Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Das Goethebuch

ex: Die neue Rundschau, XXVI. Jg. der freien Bühne, 1917, Band I (=Heft 2 vom Februar 1917), S. 254-264

Diese Überschrift, mit der ich Friedrich Gundolfs Buch über Goethe (Berlin, bei Georg Bondi 1916) anzeigen will, soll durchaus nicht bedeuten, dass mit ihm das definitive, keinem weiteren Raum lassende Buch über Goethe gegeben wäre; sondern eigentlich das Gegenteil davon.

Denn es stellt den Typ hin, von dem es eine nicht zu beschränkende Zahl von Goethebüchern geben sollte.

»Das« Goethebuch in jener abschließenden, ausschließenden Bedeutung ist eine »Idee« - nicht ein »Ideal«, für das jede Wirklichkeit nur Annäherung und Fragment wäre; sondern im vollen Sinne realisierbar, nur jeweilig in einer individuellen Gestalt.

Was das Gundolfsche Buch zu leisten übrig lässt, ist keineswegs nur eine Ergänzung nach der Seite des dargestellten Objekts, sondern vor allem der darstellenden Subjekte hin; immer mehr und immer verschiedener eingestellte Spiegel sollten dieses Bild zurückwerfen.

Goethes Wort: »Und so teil ich mich; Ihr Lieben, Und bin immerfort der Eine« - gilt auch für die unbegrenzten Möglichkeiten des Erfasstwerdens, in die er »sich teilt« ohne dass er darum weniger »der Eine« ist.

Die Antwort der Kulturwelt auf die Tatsache und das Problem Goethe ist kein einmaliges Dogma, sondern ein unendlicher Prozess.

Und da eine Stelle in diesem nur durch die Qualität der einzelnen Antworten erworben oder verscherzt wird, so kann es zwar zuviel Goethebücher geben, aber nie genug.

Darin, dass diese berechtigende Qualität hier - in diesem Umfange zum ersten Mal - festgelegt ist, sehe ich die kulturgeschichtliche Bedeutung des Buches.

Goethebiographien des geistigen Ranges wie die noch verbreitetsten sollten nun nicht mehr möglich sein.

Seien wir vorbereitet, dass das Nicht-Mögliche dennoch wirklich bleibt, und froh, dass das Allein-Mögliche einmal wirklich geworden ist.

Solche höchst pädagogische Bedeutung kommt dem Buch noch in inhaltlich bestimmterem Sinne zu.

Es ist ganz und gar Antwort auf die Grundfrage: welcher Ton und Rhythmus, welche epochale Art von Leben in Goethe war es, dem die jeweiligen Dichtungen entwuchsen? Damit ist die übliche Formel: »Leben und Werke« erst zu ihrem rechten Sinne gekommen; das Und bedeutet nun nicht, wie in den meisten so bezeichneten Biographien, ein Nebeneinander und eine Alternierung, sondern die lebendige Einheit eines Wachstums, dessen »bewegliches Gesetz« es zu finden gilt.

Damit ist die Art, Goethe aufzunehmen, die seiner geistesgeschichtlich unvergleichbaren Bedeutung für uns allein entspricht, eindeutig festgelegt.

Alles kommt für diese Aufnahme darauf an, dass das Gefühl und die Einsicht wirksam werde: wir haben an Goethe mehr als die Summe seiner Werke.

Dadurch dass jede seiner Äußerungen in einer unerhörten Einheit und Kontinuität aus der rein selbstgesetzlichen Innerlichkeit dieses Lebens quillt, haben sie alle untereinander, bei aller Unterschiedenheit ihrer Inhalte und auch ihrer Werte, eine organische Beziehung zueinander, als gehörten sie demselben Blutkreislauf an, und so, dass das einzelne Werk in seinem letzten Sinne und seiner Bedeutung für uns aus der Gesamtheit der Lebensleistung weniger gelöst ist, als es bei Kunstwerken zu sein pflegt.

Denn grade der reine Sinn des Kunstwerks scheint solche Angewiesenheit und Verbundenheit über seinen Rahmen hinaus abzulehnen und die Betrachtung »als wäre es vom Himmel gefallen« zu beanspruchen.

Tatsächlich nimmt Goethe hier die Ausnahmestellung ein, die ihn zu einem einzigartigen Besitz des deutschen Geistes macht.

Sieht man von unseren musikalischen Genien ab, die durch die Sonderart der Musik hinsichtlich des Verhältnisses von Leben und Kunst hier aus der Parallele rücken, so war Goethe doch wohl unsere größte Künstlernatur.

Aber grade darum gilt für ihn sein eigenes Wort: »Alles in seiner Art Vollkommene geht über seine Art hinaus.« Er hätte nicht der größte Künstler sein können, wenn er nicht mehr als Künstler gewesen wäre.

Und dies reflektiert sich in seinen Werken, indem jedes Einzelne wie ein jeweiliges Zentrum ist, um das sein ganzes Leben wie die Peripherie liegt, deren Form und Größe ihm Gefülltheit und Ort - nicht nur den biographischen, sondern den inhaltlich ideellen - gibt.

Wo wir sonst in Biographien aus der geistigen Welt der Deutung einzelner Schöpfungen aus dem Leben des Schöpfers begegnen, pflegt sie gar nicht aus seinem »Leben«, sondern aus dessen äußeren Umständen und zufälligen Begegnissen und Anregungen geholt zu sein.

Gundolf aber schöpft sie aus der Entwickelungsrhythmik, in der die Lebensquelle ihrer innerlich eigenen Norm und formenden Kraft gemäß fließt und die deshalb als ganze eingesetzt werden muss, um das Einzelne aus seiner Tiefe zu begreifen - der Tiefe, die über das Einzelne hinauswirkt um in das Einzelne einzugehen.

Es ist das, was im letzten Grunde Dilthey wollte; aber da er nie über die Halbklarheit hinauskam, so sprang er immer zu kurz nach seinen genialisch konzipierten Zielen hin.

Er bleibt bei dem »Erlebnis« stehen, statt bis in das »Leben« als reine, aber in jedem Wesen in jedem Augenblick individualisierte Form zu dringen.

Gundolfs Buch nun zeigt die reine Erreichtheit.

Nun wird Punkt für Punkt klar, dass in Goethes Werk wie durch gemeinsame Wurzel hindurch ein jedes mit dem Kern und der Reihe aller anderen verbunden ist und dadurch mit Beziehungen und Bedeutungen, mit einer Totalität gelebten Lebens ausgestattet, wie keine andere Erscheinung der Geistesgeschichte.

Jenes zentrale Bekenntnis: »Und so teil ich mich, Ihr Lieben, Und bin immerfort der Eine« - macht die volle Aneignung dessen, worin er »sich geteilt« hat, der einzelnen Leistungen, nicht nur davon abhängig, dass man in jeder »den Einen« finde; sondern eben darum bilden für jede alle anderen ein untrennbares Geleit, jede strahlt auf jede über und bereichert die einzelne um den Umkreis des Ganzen.

Bleibe es also auch dahingestellt, ob Vollendetheit und erschütternde Kraft irgend einem einzelnen seiner Werke so einwohnt, wie der Orestie und dem Lear, der Mediceerkapelle oder Rembrandts Altersporträten, der H-Moll-Messe oder dem Cis-Moll-Quartett - aber indem es mit der Gesamtheit aller lebendig verbunden und durch sie ausgeweitet ist, ist uns damit ein Besitz geschenkt, der von der Wertvergleichung des isoliert betrachteten Werkes mit irgendeinem anderen Kunstwerk überhaupt nicht betroffen wird.

Darum ist, was er selbst im Bezug auf Weltliteratur sagt: »Nur wer Hafis liebt und kennt, Weiß, was Calderon gesungen« - zunächst auf ihn selbst gültig zu übertragen; nur wer seinen Osten kennt, weiß, was sein Westen besagt, und das Geheimnis des Organismus: dass der einzelne Teil erst aus dem Ganzen seine grenzüberschreitende Bedeutung erhält und sichtbar macht, wird an diesem sozusagen organischsten aller Geister zum Symbol dessen, was er für sich und was er für uns ist.

Gundolf nun nimmt seine Stellung an dem Angelpunkt, wo diese Verbundenheit des Einzelnen mit dem Ganzen und seiner Entwicklung - die große Entscheidung und Wertform der Erscheinung Goethe - sich vollzieht.

»Punkt« ist dabei nicht im statischen Sinne gemeint, Gundolf legt ihn nicht mit dogmatischen Begriffen fest; es ist nur die symbolische Zuspitzung für die Funktion, die alle Resultate dieses Lebens mit dem Prozess dieses Lebens und damit auch unter sich dynamisch verbindet, und den Gundolf auf jeder Seite sichtbar macht.

Ich nenne dies das Pädagogische des Buches, weil es zeigt, wie Goethe gelesen werden soll, damit jene Wertform uns seine Inhaltswerte entfalte.

Und noch in einem anderen Sinne ist dies pädagogisch: indem es uns das Exemplarische der Goetheschen Existenz für unsere eigene bewusst macht.

Zu den großen Trennungslinien, die das Menschenwesen in je zwei polare Parteien scheiden - unbeschadet aller Mischungen und Übergänge, die vielleicht keiner empirischen Erscheinung die absolute Stellungnahme an einem Pol gestatten - gehört diese.

Indem der Mensch sein Leben, das er als ein wirkliches erfährt, zugleich in den Dienst eines Sollens stellt, so nimmt damit die Idee dieses gesollten Lebens gleichsam eine Pyramidenform an.

Aber bei den meisten Menschen nicht so, dass es von sich aus der Spitze, die den Sinn seiner Kräfte in sich sammelte, zudrängte, sondern ein einzelnes Ideal: sozialer oder künstlerischer, religiöser oder intellektueller, gefühlsmäßiger oder im engeren Sinne sittlicher Art erlegt es, sozusagen von sich aus, dem Leben auf, ihm zuzustreben.

In dem anderen Bezirke aber stehen seltenere Menschen unter dem Zeichen, dass ihr Leben als ganzes etwas »soll«.

Ihre konkreten Pflichtleistungen sind natürlich angebbaren Inhalts.

Aber sie sind nur Vereinzelungen oder man könnte sagen Ausbuchtungen der einheitlichen Forderung, die sich aus dem einheitlichen Leben erhoben hat, von seiner nur auf sich selbst hörenden Innerlichkeit hervorgetrieben, nicht von einem Äußeren - wie auch idealen und seelischen Äußeren - ihm abverlangt.

Begrifflich ausdrückbar ist dieses Einheitssollen so wenig wie das Individuum, das sich in ihm zusammenfasst: Individuum est ineffabile.

Aber nur wo der Mensch von einem solchen, statt von einer Einzelpflicht als letzter bestimmt ist, kann sich die ideale Forderung Jedem Lebensinhalt unvoreingenommen anschmiegen, während die Verpflichtung auf ein angebbares letztes Ideal unvermeidlich irgendwelche Lebenskräfte dem Sollen fern stellt.

Auf welcher Seite nun Goethe steht, kann keinen Augenblick zweifelhaft sein.

Wenn irgendein Leben, so hat das seine als ganzes etwas gesollt; nicht Dramen dichten oder Naturwissenschaft treiben oder praktisch wirken - mit all diesen Aufgaben wirken sich nur die einzelnen Begabungen seiner Natur aus.

Sondern dies Leben war von seiner Wurzel so einheitlich individualisiert, dass man seine Ungetrenntheit wie durch ein Ideal seiner Ganzheit, eben durch jenes unbenennbare Sollen normiert empfindet.

Höchst denkwürdig deutet er dies Schiller gegenüber an: »Da ich sehr lebhaft fühle, dass mein Unternehmen das Maß der menschlichen Kräfte weit übersteigt« usw.

Nicht etwa ein einzelnes Unternehmen ist gemeint, sondern die Gesamtheit seiner Lebensleistungen; aber er bezeichnet sie nicht als »meine Unternehmen«, sondern als ein einziges: »mein Unternehmen« - diese Leistungen, die sich zwischen Dichtung jeder Form und dem geschichtsphilosophischen Studium der früheren Farbenlehren spannen, von Theorien über Knochen bis zur systematischen Darstellung des Dilettantismus, von der Erzählung orientalischer Geistesgeschichte bis zu den Regeln für Schauspieler.

Da Interesse und Arbeit für jedes aus der vollen Spontaneität seines Wesens hervorgeht, so sind es ihm nicht selbständig sachliche und darum heterogene Aufgaben, sondern alles ist miteinander verwurzelt, als »mein Unternehmen« schlechthin.

Daher seine heftige Abneigung gegen alle »Profession«, die ersichtlich die definitive Ausformung der anderen, von der Einzelaufgabe herkommenden Lebensintention ist; daher die Leichtigkeit und gleichzeitige Pflichtmäßigkeit, mit der er einen fast unübersehbaren Aufgabenkreis erfüllte; daher das gute Gewissen, mit dem er Begonnenes liegen ließ - Werke, Verhältnisse, Interessen - und sich Neuem zuwandte, da er sich nicht der Konsequenz mannigfaltiger Dinge, sondern der Konsequenz seiner einheitlichen Natur verpflichtet wusste.

Denn sein »Sollen überhaupt« war eine Entwicklung wie sein Leben selbst, die heterogensten Inhalte aufnehmend und »immerfort das Eine« und ihn in jedem Augenblick nur an diejenige Aufgabe bindend, die seiner von innen gesetzten Entwicklungsstufe gemäß war.

Ich lasse nun dahingestellt, ob die Goethesche Forderung, »dass der Mensch von innen heraus leben müsse«, so von 'hin selbst verwirklicht, mit Recht an einen jeden gestellt werden kann; ob zu der Führung durch jenes übereinzelne Sollen ein jeder einheitlich genug und, vor allem, harmonisch genug mit den gültigen Ansprüchen der Verhältnisse, Ideen und Menschen ist - was eben das Glück der Goetheschen Natur war, um dessentwillen er sich selbst den Liebling der Götter nennen durfte.

Fest steht aber, dass jedenfalls vielen jene Enthebung aus dem ethischen oder überhaupt forderungsmässigen Spezialistentum möglich wäre, dass für viele ein Sollen nur latent ist, dessen Subjekt ihr ganzes Leben und nicht eine einzelne Seite oder eine Diskontinuität mehrerer Seiten ist.

Aber sich praktisch dazu zu bekennen fehlt ihnen die Vertiefung und der Mut.

Und das ist nun das Erzieherische des Gundolfschen Buches, dass es an dem größten uns bekannten Beispiel darstellt, wie ein Leben rein gemäß jenem Ineffabile eines Sollens verläuft , das rein individuell ist, nur der fordernden Stimme des inneren Dämon gehorcht, dafür aber die einheitliche Ganzheit dieser Individualität zum Mutterboden hat; womit denn auch jedem Egoismus - der immer auf dem einseitigen Überwiegen einer Tendenz beruht -, jeder Zersplitterung und jeder Willkür vorgebeugt ist.

Indem Gundolf fortwährend kenntlich macht, wie diese Natur rein durch das einheitliche, schlechthin übereinzelne Ideal ihrer inneren Entwicklung durch deren kaum übersehliche Schöpfungen hindurchgeführt wird und so das ihr in jedem Augenblick Angemessene schafft - welches das Höchste ist, was sie überhaupt in diesem Augenblick schaffen kann - entstrahlt diesem Buch eine unendliche Zuversicht zur Ganzheit des persönlichen Lebens; ich hoffe, dass es Unzähligen den Mut gibt, diese Ganzheit nicht nur als etwas Wirkliches, sondern als den Quell einer oder der idealen Forderung zu erleben - und die Kraft, ohne die dies freilich nicht zu erfüllen ist: diese Ganzheit auch als Einheit unter aller Vereinzelung der »Forderungen des Tages« zu fühlen.

Diese erzieherische Möglichkeit des Buches liegt nur in seinem vollen Umfang und ihr Erweis also außerhalb dieser Zeilen.

Eher aufzuzeigen dagegen ist das von ihm unmittelbar Erreichte: der Aufbau der Gestalt Goethe gemäß dem »Gesetz, nach dem er angetreten«.

Die Tiefenschicht, in der der Aufbau beginnt, die Richtung, in der er in die Höhe geführt ist, wird am einfachsten und ohne weiteres aus einigen Anführungen sichtbar werden.

Gundolf spricht von der strengen Begrenzung und Selbstbegrenzung, die Goethes Leben durchzieht, und wie sich sein Bedingtheitsbewusstsein sozusagen in Jeden Atemzug mischte, mit dem er die Luft des Unendlichen und Absoluten in sich einzog.

Und nun sagt er: »Bedingtheit war für ihn nicht eine Aufhebung, Trübung, Entwürdigung des Absoluten, das für ihn das Leben war, sondern selbst eine Funktion des Lebens, teilhaft also der ganzen Ehrfurcht, die er dem Leben zollte.« Tatsächlich gehört dies zu den letzten Formulierungen, die die Goethesche Existenz fordert und verträgt.

Resignation, für andere oder äußerlich angesehen eine vom Schicksal aufgedrungene Kürzung der Lebensexpansion oder Versagung des eigentlich Gewollten, gehörte in den positiven Sinn seines Lebens und dessen ursprünglich gesetzlichen Plan hinein, das verzichtende Nein der Bedingtheit war von dem großen ja seiner Natur genau so umgriffen wie alles Vollbringen und Genießen.

Wer diesen Sinn der Goetheschen Resignation als einer von innen her gesetzten Formung und in gleicher Linie mit allen Darbietungen seines Lebens nicht begriffen hat, dem ist die eigentliche Größe seines Daseins, sozusagen sein innerer Umriss, entgangen.

Mit einer Wendung dieses Motivs löst Gundolf endgültig das Napoleon-Problem in Goethes Leben.

»Die unbedingte Geistigkeit, den ausschließenden Absolutismus der Idee hat keiner so in Napoleon erkannt wie Goethe, quer durch alle Brutalitäten und Interessenpolitik hindurch.

Diese Verwirklichung des Unbedingten erschütterte ihn, den immer weise Entsagenden und Grenzsuchenden, und mit einer Art erhabenen Neides freute er sich der Urkraft, der es gestattet war, ohne Verzicht bis zum Ende, und sei es der Untergang, sich auszuwirken, die prometheisch, cäsarisch, mahometisch begonnene Bahn im gleichen Tempo und ohne anderen Widerstand als dämonischen durchzustürmen.

Denn der Entsager empfand in diesem heroisch-tragischen Ausleben, so wenig er es teilen mochte, ein Vergönntsein, das ihm verwehrt war; ähnlich empfand er Lord Byron.«

Es gehört zu dieser Beschränkung seines Lebens, die ebenso eine fortwährende Aktivität war wie dessen rastlose Erweiterung, dass sein ganzes Weltverhältnis - so wenigstens stellt es Gundolf dar - ein augenmässiges war und sozusagen mit seinem Zentrum, dem lebendigen Leib, durch eine nie aus dem Sinn verlorene Kontinuität verbunden blieb.

Daher versagte er sich allen allgemeinen Begriffen, denen eine konkrete, formhafte und begrenzte, leibhaftige Anschauung nicht zugrunde lag.

»Nun beruhen fast alle großen Schlagworte der modernen Welt, woran sich die Begeisterung von noch dumpfen Massen und besonders von jungen Einzelnen entzündet, all diese großen Lockrufe der Aufklärung und der Revolution, Freiheit, Menschheit, Gleichheit, Fortschritt und dergleichen, nicht auf Anschauungen, sondern sind bestenfalls Zielsetzungen, Forderungen: sie hatten also für Goethe keine Wirklichkeit, keine Wirksamkeit.

Goethe konnte nicht von einem unbekannten, nur geforderten, nicht geschauten, nicht besessenen Allgemeinbegriff aus wirken und nicht auf einen solchen, sondern nur von dem, was er selbst besaß oder sich angeeignet hatte: vom seelisch-körperlichen Kräftezentrum auf wirkliche Gegenstände und Wesen, die in der Reichweite seiner Sinne und folglich seiner Kräfte und Gedanken lagen.«

Ausdehnung und Begrenzung waren die Seiten dieses einen Lebensprozesses, der eben dadurch seine Form gewann.

Aber diese Form war in fortwährender Entwicklung begriffen:

»Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still.«

Nicht so, als hätte er sich einem Ziel gewollt oder nur tatsächlich in steigender Vollkommenheit genähert.

Es gehört vielmehr zu seinen tiefstgegründeten Überzeugungen, dass der Mensch »wohl ein anderer, aber kein besserer werde«.

Weil jede Epoche seines Lebens nur die Besonderheit war, in der sich jeweils sein ganzes Leben ausdrückte, darum stellte eine jede den ihr eigentümlichen Wert in sich und nicht erst als Etappe zu einem Endwert dar.

Die im reinsten Sinne organischen, das heißt hier: typisch-menschlichen Charaktere dieser unterschiedlichen Epochen hat Gundolf an dem Ausdruck bestimmt, den sie in seinem Werk gefunden haben.

So fasst er einen Typus von Gedichten der Weimarer Zeit vor Italien als »Resümierende Lyrik« zusammen (besonders »Zueignung« und »Seefahrt«) die, unterschieden von dem Gedicht-Werden einzelner Erlebnisse oder überpersönlicher Schauungen, gewissermaßen »Lyrische Panoramen, Überblicke über das Ganze seiner Liebe oder seines Schicksals« sind.

In dieser Zeit war »das Deutlichwerden über sich und den Gang seines Daseins das erregende Moment für ihn.

Sein Leben überschauen, lenken und bilden zu können, dies Glück und diese Pflicht selbst war für ihn ein dichterisch erregendes Erlebnis.

Einem Menschen, der eben nach einer Staroperation sehen gelernt hat, wird zunächst weniger ein Erlebnis sein, was er sehen kann als dass er sehen kann - und so ist für den Goethe zwischen der Berufung nach Weimar und der Italienischen Reise das große Erlebnis, dass er zur Klarheit über sich und die Welt gelangt, dass er seine Sinne reiner, seine Begriffe deutlicher, seine Vorstellungen bestimmter werden fühlt, dass ihm Sinn und Aufgabe seines mächtig getriebenen und erregten Daseins aufzugehen beginnt.

Diesen Prozess selbst wird er nicht müde in dieser Zeit zu besingen oder darzustellen: eben den Bildungsprozess selbst, das Sehen-Lernen und Schauen, den Akt des Schauens, nicht die Gegenstände - während erst die nächsten Jahre der Darstellung des Geschauten, dem Inhalt, der Anwendung des Schauens gewidmet waren.

In der Zeit seiner Reife und Helle war ihm das Hellwerden und Überschauenkönnen selbst kein Erlebnis, keine dichterische Erregung mehr, sondern nur die Gegenstände um ihn, Gott und Welt und seine momentanen Begegnungen mit diesen Gegenständen.« Und dann fasst er die letzte Epoche abschließend zusammen: »Nicht die Intensität des einzelnen Erlebnisses bestimmt mehr Goethes Leben und Werk, sondern das aus seinem Leben hervorgegangene und erkannte Gesetz bestimmt Maß, Gewicht und Stelle, die jedes in seinem Leben einzunehmen hatte.«

Dieser Bestimmtheit durch das höchst Persönliche konnte er sich beruhigt anvertrauen, da er in dieser letzten Epoche sein persönliches Leben mehr und mehr in das gegensatzüberwindende göttliche All-Leben hineingewachsen fühlte.

Wie sich dies zum Gedicht-Symbol kristallisiert, schildert Gundolf an der Deutung von »Weltseele« und »Wiederfinden«.

»Ihr Gegenstand ist die Weltwerdung durch die Liebe, die erotische Kosmogonie. Die Vereinigung von Mann und Weib, als seelisches Erlebnis, ist zugleich das Zeichen, der Anfang und die Vollendung des kosmischen Geschehens, wodurch die Welt wird und sichtbar wird. In >Wiederfinden< feiert Goethe die Raumwerdung des liebenden Menschen, in >Weltseele< die Mensch-, ja die Liebe-werdung des beseelten Raumes.

>Wiederfinden< geht lyrisch von einer seelischen Erschütterung, >Weltseele< didaktisch von einer erhabenen Schau aus.

Beide durchmessen den Raum zwischen Ich und All, aber auf entgegengesetztem Weg.

>Wiederfinden< ist die Ausbreitung eines Glutkerns in Erleuchtung, >Weltseele< die Verdichtung eines Lichtmeers zum Brennpunkt.

In >Wiederfinden< waltet daher die Schwingung des Werdens als ein mitreißender Flug, in >Weltseele< ist die erhabene Gewissheit des gesicherten Alls und der mild ruhevolle Herabblick von der unfehlbaren Überwölbung.

Dort ist die menschliche Sehnsucht leidenschaftlich ins All hinausgeworfen, hier ist die Ruhe des göttlich-bewegten Alls bis in die menschliche Liebe hineingebreitet, welche nicht mehr als Seelenvorgang, sondern als Naturgeschehen erscheint.« -

Wenn diese höchst fragmentarischen Anführungen genügen, von dem fruchtbar Entscheidenden des Gundolfschen Buches: der Feststellung des allein-möglichen Niveaus der Goethebetrachtung zu überzeugen, so ist damit das Urteil letzter Instanz über die bisher im Schwange befindlichen Goethebiographien gesprochen.

Die Urteilsgründe mag man dahin zusammenfassen, dass diese Bücher für die »reifere Jugend« - in verschiedenen Graden der Reife - geschrieben sind.

Für diese aber gibt es ein für allemal kein Goethebuch, sondern nur ein Goethe-Anekdoten-Buch; welches übrigens ein durch Geist und Geschmack durchaus achtbares Unternehmen sein kann.

Dem Niveau der Jugend aber ist Goethe versagt, nicht weil das einzelne Werk als einzelnes zu schwer oder zu tief wäre - nach dieser Richtung möchte ich der Jugend grade mehr als es gewöhnlich geschieht zutrauen - sondern wegen jener Beziehung des Werkes zu der Lebenstotalität, von der ich als der über alles Goethe-Verständnis entscheidenden, sprach.

Es gibt genug Werke innerhalb der Geistesgeschichte, die nur im Rahmen des ganzen Lebens ihres Schöpfers ganz zu begreifen sind.

Allein dieses Verhältnis steigert sich hier gewissermaßen bis zu seiner Umkehr: hier ist das einzelne Werk eigentlich nur der Rahmen, in dem sich das Goethesche Leben, als Fülle und Einheit, darbietet.

Dem aber kann die Jugend nicht nachkommen, die ja selbst erst an Aufbau und Erfassung des Lebens arbeitet.

In diesem Stadium mag man alle möglichen Einzelheiten verstehen, eine Lebensganzheit als solche aber erst, wenn man sie, als Form, an sich selbst erfahren hat.

In einem höchst wortgenauen Sinn aber gilt von Goethe, dass man ihn nur »ganz oder gar nicht« verstehen kann - so sehr man ihn auch in dem ersteren Falle auf materiell höchst verschiedene Weise verstehen mag.

Damit dass das Gundolfsche Buch in jeder Zeile dies Hindurchleben der ganzen Goetheschen Existenz durch jede einzelne ihrer Äußerungen zum eigentlichen Gegenstand hat, ist seine Höhenlage von selbst gegeben. -

Angesichts des Entscheidenden und Vorbildlichen, das diese Gesamthaltung des Buches leistet, würde ich mit der Hervorhebung abweichender Auffassung von Geringerem und Wesentlicherem, vielleicht sogar der zugrunde liegenden Lebensintention, meine jetzige Aufgabe für verschoben halten.

Es gehört zu den charakteristischen Verfehlungen des modernen Intellektualismus, ein Werk dieser Art durch vielleicht berechtigte Einwände, ja sogar Fehlernachweise, als »widerlegt« anzusehen und seinen eigentlichen Wert davon betreffen zu lassen.

Nur rein theoretische Einzelbehauptungen haben an solchen Nachweisen ihr Wertkriterium, denn sie können nur wahr oder falsch sein und ihre Falschheit macht sie überhaupt nichtig.

Ein vielgliedriges Gebilde aber, das sich als ganzes dem einfach logischen Urteil über Wahr oder Falsch überhaupt nicht stellt, ist soviel wert wie das Beste an ihm wert ist, relativ gleichgültig dagegen, wie viele Elemente unterhalb seiner Höhepunkte bleiben.

Der Intellektualismus, mit seiner verhängnisvollen Neigung zu verneinender Kritik, liebt es umgekehrt, ein Ganzes von unten her zu beurteilen.

Es offenbart sich darin die mit seinem Prinzip verbundene Unfähigkeit, Einheiten jenseits ihrer Einzelheiten aufzufassen, wie seine Fremdheit gegen alle künstlerische Schätzungsweise.

Denn insbesondere den Gesamtwert einer Kunstepoche wird man zweifellos nach ihren höchsten Erzeugnissen und nicht nach ihren niedrigsten und nicht nach einem Durchschnitt beider abschätzen, die Bedeutung eines Künstlers nach seinen vollkommensten Werken, nicht nach denen seiner schwachen Stunden.

Was Goethe uns wiegt, bestimmt sich - wenn überhaupt nach einzelnen Momenten - nach dem Gewicht von »Faust« und »Iphigenie«, dem »Meister« und den »Wahlverwandtschaften«, nicht aber nach dem des »Bürgergeneral«, des »Großcophta« und der Theaterreden.

Ein Buch wie das Gundolfsche ist man natürlich berechtigt als ganzes anzuerkennen oder abzulehnen, insoweit darüber nicht Gründe verstandesmäßiger Kritik, sondern die Richtung des geistigen Seins entscheidet.

Dem einzelnen gegenüber aber sollte man sich an das halten, was einem als Höhepunkt und positiv Wertvolles erscheint, und an dem anderen einfach vorübergehen.

Denn ein solches Werk ist doch nicht wie eine Rechnung, deren Gesamtresultat negativ wird, wenn ein einziges Glied es ist; dies Gesamtresultat überhaupt darf man wirklich nicht aus dem quantitativen Verhältnis zwischen dem Anerkannten und dem Widerlegten errechnen wollen.

Aber die Art der Kritik, die dieses Symbol zugespitztradikal andeutet, liegt dem Intellektualismus besonders nahe, und ich möchte behaupten, dass er vielleicht noch uns alle falsch lesen gelehrt hat.

Goethe selbst ist das erhabenste Beispiel der positivität des Aufnehmens, mit der wir von allem Gebotenen uns aneignen, was uns gemäß ist und was wir objektiv anerkennen, bei dem übrigen aber uns nicht aufhalten.

Vielleicht wird uns die Not unserer Zeit auch hier zur besseren Erzieherin.

In sozialer wie in religiöser, in künstlerischer wie in politischer, in personaler wie in wissenschaftlicher Hinsicht haben wir unzählige Werte verneint, weil mit ihrem Positiven anderes verbunden war, das wir verwerfen mussten.

Der Überfluss und der grenzenlose Spielraum des vergangenen Friedens schien so sorglose Verschwendung zu berechtigen.

Die Hoffnung auf ein in sich harmonischeres, gefestigt bleibendes Deutschland ruht aber auf einer ganz geänderten Einstellung, darauf, dass deren bestimmender Ton auf das Positive rückt, das der eine vom anderen nehmen, an ihm anerkennen kann, dass Personen und Parteien sich in wachsendem Maß an dasjenige an Personen und Parteien halten, wozu sie Ja sagen können und, unter Vorbehalt der unvermeidlichen Lebensbasierung auf ja und Nein, sich öfter und öfter der Nietzscheschen Tafel erinnern: »Wo man nicht lieben kann, soll man vorübergehen.« Es scheint mir nicht unverhältnismäßig, dieses Allgemeinsten in der Zeit zu gedenken, wo an dem größten Heros deutscher Kultur - der zugleich ihr größter Ja-Sager war - dieses Buch erwachsen ist.

Vieles daran mag der eine, vieles der andere verneinen; aber zu irgendwelchem Wesentlichen darin wird auch der prinzipiell anders Gerichtete ja sagen müssen.

Und ob das geistige Deutschland dieses und nicht jenes in den Punkt des schärfsten Sehens rückt, wird ein Symbol dafür sein können, ob jene Umstellung des deutschen Geistes auf das Positive - deren Gegenteil wir uns nun nicht mehr gestatten können - sich zu vollziehen beginnt; und wird damit den tiefen Zusammenhang offenbaren, in dem diese zukunftverbürgende Umstellung und die Rechtsbegrenzung des Intellektualismus unserer Vergangenheit sich gegenseitig bedingen.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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