Aktuelle Trends im Lehrstellenangebot von
Schweizer Industrie- und Dienstleistungsbetrieben

Ergebnisse einer neuen empirischen Studie

 

Prof. Hans Geser

Zürich, Oktober 1998

Bibliographische Zitation:

Geser Hans: Aktuelle Trends im Lehrstellenangebot von Schweizer Industrie- und Dienstleistungsbe-trieben. In: Sociology in Switzerland. Wandel der Arbeitswelt. Online Publikationen. Zürich, Okt. 1998.   http://socio.ch/work/geser/01.pdf

 

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Neuere empirische Trends

Vielfältige wirtschaftliche sowie organisatorisch-technische Entwicklungen haben in der Schweiz - genauso wie in andern westeuropäischen Ländern - seit den 70er Jahren zu einem kontinuierlichen Rückgang des Lehrstellenangebots beigetragen. Die Ursachen scheinen u. a. darin zu liegen, dass sich im Zuge von Rationalisierungsmassnahmen einerseits die innerbetrieblichen Einsatzmöglichkeiten für verringern, und dass sich andererseits - bedingt durch komplexe Technologien und/oder eine stärkere Theoretisierung des Wissens - der Ausbildungsaufwand unverhältnismässig erhöht.

Genaueren Aufschluss über solche Kausalverhältnisse liefern die Resultate aus einer gesamtschweizerischen Erhebung bei den Personalverantwortlichen von über 2000 Industrie- und Dienstleistungsbetrieben, die (im Rahmen des Schwerpunktprogramms "Zukunft Schweiz") im Frühjahr 1998 durchgeführt worden ist.

Die Ergebnisse zeigen, dass die "Ausbildungsintensität" (operational definiert als Prozentsatz der Lehrlinge an der Gesamtbelegschaft)

- in Tochterfirmen niedriger ist als in selbständigen Unternehmen (vor allem dann, wenn sich die Muttergesellschaft im Ausland befindet;

- besonders in den Dienstleistungsbranchen mit zunehmender Unternehmensgrösse dramatisch sinkt;

- in kleineren Firmen signifikant negativ mit der Exportorientierung, Innovativität und Expansivität des Unternehmens korreliert;

- in Firmen, die sich mittels Auslagerung von Aufgaben stärker auf ihre "Kernkompetenzen" konzentrieren, besonders niedrige Werte erreicht.

Insgesamt ergibt sich, dass zahlreiche mit der aktuellen Transformation der Arbeitswelt verbundene Entwicklungen bewirken, dass sich das Lehrstellenangebot verringert, dass sich aber umgekehrt der Anteil der Lehrlinge, die in wenig zukunftsreichen kleinbetrieblichen Wirtschaftszweigen ausgebildet werden, erhöht. Kleinbetriebe erfahren diese Inkompatibilitäten zwischen externen Adaptationszwängen und inneren Ausbildungsfunktionen besonders intensiv, weil sie auf Grund geringer funktionaler Differenzierung nicht in der Lage sind, beiden Anforderungen Rechnung zu tragen. Dies impliziert, dass ein sich modernisierendes und auf die Zukunft ausrichtendes Berufsbildungssystem in immer stärkerem Masse von den Ausbildungsleistungen grösserer (und gleichzeitig unter Schweizer Kontrolle geführter) Unternehmen abhängig wird.

Konkret wird aus Tabelle 1 wird ersichtlich, dass das quantitative Lehrstellenangebot sowohl im Industrie- wie Bau- im Dienstleistungssektor innerhalb der nächsten zwei Jahre mindestens konstant bleiben, mit höherer Wahrscheinlichkeit aber eine gewisse Ausdehnung erfahren dürfte. Diese Expansionstendenz hat nun auch die Kleinstbetriebe (mit unter 10 Mitarbeitern) erfasst, die zwischen 1996 und 98 noch eine Negativbilanz aufgewiesen haben. Diese Gesamttendenz darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere bei den grösseren Firmen (mit über 500 Mitarbeitern) sehr uneinheitliche Verhältnisse stehen. Während die Hälfte von ihnen eine Ausdehnung der Lehrlingszahl anstrebt, haben umgekehrt fast 30% eine (weitere) Reduktion beschlossen. Im letzteren fall handelt es sich vor allem um Firmen, die stark von der Verflechtung mit dem Ausland betroffen sind. Innerhalb der Industrie wird der Expansionsprozess vor allem von der Metall-, Maschinen- Elektro- und Elektronikindustrie getragen, während in den traditionelleren Branchen der Nahrungsmittel und Textilindustrie (aber auch in der Chemie und im graphischen Sektor) Stagnation überwiegt. Im Dienstleistungssektor verläuft die Expansionstendenz quer durch praktisch alle Branchen, Im besonderen aber fallen die Banken, Versicherungen und Informatikfirmen auf, die zu über 30% den Vorsatz gefasst haben, zukünftig mehr (bzw. überhaupt etwas) zur beruflichen Grundausbildung beizutragen.

Tab. 1: Geplante Veränderung der Lehrlingszahlen (1998-2000) in Schweizer Industrie-rund Dienstleistungsbetrieben: nach Firmengrösse und Wirtschaftssektor (Prozentsatz der Firmen)

(Basis: 1518 Betriebe, Befragung Januar bis April 1998)

 

 Betriebsgrösse:

 Branche:

Die Zahl der Lehrlinge wird bis zum Jahr 2000

zunehmen

gleichbleiben

abnehmen

 

Kleinbetriebe

(bis 30)

Industrie

19%

77%

4%

Bau

16%

69%

16%

Dienstleistungen

17%

75%

8%

 

Mittelbetriebe

(31-200)

Industrie

32%

57%

11%

Bau

20%

59%

21%

Dienstleistungen

25%

66%

9%

 

grössere

Betriebe

(über 200)

Industrie

42%

37%

21%

Bau

18%

55%

27%

Dienstleistungen

48%

38%

13%

Total

25%

65%

10%

 

Höchst aufschlussreich ist der Befund, dass die Lehrstellenzahl nur in sehr lockerem Masse mit der Entwicklung der gesamten Betriebsbelegschaft korreliert. Von den grösseren Firmen mit expansiver Beschäftigung werden 48% ihre Lehrstellen vermehren; von jenen mit schrumpfender Belegschaft gleichwohl noch 41%. Eher bedeutungsvoll ist hingegen die Verlagerung von Betriebstätigkeiten ins Ausland, die vor allem bei grösseren Firmen mit einer Verringerung der eigenen Berufsbildung einherzugehen scheint.

In der Industrie ist das Belegschaftswachstum stärker als im Dienstleistungsbereich mit einem Anwachsen der Lehrlingszahlen verbunden: wobei vor allem die Ausbildungsplätze in der Werkstatt und im technischen Büro (weniger im kaufmännischen Bereich) davon betroffen sind. Interessanterweise sind es die kleineren Firmen Unter 70 Mitarbeitern), die auf ein generelles Anwachsen ihrer Belegschaft am häufigsten mit einer Vermehrung ihrer kaufmännischen Ausbildungsplätze reagieren.

Im Dienstleistungssektor besteht die weitaus grösste Expansionstendenz bei Unternehmungen, die wenig von Konkurrenzdruck betroffen sind, während im Industriebereich umgekehrt ein hoher Konkurrenz- und Rationalisierungsdruck der Ausdehnung der Lehrstellen eher förderlich scheint. Ebenfalls auf den Industriebereich beschränkt ist die Regularität, dass Firmen auf einen akuten Mangel an eigenen Fachkräften mit der Expansion der inneren Berufsausbildung reagieren. Dies trifft allerdings ausschliesslich auf die technisch-industriellen (nicht die kaufmännisch-administrativen) Lehrstellen zu.

Im Dienstleistungssektor scheint hingegen eher eine "Trittbrettfahrermentalität" die Betriebe zu veranlassen, durch Rekrutierung bereits ausgebildeter Personen von der Berufsbildungaktivität anderer Betriebe parasitär Nutzen zu ziehen.

In der Industrie ist es primär die Exportwirtschaft, die den neuen Aufschwung an Lehrlingsstellen weitestgehend prägt. Dadurch nähern sich die exportierenden Firmen bisher neuerdings den rein binnenwirtschaftlich orientierten Unternehmen an, die bisher in höherem Umfange Lehrlinge ausgebildet haben.

Firmen aller Grössenklassen expandieren die Zahl ihrer Lehrlinge weniger häufig, wenn ihre Produktionsprozesse einer stark wachsenden Normierung und Managementkontrolle unterliegen. Offensichtlich bieten derart gestraffte und "verschlankte" Organisationen weniger Einsatzmöglichkeiten für Auszubildende, da diese ja bekanntlich Freiräume benötigen, um ungestört Fehler zu machen und ihre je eigenen Lernprozesse zu vollziehen.

Umgekehrt steigt die Zahl von Lehrlingen (insbesondere in industriell-gewerblichen Berufen) eher an, wenn die Unternehmung aktiv Forschung und Entwicklung betreibt und innerhalb der vergangenen fünf Jahre im Produktebereich Innovationen getätigt hat. Demgegenüber ist die Einführung von Teamarbeit zumindest im Industriesektor eher mit einem erhöhten Anwachsen der Lehrlingszahlen verknüpft.

Generell trifft es keineswegs zu, dass Firmen im Zuge moderner Reorganisation ihre Lehrlingswesen reduzieren. Vor allem im Industriebereich scheint ist Umsetzung von Reorganisationsmassnahmen häufiger mit einer Expansion als mit einer Reduktion der Ausbildungsplätze verknüpft. So wollen bei den ISO-zertifizierten Industriefirmen nicht weniger als 36% in den nächsten zwei Jahren mehr Lehrlinge einstellen; bei den übrigen sind es nur gut 22%.

Ausschliesslich für grosse Firmen (mit über 300 Mitarbeitern) gilt, dass hohe Aufwendungen im Umweltbereich und Bemühungen um Senkung des Material- und Energieaufwands stark positiv mit der Expansion des Lehrlingswesens korrelieren.

Zu den faszinierendsten Ergebnissen der Untersuchung gehört schliesslich der Befund, dass Bemühungen um Senkung der Lohnkosten keineswegs in einer Reduktion, sondern im Gegenteil eher in einer Ausdehnung der Lehrplätze münden. Der naheliegende Schluss, dass Lehrlinge eben als billige Arbeitskräfte herhalten müssten, wird aber angesichts aller übrigen Ergebnisse kaum gestützt.

Gründe, warum Firmen keine Berufsausbildung vermitteln

Die Personalverantwortlichen der Firmen wurden befragt, welche Gründe dafür massgebend seien, dass die nicht eine höhere Zahl von Lehrlingen ausbilde, bzw. überhaupt keine berufliche Grundausbildung betreibe.

Bei Firmen ohne Lehrlinge liegt die Ursache für die überwiegende Mehrheit der Informanten darin, dass der Betrieb für die Ausbildung ("ungeeignet") sei. Dieses Argument wird bei Kleinbetriebe und mittleren Betrieben gleich häufig (in ca. 60% der Fälle) genannt; und scheint erst oberhalb von 200 Mitarbeitern an Bedeutung zu verlieren. Bezeichnenderweise sind es Firmen sehr moderner Branchen (Elektronik und Informatik), die sich besonders häufig (zu über 65%) als "ungeeignet" deklarieren; andererseits aber auch Unternehmen traditionellerer, aber hoch technologisierter Wirtschaftszweige (z.B. Papier, Graphik und Energie).

An zweiter Stelle steht der "Zeitmangel", der bei ca. jedem vierten Betrieb im Vordergrund steht und bei Betrieben zwischen 20 und 100 Mitarbeitern (vor allem in der Chemie- und Uhrenbranche sowie im Detailhandel) am häufigsten Erwähnung findet. Nur für eine kleine Minderheit von Betrieben (ca. 5-6%) scheinen Kostengründe massgebend zu sein. Dabei handelt es sich praktisch ausschliesslich um kleinere Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern, die meist der Textilindustrie, dem Baugewerbe oder der Handelsbranche angehören. Fast ebenso selten (bei ca. 9% der Betriebe) wird ins Feld geführt, dass "keine geeigneten Bewerber" für Lehrstellen zur Verfügung ständen.

Interessanterweise scheint ein derartiger Mangel bei traditionellen Branchen (Textil, Nahrungsmittel, Gastgewerbe) am meisten verbreitet, während er ausgerechnet in Branchen mit besonders anspruchsvollen Anforderungen (Elektronik und Informatik) keinerlei Bedeutung hat. Hier widerspiegelt sich wohl die Tatsache, dass talentiertere Schulabsolventen bevorzugt in die modernen, zukunftsträchtigen Berufsfelder drängen..

Schlussfolgerungen

Aufgrund der Daten darf vermutet werden, dass die momentan zunehmende Beschäftigung vor allem im Industriesektor wieder ein Anwachsen der Lehrplätze (insbesondere in industriell-gewerblichen Berufen) zur Folge haben wird. Das Angebot an kaufmännischen Lehrstellen wird durch diese generelle Beschäftigungslage offensichtlich sehr viel weniger berührt. Der Grund dafür liegt möglicherweise in der zunehmenden Rationalisierung der Bürowelt durch die Computertechnik, die insbesondere zur Folge hat, dass wachsende Betriebe nicht genötigt sind, ihre kaufmännischen und administrativen Personalbestände zu erhöhen.