdings damit zu rechnen, dass sich auch die unterschiedliche wirtschaftliche Dynamik und Innovativität der Unternehmen im formalen Ausbildungsgrad ihrer Firmenbelegschaften widerspiegelt. So kann nicht überraschen, dass die ausländischen Firmen aller Grössenklassen im Vergleich zu Schweizer Unternehmen tendenziell mehr akademisch ausgebildetes Personal beschäftigen. Allerdings weisen auch die Dienstleistungsfirmen der Romandie eine überdurchschnittliche Quote von Hochschulabsolventen auf - eine Regularität, die aber wohl mehr auf den höheren Akademikeranteil in der Bevölkerung als auf die funktionalen Sachbedürfnisse der Firmen zurückgeführt werden kann (Figur 7). Bemerkenswert ist, dass die Unterschiede zwischen aus- und inländischen Firmen im Gegensatz im vorliegenden Fall bei den Grossbetrieben keineswegs verschwinden, sondern sogar nicht deutlich als bei den KMU's in Erscheinung treten.


 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Symmetrisch dazu profiliert sich die italienische Schweiz als Kontext, in der aufgrund des Vorrangs kostenorientierter Preiskonkurrenz und tayloristischer Massenproduktion Beschäftigte ohne Berufsausbildung dominieren: ganz besonders in den Grossbetrieben, wo ihr Prozentanteil fast doppelt so hoch liegt wie in den Firmen ausländischer Provenienz (53 vs. 27%) (Figur 8). Wiederum sind es aber keineswegs die (eher im Rückgang befindlichen) Industriebranchen, sondern die expandierenden tertiären Wirtschaftssektoren, in der sich dieses qualifikatorische Defizit der Südschweiz besonders drastisch manifestiert.

Schliesslich kann auch nicht überraschen, dass die Bereitschaft, in die Weiterbildung der Firmenbelegschaft zu investieren, sehr eng mit dem formalen Qualifikationsniveau der Beschäftigten korreliert. Erneut sind es die grösseren Unternehmen und die Betriebe des Dienstleistungsbereich, in denen die grössten Divergenzen bestehen. Auffallend ist, dass sich die Unternehmen der deutschen Schweiz fast ebenso stark wie die ausländischen Firmen engagieren: so dass primär die inländischen Unterschiede zwischen den Sprachregionen ans Licht treten, während beim Anteil akademischer Arbeitskräfte die Divergenzen zwischen in- und ausländischen Firmen im Vordergrund stehen (Figur 9).

3.4 Divergenzen auf der Ebene der formalen Organisation

Die bisherigen Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass die Wirtschaft des italienischen noch stark durch das traditionelle Modell tayloristischer Massenproduktion geprägt ist, das auf dem Vorrang der Preiskonkurrenz, einer konservativen Beharrungstendenz auf standardisierten Produkten und dem extensiven Einsatz relativ unqualifizierter Arbeitskräfte beruht. Demgegenüber scheint vor allem bei ausländischen Unternehmen, aber auch bei Firmen der deutschen Schweiz eine postfordistische Produktionsweise stärker verbreitet zu sein, die sich umgekehrt durch Qualitätskonkurrenz, eine innovative Dynamik und der Verwendung gut ausgebildeter (und zur ständigen Weiterbildung bereiten) Mitarbeiter profiliert. Wenn diese Vermutung zutrifft, müsste man in der Südschweiz auch eher dem Typus des "mechanischen Managements" (Burns/Stalker 1961) nahekommende Organisationsstrukturen finden, die durch hohe Formalisierung und Zentralisierung gekennzeichnet sind, während in den genannten anderen Firmengruppen eher ein durch Informalität, Dezentralität und horizontale Interaktion charakterisiertes "organisches Management" dominiert.

Zur empirischen Ueberprüfung dieser Hypothese, kann der auf Aspekte formaler Organisation fokussierende Survey aus dem Jahr 2000 herangezogen werden, in dem von ca. 1000 Firmen mit über 20 Mitarbeitern eine Reihe zahlreiche Strukturindikatoren erhoben worden sind.  Unter anderem wurden die Firmeninformanden gebeten, die in ihrem Betrieb übliche Kompetenzverteilung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern in verschiedenen Entscheidungsbereichen auf einer Skala von 1 bis 5 zu charakterisieren. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass in praktisch allen Bereichen die theoretisch vermuteten Unterschiede im Zentralisierungsgrad bestehen. So zeigt sich in Figur 10, dass sich die Ausführung der Arbeitsaufgaben in der Südschweiz - insbesondere in den kleineren Betrieben am stärksten unter der Regie der Vorgesetzten vollzieht, während die Mitarbeiter in den ausländischen Firmen über den relativ grössten Spielraum für Mitsprache und Mitgestaltung verfügen. Bemerkenswert ist, dass sich diese Divergenzen weitgehend auf den Industriesektor - d. h. den klassischen Bereich tayloristischer Massenproduktion - beschränken.


 

 

 

 

 

 

Analoges gilt für die Kompetenzverteilung bei der Betreuung der Kunden, wo die kleineren Firmen der Südschweiz ein unüberbietbares Maximum an Zentralisierung aufweisen, aber auch in den übrigen Grössenklassen autoritärere Strukturen als alle übrigen Firmengruppen besitzen (Figur 11). Im externen Interaktionsverhältnis mit den Kunden tritt die dezentralere Struktur ausländischer Firmen gegenüber inländischen Unternehmen (zumindest bei den Klein- und Mittelbetrieben) deutlicher als im Binnenverhältnis der Arbeitsstrukturierung hervor. Selbst im Dienstleistungsbereich bleiben signifikante Unterschiede erhalten, auch wenn hier im Vergleich zur Industrie über alle Kulturen hinweg eine generelle Stärkung der Mitarbeiterebene festgestellt werden kann.


 

 

 

 

 

 

 

Ein konstituierendes Element postfordistischer Organisationsmodelle besteht darin, vertikal-hierarchische Formalbeziehungen durch informellere multilaterale Interaktionsbeziehungen zu ersetzen und zumindest einige der bisher von Vorgesetzten als Einzelpersonen ausgeübten Kompetenzen auf teilautonome Arbeitsgruppen zu übertragen. Dabei handelt es einerseits um teilautonome Arbeitsteams, in denen sich die personelle Zuteilung, sachliche Spezifikation und temporale Strukturierung der täglichen operativen Prozesse vollzieht, andererseits aber auch um Qualitätszirkel oder Projektgruppen, die sich längerfristig mit generelleren Fragen der Arbeitsverfahren und Arbeitsorganisation befassen. Im Einklang mit unseren bisherigen Überlegungen und Befunden ist zu erwarten, dass sich derartige Gruppen in ausländischen und deutschschweizerischen Firmen häufiger als in Unternehmungen des französischen und italienischen Sprachraums finden.

Wie aus Figur 12 hervorgeht, trifft diese Vermutung sowohl für den Industrie- wie den Dienstleistungssektor wie auch für alle Betriebsgrössenklassen überaus deutlich zu. Nicht überraschen kann vor allem das Ergebnis, dass bei den kleinen Firmen der Südschweiz der maximale Zentralisierungsgrad der Kompetenzen (vgl. Figur 10/11) mit dem vollkommenen Fehlen von internen Gruppenstrukturen korreliert. Erwartungsgemäss nimmt die Chance, dass zumindest eine Arbeitsgruppe existiert, mit wachsender Firmengrösse erheblich zu, so dass oberhalb von 200 Mitarbeitern nur noch relativ unbedeutende Unterschiede bestehen.

Da Arbeitsgruppen auch bloss aus symbolischen Gründen gebildet werden und auf eine irrelevante Pro-forma-Rolle verwiesen sein können, lässt sich aus ihrer schieren Existenz wenig auf die faktischen Strukturverhältnisse schliessen. Interessanter ist deshalb die Antwort auf die Frage, ob sie bloss eine beratende Rolle spielen oder bei der faktischen Umsetzung der von ihnen erarbeiteten Vorschläge ein Mitentscheidungsrecht besitzen.Unter diesem Gesichtswinkel treten die hyperzentralisierten Verhältnisse der Südschweizer Firmen besonders drastisch hervor: ausgenommen in den grösseren Firmen, wo ein überdurchschnittlicher hoher Prozentanteil der Tessiner Unternehmen über mitwirkungsfähige Arbeitsgruppen verfügt (Figur 13). Auch hier lässt sich festhalten, dass die Firmen der Deutschen Schweiz (auch im Dienstleistungssektor) besser als die Unternehmen der beiden romanischen Sprachräume mit den ausländischen Unternehmungen mithalten können.

 

 

 

 

 

 

 

 

Schliesslich ist damit zu rechnen, dass die dem organischen Modell der "lean production" zuneigenden Firmengruppen auch häufiger und intensiver interne Reorganisationsprozesse betreiben, wie sie etwa im japanischen "Kaizen"-Konzept als Daueraufgabe einer Unternehmung gelten. So kann nicht überraschen, das ausländische und Deutschschweizer Firmen im untersuchten Zeitintervall 1993-98 häufiger Reorganisationen ihrer Geschäftsabläufe vollzogen und auf die Verbesserung ihrer Betriebskultur ausgerichtete Massnahmen getroffen haben (Figur 14/15). Sowohl im Industrie- wie im Dienstleistungsbereich scheint die Unternehmenskultur in den beiden romanischen Landesteilen erst bei grösseren Betrieben mit über 200 Mitarbeitern zum Thema zu werden - und selbst in dieser Grössenklasse pflegt sich in der Südschweiz nur jeder dritte Betrieb mit diesem Aspekt zu befassen.


 

 

 

 

 

  

 

Die Wirkungen intensiver Qualitätskonkurrenz kommen schliesslich darin zum Ausdruck, dass ausländische Firmen selbst bei sehr geringer Grösse relativ häufig eine ISO-Zertifizierung ihres Betriebs vorgenommen haben (Figur 16). Diese auf die Steigerung der internationalen Konkurrenzfähigkeit ausgerichtete Massnahme hat bisher im Dienstleistungsbereich allerdings eine eher geringe Bedeutung erhalten.

 

3.5 Divergenzen auf technologischer Ebene

In seinem Buch «Dartfish, Logitech, Swissquote und Co.» vertritt Xavier Comtesse die These, dass die seit den 1980er-Jahren anhaltende Schwäche der Schweizer Wirtschaft zumindest partiell auf die ungenügende Ausschöpfung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zurückzuführen sei. Während sie bei Investitionen in Hardware-Ausrüstungen einen internationalen Spitzenrang erreiche und auch bei standardisierten Softwareapplikationen mit anderen westlichen Ländern Schritt halten könne, sei vor allem der Ausbau des E-Business sowie unternehmensinterner und transorganisatorischer Vernetzungen (Intranets und Extranets) noch auf einem viel zu niedrigen Niveau. Dieses Nachhinken in der Wirtschaftsinformatik sei auf ein den neuen Technologien generell zurückhaltend gegenüberstehendes soziokulturelles Milieu zurückzuführen, das auch in der relativ niedrigen IT-Nutzung der Jugendlichen sowie in einem deplorablen Zustand staatlicher Internetanwendungen (E-government) seinen Ausdruck finde (Comtesse 2005: passim).

Im Lichte unserer bisherigen Befunde erscheint es fraglich, ob derartige Diagnosen landesweit zutreffend sind, weil damit gerechnet werden muss, dass der Einsatz moderner IuK-Technologien genauso wie der Einsatz qualifizierter Personalressourcen und moderner Organisationsmodelle zwischen den Sprachregionen erheblich differiert. Wenn es zutrifft, dass Firmen der deutschen Schweiz aufgrund ihres intensiven Qualitätswettbewerbs eine stärker wissensbasierte Strategie betreiben, die in innovativem Marktverhalten ebenso wie in einer stärkeren Qualifizierung und Mitsprache der Mitarbeiter und einer regeren Reorganisationstätigkeit Ausdruck findet, darf wohl damit gerechnet werden, dass sie auch die neuen computergestützten Technologien verstärkt nutzen, um ihren Angestellten mehr Informationen an die Hand zu geben, die betriebsinterne Kommunikation zu verbessern und die Aussenkommunikation auf eine modernere, mit den Erfordernissen wachsender internationaler Kooperation kompatiblere Basis zu stellen. Umgekehrt müsste man bei den Firmen des italienischen Sprachraums aufgrund ihrer Tendenz, an hoch zentralisierten Formen klassisch-fordistischer Produktion festzuhalten, die ungünstigsten Voraussetzungen für innovative Informatikanwendungen finden.

Um einen ersten, generellsten Indikator für das Informatik-Engagement einer Unternehmung zu gewinnen, wurde in der Untersuchung des Jahres 2000 erhoben, welcher Prozentanteil aller vom Unternehmen in den Jahren 198-2000 getätigten Investitionen für IuK-Technologien (Hardware und Software zusammen) Verwendung gefunden haben. Die Ergebnisse zeigen erwartungsgemäss, dass die einheimischen gegenüber den ausländischen KMU-Firmen sowohl im Industrie- wie im Dienstleistungssektor etwas nachhinken, dass aber die Unternehmen der deutschen Schweiz - im besonderen die grossen Betriebe - mit den Auslandunternehmen weitaus am besten Schritt zu halten vermögen (Figur 17).


 

 

 

 

 

 

Beträchtlich deutliche Divergenzen treten zutage, wenn man zweitens den Umfang der in die neuen Technologien einbezogenen Firmenbelegschaft analysiert. So erweist es sich, dass in Dienstleistungsbetrieben ausländischer Nationalität im Durchschnitt 73 Prozent der Belegschaft den PC benutzen, im italienischen Sprachraum hingegen weniger als die Hälfte davon (36%) (Figur 18). Am weitesten liegen die Extreme bei den Mittelbetrieben auseinander (69 vs. 27%), während bei den Grossbetrieben überraschend ausgeglichene Verhältnisse bestehen. Wichtig ist die Beobachtung, dass auf der Ebene der Computernutzung die Unterschiede zwischen in- und ausländischen Firmen in den Vordergrund treten, während beim Umfang der IuK-Investitionen die binnennationalen Unterschiede zwischen den Sprachregionen dominieren. Und ebenso bedeutsam ist die Beobachtung dass der Dienstleistungssektor offensichtlich noch grössere Spielräume für interkulturelle Divergenzen der Technologieanwendung als der Industriesektor bietet. Dies mag damit zusammenhängen, dass im Industriebereich primär die sachlich-funktionalen Imperative des Produktionsprozesses darüber entscheiden, wo Computer notwendig sind und wo nicht, während im Dienstleistungsbereich bezüglich der Ausgestaltung interner Kooperations- und externer Kundenbeziehungen mehr Freiheitsgrade bestehen.

Der Grad der betriebsinternen Computervernetzung wird daran sichtbar, welche Anteile der Belegschaft im Kontakt mit andern Unternehmensmitgliedern elektronische Mail benutzen. Auch in diesem Aspekt laufen die im ausländischen Besitz befindlichen Unternehmen (besonders im Dienstleistungssektor) den Schweizer Betrieben weit voraus: wiederum mit Ausnahme der grösseren Unternehmen, wo nur noch in der Südschweiz eine grössere Zurückhaltung besteht (Figur 19). Analoges gilt für den Zugang zu firmenexternem Mailaustausch und zum WWW, wo ebenfalls die ausländischen Unternehmen vorauslaufen: gefolgt mit signifikantem Abstand von der deutschen Schweiz, die wiederum gegenüber den beiden romanischen Sprachregionen deutlich führt (Figuren 20/21). Auch hier deutet alles darauf hin, dass kleinere und mittlere Firmen des Dienstleistungssektors die günstigen Voraussetzungen für national und regional bedingte Disparitäten bieten - so dass damit zu rechnen ist, dass sie im Zuge der Transformation von der Industriegesellschaft zur tertiären Wissensgesellschaft immer stärker in Erscheinung treten.

Drittens schliesslich sind auch die Zielprioriäten, von denen sich die Unternehmnen beim Einsatz ihrer IuK-Technologien leiten lassen, auf charakteristische Weise voneinander verschieden. Während die "Optimierung der Arbeitsabläufe" überall den ersten Rang besetzt und auch der "Reduktion der Kosten" bei Firmen aller Kulturräume eine ähnliche Bedeutung zukommt, pflegen ausländische Firmen der "Verbesserung interner Kommunikation und der "Optimierung von Entscheidungen" wie auch der "Erfüllung zusätzlicher Kundenwünsche" und der "besseren Kooperation mit Lieferanten" eine grössere Bedeutung als Schweizer Unternehmen beizumessen. Wiederum vermögen die Unternehmen der deutschen Schweiz besser als diejenigen der romanischen Landesteile mit ihnen Schritt zu halten: vor allem auch bei ihrem bestreben, das Produkteangebot oder die Präsenz auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern (Tabelle 2). So zeigt sich die geringe technologische Aufgeschlossenheit der Südschweizer Firmen auch darin, dass sie mit dem Ausbau der Iu.K-Technologien nur ein sehr enges Bündel von Zielsetzungen verfolgen, die - im Einklang mit ihrer tayloristischen Binnenstruktur und preisbezogenen Wettbewerbsorientierung - vorwiegend auf die kostenmässige Rationalisierung der betrieblichen Abläufe ausgerichtet sind.

Tabelle 2: Bedeutung verschiedener Zielsetzungen für den betrieblichen Einsatz von IuK-Technologien:
nach Nationalität und Sprachregion der Firmen*

 

Ausland

deutsch

franz.

Ital.

Reduktion der Kosten

3.1

2.9

2.8

2.9

Optimierung der Arbeitsabläufe

3.7

3.6

3.4

3.8

Erfassung der Mitarbeiterleistungen

2.2

2.1

1.9

2.1

 

 

 

 

 

Verbesserung interner Kommunikation

3.7

3.1

3.0

2.9

Optimierung von Entscheidungen

3.2

2.9

2.8

2.8

 

 

 

 

 

Verbesserung des Produkteangebots

3.0

3.0

2.8

2.6

Zusätzliche Leistungskomponenten

3.1

2.9

2.5

2.8

Ausrichtung auf Kundenwünsche

3.5

3.3

2.9

3.1

 

 

 

 

 

Bessere Kooperation mit Lieferanten

3.1

2.9

2.6

2.6

Bessere Präsenz auf dem Arbeitsmarkt

3.4

3.3

3.0

2.3

* Skala von 1 (keine Bedeutung) bis 5 (sehr grosse Bedeutung)

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4 Schlussfolgerungen

Als Gesamtergebnis der empirischen Analysen darf festgehalten werden, dass alle vier Leithypothesen mindestens tendenziell eher eine Bestätigung als eine Widerlegung erfahren haben.

Vor allem hat sich gezeigt, dass die vier nach Nationalität und Region definierten Unternehmenskategorien eine unterschiedliche Konfiguration von organisatorischen Verhaltens- und Strukturmerkmalen aufweisen, die offensichtlich mit ihrer höchst verschiedenartigen Entwicklungsdynamik, Konkurrenzorientierung und Innovationsbereitschaft in Zusammenhang steht.  Das weitaus klarste Profil weisen dabei die Südschweizer Firmen auf, die - sowohl im Industrie- wie im Dienstleistungsbereich - ganz offensichtlich dem traditionellen Strukturtypus fordistisch-tayloristischer Massenproduktion nahe stehen. Dies zeigt sich in der konservativen Produktpolitik ebenso wie in der vorrangigen Bedeutung der Preiskonkurrenz, in der Präferenz für unqualifiziertes Personal ebenso wie im geringen Stellenwert der Weiterbildung, in der autoritären Stellung der Vorgesetzten ebenso wie im Fehlen bedeutsamer Teamstrukturen, in der durchwegs geringen Neigung zu Reorganisationsmassnahmen und im besonders zögerlichen Einsatz des Computers sowie der auf Computernetzen gestützten Kommunikation. Den entgegengesetzten Pol markieren die im ausländischen Besitz befindlichen Unternehmen, die sowohl in ihrer Expansions- und Innovationsdynamik wie auch im Qualifikationsniveau und Kompetenzspielraum ihrer Angestellten, dem Ausbau horizontaler Gruppenstrukturen und der breiten Verwendung von IuK-Technologien alle drei Schweizer Sprachregionen übertreffen. An zweiter Stelle kommen die Deutschschweizer Firmen (vor allem des sekundären Sektors), die mit den ausländischen Unternehmen in den meisten Hinsichten besser als die Firmen des italienischen und französischen Sprachrums Schritt zu halten vermögen. Während sie bezüglich der ökologischen Innovativität gar den Spitzenplatz einnehmen, tendieren sie in ungefähr demselben Masse wie ausländische Firmen dazu, sich dem Qualitätswettbewerb zu exponieren, Personal mit beruflicher Ausbildung zu beschäftigen, den Mitarbeitern Einfluss auf die Ausführung der Arbeitsaufgaben und den Arbeitsgruppen eine Mitspracherecht bei betrieblichen Änderungen zu gewähren und ihre Geschäftsabläufe zu reorganisieren.

Auch die dritte Hypothese, wonach der Dienstleistungsbereich für interkulturelle Variabilitäten günstigere Entfaltungschancen als der Industriesektor biete, wird in der Mehrzahl der Fälle unterstützt: etwa bei der Bereitschaft der Unternehmen, neuartige Produkte einzuführen, akademisch gebildetes oder ungelerntes Personal zu beschäftigen, Investitionen in Weiterbildung vorzunehmen, Massnahmen zur Reorganisation und Verbesserung der Firmenkultur zu ergreifen und - besonders ausgeprägt - kleinere oder grössere Prozentanteile ihrer Belegschaft in IuK-Technologien einzubeziehen. Andererseits unterscheiden sich die Industriefirmen verschiedener Regionen stärker als Dienstleistungsbetriebe im Ausmass, in dem sie im Untersuchungszeitraum expandiert haben, verschiedenen Formen der Konkurrenz ausgesetzt sind und ihren Mitarbeitern am Arbeitsplatz Mitwirkungsmöglichkeiten gewähren. Schliesslich sind es - in Übereinstimmung mit Hypothese 4 - fast überall die grösseren Betriebe mit über 200 Beschäftigten, in denen die interkulturellen Divergenzen ihre geringste Ausprägung finden. Besonders auffällig ist das Ausmass, in dem die ausländischen Kleinstbetriebe (mit weniger als 30 Mitarbeitern) die Schweizer Firmen in ihrem expansiv-innovativen Marktverhalten ebenso wie in ihrer internen Reorganisationsdynamik weit übertreffen.

Wenn man davon ausgeht, dass die aktuellen Trends zur Tertiarisierung und Internationalisierung der Wirtschaft wie auch zur erneuten Proliferation kleinformatiger Unternehmen anhalten, spricht alles dafür, dass in Zukunft sowohl die interregionalen Disparitäten innerhalb der Schweiz wie auch die Divergenzen zwischen in- und ausländischen Firmen in Zukunft eher noch weiter anwachsen werden. Zusätzlich zum immer weiteren Vordringen ausländischer Unternehmen mögen wahrscheinlich auch wachsende interregionale Ungleichgewichte der Preis dafür sein, der für eine Wiedergewinnung der verlorenen Wirtschaftsdynamik entrichtet werden muss (bzw. müsste).

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Literatur

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