Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Die Krisis der Kultur

ex: Die Krisis der Kultur, aus: Frankfurter Zeitung, Jg. 6o, Nr. 43, 13. Februar 1916, Drittes Morgenblatt, S. 1-2

Wer über Kultur spricht, muß für seine Zwecke die Vieldeutigkeit ihres Begriffes begrenzen.

Ich verstehe sie als diejenige Vollendung der Seele, die sie nicht unmittelbar von sich selbst her erreicht, wie es in ihrer religiösen Vertiefung, sittlichen Reinheit, primärem Schöpfertum geschieht, sondern indem sie den Umweg über die Gebilde der geistig-geschichtlichen Gattungsarbeit nimmt: durch Wissenschaft und Lebensformen, Kunst und Staat, Beruf und Weltkenntnis geht der Kulturweg des subjektiven Geistes, auf dem er zu sich selbst, als einem nun Höheren und Vollendeteren zurückkehrt.

An die Form von Zweck und Mittel ist deshalb jedes Verhalten, das uns kultivieren soll, gebunden. Aber dieses Verhalten ist in unzählige Teilrichtungen zerspalten. Das Leben setzt sich aus Aktionen und Produktionen zusammen, für die eine Richtungsgemeinsamkeit nur zum kleinen Teil besteht oder erkennbar ist.

Die damit angelegten Zerrissenheiten und Fragwürdigkeiten erreichen aber ihre Höhe erst durch den Umstand, daß die Reihe der Mittel für unsere Endzwecke, die »Technik« im weitesten Sinne, unablässig verlängert und verdichtet wird.

Diese schließliche Unabsehlichkeit der Zweck- und Mittelreihen erzeugt die unendlich wirkungsvolle Erscheinung, daß irgendwelche Mittelglieder in ihnen für unser Bewußtsein zu Endzwecken werden: Unzähliges erscheint uns, während wir es erstreben, und vieles sogar noch, wenn wir es erreicht haben, als ein befriedigendes Definitivum unseres Willens, was sachlich ein bloßer Durchgangspunkt und Mittel für unsere wirklichen Zwecke ist.

Wir bedürfen dieser Akzentuierung innerhalb unserer Bestrebungen, weil uns bei ihrer Ausgedehntheit und Verwickeltheit Mut und Atem ausgehen würde, hätten wir nur das, Gott weiß wie weit entfernte, wirkliche Endziel als Antrieb vor uns.

Das ungeheure, intensive und extensive Wachstum unserer Technik, - die durchaus nicht nur die Technik materieller Gebiete ist -, verstrickt uns in ein Netzwerk von Mitteln und Mitteln der Mittel, das uns durch immer mehr Zwischeninstanzen von unseren eigentlichen und endgültigen Zielen abdrängt.

Hier liegt die ungeheure innere Gefahr aller hochentwickelten Kulturen, das heißt der Epochen, in denen das ganze Lebensgebiet von einem Maximum übereinandergebauter Mittel bedeckt ist.

Das Aufwachsen gewisser Mittel zu Endzwecken mag dieser Lage eine psychologische Erträglichkeit verschaffen, macht sie aber in Wirklichkeit immer sinnloser. Auf der gleichen Grundlage entwickelt sich ein zweiter Selbstwiderspruch der Kultur.

Die objektiven Gebilde, in denen sich ein schöpferisches Leben niedergeschlagen hat und die dann wieder von Seelen aufgenommen werden, um diese zu kultivierten zu machen, gewinnen alsbald eine selbständige, jeweils durch ihre sachlichen Bedingungen bestimmte Entwicklung.

In den Inhalt und das Entwicklungstempo von Industrien und Wissenschaften, Künsten und Organisationen werden nun die Subjekte hineingerissen, gleichgültig oder in Widerspruch gegen die Forderungen, die diese um ihrer eigenen Vollendung, d.h. Kultivierung, willen stellen müßten.

Die Objekte, vom Kulturleben getragen und es tragend, folgen, gerade je verfeinerter und in ihrer Art vollkommener sie sind, einer immanenten Logik, die sich keineswegs immer jener in sich selbst zurückkehrenden Entwicklung der Subjekte so einfügt, wie es doch der Sinn aller Kulturgebilde als solcher ist.

Unzählige Objektivationen des Geistes stehen uns gegenüber, Kunstwerke und Sozialformen, Institutionen und Erkenntnisse, wie nach eigenen Gesetzen verwaltete Reiche, die Inhalt und Norm unseres individuellen Daseins zu werden beanspruchen, das doch mit ihnen nichts Rechtes anzufangen weiß, ja, sie oft genug als Belastungen und Gegenkräfte empfindet.

Aber nicht nur diese qualitative Fremdheit steht zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven höherer Kulturen; sondern wesentlich auch die quantitative Unbeschränktheit, mit der sich Buch an Buch, Erfindung an Erfindung, Kunstwerk an Kunstwerk reiht - eine sozusagen formlose Unendlichkeit, die mit dem Anspruch, aufgenommen zu werden, an den Einzelnen herantritt.

Dieser aber, in seiner Form bestimmt, in seiner Aufnahmefähigkeit begrenzt, kann dem nur in ersichtlich immer unvollständiger werdendem Maße genügen, während ihn all dies doch schließlich irgendwie angeht.

So entsteht die typische problematische Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von dieser Unzahl von Kulturelementen wie erdrückt zu sein, weil er sie weder innerlich assimilieren, noch sie, die potentiell zu seiner Kultursphäre gehören, einfach ablehnen kann.

Der Erfolg davon, daß das, was man die Kultur der Dinge nennen könnte, seinem Eigengang überlassen, eine unbegrenzte Entwicklungsweite vor sich hat, ist der, daß sich Interesse und Hoffnung in steigendem Maße eben diesem zuwenden, und die scheinbar viel engere, viel endlichere Aufgabe der Kultivierung der individuellen Subjekte dahinter zurückdrängen.

Dies also sind die beiden tiefsten Gefahren reifer und überreifer Kulturen: daß einerseits die Mittel des Lebens seine Ziele überwuchern und damit unvermeidlich so und so viele bloße Mittel in die psychologische Würde von Endzwecken aufrücken; und daß andererseits die objektiven Kulturgebilde ein selbständiges, rein sachlichen Normen gehorsames Wachstum erfahren und dadurch nicht nur eine tiefe Fremdheit gegen die subjektive Kultur erwerben, sondern ein von dieser gar nicht einzuholendes Tempo des Vorschreitens.

Auf diese beiden Grundmotive und ihre Verzweigtheiten gehen, soweit ich sehe, alle Erscheinungen zurück, die uns schon seit einer Welle das Gefühl einer nahenden Krisis unserer Kultur gaben.

Die ganze Hast, äußere Begehrlichkeit und Genußsucht der Zeit sind nur Folge und Reaktionserscheinung, weil die personalen Werte in einer Ebene gesucht werden, in der sie überhaupt nicht liegen: daß technische Fortschritte ohne weiteres als Kulturfortschritte geschätzt werden, daß auf geistigen Gebieten die Methoden vielfach als etwas Heiliges und wichtiger als die inhaltlichen Resultate gelten, daß der Wille zum Gelde den zu den Dingen, deren Erwerbsmittel es ist, weit hinter sich läßt: dies alles beweist das allmähliche Verdrängtwerden der Zwecke und Ziele durch die Mittel und Wege.

Wenn dies nun die Symptome einer erkrankten Kultur sind, bezeichnet der Krieg den Ausbruch der Krisis, an den die Genesung sich ansetzen kann? Daß die erste Erscheinungsgruppe in dieser Pathologie der Kultur: das Zurückbleiben der Vervollkommnung der Personen hinter der der Dinge, - eine Aussicht auf Heilung gibt, wage ich nicht vorbehaltlos zu behaupten.

Hier liegt wahrscheinlich eine Tragödie der Kultur vor, die von deren Wesen unabtrennbar ist; denn da sie nun einmal bedeutet, daß die Ausbildung der Subjekte ihren Weg über die Ausbildung der Objektwelt nimmt, da diese letztere einer unbegrenzten Verfeinerung, Beschleunigung und Ausdehnung fähig ist, während die Kapazität der einzelnen Subjekte unvermeidlich einseitig und beschränkt ist, so sehe ich nicht, wie dem Entstehen einer Zusammenhanglosigkeit, eines gleichzeitigen Ungenügens und Überfülltseins prinzipiell vorzubeugen wäre.

Immerhin scheint der Krieg von zwei Seiten her für die Verschmälerung jenes Risses zu wirken. Hinter dem Soldaten versinkt der ganze Apparat der Kultur, nicht nur weil er ihn tatsächlich entbehren muß, sondern weil Sinn und Forderung der Existenz im Kriege auf einer Leistung steht, deren Wertbewußtsein nicht erst den Umweg über Objekte nimmt.

Ganz unmittelbar bewähren sich Kraft und Mut, Gewandtheit und Ausdauer als die Werte seiner Existenz, und ersichtlich hat die »Kriegsmaschine« ein ganz anderes, unendlich viel lebendigeres Verhältnis zu dem, der sie bedient, als die Maschine in der Fabrik.

Jenes Abdrängen des personalen Lebens von dem objektiven Tun besteht ganz allein hier nicht, so sehr in der ungeheuren Ausdehnung des Geschehens und der Unmerklichkeit der Einzelleistung die sonst entscheidenden Bedingungen solchen Abdrängens vorhanden sind.

Gewiß hat diese Kriegslage keinen sachlichen Bezug zu der allgemeinen kulturellen Spannung zwischen der Subjektivität des Lebens und seinen Sachgehalten.

Allein zugegeben, daß diese Spannung prinzipiell unüberwindbar ist, so werden doch vielleicht die Menschen, die ihre Überwindung im Felde erlebt haben, die Bedeutung auch ihrer sonstigen anonymen Teilleistungen deutlicher und sozusagen persönlicher fühlen, werden entschiedener nach dem Zusammenhang zwischen ihrem Arbeiten an den Mitteln des Lebens und den Endwerten des personalen Lebens suchen; und findend oder nicht, ist schon dies Suchen ein unermeßlicher Wert.

Wenn sich an diesen Krieg die allgemeine Hoffnung knüpft, daß er den Einzelnen überhaupt dem Ganzen enger verbinden, den Dualismus zwischen dem Individuum als Selbstzweck und dem Individuum als Glied des Ganzen irgendwie mildern werde, so ist das hier angerührte Problem doch eine Szene dieses Dualismus.

Indem aber der Soldat - und in gewissem Maße doch auch der zu Hause Gebliebene -erfährt, wie die verschwindende Größe seines Einzeltuns seinen stärksten Willen und seine äußerste Kraft in sich aufnehmen kann, wird sich ihm mindestens die Form jener Versöhnung, ein irgendwie sinnvolles Verhältnis zwischen dem Teil und dem Ganzen, zwischen Sache und Person, eingeprägt haben; mag dies auch nicht mehr sein, als ein Atemholen vor neuen Kämpfen und Zerreißungen, die nun einmal den Kulturprozeß zu einer Tragödie machen.

Mit tieferer Bedeutung scheinen die jetzigen Erlebnisse in die andere Entwicklung der Kultur, das Auswachsen der bloßen Mittel zu Selbstzwecken einzugreifen. Die Korrektur der teleologischen Reihe hat sich vor allem auf einem Gebiet vollzogen, das für die Überdeckung der Zwecke durch das Mittel das ungeheuerste weltgeschichtliche Beispiel bietet, auf dem wirtschaftlichen.

Dies Beispiel ist, es braucht kaum ausgesprochen zu werden: das Geld - ein Mittel für Tausch und Wertausgleich, jenseits dieser Mittlerdienste ein radikales Nichts, jedes Wertes und Sinnes bar.

Und gerade das Geld ist für die Mehrzahl der Kulturmenschen das Ziel aller Ziele geworden, der Besitz, mit dem, so wenig die sachgemäße Vernunft es rechtfertigen mag, die Zweckbemühungen dieser Mehrzahl abzuschließen pflegen.

Die Ausbildung der Wirtschaft macht freilich diese Wertverschiebung begreiflich. Denn da sie dafür gesorgt hat, daß alle Güter an jedem Ort und zu jeder Zeit zu beschaffen sind, so kommt es eben für die Befriedigung der meisten menschlichen Wünsche nur darauf an, daß man das erforderliche Geld besitze: Mangel bedeutet für das Bewußtsein des modernen Menschen nicht Mangel an Gegenständen, sondern nur Mangel an Geld, sie zu kaufen.

Hier hat nun die Absperrung Deutschlands vom Weltmarkt, der es sonst mit jeder beliebig großen, die Verbrauchsfrage zur bloßen Geldfrage machenden Warenmenge versorgte, eine höchst revolutionierende Änderung erzeugt.

Die Nahrungssubstanz, sonst ohne weiteres zugänglich, wenn man nur Geld hatte, ist knapp und fragwürdig geworden und tritt dadurch wieder in ihrem definitiven Wertcharakter hervor. Das Geld dagegen, von seiner bisherigen grenzenlosen Leistungsfähigkeit abgeschnitten, zeigt sich als an sich ganz ohnmächtiges Mittel.

Mag diese Entwicklung auch keineswegs vollendet sein, -mindestens die Brotkarte symbolisiert eine Nutzlosigkeit des Reichtums auch des Reichsten.

Wenn früher mit Sparen und Verschwenden, auch wo es bestimmte Gegenstände betraf, doch eigentlich immer nur deren Geldwert gemeint war, tritt dieser jetzt ganz zurück: endlich soll wieder mit Fleisch und Butter, mit Brot und Wolle um ihrer selbst willen gespart werden, eine Wendung, die, so einfach sie klingt, ein durch Jahrhunderte gezüchtetes wirtschaftliches Wertgefühl der Kulturwelt total umdreht.

In die ungeheuerste Maskierung des wirklich Wertvollen durch das Mittel dafür, die die Kulturgeschichte kennt, ist an einer Stelle ein Loch gerissen worden. Unzweifelhaft freilich wird es wieder zuwachsen, die Produktivität der Weltwirtschaft und ihre Allgegenwart wird uns später wieder vergessen lassen, daß nicht das Geld den Wert hat, sondern die Dinge.

Niemand wird sich einreden, daß die daraus wachsenden bedenklichen Erscheinungen: die Vorstellung von der Käuflichkeit aller Dinge, ihre Schätzung ausschließlich nach dem Geldwert, der Skeptizismus gegen alle die Werte, die sich nicht in Geld ausdrücken lassen, - daß alles dieses sich nicht wieder einstellen, daß die daran geknüpfte schleichende Kulturkrisis nicht ihren Fortgang nehmen wird.

Aber ebensowenig ist zweifelhaft, daß unser Erlebnis: es kommt nicht auf das Geld an, das Geld als solches nützt uns jetzt nichts, - ein eigentümliches Aufschrecken und Sich-Besinnen in vielen Seelen bewirken wird. Gewiß lassen sich solche seelischen Stimmungen und Umstimmungen nicht dokumentarisch festlegen.

Allein so ungewiß die Folgen und so äußerlich die Gegenstände sind, - daß überhaupt die Absolutheit des Geldwertes irgend einmal durchbrochen worden ist, daß der Wert von wirtschaftlichen Dingen einmal als durch Geld nicht ersetzbar empfunden wurde, das scheint mir ein tiefer seelischer Gewinn zu sein; ein zarteres, weniger blasiertes, ich möchte sagen ehrfürchtigeres Verhältnis zu den Dingen des täglichen Verbrauchs muß durch die Seele gehen, die sie einmal in ihrer unmittelbaren Bedeutung sehen mußte und das Geld in seiner Bedeutungslosigkeit, in die es ganz von selbst sinkt, sobald es keine Mittlerdienste mehr tun kann.

Aber noch einmal und nun im ganz absoluten Sinne stellt der Krieg das Verhältnis von Zweck und Mittel um. Die Selbsterhaltung pflegt das definitive Interesse des Menschen zu sein.

Arbeit und Liebe, Denken und Wollen, religiöse Betätigung wie die Wendungen, die wir uns bemühen, unseren Schicksalen zu geben: alles geht im großen und ganzen darauf hinaus, das Ich in seinem Bestande und seiner Entwicklung zu erhalten, die dauernd von äußeren Gefahren und innerer Schwäche, von der Problematik unseres Verhältnisses zur Welt und der Unsicherheit unserer Lebensbedingungen bedroht sind.

Von den seltenen Menschen abgesehen, die wirklich nur um eines objektiven Zieles willen leben, ist die Erhaltung des eigenen Selbst, - in das vielleicht noch das Selbst der nächsten Menschen einbezogen ist -, der Zweck schlechthin und alle Lebensinhalte seine näheren oder entfernteren Mittel.

Darüber hat nun der Krieg für Millionen von Menschen das Ziel des Sieges und der Erhaltung der Nation gesetzt, ein Ziel, für das auf einmal das eigene Leben ein bloßes Mittel wurde und zwar sowohl seine Erhaltung wie seine Preisgabe.

Das erstere erscheint noch bedeutungsvoller als das zweite. Daß der Soldat herausgehe, um sich zu opfern, ist ein ganz irreleitendes Pathos. Nicht der tote Soldat, sondern der lebende dient dem Vaterland.

Daß dieser Dienst auch seine Opferung fordern kann, ist sozusagen ein Grenzfall, nur der deutlichste Beweis dafür, daß das Selbst seinen Endzweckcharakter verloren hat und sich, erhalten oder geopfert, zum Mittel eines höheren Zweckes erklärt hat.

Gewiß, die Selbsterhaltung wird ihren alten Platz an der Spitze der teleologischen Reihen wieder erhalten. Eines aber scheint mir dennoch unabweislich. Die Übersteigerung all der Mittelstufen und Vorläufigkeiten zu Endwerten, an der unsere Kultur krankt, wird nicht mehr ganz so leicht an einer Generation vor sich gehen, die es an sich selbst erfahren hat, daß selbst der sonst autonomste Endzweck, die Selbsterhaltung, zum bloßen Mittel werden konnte.

Das Gefühl, das uns von Anfang des Krieges an beherrschte: daß er uns an unbestimmt vielen Punkten eine neue Wertrangierung hinterlassen wird, wird sich an diesem wenigstens bewahrheiten.

Daß man an die unwesentlicheren Lebensinstanzen den Akzent letzter Bedeutsamkeiten hefte, gehört zu den seelischen Gefahren langer, behaglich ungestörter Friedenszeiten, die für das Unterschiedenste beliebigen Ausbreitungsraum haben und nicht durch starke Erschütterungen zur Entscheidung zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen drängen.

Wer aber das sonst Wichtigste, das Selbst und seine Erhaltung, einmal als bloßes Mittel zu einem Darüberstehenden erlebt hat, dürfte vor jenem Verschmelzen der Zweckwertung an das Tiefere, Peripherische, für eine Weile gesichert sein.

Jene angedeuteten Gefahren laufen wie in einem gemeinsamen Symptom darin zusammen, daß alle angedeuteten Kulturgebiete sich in einer gegenseitigen Unabhängigkeit und Fremdheit entwickelt haben, bis sich freilich in den letzten Jahren wieder einheitlichere Gesamtströmungen zeigten.

Hier liegt der Grund der vielbetonten Stillosigkeit unserer Zeit. Denn Stil ist immer eine allgemeine Formgebung, die einer Reihe inhaltlich verschiedener Einzelerzeugnisse einen gemeinsamen Charakter verschafft.

Je mehr ein Volksgeist, -um der Kürze halber diesen problematischen Ausdruck zu brauchen -, in seiner charakteristischen Einheit alle Äußerungen eines Zeitabschnittes färbt, als desto stilvoller erscheint uns dieser.

Darum haben frühere Jahrhunderte, die noch nicht mit einer solchen Fülle heterogener, nach den verschiedensten Seiten hin verführender Überlieferungen und Möglichkeiten beladen waren, soviel mehr Stil als die Gegenwart, in der unzählige Male die einzelne Betätigung wie in Abgeschnürtheit von jeder anderen verläuft.

Darin hat freilich in den letzten Jahren, vielleicht seit Nietzsche, eine leise Wendung eingesetzt.

Und zwar scheint es der Begriff des Lebens zu sein, der die mannigfaltigsten Gebiete durchdringt und gleichsam ihren Pulsschlag einheitlicher zu rhythmisieren begonnen hat. Diesen Prozeß wird, glaube ich, der Krieg erheblich begünstigen.

Denn unabhängig noch von jener Einheit des Endzieles, in die sich alle möglichen Kulturbewegungen augenblicklich einstellen, werden sie alle von einer leidenschaftlichen, wie aus einer einheitlichen Kraftquelle hervorbrechenden Lebendigkeit durchflutet.

Unzählige Gebilde, die zu erstarren und sich der schöpferischen Bewegtheit zu entziehen angefangen haben, sind wieder in den Lebensstrom hineingezogen.

Wenn wir jüngst schon ahnten, daß alle auseinanderliegenden Kulturtatsachen Ausströmungen oder Mittel, Pulsschläge oder Ergebnisse des Lebensprozesses als solchen sind, so scheinen alle Inhalte unseres Bewußtseins jetzt noch fühlbarer in die gesteigerte Gewalt jener Strömung zurückgeschmolzen zu sein.

Es scheint sicher, daß der Soldat, mindestens solange er in lebhafterer Aktion ist, eben dieses Tun als ungeheure Steigerung sozusagen des Quantums von Leben, in unmittelbarerer Nähe zu seiner flutenden Dynamik empfände, als er es an seinen sonstigen Arbeitswirksamkeiten spüren kann.

Die höchste Zusammenraffung der Energie, die das Leben einer ganzen Nation durch sich hindurchfließen fühlt, läßt kein Sich-Verfestigen und -Verselbständigen ihrer Inhalte zu, durch das die Friedenskultur Inhalt neben Inhalt, abgelöst und fremd gegeneinander und nur dem Sachgesetz des einzelnen folgend, hinsetzt.

Es ist ein geheimnisvolles Zusammentreffen, daß die ungeheuren Ereignisse der Zeit gewissermaßen zurechtkamen, um eben jene eingeschlagene Richtung des Geistes zu bestätigen, die die Einheit der auseinanderstrebenden Inhalte in der Tiefe des Lebensvorganges selbst suchte.

Natürlich hat das Erleben dieser Ereignisse keine unmittelbar ersichtliche Wirkung auf jene Zerspaltungen und inneren Fremdheiten innerhalb unserer sittlichen und intellektuellen, religiösen und künstlerischen Kulturgebiete; und ebenso natürlich wird diese Wirkung, selbst wenn sie stattfindet, sich in jener tragischen Entwicklung, wie sie für hochausgebildete objektive Kulturen unvermeidlich scheint, allmählich wieder verlieren.

Darüber aber, daß, innerhalb dieser Begrenzungen, der Krieg jene positive Bedeutung für die Kulturform hat, unabhängig von seiner Zerstörung von Kultursubstanz, ist mir kein Zweifel.

Wie nicht nur das gemeinsame Ziel und die gemeinsame Gefahr unserem Volke, als der Summe von Subjekten, eine ungeahnte Einheit gegeben hat, sondern die unerhörte Erhebung und Erregtheit des Lebens in einem jeden dieses Zusammenschmelzen, Zusammenfließen in eine Strömung begünstigt hat, so wird sie auch den objektiven Kulturinhalten für eine Welle eine neue Bewegtheit und damit eine neue Möglichkeit und Drang, sich zusammenzufinden, leihen, ein Durchbrechen jener Starrheiten und Inselhaftigkeiten, die unsere Kultur zu einem Chaos unverbundener, jeder Stilgleichheit entbehrender Einzelheiten machte.

Wir werden wie gesagt dieser Tragödie und chronischen Krisis aller Kultur auf die Dauer nicht entgehen. Aber für eine gewisse Periode wird ihr Fortschritt gehemmt, ihre Schärfe gemildert werden. Mehr aber können wir überhaupt den letzten Paradoxien des Kulturlebens gegenüber nicht erhoffen. Sie verlaufen tatsächlich so, als ob sie zu einer Krisis und mit ihr in unabsehliche Zerrissenheiten und Dunkelheiten führen sollten.

Daß bloße Mittel als Endzwecke gelten, was die vernünftige Ordnung des inneren und praktischen Daseins völlig verschiebt; daß die objektive Kultur sich in einem Maß und Tempo entwickelt, mit dem sie die subjektive Kultur weit und weiter hinter sich läßt, in der doch allein alle Vervollkommnung der Objekte ihren Sinn hat; daß die einzelnen Zweige der Kultur zu einer Richtungsverschiedenheit und gegenseitigen Entfremdung auseinanderwachsen, daß sie als Gesamtheit eigentlich schon vom Schicksal des babylonischen Turmes ereilt und ihr tiefster Wert, der gerade in dem Zusammenhang ihrer Teile besteht, mit Vernichtung bedroht scheint: dies alles sind Widersprüche, die wohl von der Kulturentwicklung als solcher unabtrennlich sind.

Sie würden in restloser Konsequenz diese Entwicklung an den Punkt des Untergangs führen, wenn nicht das Positive und Sinnvolle der Kultur immer wieder Gegenkräfte einzusetzen hätte, wenn nicht von ganz ungeahnten Seiten Aufrüttelungen kämen, die - oft um einen hohen Preis - das ins Nichtige verlaufende und auseinanderlaufende Kulturleben für eine Weile zur Besinnung brächten.

In diese Kategorie gehören, soweit wir übersehen, die Erschütterungen unseres Krieges. Er wird vielleicht von den zeitlichen Einzelinhalten der Kultur manches definitiv beseitigen, manches definitiv neu schaffen.

Indem er aber auch auf jene fundamentalen inneren Formen von Kultur überhaupt wirkt, - deren Entwicklungshöhe die Gestalt einer fortwährend bevorstehenden Krisis hat -, kann er nur eine Szene oder einen Akt dieses endlosen Dramas inaugurieren.

Wir verstehen damit, wie dieser Krieg, den wir als das umwälzendste, zukunftbestimmendste Ereignis seit der französischen Revolution empfinden, für unsere Prognose diesen Unterschied seiner kulturellen Folgen auslösen kann: auf der einen Seite Gewisses für immer zu beseitigen, Gewisses ganz neu zu schaffen, auf der anderen gewisse Entwicklungen zu hemmen oder rückläufig zu machen, deren Wiedereinbiegen in den alten Gang uns doch unvermeidlich scheint.

Indem jenes sich auf einzelne Inhalte der Kultur, dieses auf das tiefste Verhängnis ihrer Formen bezieht, ist mit dem nur relativen, nur temporären Charakter der letzteren Wirkung die kulturelle Bedeutung des Krieges keineswegs herabgesetzt.

Denn gerade damit fügt er sich dem innersten, freilich tragischen Rhythmus der Kultur ein, ihrem fortwährend gefährdeten und nur durch fortwährende Gegenwirkungen zu erhaltenden Gleichgewicht.

Würden wir hier, wo es sich um das Leben der Kulturform schlechthin handelt, ein Absolutes oder Definitivum erwarten, - auch soweit nur, wie man im Geschichtlichen von solchem sprechen kann, - so würde eben diesem Leben nicht mehr, sondern weniger genuggetan sein.

Man kann, wie gesagt, es als die prinzipiellste, alle Einzelinhalte übergreifende Schicksalsformel der hochgesteigerten Kultur bezeichnen, daß sie eine fortwährend aufgehaltene Krisis ist.

Das heißt, daß sie das Leben, aus dem sie kommt und zu dessen Dienst sie bestimmt ist, in das Sinnlose und Widerspruchsvolle auflösen will, wogegen die fundamentale, dynamische Einheit des Lebens sich immer wieder zur Wehr setzt, die lebensfremde, das Leben von sich abführende Objektivität wieder von der Quelle des Lebens selbst her zusammenzwingt.

Und darum stehen wir in dieser Epoche an einem Höhepunkt der Geschichte, weil jene Auflösung und Abirrung der kulturellen Existenz ein gewisses Maximum erreicht hat, gegen das sich das Leben mit diesem Kriege und seiner vereinheitlichenden, vereinfachenden, auf einen Sinn konzentrierten Kraft empört.

Mag dies auch nur eine Welle in der unabsehlichen Strömung des Menschheitslebens sein, - zu solcher Höhe, solcher Breite hat die Reibung seiner Kräfte noch keine gehoben.

Mit Erschütterung stehen wir vor solchen Dimensionen die diese Krisis dem Überblick des Einzelnen unabschätzlich weit entrückt, während sie uns zugleich tief vertraut und verständlich ist; denn in jedem von uns ist sie, bewußt oder nicht, die Krisis seiner eigenen Seele.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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