Georg Simmel: Vom Wesen des historischen Verstehens
ex: Geschichtliche Abende im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Heft 5 (Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Königliche Hofbuchhandlung Berlin: 1918)
Die Beziehung eines Geistes
zu einem andern, die wir als Verstehen bezeichnen, ist ein Grundereignis
des menschlichen Lebens, dessen Rezeptivität und Eigentätigkeit in einer
nicht weiter auflösbaren, nur zu erlebenden Weise vereinigend.
In der Einsicht in das
Verstehe überhaupt liegt die in das spezifisch historische Verstehen
eingebettet.
Denn wie alle unsere
ideellen, rein geistigen Produktionen ihre fragmentarischen Vorzeichnungen
an denjenigen Formen und Verfahrungsweisen finden, die der Geist um der
praktischen Forderungen und Förderungen des Lebens willen entwickelt hat,
so ist auch die wissenschaftliche Geschichte andeutend vorgeformt in den
Gestaltungen und Methoden, mit denen die Praxis sich die Bilder der
Vergangenheit als Bedingungen des weiterschreitenden Lebens einbaut.
Aber indem jeder Schritt
des Lebens, durch das Bewusstsein von Vergangenem getragen, ohne irgendein
Maß davon ganz undenkbar ist, handelt es sich dabei doch nicht um das unübersehliche,
formlose Chaos des ganzen erinnerten oder überlieferten Lebensstoffes;
vielmehr ist schon dessen praktische Verwertung bedingt durch seine
Zerlegung und Synthese, seine Anordnung unter Begriffe und in Reihen,
durch Erteilung und Verschiebung von Akzenten, durch Deutungen und Ergänzungen.
So funktionieren hier
vielerlei theoretische Kategorien in nicht theoretischem Interesse, in die
Zweckzusammenhänge des Lebens so kontinuierlich eingegliedert wie
irgendwelche Bewegungskoordinationen, Triebe oder Reflexe.
Geschichte als Wissenschaft
entsteht, sobald jene Kategorien, die das Lebensmaterial zu einem geistig
anschaulichen, logisch sinnvollen und dadurch zunächst praktisch
verwendbaren Gebilde formen, sich aus dieser Zweckdienlichkeit lösen und
von sich aus, in freischwebendem theoretischem Interesse, in neuer Vollständigkeit
und Eigenwertigkeit die Bilder vergangenen Lebens bauen.
Wie wir fortwährend die
gleichsam embryonalen Historiker unser selbst sind, so, von der anderen
Seite gesehen, vollenden und verabsolutieren wir als wissenschaftliche
Historiker die Einstellungen und Formgebungen des vorwissenschaftlichen
Lebens.
Auf Grund dieses ganz
allgemeinen Wechselverhältnisses ist die Einsicht in das historische
Verständnis durch die andere bedingt, wie es denn überhaupt geschehe,
dass ein Mensch den andern versteht.
Denn wie verschieden auch
Ausgangspunkte und Wege, Interesse und Material sei, schließlich ist das
Verstehen von Paulus und Ludwig XIV. das wesenhaft gleiche wie das eines
persönlich Bekannten.
Die Struktur alles Verstehens ist innerliche Synthese zweier von
vornherein getrennter Elemente.
Gegeben ist eine tatsächliche
Erscheinung, die als solche noch nicht verstanden ist.
Und dazu tritt aus dem
Subjekt, dem diese Erscheinung gegeben ist, ein Zweites, entweder diesem
Subjekt unmittelbar entsteigend oder von ihm aufgenommen und verarbeitet,
eben der verstehende Gedanke, der jenen zuerst gegebenen gleichsam
durchdringt, ihn zu einem verstandenen macht; dieses zweite seelische
Element ist manchmal für sich bewusst, manchmal nur an seiner Wirkung,
eben dem nun verstandenen ersten, spürbar.
Dieses Grundverhältnis
findet drei typische Ausgestaltungen, alle drei aus ihrer geringeren oder
größeren vorwissenschaftlichen Durchführung in die Methodik der
wissenschaftlichen Geschichte übergehend.
Zuerst handelt es sich
darum, die den äußeren Sinnen gegebenen Erscheinungen und Betätigungen
eines Individuums überhaupt dadurch zu verstehen, dass sie seelisch
motiviert sind, beziehungsweise die seelischen Ereignisse vermittels
solcher ihnen zugeordneter sinnlicher Äußerungen zu verstehen.
Für den allerersten Anschein ist uns der andere Mensch eine Summe äußerer
Eindrücke.
Wir sehen, tasten, hören
ihn, aber dass »hinter« all diesem eine Seele lebe, dass all diese Äußerlichkeiten
eine seelische Bedeutung, eine mit ihrem Sinnenbilde nicht erschöpfte
Innenseite haben, kurz, dass der andere keine Marionette, sondern etwas
innerlich Verständliches ist, das sei nicht in gleichem Maße gegeben,
sondern bleibe für immer eine nie absolut zu bewahrheitende Vermutung.
Und wie so der einzelne die
Beseeltheit des andern überhaupt diesem erst mitteilen muss, statt sie
als eine zwingende Konkretheit, wie einen Sinneneindruck, zu empfangen, so
natürlich auch bezüglich der einzelnen seelischen Inhalte.
Was jener will und denkt
und fühlt, könnten wir ihm nicht ansehen, sondern alles Ansehbare sei
nur Brücke und Symbol, um das Subjekt zur konstruktiven Schöpfung
dessen, was wohl in der Seele des andern vorgehen mag, anzuregen,
anzuleiten.
Die weitere Konsequenz
davon ist, dass alles Wissen um diese Vorgänge im anderen, alles
Verstehen ihrer eine Hineinverlegung selbsterlebter Innenereignisse ist:
jedes Gefühl, das Aufsteigen von Vorstellungen auf Grund vorangegangener,
die Herrschaft von Impulsen durch den ganzen Ideenkreis hin alles das müsse
erst in mir vorgegangen sein, um dem anderen imputiert zu werden.
Denn woher als aus der
eigenen Seele sollte ich denn das Material für Erkenntnis und Verständnis
der anderen nehmen, die sich doch eben nicht lesbar vor mir ausbreitet?
Hier liegt ersichtlich auch
das Grundproblem des spezifisch historischen Verstehens.
Kann ich schon den meinen
Augen und Ohren sich darbietenden Menschen nur so verstehen, dass ich ihn
über alles Gesehene und Gehörte hinaus mit den Inhalten meiner eigenen
Seele ausstatte, so wäre mir der längst Vergangene, von dem nur
sachliche Handlungen, fragmentarische Äußerungen, objektive
Erfolgsspuren seiner Existenz überliefert sind, ein bloßer Komplex äußerer
unverstandener Einzelheiten, wenn ich nicht hinter all dieses seelische
Zustände und Bewegtheiten legte, deren Sinn und Zusammenhang mir von
nirgends anders her als aus den Erfahrungen meines eigenen Innern kommen
kann.
Das Verständnis der historischen Person setze also, so verschieden sie
sonst von mir sei, in den zu verstehenden Punkten eine wesentliche
Gleichheit zwischen uns beiden voraus.
Ich knüpfe an diese
scheinbare Unvermeidlichkeit an, der sich allerdings gewisse Beobachtungen
als Beweise anbieten.
Die Erfahrung scheint zu
zeigen, dass wer nie geliebt oder gehasst hat, den Liebenden oder den
Hassenden nicht versteht, der nüchterne Praktiker nicht das Verhalten des
idealistischen Träumers und dieser nicht jenen, der Phlegmatiker nicht
die Gedankenverknüpfungen des Sanguinikers und umgekehrt.
So wird der persönlich
philiströse, an kleinbürgerliche Verhältnisse angepasste Historiker die
Lebensäußerungen von Mirabeau oder Napoleon, von Goethe oder Nietzsche
so reichlich und deutlich sie seien nicht verstehen.
Die Hoffnungslosigkeit, mit
der das Verständnis des Europäers der Psyche des Orientalen gegenübersteht,
wird von den Orientkennern gerade um so entschiedener bestätigt, je
tiefer und breiter ihre Erfahrungen sind.
Weniger autoritativ, aber,
wie ich glaube, nicht weniger begründet ist der Zweifel, ob der moderne
Mensch den Athener der Perserkriege, den mittelalterlichen Mönch, ja auch
nur die Hofgesellschaft, die Watteau gemalt hat, in ihrer wirklichen
Innerlichkeit versteht.
Ich spreche hier nicht von
dem Mangel oder der Vieldeutigkeit der Quellen, sondern von einem Versagen
des Verständnisses, dem kein Maß und Inhalt von Dokumenten abhelfen
kann, weil die Beschaffenheit des Subjekts die als Verstehen geltende
Reaktion auf das Objekt nicht hergibt.
Dennoch wäre der Schluss,
dass die Gleichheit zwischen Subjekt und Objekt das Verständnis trägt,
voreilig.
Sieht man jene Tatsachen nämlich
näher an, so zeigt sich, dass sie nur negativer Art sind, das heißt,
dass ein gewisses Maß von Ungleichheit des Wesens zwar das Verstehen
unterbindet; woraus aber keineswegs folgt, dass die Gleichheit es positiv
bewirkt.
Das wäre der gleiche
Irrtum, der aus der Geistesstörung durch bestimmte Hirnverletzungen
schließen wollte, dass diese Stelle der Hirnrinde den betreffenden
Bewusstseinsvorgang in seiner Normalität erzeugt hätte.
Änderung oder Ausfall
einer einzigen von den komplizierten näheren und ferneren Bedingungen
organischer und insbesondere seelischer Prozesse genügen oft zu deren völliger
Ablenkung, ohne dass diese eine darum als ihre positive Ursache gelten dürfte.
Man wird nur sagen können,
dass bei einer gewissen Größe psychischer Wesensverschiedenheit das
Verständnis von Äußerungen gehemmt ist.
Dass aber die Wesensgleichheit es hervorruft, ist dadurch um so weniger
bewiesen, als wir unzählige Male sehen, dass gerade zwischen Menschen der
allerverwandtesten Naturanlage die allerärgsten Missverständnisse
entstehen.
Die logische Voraussetzung
für die angebliche Bedingtheit des Verstehens durch Wesensgleichheit ist
die, dass man als die seelischen Beschaffenheiten im anderen nur, auf
gewisse äußerliche Symbole und Andeutungen hin, schließen müsste.
Auch ist dies auf den
ersten Blick plausibel.
Das Kind höre sich selbst
schreien, wenn es einen Schmerz hat, und könne daraus und nur daraus
schließen, dass ein anderer, den es schreien hört, gleichfalls Schmerz
empfinde, und ähnliches.
Allein gegen die
Verallgemeinerung dieser Hypothese will ich nur eine einzige rein
empirische Gegeninstanz anführen.
Eine der Wahrnehmungen an
anderen, die uns deren seelische Verfassung am unzweideutigsten und
eindruckvollsten verkünden, ist der Blick ihres Auges.
Gerade für diesen aber fehlt uns jede Analogie aus der Wahrnehmung unser
selbst.
Wer nicht Schauspieler ist
und sich vor dem Spiegel den Augenausdruck von Zorn und Zärtlichkeit, von
Mattigkeit und Ekstase, von Schreck und Verlangen einstudiert, hat so gut
wie gar keine Gelegenheit, diesen an sich selbst zu beobachten.
Es kann hier also gar keine
Assoziation zwischen dem eigenen Innenerlebnis und der eigenen Außenwahrnehmung
aufkommen, als deren Rückläufigkeit der Schluss von der fremden Außenwahrnehmung
zu der Deutung des fremden Innern einträte.
Diese eine Tatsache scheint
mir ein völlig hinreichender Beweis, dass jene innerlich-äußerliche
Eigenerfahrung nicht den Schlüssel zu der äußerlich-innerlichen
Fremderfahrung bieten kann.
Es bedarf aber einer
solchen auch nur wegen der unglückseligen Zerreißung des Menschen in Körper
und Seele, die den Körper für sich einer angeblich nur physisch äußerlichen
konkreten Wahrnehmung ausliefert, für die Feststellung des Seelischen
aber jener assoziativ vermittelten Hineinverlegung der subjektiven
Innenerfahrung in den anderen bedarf, eines Aktus, der ebenso kompliziert,
ja mystisch, wie für die ihm zugemutete Leistung unzulänglich ist.
Ich bin vielmehr überzeugt, dass wir den ganzen Menschen wahrnehmen und
erst in einer nachträglichen Abstraktion aus ihr die isolierte Körperlichkeit,
gerade wie auch in dem Wahrnehmenden nicht das anatomisch isolierte Auge
sieht, sondern der ganze Mensch sieht, dessen Gesamtleben durch das
einzelne Sinnesorgan nur wie kanalisiert ist.
Diese Wahrnehmung der
Totalexistenz mag dunkel und fragmentarisch, durch Nachdenken und persönliche
Erfahrung verbesserungsfähig und durch Einzelheiten angeregt, durchaus
nach Begabtheitsgraden abgestuft und bisher in keinem bestimmten Organ
lokalisierbar sein; sie ist die grundlegende einheitliche Art, wie der
Mensch auf den Menschen wirkt, ist der intellektuell nicht recht
analysierbare Gesamteindruck, die erste und meistens entscheidende, wenn
auch noch vieler Vervollkommnung fähige Erkenntnis des anderen.
Und wie nun historisches
Verständnis überhaupt nur eine Modifikation des zeitgleichen, ganz
aktuellen Verstehens ist, so enthält prinzipiell die überlieferte Schöpfung
oder Rede, Handlung oder Wirkung des vergangenen Menschen wirklich ihn
selbst und gibt ihn unserer ebenso ungetrennten Aufnahmefähigkeit hin;
alles einzelne, was der Mensch darbietet, ist pars pro toto.
Gewiss sind im Historischen
die Anregungen knapper, der Weg zum Gewinn des vollen Bildes länger und
windungsreicher, der Erfolg unvollständiger und problematischer.
Schließlich aber, insofern
er überhaupt erreicht wird, steht das Bild der historischen Persönlichkeit
und ihres Verhaltens in derselben Art vor uns wie das eines persönlich
Gekannten, in ihren einzelnen Bestimmungen wie in deren kausaler
Verbundenheit zugängig und begriffen, ohne irgendwie ein Abklatsch
unserer eigenen Eigenschaften oder Erlebnisse zu sein.
Und selbst wenn es, damit
es überhaupt nur zu seiner Feststellung käme, einer Übertragung der
seelischen Tatsachen aus dem Eigenbesitz bedürfte, so wäre damit noch
keineswegs das Verständnis dieser Tatsachen gegeben.
Denn wie oft stehen wir
unserer eigenen Vergangenheit ganz verständnislos gegenüber, wie oft
begreift der reife Mann Handlungen und Gefühle seiner Jugendzeit nicht
mehr, wie vieles soeben Gefühlte und Gewollte müssen wir als
verschlossene Tatsache unseres Daseins hinnehmen, ohne zu verstehen, wie
es aus seinen Vorbedingungen und unserem Charakter hat entstehen können,
ja was es nur seinem eigentlichen Sinne nach bedeutet!
Hier ist doch der
Gegenstand des Verstehenwollens gewiss in eigener Erfahrung gegeben, und
nichts kann darum entschiedener beweisen, dass die angebliche Übertragung
des inneren Eigenerlebnisses nicht den Weg zum Verständnis der
historischen Persönlichkeit bedeutet.
Mag sein, dass man nur den
Geist begreift, dem man irgendwie gleicht, dass uns etwa die Handlungen
von Wesen auf dem Sirius unverständlich wären; aber darum, dass man
einem Geist essentiell gleicht, begreift man ihn noch nicht.
Der griechischen Denkweise, mit ihrem festen Substanzialismus, ihrem
Haften an der plastischen Formsicherheit und deren unmittelbarer Überzeugungskraft
entsprach es, dass nur »Gleiches durch Gleiches« erkannt werde.
Uns aber erscheint dies als
ein naiv mechanistisches Dogma: als seien die verstehende Vorstellung und
ihr Gegenstand zwei zur Deckung zu bringende Größen - während die
Tatsachen damit doch in erstaunlicher Weise vergewaltigt werden.
Denn es kann doch niemand
leugnen, dass er an anderen Gefühle feststellt, die er selbst nicht gefühlt
hat, Verknotungen des inneren Schicksals versteht, die er selbst nie
durchlebt hat, Willensimpulse vorstellt, die seinem eigenen Wollen völlig
fern liegen.
Man kann diese
Schwierigkeit, der die Eigenerfahrung als angebliche Bedingung des Verständnisses
begegnet, nicht dadurch beseitigen, dass man zugibt: natürlich decke der
selbsterlebte Seelenvorgang nicht ganz genau den des anderen; man müsse
an jenem irgendwelche Umformungen, Umstimmungen, gewisse Änderungen der
Quantität und Qualität vornehmen.
Denn damit, dass man die
Differenz zwischen beiden zu einer unbedeutenden oder formalen macht, ist
sie nicht leichter zu überwinden; und wo überhaupt gibt es den Maßstab,
der sie objektiv als größer oder kleiner zu beurteilen gestattete?
Das Prinzip, dass wir nur
das an uns selbst Erfahrene an anderen verstehen, kann nur gelten oder
nicht gelten und wird durch den noch so geringfügigen seelischen Inhalt,
den wir an der fremden Seele wissen, ohne dass er je in unserer
aufgetaucht wäre, genau so durchbrochen wie durch den umfänglichsten.
Was über diese
Bedenklichkeiten der ganzen Theorie hinwegträgt, ist der Realismus, der
die Dinge, »wie sie wirklich sind«, in das Erkennen aufnehmen will.
Das eigene Erlebnis ist,
seinem Begriffe nach, unmittelbare Realität, und nur wenn das Erlebnis
der anderen Seele in Identität mit diesem vorstellbar ist, glaubt deshalb
diese naive Denkweise auch des wahren Vorgangs im anderen - vermöge der
Identifizierung der äußeren Phänomene - sicher zu sein.
Daraus, dass ich das
Erlebnis des anderen freilich vorstellen muss, schließt man ganz irrig,
dass ich es wie mein eigenes vorstellen muss (wie die Ethiker des Egoismus
daraus, dass ich das Subjekt meines Wollens bin, folgern, dass ich auch
dessen Objekt sein müsse) - schließt so, weil nur das eigene als volle
Wirklichkeit gilt, während man deren also bei dem anderen nicht sicher wäre,
es sei denn durch die mögliche Übertragung von jenem in dieses oder als
dieses.
Auch müsste ich bei dieser
Theorie des »Einfühlens« meiner eigenen Innenvorgänge in den andern
zuvor wissen, welchen Teil meiner eignen Erlebnisse ich zu dieser Mission
delegieren soll; die Anschauung des Fremdvorgangs, die ich auf diesem Wege
zu gewinnen hätte, wird für ihn also schon vorausgesetzt.
Ich glaube vielmehr, dass
die Einverleibung der eigenen Seele in den anderen, damit man ihn als
beseelt empfinde, eine völlig unbewiesene Übertragung aus andersartigen
Erfahrungen auf dieses unvergleichbare Phänomen ist, dass das Du vielmehr
ein Urphänomen ist ebenso wie das Ich, dass die Projektionstheorie für
das Du so wenig wie für die räumlichen Dinge als solche gilt.
Die Dinge werden nicht in
unserem Kopf fertig und dann durch ein geheimnisvolles Verfahren in den
gleichsam bereitstehenden Raum projiziert - wie man mit seinen Möbeln in
eine leerstehende Wohnung zieht - wobei das Innewerden dieses ganzen
Raumes noch immer kein geringeres Problem aufgäbe, als wenn wir des
Gegenstandes von vornherein als eines räumlichen inne würden.
Vielmehr ist dessen Räumlichkeit,
wenn wir hier überhaupt einmal die Frage vom Subjekt her stellen, eine
ursprüngliche Art oder Form des Anschauens.
Anschauen heißt in diesem
Fall nichts anderes als räumlich anschauen, und die Verdoppelung des
Dinges, als sei es erst einmal in uns und dann außer uns, ist völlig überflüssig.
So also ist die Seele nicht
erst etwas, was wir in uns wissen und dann in einen dazu geeigneten Körper
hineinprojizieren, so dass wir erst durch diesen merkwürdigen Prozess zu
einem Du kämen, sondern es entstehen - indem wir uns auch hier auf dem
Standpunkte des Idealismus halten -gewisse Vorstellungen in uns, die von
vornherein ein Du ausmachen und als dessen seelische Inhalte apperzipiert
werden.
Der Sprachausdruck, demgemäss
die Beseeltheit des Menschen »hinter« seinem Sichtbaren und Tastbaren
liegt, diese ganz oberflächliche räumliche Symbolisierung, tragt sicher
sehr viel dazu bei, diese Beseeltheit als das geheimnisvoll ungreifbare
Jenseitige erkenntnistheoretisch von dem unmittelbar zugängigen »Äußeren«
zu scheiden.
Haben wir freilich erst
einmal das Phänomen des anderen Menschen in Körper und Seele
zerschnitten, so müssen wir dann wieder eine Brücke zwischen sie bauen,
um die Einheit, die wir von vornherein haben, jetzt noch nachträglich
zusammenzuflicken: wir geben den Körper ausschließlich der optischen
Sinnlichkeit preis, überantworten die Seele ebenso ausschließlich
unserer eigenen Seele und lassen dann durch eine Hineinverlegung, Übertragung,
Projizierung oder wie man diesen niemals aufzeigbaren Akt nennen mag,
diese Seele in jenen Körper überwandern.
Aber diese Zerlegung ist
die Gewalttat eines atomisierenden Denkens.
Freilich, auch die Praxis des Tages ebenso wie die historische
Bildgestaltung aus immer zufälligem und lückenhaftem, oft nur
alleroberflächlichstem Material scheint diese Zerlegtheit und die vom
Denken also zu überwindende Distanz zwischen Äußerem und Seelischem zu
legalisieren.
Allein dieses Auseinander,
bewirkt durch die Fragwürdigkeit und Diskontinuität des Lebensstoffes,
hat doch zum Ausgangspunkt und zum Zielpunkt die einheitliche
Grundtatsache, die man das Du nennen kann: den unmittelbar als beseelt
verstandenen Anderen.
Auch wo die Überlegung von
einem äußerlichsten Symptom auf den längsten und gewagtesten Wege zu
deren seelischem Verständnis führt, liegt diese Kategorie zum Grunde und
steht wieder, als voll verwirklichte, am Ende des Wegs.
Eben diese Kategorie des Du
- für den Aufbau der praktischen und der historischen Welt ungefähr so
entscheidend wie die der Substanz oder der Kausalität für die
naturwissenschaftliche Welt - ist mit keiner anderen zu vergleichen.
Nicht in demselben Sinne
wie jedes andere Objekt kann ich das Du als meine Vorstellung bezeichnen:
ich muss ihm ein Für-sich-Sein zusprechen, wie ich es im Unterschiede zu
allen eigentlichen Objekten, nur an meinem eigenen Ich empfinde.
Daraus erklärt es sich,
dass wir den anderen Menschen, das Du, zugleich als das fernste und
undurchdringlichste Gebilde und als das nächste und vertrauteste
empfinden.
Das beseelte Du ist
einerseits unser einziger Pair im Kosmos, das einzige Wesen, mit dem wir
uns gegenseitig verstehen und als »Eines« fühlen können wie mit nichts
anderem, so dass wir die sonstige Natur, wo wir Einheit mit ihr zu fühlen
meinen, in die Kategorie des Du einstellen, und Franziskus deshalb die
tierischen und die unbeseelten Wesen als Bruder anredete.
Andererseits aber hat das
Du eine Selbständigkeit und Souveränität neben uns, wie nichts anderes,
einen Widerstand gegen die Auflösung in das subjektive Vorstellen des
Ich, jene Absolutheit der Realität, die das Ich an sich selbst fühlt.
Das Du und das Verstehen ist eben dasselbe, gleichsam einmal als Substanz
und einmal als Funktion ausgedrückt - ein Urphänomen des menschlichen
Geistes, wie das Sehen und das Hören, das Denken und das Fühlen, oder
wie Objektivität überhaupt, wie Raum und Zeit, wie das Ich; es ist die
transzendentale Grundlage dafür, dass der Mensch ein xvon polition
ist.
Gewiss ist es eine spätere
Stufe unserer Entwicklung, gewiss hat es nur selten die gleiche
Unzweideutigkeit seines Inhalts, gewiss tritt es nur auf kompliziertere
psychologische Vorbedingungen hin ein.
Allein auch jene sich als
primär gebenden Bewusstseinsakte sind durch Vorangegangenes bedingt; auch
sie bedürfen einer Entwicklung.
Es besteht hier nur ein
gradueller Unterschied, und durchaus irrtümlich ist die Meinung, dass
solche seelischen Erscheinungen, weil sie nur spät, unvollkommen, in
vielfach bedingten Situationen auftreten, darum in sich nichts Einfaches
und Primares sein könnten.
Dass die Unzulänglichkeit
der Bedingungen, unter denen sich das Bild oder das Verständnis erhebt,
deren Vollendetheit hintanhält, beweist nicht im geringsten, dass sie
durch Zusammenflickung jener bloßen Bedingungen assoziativ erzeugt würden.
Unterschiede innerhalb
dieses Urphänomens sind unverkennlich, hauptsächlich zwischen dem Verständnis
für ein aktuelles Ereignis oder eine mitlebende Person und dem für
historischgewordene Objekte.
Allein dass hier die Daten
numerisch geringer und zufälliger zu sein pflegen; dass sie statt
sinnlicher Unmittelbarkeit mehr auf intellektuelle Vermittlung angewiesen
sind, dass keine gemeinsame Zeitatmosphäre den Verstehenden und seinen
Gegenstand umfängt - dies alles kann im einzelnen Fall das Verständnis
teilweise oder ganz ausschließen, aber eine notwendige und prinzipielle
Differenz besteht zwischen Gegenwart und Vergangenheit in dieser Hinsicht
nicht.
Freilich können wir das
Verhältnis des eigentlichen Erlebens nur zu der ersteren haben; außerdem
aber auch zu ihr, wie zu der zweiten, das Verhältnis des historischen
Verstehens, das ja auch ein jeder zu seiner eigenen Vergangenheit besitzt.
Gewiss legen sich für den
in die historische Ferne hinsehenden Blick das äußere und das seelische
Ereignis oft weiter auseinander als für die unmittelbare Anschauung, und
es bedarf häufiger des Schließens von dem einen auf das andere; allein
dies alles sind doch nur verlängerte Zugangsstraßen, die schließlich
auf jenes Verstehen führen, das Einheit durch Einheit aufnimmt, oder es
sind dessen bruchstückhafte Verwirklichungen.
Für dieses Verstehen, das
in seinen Bedingungen freilich oft durch praktische und zufällige Unzulänglichkeiten
zerspalten wird und daraufhin der intellektuellen Analyse als Deutung
selbständig äußerer Symptome durch dahinter gelegte Seelenhaftigkeit
erscheint - ist der, an sich nicht ansprechende Begriff der Intuition
dennoch angemessen.
Aber das Verdacht
Erweckende, missbräuchlich Mystische an ihm verschwindet gerade, wenn wir
uns klar machen, dass die Anwendung der Intuition auf das historische
Verstehen von ihrem ganz unvermeidlichen Gebrauch in jedem Augenblick des
praktischen Lebens umgriffen wird.
Eine kompliziertere
Struktur zeigt die zweite Art des Verstehens, mit der ein bereits als
seelisch bekannter Akt durch einen anderen der gleichen seelischen Ebene
verstanden werden soll. Hören wir von einem hannöverschen
Legitimisten nach 1866, dass er Bismarck gehasst hat, so verstehen wir zunächst
dieses Gefühl unmittelbar rein als solches.
Hass ist ein uns sogleich
bekannter Affekt. Wir wissen innerlich die nicht weiter zu
analysierende subjektive Bedeutung dieses Affekts, unter welchen Umständen,
an welchem Träger er uns auch begegnet.
Solches Verstehen eines
einzelnen seelischen Inhalts ist transhistorisch, sozusagen sachlich, denn
es gilt dem gleichen psychologischen Grundvorgang, wenn ich es auf
Brunhild gegen Kriemhild, auf den Hannoveraner gegen Bismarck, auf den
Wohnungsmieter gegen seinen schikanösen Hauswirt anwende.
Die Zweiheit der Elemente,
die jedes Verstehen vor aussetzt, ist bei solch unmittelbarem Verstehen
des Seelischen die, dass ein individueller Fall durch einen generellen, in
dem Subjekt vorbestehenden Inhalt verstanden wird.
Historisch in des verstehe ich den Hass des Hannoveraners, wenn ich den
Krieg von 1866 und die preußische Annexion kenne, oder: wenn ich ihn überhaupt
als Element eines zeitlichen Gesamtzusammenhanges erkenne.
Nun muss aber jede Stufe
solcher Verbindungen ihrerseits wieder in jenem ersten Sinne verstanden
sein.
Ebenso wie den Hass muss
ich nun verstehen, was Anhänglichkeit an ein Herrscherhaus oder was
Wertung politischer Selbständigkeit ist.
Während also jenes erste
Verstehen einen gleichsam zeitlosen oder überindividuellen Inhalt, das
andere aber den realen Zusammenhang eines vielgliedrigen Werdens zu
betreffen schien, zerfällt tatsächlich auch dieser letztere in ein
Nacheinander einzelner Verständnispunkte, von denen ein jeder nun doch
wieder überhistorisch-psychologisch verstanden werden muss.
Das historische Verständnis kommt als solches also ersichtlich erst
zustande, wenn diese diskontinuierlichen und diskontinuierlich sozusagen
zeitlos verstandenen Momente für den Betrachter von einem stetigen
Lebensstrom durchflutet werden, der sie in Verbindung setzt, das Tor Des
einen gegen den anderen öffnet, sie als die Pulsschläge eines zeitlichen
Lebensverlaufes empfinden lässt.
Ihr voriges isoliertes
Verstehen zeigt sich nun als auf eine gewisse Abstraktion gegründet, es
hob aus dem rastlos steigenden und sinkenden Leben eine Wellenspitze
heraus als ein eigenes umschriebenes Objekt des Verstehens, während sie
in Wirklichkeit mit der früheren und der folgenden, mit allen desselben
Lebens kontinuierlich verbunden ist.
Die Herstellung dieses
kontinuierlichen Zusammenhanges ist das, was der Überlieferung der bloßen
Geschehnisse die Form Geschichte aufprägt.
Die Feststellung, ein
bestimmtes Ereignis habe in einem bestimmten Jahre stattgefunden, würde
dieses noch nicht zu einem historischen machen, wenn das Jahr isoliert in
einem sonst leeren Zeitschema stünde.
Man würde dann noch immer
das Ereignis nach seiner inneren Bedeutung, seiner von der Zeit unabhängigen
Eigenschaftlichkeit verstehen können.
Dies freilich muss in jedem Fall stattfinden.
Damit ist aber erst der
Stoff gegeben, an dem die Geschichtswerdung sich als eine bestimmte
Formgebung vollzieht.
Geschichte ist nicht das
Vergangene, das uns unmittelbar und genau genommen, immer als
diskontinuierliche Stücke gegeben ist, sondern ist eine bestimmte Form
oder Summe von Formen, mit denen der betrachtende, synthetische Geist
diesen zuvor festgestellten Stoff, die Überlieferung des Geschehenen,
durchdringt und bewältigt.
Dadurch, dass ich eine
Reihe als historisch verstehe, kommt ihr inhaltlich nichts Neues zu; nur
eine funktionelle Verbindungsart wird damit von der inneren Anschauung
gewonnen oder gestiftet.
Wie die historische
Betrachtung überhaupt den einzelnen Wirklichkeitsinhalt der auf ihn
selbst beschränkten Vorstellung enthebt und ihn, als bewirktes und
bewirkendes Glied, in unabsehliche Zusammenhänge einstellt, so verfährt
nun auch die Verstehensfunktion, wenn sie gegebene seelische
Wirklichkeiten als historische ergreift.
Diese Gegebenheiten müssen
zunächst für sich als irgendwie geschlossene psychische Einheiten
verstanden sein - ohne diese Voraussetzung können sie nicht historisiert
werden.
Sie werden es dann aber erst, wenn sie sich gewissermaßen verflüssigen,
sich als die jeweils besonderen Gestaltungen einer Lebensdynamik zeigen,
die sie so alle untereinander verbindet.
Man kann deshalb den
Begriff des historischen Verstehens irgendeiner seelischen
Einzelwirklichkeit tiefer und genauer so bestimmen: es bedeute das
Verstehen dieses einzelnen aus der Lebenstotalität seines Trägers.
Es ist ein verbreiteter
Irrtum, als gäbe das Nacheinander gewisser psychischer Daten, deren jedes
nur seinen umschriebenen, begrifflich fixierbaren Inhalt bietet, schon das
Verstehen des jeweils späteren.
Dies entspricht dem
atomistisch mechanischen Prinzip, das das seelische Leben, um seine
logisch auszudrückenden Inhalte herum, zu einzelnen »Vorstellungen«
koagulieren lässt und es als die Summe der Bewegungen der so
gegeneinander abgesetzten Teile begreifen möchte. Das Verständnis
soll damit - an der Hand dessen, was man die Logik der Psychologie nennen
könnte, was aber in Wirklichkeit eine undeutliche Mischung von Logik und
Psychologie ist - unmittelbar von Inhalt zu Inhalt gehen.
Allein die dynamische
Verbindung, das Ineinander-Eingehen, die Vereinheitlichung des
Mannigfaltigen fällt auf diese Weise aus und gerade damit das Verstehen
des einen vermittels des anderen.
Denn dieses fordert die
innere Vision einer stetigen Lebensbewegung, deren Stationen nur jene
einzelnen inhaltlich angebbaren Momente sind.
Gerade nur wenn in einem
jeden von diesen der ganze Mensch, der ja nicht eine starre Substanz,
sondern eine lebendige Entwicklung ist, fühlbar wird, verstehen wir das
Spätere, weil jetzt das Frühere die Stromrichtung auf dieses hin zeigt.
Aber diese Entwicklung ist, wie gesagt, nicht als ein Springen von Inhalt
zu Inhalt verständlich, sondern nur durch die Vergegenwärtigung des
Lebens, das nun jene benennbaren Einzelinhalte als seine Effulgurationen
verständlich macht - mag dieses Leben ein aktuelles oder ein vergangenes
sein.
Dies kann sich ohne Änderung
des Prinzips über das Individuum hinaus erstrecken, indem wir eine Anzahl
von Individuen in dem gleichen, Welle auf Welle gebärenden Lebensstrom
erblicken.
Das Urphänomen des
Verstehens verwirklicht sich dann an jener ganzen überindividuell
ausgedehnten Folge des stetig drängenden, auf jene Einzelheit hindrängenden
Lebens.
Es liegen nach alledem hier
zwei Modi des Verstehens vor, über deren Sonderung und Verwehung um so
mehr Klarheit erfordert ist, als der Historismus mit ihrer oberflächlichen
Erfassung die ärgsten Missverständnisse begangen hat.
Wenn ich das Gedicht: »Warum
gabst du uns die tiefen Blicke« seinem Inhalt und seiner dichterischen
Bedeutung nach verstehe, so ist dies völlig geschichtsfrei.
Verstehe ich aber aus dem
Verhältnis Goethes zu Frau von Stein Inhalt und Stimmung des Gedichts und
dass es eine ganz bestimmte Epoche in der Entwicklung dieses Verhältnisses
bezeichnet, so ist dieses Verständnis nun ein historisches.
Besonders ist dies an der
Kunstgeschichte zu verdeutlichen.
Mit dem letzten Pinselstrich des Malers an seinem Gemälde steht dessen
Bedeutung jenseits der Geschichte.
Es kann wieder ein
historischer Faktor werden: durch seine äußeren Schicksale, durch die
Wandlung im Aufgefaßt- und Gewertetwerden, durch seine Wirkung auf die spätere
Kunst.
Aber jene andere Bedeutung:
die Gesetze seiner Formgebung und seiner Farbigkeit, das Verhältnis
seines Gegenstandes zu seinem besonderen Stil, das Leidenschaftliche oder
Beruhigte des Vortrags, die Betonung des Zeichnerischen oder des
spezifisch Malerischen, kurz die Eigenschaftlichkeit seines Seins bleibt
davon unbetroffen; sie hat die Bewegungen seines Werdens in sich
konsumiert und ist, nach jenen rein immanenten Bestimmungen verstanden,
gegen sie gleichgültig geworden.
Die hiermit angedeutete
Scheidelinie zwischen dem sachlichen und dem historischen Verstehen eines
geistig Objektiven hat ihren Fußpunkt in einer tiefsten Problematik
unseres Erkennens hinsichtlich seiner Sicherheit und Eindeutigkeit.
Eine Schöpfung des
Geistes, die verstanden werden soll, kann man einem Rätsel vergleichen,
das sein Schöpfer auf ein bestimmtes Lösungswort hin gebaut hat.
Findet ein Ratender nun
etwa ein zweites, genau so passendes, auf das also das Rätsel, objektiv
genommen, mit dem ganz gleichen logischen und dichterischen Erfolge
zugeht, so ist es eine ebenso vollkommene »richtige« Lösung wie die vom
Dichter beabsichtigte, und diese hat nicht den geringsten Vorsprung vor
ihr oder vor all den anderen Lösungsworten, die man noch, prinzipiell
unbeschränkt, auffinden mag.
Hat ein Schöpfungsvorgang
erst einmal die Form des objektivierten Geistes gefunden, so sind alle und
sehr mannigfaltige Verständnisarten in dem Maße gleichberechtigt, in dem
eine jede in sich bündig, exakt, sachlich befriedigend ist.
Auf die individuell
seelische Lebenswirklichkeit jenes Schöpfungsvorganges als Kriterium
dieses Bewusstseins brauchen sie nicht zurückzugehen.
Das immanente Verständnis
zum Beispiel eines Kunstwerks ist ebenso unendlich variabel wie die Gefühle,
die es auslöst und die keineswegs an diejenigen gebunden sind, die der
Schöpfer darin investiert hat: die Gefühls- und Wertungskomplexe des
modernen Menschen angesichts des Straßburger Münsters oder der
Mondschein-Sonate, die tiefst gelegenen Träger seines Verstehens, kann
man unmöglich für unbegründet oder falsch halten, weil sie nicht mit
denen von Erwin von Steinbach oder von Beethoven zusammenfallen.
Dies gilt keineswegs nur für die ihrem Inhalte nach idealen Bezirke.
Der empiristische Techniker
mag eine maschinelle Einrichtung erfinden, die ihm, nach dem Verhältnis
der von ihm kombinierten Apparate zu dem von ihm beabsichtigten Effekt, völlig
verständlich ist; ein tieferer Forscher, auf die in jenen Apparaten
wirksamen allgemeinen Naturgesetzlichkeiten zurückgehend, mag entdecken,
dass dieselbe Maschinerie zu Zwecken verwendbar ist, an die der Erfinder
nicht gedacht hat.
Erst wenn man die hiermit
angedeuteten Möglichkeiten restlos erschöpft hätte, wäre die
Erfindung, wie sie dasteht, wirklich verstanden, das heißt wären die in
ihrer Objektivität virtuell ruhenden Verstehensmöglichkeiten
verwirklicht.
Nicht anders liegt es mit
politischen Verfassungen oder mit einzelnen Gesetzen.
Was sie eigentlich logisch oder praktisch bedeuten, wissen ihre Schöpfer
oft sehr unvollständig oder gar nicht, andere Persönlichkeiten, die
Kasuistik, die reale Entwicklung zeigen oft erst die in ihnen angelegten
Wirkungen, die man doch nicht, weil die subjektive Genesis sie nicht
enthielt, als Irrtümer oder Verbiegungen bezeichnen darf.
Allenthalben spielt
zwischen Schöpfer und Werk dieses einigermaßen unheimliche Verhältnis:
dass das zu Selbständigkeit gelangte Werk noch etwas anderes (mehr oder
weniger, etwas Wertvolleres oder Wertloseres) enthält als die Intention
des Schöpfers hineingelegt hat.
Schöpfertum ist in diesem
Sinne immer nur ein Ausdruck a potiort, was der Schaffende gewollt und
genau genommen gekonnt hat, ist immer nur ein Element des tatsächlich
Geschaffenen und erst mit dem Begreifen der unabsehlichen Möglichkeiten,
zu denen es sich jenseits dieses Elementes entfaltet, wäre sein
Sachgehalt wirklich verstanden.
In allem was wir schaffen,
besteht außer dem, was wirklich wir schaffen, noch eine Bedeutung, eine
Gesetzlichkeit, eine Fruchtbarkeit jenseits unserer eigenen Kraft und
Intention.
Dennoch, wir haben
zweifellos das Ganze geschaffen, es handelt sich keineswegs um
aufgenommene Elemente, die innerhalb unserer Schöpfung ihre mitgebrachten
Eigenheiten und Potentialitäten entfalteten; das Problem liegt gerade in
dem unserem Geschöpfe eigenen Sinn und Vermögen, die unbedingt erst mit
seinem Geschaffenwerden durch uns möglich und wirklich werden.
Aus dem Gefühl hierfür entstehen wohl die immer wieder mit einem
gewissen mystischen Ton auftretenden Vorstellungen: als wäre alles, was
wir schaffen, schon ideell präformiert, und wir gewissermaßen nur die
Geburtshelfer, die einem metaphysisch Seienden zur Geburt in die
Wirklichkeit hinein verhelfen.
Denn dies, als der innere Sachverhalt gesetzt, würde allerdings sozusagen
erklären, wieso das der Erscheinung nach von einem Subjekt allein
Geschaffene unbegrenzte Bedeutungen aller Art besitzt, über alle.
Schaffensintentionen und Kräfte
dieses Subjekts hinaus; wieso also auch das geistige Verständnis einer
solchen Schöpfung prinzipiell kein Problem mit nur einer möglichen Lösung
ist.
Hiermit entwickelt sich nun
jener Gegensatz zwischen den beiden Bedeutungen des Verstehens noch
weiter.
Nach dem Bisherigen ist
man, indem man zum Beispiel den Faust theoretisch und ästhetisch
versteht, von seinem seelischen Entstehensgange ganz zurückgetreten; wenn
verschiedene Arten des Verständnisses den Ansprüchen an logischen und künstlerischen
Zusammenhang, einheitliche Klärung der Dunkelheiten, nachfühlbare
Entwicklung der Teile auseinander in gleichem Maße genügen, so sind sie
alle in gleichem Maße richtig.
Soll ich den Faust dagegen
historisch-psychologisch verstehen, das heißt, das entstandene Gebilde
aus den seelischen Akten und Entwicklungen verstehen, die es Teil für
Teil in Goethes Bewusstsein erwachsen ließen, so ist eine entsprechende
Mehrdeutigkeit prinzipiell ausgeschlossen; denn dieser Schöpfungsprozess
hat sich schlechthin in einer bestimmten Weise abgespielt, die unsere
Erkenntnis ergreifen oder verfehlen mag, die sie aber nicht auf mehrere äquivalente
Arten vorstellen kann; eine Mehrheit von historischen, aus dem seelischen
Vorgang geschöpften Verständnissen der Faust-Entstehung, die alle ebenso
richtig waren, wie eine Mehrheit jener sachlichen Faust-Verständnisse es
sein könnte, ist ein Nonsens.
Es kann natürlich auch über
das historische Verständnis eine Mehrzahl von Hypothesen geben; aber von
ihnen ist schließlich die eine wahr und die andere falsch - eine
Alternative, der sich das aus dem objektiven Inhalt entwickelte Verständnis
nicht stellt, die es vielmehr durch andere Wertkriterien ersetzt.
So kann einem und demselben Sachgehalt gegenüber der Aufforderung, ihn
historisch zu verstehen, vollkommen genügt werden; der anderen, ihn
sachlich, nach allem, was er an Bedeutungen in sich schließt, zu
verstehen - kann in vollkommenem Maße niemals genügt werden.
Freilich besteht dabei das
tief Paradoxe, dass wo historisches Verstehen seelisches Verstehen ist,
gerade dieses sich nie zu völliger Eindeutigkeit erheben, nie zwischen
einer Mehrheit, ja Entgegengesetztheit von Erklärungsprinzipien absolut
entscheiden kann.
Der Reichtum und die
Beweglichkeit seelischer Verbindungen ist so groß, dass keinerlei »psychologisches
Gesetz« die Weiterentwicklungen einer bestimmten seelischen Konstellation
bündig zu bestimmen imstande ist, dass sehr oft vielmehr eine solche
Entwicklung, nach einer bestimmten Seite hingehend, uns genau so plausibel
erscheint, wie die nach der genau entgegengesetzten hin erfolgende.
Dass empfangene Wohltat
Dankbarkeit erzeugt, verstehen wir ebenso gut, wie dass sie Demütigung
und Ranküne hinterlässt; wenn geoffenbarte Liebe Gegenliebe hervorruft,
nehmen wir es als ebenso verständlich hin, als wenn sie Reizlosigkeit und
Gleichgültigkeit bewirkt, und unzähliges Ähnliche.
Wo also genetische Reihen
durch psychologische Interpolation zustande kommen - was, mehr oder
weniger bewusst, allenthalben der Fall ist - ist von eingesehener
Notwendigkeit, wie eindeutig wissenschaftliches Verständnis sie forderte,
nicht die Rede.
Immerhin, die Annahme des
einen psychologischen Weges ist der Wirklichkeit nach die richtige; jede
andere ist irrig - gleichviel ob sich diese Richtigkeit oder diese Irrung
unbedingt von uns festlegen lässt.
Der grundsätzliche
Unterschied des historischen Verstehens gegen das Verstehen des
Sachgehalts als solchen ist damit jedenfalls festgelegt.
Der radikale Historismus nun will die ganze Problematik eines geschaffenen
Gebildes damit erledigen, dass er die Bedingungen und Stufen seines
zeitlichen Zustandekommens nachzeichnet.
Die sachlichen,
zeitenthobenen Qualitäten des Seins lösen sich, als Erkenntnisaufgaben,
in ihr Werden auf: welche Ansätze und Vorbereitungen, welche
Entwicklungen und fördernde oder hemmende Bedingungen das Gebilde
heraufgeführt haben, ist jetzt die Frage, mit deren Beantwortung das
hinreichende Verstehen des seienden Sachverhalts identisch sein soll.
Nun ist von vornherein,
dass man das Verstehen eines Objekts als zeitlosen durch das andere
ersetze: wie es zu dem Objekt als zeitlich realem gekommen ist, nicht
sinnreicher, als die Aussicht von einem Berggipfel dem Verfolgen des Weges
gleichzusetzen, der den Wanderer Schritt für Schritt auf diesen Gipfel
geführt hat: ein willkürliches Abschneiden einer ganzen Dimension des
Verstehensproblems.
Aber das scheinbar
eliminierte Problem hat sein Recht nicht nur außerhalb des Historischen,
sondern gerade auch innerhalb eben dieses.
Denn das scheinbar rein
historische Verständnis macht fortwährend von dem überhistorisch
sachlichen Gebrauch, nur ohne sich darüber methodische Rechenschaft zu
geben.
Niemals würden wir das Was
der Dinge aus ihrer geschichtlichen Entwicklung verstehen, wenn wir nicht
dieses Was selbst irgendwie verstünden; sonst wäre jenes Unternehmen
ersichtlich ein ganz sinnloses.
Damit eröffnet sich ein
dritter Typus der Verstehensvorgänge, dessen zugrunde liegende Zweiheit
der Elemente weder zwischen Äußerem und Innerem, noch zwischen
Seelischem und Seelischem, sondern zwischen seelischem und zeitfreiem
Inhalt gegeben ist.
Zwischen diesen zeigen sich
nun sehr eigenartige Reziprozitäten, da das transhistorische Sachverständnis
nicht nur die einzelnen Inhalte betrifft, die erst durch Aufnahme in den
historischen Entwicklungsstrom zu gegenseitiger Berührung und
einheitlicher Geordnetheit gelangten.
Sondern jene Inhalte zeigen
schon in ihrem eigenen ideellen Bestande Beziehungen und Angewiesenheiten,
sind gleichsam zeitlose Symbole ihrer zeitlich seelischen Realisierung,
beides in tiefst gegründeter gegenseitiger Abhängigkeit.
Wenn ein Historiker der
Philosophie behauptet: Kant verstehen heißt ihn historisch ableiten - so
erscheinen ihm die vorkantischen Lehren als Staffeln, deren Richtung auf
die kantische hingeht und damit Inhalt und Zeitpunkt dieser in verständlicher
Weise festlegt.
Allein dies würde nicht
gelingen, wenn all diese Lehren - und hier liegt der entscheidende Punkt -
nicht nach ihrem logischen Sachgehalt und ohne jede Rücksicht auf ihr
historisches Auftreten eine verständliche Reihe bildeten.
Es verhält sich damit nicht anders als mit jedem psychisch verwirklichten
Schluss.
Wir verstehen vollkommen
die seelische Bewegtheit, die, wenn einmal zu der Überzeugung, dass alle
Menschen sterblich sind, die andere gekommen ist, dass Cajus ein Mensch
ist, das Bewusstsein gewissermaßen organisch zu dem Inhalt entwickelt:
Cajus ist sterblich.
Aber wir verstehen sie so
doch nur darum, weil all diese Gedanken ihrem Sachgehalt nach gültig
waren, sind also völlig zeitlos und gleichgültig dagegen, dass wir sie
nur in zeitlicher Reihenfolge vorstellen können.
Wir empfinden das von
unserem Vorstellen unabhängige Wahrsein des: alle Menschen sind
sterblich, das nicht vor und nicht nach dem Wahrsein von: Cajus ist ein
Mensch, und: Cajus ist sterblich - besteht; alle drei Gedanken gelten in
absoluter zeitfreier Koordination: der Tod des Cajus erfolgt doch nicht
als zeitliche Konsequenz nach den beiden anderen Tatsachen; die Anordnung,
die aus den ersteren beiden jenes letztere entwickelt, ist kein
Nacheinander, wie unser Vorstellen und Ausdrücken ihrer, sondern eine
rein innersachliche, eine im ideellen Nebeneinander statt findende.
Bestünde diese nicht, so würden
wir auch nicht Richtung und Recht der seelischen Entwicklung anerkennen,
die sie in bestimmtem Nacheinander realisiert.
Und so steht es mit dem
historischen Verständnis Kants. Der Rationalismus, der alle sinnliche
Erfahrung deklassiert und die unbedingte Wahrheit nur in der apriorischen
Vernunft wohnen lässt; der Sensualismus, der die letztere ableugnet und
nur in der Erfahrung die Quelle gültiger Erkenntnis erblickt; die
kantische Entscheidung: gegenständliche Erkenntnis gebe uns allerdings,
wie es der Empirismus wolle, nur die Erfahrung; allein diese sei selbst
schon durch jene Vernunftprinzipien geformt; infolgedessen gelten diese
allerdings unbedingt, aber nur für die Gegenstände der Erfahrung und
niemals über diese hinaus für sich allein - diese Prinzipien haben eine
ideelle Ordnung, die nur durch ihren zeitlosen Sachsinn bestimmt ist.
Verstünden wir den Sinn
dieser Ordnung nicht rein in sich selbst, unabhängig von seinen
geschichtlich seelischen Realisierungen, so würden wir auch die zeitliche
Anordnung dieser letzteren nie verstehen, sie wäre uns vielmehr eine bloße
diskontinuierliche Folge.
Die Vernünftigkeit in
ihrer Reihenfolge, durch die wir die Richtung der Lebensströmung in den
sie tragenden, sie in sich realisierenden Subjekten begreifen, ist nur möglich
als zeitlich distrahierende Spiegelung jener rein sachlichen Ordnung.
Neben den Satz, dass das
Verständnis Kants bedingt sei durch seine historische Ableitung, kann man
den anderen setzen, dass seine historische Ableitung bedingt sei durch
sein Verständnis.
Wenn wir die Einheit eines
Lebensstromes durch die Ereignisse hindurchlegen und ihn, durch das Frühere
bestimmt, an dem Späteren anlangen sehen und damit, anders ausgedrückt,
das Spätere auf Grund des Früheren verstehen, so kommen Recht und Anreiz
zu diesem Prozess erst aus jenem sachlichen Verstehen ihrer Inhalte, aus
deren logischem, gar nicht vitalem, gar nicht zeitlichem Verhältnis
untereinander.
Hier aber macht sich eine
methodische Voraussetzung geltend, die zwischen dem historischen und dem
sachlichen Verstehen eine viel engere, sozusagen unbedingte Verbundenheit
erweist.
Ich gehe aus von dem
(gleichviel ob tatsächlich wahren oder zu korrigierenden) Beispiel der
Standpunktentwicklung Kants vom Dogmatismus durch sensualistischen
Skeptizismus zum Kritizismus.
Woraufhin können wir wohl
sagen, dass einer dieser Standpunkte oder Begriffe sich verständlich zu
dem andern hin »entwickle«?
Ein jeder besagt ganz genau
nur seinen eigenen Inhalt, ist ganz in sich geschlossen und dass er ȟber
sich hinausweist« ist ein symbolischer Ausdruck, der das unbefangen
voraussetzt, nach dessen Möglichkeit hier gerade gefragt wird; es ist
ganz hoffnungslos, aus diesen nebeneinander aufgereihten Begriffen eine
Entwicklung herauszupressen, die den einen auf das Verstehen des andern
hin verständlich machte.
Dass wir nun dennoch eine
solche Entwicklung hier tatsächlich sehen, kann nur so geschehen, dass
wir dieser rein sachlichen, von keinem konkreten individuellen Leben
zusammengelebten Aufreihung von Standpunkten ein ideelles, sozusagen
fingiertes Subjekt unterlegen, dessen lebendig geistige Kontinuität diese
Stadien durchmacht und sie dadurch verbindet, sie aus der
Zugeschlossenheit des jeweils nur auf sich selbst beschränkten Sinnes erlöst
und sie erst dadurch zu Gliedern einer Entwicklung werden lässt.
Dies ist das fortwährend
und ohne besonderes Bewusstsein angewandte, sozusagen technische
Hilfsmittel, mit dem das eine uns auf Grund des nun in einer gleichsam
zeitlosen Zeit, durch ein zeitloses Leben mit ihm zusammenhängenden
anderen erst verständlich wird.
Ebenso, wenn man Werke
einer längeren Periode der Kunstgeschichte als eine Entwicklung auffasst.
Gemälde zum Beispiel
stehen diskontinuierlich hintereinander, je eine inselhafte Einheit, ein
jedes in seinem Rahmen, in dem keines von dem anderen etwas weiß.
Der Kunsthistoriker
konstruiert unter ihnen eine allmähliche Entwicklung von Starrheit zu
Bewegtheit, von Armut zu Fülle, von Unsicherheit zu souveräner
Beherrschung der Mittel, von Zufälligkeit in der Komposition zu
harmonischer, jedes Element sinnvoll einfügender Ausgeglichenheit usw.
Es kann dabei gar nicht die
Rede sein, dass der Schöpfer des höchsten Werkes etwa alle vorangängigen
Stadien in seiner persönlichen Entwicklung durchlaufen hätte.
Auch wird danach überhaupt
nicht gefragt, sondern nach der Möglichkeit, diese »Entwicklungs«-Reihe
nach sachlichen Kriterien aus dem objektiven Bestand der Werke, als wäre
jedes vom Himmel gefallen, aufzubauen.
Aber eben diese Möglichkeit
liegt in dem, was man das methodische Subjekt nennen könnte, einem
ideellen Gebilde, das diese Schöpfungen in einer seelisch begreiflichen
Evolution, in Vorbereitungen, Aufsteigen, Verfall durchläuft, die
sachliche Ordnung ihres Nebeneinander in einen als zeitlich gedachten
lebendigen Verlauf vereinheitlichend, dessen Kontinuität nicht an dem
Rahmen des einzelnen Werkes stockt.
Auch scheint der
Sprachgebrauch diese Deutung zu legitimieren. Wir sagen, dass die Kunst,
das Recht, die Chemie sich entwickelt. Nun liegt es aber auf der Hand,
dass die Kunst, die Chemie usw. als solche keine Realitäten sind, sondern
Zusammenfassungen von auseinanderliegenden, wenn auch durch mannigfache
Beziehungen verknüpften Einzelerscheinungen unter abstrakten Begriffen.
Besteht die Kunst in dem hier fraglichen historischen Sinne aus der Summe
der Kunstwerke, so bezeichnet das Wort die »Kunst« weder eine konkrete
Einheit, noch selbst, wenn sie das wäre, eine lebendige, die »sich«
entwickeln könnte; denn in diesem Falle müsste »die Kunst« die Bilder
schaffen, während doch die Künstler es tun.
Wenden wir den Ausdruck
dennoch an, so haben wir damit die Hypostasierung eines Hilfsbegriffs und
ein ganz neues Subjekt geschaffen, das die ausschließlich dem Lebendigen
vorbehaltene Fähigkeit der Selbstentwicklung hat und dessen Lebensäußerungen
oder -etappen die einzelnen Kunstwerke sind.
Dieses Subjekt wird in
zeitlicher Entwicklung empfunden, und zwar wieder daraufhin, dass die
Momente dieser Entwicklung jenes überzeitliche, rein sachliche
Entwicklungsverhältnis haben.
Wir bedürfen dessen sogar
schon für vereinzelte Vorkommnisse: wenn wir Liebe oder Hass ganz im
allgemeinen, ohne Bindung an die Wirklichkeit eines Individuums,
verstehen, so legen wir ihnen sozusagen einen ideellen Träger unter, ein
Leben überhaupt, das als ganzes auf irgendeinen Reiz mit ihnen antwortet,
das sich gewissermaßen in diese momentanen Formen gegossen hat.
Als starr umschlossene, aus dem Zusammenhang des Lebens gerissene Begriffe
wären sie für uns kaum mehr als Worte, erwarteten jedenfalls erst das
eigentliche Verstandenwerden.
Noch deutlicher wird dies,
wo ein einzelnes Ereignis das Verstehen eines andern einzelnen vermittelt.
Dass wir ein - gleichviel ob historisches oder abstrakt vorgestelltes -
Rachegefühl aus einem zuvor erlittenen Unrecht »verstehen«, geschieht
nicht durch ein noch so enges Aneinanderrücken beider Vorgänge, sondern
indem wir einen einheitlichen Lebensfluss vorstellen können, von dem
dieses zwei Wellen sind, durch seine Strömung selbst verbunden.
Es zeigt sich also: der Rhythmus, die stetige Bewegtheit des Lebens ist
der formale Träger des Verständnisses, selbst in denjenigen logischen
Zusammenhängen von Sachgehalten, die ihrerseits das lebendig konkrete
Vorkommen dieser Sachgehalte erst verständlich machen.
Die eigentliche, wirksame
Lebendigkeit jenes ideellen Subjekts ist aber eine Umformung oder
Objektivierung einer solchen, die wir in uns selbst – aber als überindividuelle,
für die wir gleichsam nur ein Beispiel sind - spüren.
Innerhalb des rastlosen Geschehens und Wogens in uns empfinden wir doch,
mehr oder weniger sicher, ein mindestens formales Telos, eine
Verwirklichung von Anlagen, ein Sich-Entfalten von Keimen, die wir haben,
oder vielmehr, die wir sind.
Diese Empfindung findet
eine Teilerscheinung oder eine Konzentration, wenn sich uns seelische
Inhalte in eine Reihe ordnen, deren jeweils späteres Glied uns dem früheren
gegenüber als Bereicherung, eingelöstes Versprechen, Steigerung und
Extensiverwerden unserer Zuständlichkeit bewusst wird.
Indem ich nach Setzung der
Prämissen am Schlusssatz anlange; indem ich die philosophischen Theorien
des 18. Jahrhunderts durchgehe, bis der Kritizismus auf den Plan tritt;
indem ich in der Betrachtung der italienischen Kunst von der
byzantinischen Starrheit und der vielfachen Ungelenkheit des Trecento zu
der individualisierenden Lockerung des Quattrocento und dann zu der
harmonisch zusammengefassten Einheit der Hochrenaissance-Komposition
komme, empfinde ich meinen Geist, insoweit er in diesen Erfüllungen
seiner lebt, sich allmählich ausweitend, mehr und mehr seiner
Anschauungskräfte aktualisiert; während er an dieser Reihenfolge von
Inhalten lebt, sich durch sie hindurchbegibt, fühlt er sich nicht bloß
bewegt, sondern mit dem spezifischen Wert: Entwicklung - ausgestattet.
So angesehen, ist dieser
vielleicht etwas ganz Ursprüngliches und nicht weiter Auflösbares, auch
nicht abhängig von einem zuvor gesetzten Ziel, sondern nur eine von der
geistigen Bewegung selbst gesetzte Rhythmik, eine besondere Art des
inneren Wachstums.
Dass ich dann eine
historische oder ideelle Anordnung der Dinge als ihre Entwicklung
bezeichne, wäre zwar ersichtlich durchaus keine Willkür, aber gerade
diese Wertfarbe verdanken sie, im genauesten Sinne, doch der gefühlten
Selbstentfaltung des Geistes, die er an ihrer Folge, sobald sie seine
Inhalte geworden sind, erlebt.
Betrachtet man die Inhalte
dann in Gelöstheit von der vorstellenden Seele, unter der Kategorie
begrifflich ausdrückbarer Sachlichkeit, so bilden sie eine Reihe
objektiver Evolution; sie sind durchströmt von dem lebendigen Strebens-
und Entwicklungsgefühl des Vorstellenden, von dem aber jetzt abstrahiert
ist, das ihnen nur den inneren Konnex und den Aufbau hinterlassen hat,
vermittels dessen das Spätere durch das Frühere bedingt und so grade an
seiner Stelle verständlich ist.
Ist das »Verstehen« eines
einzelnen Inhalts, nach der hier vorgetragenen Meinung, prinzipiell nichts
anderes wie sein Verstehen als Äußerung einer Lebensganzheit - so dass
Verstehen schlechthin nur der verkürzte Ausdruck dafür ist - so zeigt
sich dies nun, durch das ideelle erlebende oder das reale betrachtende
Subjekt hindurch, auch für diejenigen Inhalte gültig, die sich als rein
objektive oder als von verschiedenen Trägern verwirklichte darbieten.
So also stellt sich die Verwachsung der historisch-seelischen und der
sachlichen Motive innerhalb des Gesamtphänomens des Verstehens dar.
Die seelisch reale
Entwicklung einer Reihe, deren Glieder sich in zeitlicher Folge begründen,
verstehen wir nur auf Grund der sachlichen, transvitalen Beziehung ihrer
Inhalte; ohne ein in dieser sichtbares Aufsteigen oder Verfallen, ohne ein
Wissen darum, dass die Sachgehalte als solche aufeinander hinweisen und
der eine, ohne Rücksicht auf zeitliche Verwirklichung, den andern
fundiert oder bedingt, sind sie auch als psychische, zeitlich-wirkliche
Folge nicht zu verstehen. Und andrerseits: diese ideelle Anordnung, als
eine Entwicklung, ist unter ihnen möglich, indem eine seelische
Bewegungskontinuität durch sie hindurchgeleitet wird.
Die sachliche Entwicklung
der Inhalte verlangt als ihr formgebendes Apriori jenen nicht weiter
definierbaren, als spezifisches Gefühl sich kundgebenden
Bewusstseinsfortgang, der allein die brückenlose Geschlossenheit jedes
Inhalts für sich lockert und sie in die Stetigkeit, die allein
Entwicklung heißen kann, überführt.
So ist die seelische
Entwicklung durch die sachliche und die sachliche durch die seelische
bedingt und verständlich. Das bedeutet, dass dies beides nur die
methodisch verselbständigten Seiten einer Einheit sind: des historisch
verstandenen Geschehens. Weil das Verstehen ein Urphänomen ist, in dem
sich ein Weltverhältnis des Menschen ausdrückt, können die Elemente, an
denen es sich realisiert, oder die einseitigen Aspekte, unter die die
Reflexion es rückt, sich durchdringen, d. h., als selbständige
vorgestellt, sich in Korrelativität aufeinander aufbauen.
Und von der anderen Seite
gesehen, ist dieser Zirkel unvermeidlich, weil das Leben die
letztbestimmende Instanz des Geistes ist, so dass seine Form schließlich
auch die Gestaltungen bestimmt, durch die es selbst verständlich werden
soll.
Das Leben kann eben nur
durch das Leben verstanden werden, und es legt sich dazu in Schichten
auseinander, von denen die eine das Verständnis der anderen vermittelt
und die in ihrem Aufeinander-Angewiesensein seine Einheit verkünden.
Es zeigt sich jetzt, dass
dieses vitalistische Motiv für die Entscheidung des Verstehensproblems
schon in den Erwägungen vorgebildet war, mit denen ich es in Zurückweisung
seiner zunächst sich darbietenden Deutungen zu erklären versuchte.
Denn eben diese Deutungen
zeigen sich, genauer betrachtet, durchgehends als Abkömmlinge der
mechanistischen Grundanschauung.
Ihr entspricht es, dass der
Mensch dem Menschen vorgeblich nur seine physische Außenseite bietet,
hinter die erst ein intellektueller, durch Assoziationen vermittelter Akt
eine Seele und bestimmte seelische Vorgänge verlege.
Denn dem Mechanismus
entgeht die Einheit und Ganzheit des Lebendigen; er kann es nur aus den
einzelnen Stücken zusammenleimen, die für eine organische Auffassung nur
nachträgliche Zerlegungen seiner Einheit sind.
Deshalb kann er das
Verstehen nicht als das Urphänomen auffassen, das sich zwischen dem einen
Menschen als ganzem und dem anderen als ganzem erhebt, sondern nur als
sekundäre Synthese aus getrennten Faktoren.
In der gleichen Gesinnung
entgeht ihm das - man kann wohl sagen - Schöpferische des
Verstehensvorganges, das es dem Subjekt ermöglicht, das Fremde,
Abliegende, persönlich nicht Erlebte dennoch als Bild einer anderen Seele
in sich hervorzubringen.
Sein Endstreben, jede
Beziehung in Gleichungen aufzulösen, lässt ihn auch das Verstehen
ausschließlich auf Gleichheit von Subjekt und Objekt begründen oder
reduzieren.
Er kann das Verstandene nur
als mechanische Wiederholung dessen, was im Verstehenden schon vorbesteht,
begreifen und musste deshalb, da dies ersichtlich nicht mit den Tatsachen
vereinbar ist, zu dem verzweifelten Mittel greifen, die seelischen
Ereignisse in der historischen Persönlichkeit aus einzelnen Stücken, die
sich aus den Innenerlebnissen des historisch Erkennenden zusammenlesen
lassen, zu konstruieren - ein gar nicht ernsthaft diskutabler Versuch,
schon deshalb ganz nichtig, weil das Verstehen eines Innenlebens) ja
gerade an den kontinuierlichen Verbindungen, Vereinheitlichungen der
einzeln benennbaren Inhalte entlang geht.
Dasjenige, was für das
Leben und die Individualität entscheidet, die Vereinheitlichung, wäre
also gerade nicht mit der tale-quale-Übertragung der zusammengesuchten
Analogiefragmente erreichbar.
Es liegt durchaus im Wesen
der mechanistischen Anschauungsweise, auch das historische Verstehen als
einen bloßen Abklatsch des Geschehenen »wie es wirklich war«
vorzustellen, statt einzusehen, dass auch dies eine Tätigkeit des
Subjekts ist, abhängig von den Kategorien und Formen, in die es seinen
Gegenstand aufnimmt (zu denen z. B. jenes methodische Subjekt als eine
apriorische Notwendigkeit gehört), ein geistiges Gebilde eigener Art, und
dass auch hier seine Wahrheit über sein Objekt etwas Lebendiges,
Funktionelles, Erarbeitetes ist und nicht mechanische Reproduktion einer
photographischen Platte.
Vielleicht wird damit das
Problem des historischen Verstehens zu etwas viel Schwierigerem und
Tieferem als in der einfachen und doch eigentlich viel wunderlicheren
Anschauung, dass das Verstehen einer anderen Psyche sich als inhaltlich
genaue Wiederholung ihrer in dem aufnehmenden Geist vollzöge - und doch
nur zustande kommt, indem das Eigenerlebnis eben dieses letzteren auf jene
übertragen würde.
Der ganze Gegensatz
zwischen einem mechanistischen und einem organischen oder vitalen
Standpunkt macht sich in diesen verschiedenen Deutungen des seelischen
Verstehens geltend.
Und wie bei jedem
Streitfall des Geistes, den man bis in seine letzte Instanz treibt, zeigt
sich jede Entscheidung zwischen ihnen von derjenigen abhängig, die der
Mensch über das Ganze und das Tiefste seiner Weltanschauung getroffen hat
|