Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
presents: Georg Simmel Online

  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online Georg Simmel: Verschiedene Schriften

 

Georg Simmel: Vorformen der Idee

Aus den Studien zu einer Metaphysik

 

 

ex: LOGOS. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, herausgegeben von Richard Kroner und Georg Mehlis, Band VI, 1916/I7, Heft 2, S-103-141, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck)

Unser Geist besitzt eine Reihe von Betätigungsformen, durch deren gestaltgebende Anwendung auf beliebig einander fremde und ferne Inhalte es ihm gelingt, diese zu je einem prinzipiell einheitlichen Bezirk, zu einer - engeren oder weiteren - »Welt« zusammenzubringen.

Eine jede solche erscheint uns von je einem Begriff beherrscht, z. B. der Wissenschaft oder der Religion, der Kunst oder des Rechts - ohne dass dieser doch als abstraktes Bewusstsein zu bestehen brauchte.

Denn entscheidend ist nur die Funktion, die die Lebensinhalte tatsächlich so und so formt, mag man ihr nachträglich einen allgemeinen Namen geben oder nicht.

Allein dass die Umfassung durch einen solchen Begriff möglich ist, ist das Symbol dafür, dass es sich hier jeweils um Erscheinungen handelt, die durch die aufgeprägte Form objektiv zusammengehören, eine der Idee nach einheitliche Welt bilden.

Es ist die allgemeine Überzeugung, dass diese durch psychologische Kräfte wirklich gewordenen Welten dennoch einen Eigenbestand haben, der sie von dem wirklichen Verlaufe des seelischen Lebens unabhängig stellt, und zwar von den beiden möglichen Seiten her.

Wir erblicken in jedem dieser Bezirke eine innere sachliche Logik; diese gibt zwar Spielraum für große Mannigfaltigkeiten und Gegensätze, hat aber in jedem einzelnen Falle doch eine objektive Gültigkeit, an die auch der schöpferische Geist gebunden ist - mag man hier von Normen sprechen, die ein solcher erfüllen oder verfehlen kann, mag man mit symbolischem Ausdruck das geistige Gebilde als Verwirklichung eines ideell vorgezeichneten ansehen, wie nach Michelangelos Wort die Statue im Marmorblock ruht und es nur darauf ankommt, sie herauszuholen.

Von der anderen Seite her: diese einmal geschaffenen Gebilde denken wir als in ihrem Sinn und Wert ganz unabhängig davon, ob und wie oft sie von Individuen aufgenommen und seelisch nachrealisiert werden.

Als Werke oder Heiligkeiten, als Systeme oder Imperative haben sie einen selbstgenügsamen, von innen her zusammengehaltenen Bestand, mit dem sie sich sowohl aus dem seelischen Leben, aus dem sie gekommen sind, wie aus dem anderen, das sie aufnimmt, gelöst haben.

Immerhin - diese Reiche als ganze und auf den sie jeweils beherrschenden Begriff hin angesehen, kommen aus dem gelebten Menschheitsleben, in dessen Unmittelbarkeit sie freilich in einer ganz anderen, sozusagen embryonalen Form auftreten, unter anderen begrifflichen Namen, mit zufälligen und empirischen Veranlassungen entstehend und vergehend.

Oder besser ausgedrückt: es vollzieht sich hier dasselbe in der Form des Lebens, was dort in der Form eigenweltlicher Idealität besteht.

Es sind zunächst Erzeugnisse des Lebens, wie all seine anderen Erscheinungen, seinem kontinuierlichen Lauf eingeordnet und dienend.

Und nun geschieht die große Wendung, mit der uns die Reiche der Idee entstehen: die Formen oder Funktionen, die das Leben um seiner selbst willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat, werden derart selbständig und definitiv, dass umgekehrt das Leben ihnen dient, seine Inhalte in sie einordnet, und dass das Gelingen dieser Einordnung als eine ebenso letzte Wert- und Sinnerfüllung gilt, wie zuvor die Einfügung dieser Formen in die Ökonomie des Lebens.

Die großen geistigen Kategorien bauen zwar am Leben, auch wenn sie noch ganz in ihm befangen sind, noch ganz in seiner Ebene liegen.

Allein so lange haben sie dennoch etwas ihm gegenüber Passives, ihm Untertanes, weil sie sich seiner Gesamtforderung fügen und ihr gemäß das, was sie ihm leisten, modifizieren müssen.

Erst wenn jene große Achsendrehung des Lebens um sie herum geschehen ist, werden sie eigentlich produktiv, ihre sachlich eigenen Formen sind jetzt die Dominanten, sie nehmen den Lebensstoff in sich auf und er muss ihnen nachgeben.

Dies ist als ein historischer Prozess gemeint, als die metabasiz eiz allo genoz, mit der aus dem Wissen, das nur um praktischer Zwecke willen erworben wird, die Wissenschaft sich erhebt, aus gewissen vital-teleologischen Elementen die Kunst, die Religion, das Recht usw.

Diesen Prozess in all seinen Linien zu verfolgen, überall den Punkt des Umschlags der Form aus ihrer vitalen in ihre ideale Geltung unterhalb der gleitenden Übergänge des tatsächlichen Bewusstseins zu entdecken - geht natürlich gänzlich über unser Vermögen.

Es handelt sich hier aber auch nur um das Prinzip und den inneren Sinn dieser Entwicklung, um die Charakterisierung ihrer Stadien in deren reinem Gegensatz, ganz gleichgültig gegen die Mischungen und Abflachungen, mit denen sie sich historisch vollzieht.

Bevor ich dies für einige Einzelgebiete unternehme, lege ich dem eine prinzipielle Bemerkung über das Zweckmäßigkeitsprinzip zugrunde.

Wenn ich davon sprach, dass gewisse Funktionen, innerhalb des Lebens ausgebildet und in seine Zweckverwebungen eingebettet, zu selbständigen Zentren und Führungen werden, die das Leben in seinen Dienst nehmen - so kann dies leicht als das typische Vorkommnis erscheinen, dass die Mittel zu einem Zweck psychologisch zu Zwecken werden.

Das Beispiel dafür, dessen Reinheit ebenso extrem ist wie seine geschichtliche Wirkung, bildet bekanntlich das Geld.

Denn einerseits gibt es innerhalb der Menschenwelt nichts, was so absolut ohne Eigenwert und schlechthin bloß Mittel wäre, da es ja ganz und gar nur als wirtschaftliche Vermittlung entstanden ist; andererseits kein irdisches Ding, das einer gleich großen Anzahl von Menschen als der Zweck aller Zwecke vorkäme, als der definitiv befriedigende Besitz, der Abschluss alles Strebens und Mühens.

Jene Drehung scheint sich hier also radikaler als irgend sonst vollzogen zu haben.

In Wirklichkeit sind die geistigen Strukturen beider Typen ganz unterschieden.

Das Auswachsen von Mitteln zu Zwecken bleibt durchaus in der allgemeinen Form des Teleologischen beschlossen und lässt nur den seelischen Akzent des Definitiven eine Stufe zurückrücken.

Ob jemand, statt für Geld Genüsse zu erwerben, sich mit dem Besitz des Geldes für befriedigt erklärt, wie der Geizige, macht einen Unterschied in der Materie, aber nicht in der wesentlichen Form der Wertung.

Die sachlich rationale Gliederung einer Reihe ist für das Wertbewusstsein nicht verpflichtend, sondern überlässt ihm die Wahl des Punktes, an dem es sich aufgipfeln will.

Denn an und für sich ist jene Reihe ja doch unabschließbar.

Kein noch so vernünftiges oder unmittelbar beglückendes Ziel ist davor sicher, als Durchgangspunkt für ein noch höher gelegenes enthüllt zu werden, die Kette irdischer Lebensinhalte reißt an keinem Gliede definitiv ab, sondern lässt die Markierung eines endgültigen der niemals inkorrigibeln Willens- oder Gefühlsentscheidung.

Auch soll man nicht übersehen, wie tief dies scheinbar Irrationelle der Überbewertung der Mittel gerade in die menschliche Teleologie verflochten ist.

Unzählige Male würden wir weder Mut noch Kraft für unsere Handlungen haben, wenn wir nicht die ganze Konzentration, das überhaupt verfügbare Wertbewusstsein auf die zunächst zu erreichende Stufe der teleologischen Leiter verwendeten.

Wir müssen diese Stufe, mag sie sachlich ein noch so vorübergehendes Mittel sein, so behandeln, als ob sozusagen das ganze Heil von ihr allein abhinge, da sie nun doch einmal unentbehrlich ist.

Wollten wir ihr nur so viel Interesse widmen, wie ihrem Eigengewicht sachlich angemessen wäre, und die volle Wertungsintensität nur auf das ferne und fernste Endziel richten, so würde dies unsere Energie der praktischen Aufgabe gegenüber höchst dysteleologisch zersplittern.

Die Wendung aber, mit der die idealen Gebilde sich erheben, tritt aus der ganzen Zweck-Mittel-Kategorie heraus und die Einsicht in diese - nachher auszuführende - Möglichkeit bedarf der anderen: dass diese Kategorie überhaupt innerhalb der tiefsten Schicht menschlicher Existenz eine viel geringere Bedeutung hat, als man ihr, verführt durch ihre Rolle in der oberflächlichen Praxis, zuzuschreiben pflegt.

Das Gebiet allbeherrschender Zweckmäßigkeit bildet der körperliche Organismus.

Dass sein tiefstes, eigentlich formendes Wesen damit bezeichnet ist, glaube ich freilich nicht, ebenso wenig wie der Mechanismus, unter dessen Kategorie wir seine Erscheinungen mit nicht absehbarem Gelingen ordnen können, dazu ausreicht.

Wird aber der teleologische Gesichtspunkt, so sehr er bloß heuristisch oder symbolisch sei, einmal auf die Organismen als physische angewandt, so findet er sich im erstaunlichsten, mit jeder neuen physiologischen Entdeckung wachsenden Maße bestätigt.

Je genauer ein tierisches Wesen auf die unmittelbare Auswirkung seiner Körperlichkeit angewiesen ist, d. h. je geringer sein Aktionsradius ist, desto unbedingter ist es der Zweckmäßigkeit verhaftet.

Die vollkommenste Zweckmäßigkeit besteht innerhalb des Körpers; sie verringert sich in dem Maß, in dem die Lebensbewegungen über ihn hinausgreifen, weil diese dann mit einer widerstehenden, gegen das Leben zufälligen Welt zu rechnen haben.

Sie nähert sich dem Maximum ihrer Gefährdung und unter Umständen dem Minimum ihrer Realisierung, indem der bewusste Geist und Wille sich in beliebige Entfernung von den innerleiblichen, strukturgegebenen Bewegungen und ihrer ganz unmittelbaren Auswirkung in sein Milieu begibt.

Der Mensch, weil er den größten Aktionsradius hat, weil seine Zwecksetzung sich am weitesten und unabhängigsten von dem vitalen Automatismus seines Leibes stellt, ist seiner Teleologie am wenigsten gewiss.

Das ist, was man seine Freiheit nennen kann.

Das Wesen, das sich an jenen Automatismus hält, hat zwar die größte Lebenszweckmäßigkeit, aber es bezahlt sie mit der Enge des Gebundenseins an die körperliche Apriorität.

Freiheit bedeutet gerade die Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit zu durchbrechen, sie besteht eben in dem Maße, in dem das Verhalten des organischen Wesens über die Grenzen seines unwillkürlich regulierten Körpers hinausgreift.

Hiermit ist natürlich nicht nur die Ortsveränderung gemeint, die einfach den Körper als ganzen den Raum durchmessen lässt, um der Nahrung, des Schutzes, der Fortpflanzung willen, sondern vielmehr die qualitativen und differenziellen Eingriffe des Menschen in die Umwelt.

Je entwickelter, d. h. je freier der Mensch ist, desto weiter steht sein Verhalten von der Zweckmäßigkeit ab, die in seiner Körperstruktur als solcher und in ihrer Unwillkürlichkeit investiert ist.

Um dieser Distanz willen, die zwischen der physiologischen Gegebenheit des menschlichen Organismus und seinem praktischen Verhalten besteht, kann man den Menschen prinzipiell als das unzweckmäßige Wesen bezeichnen, er ist relativ aus der Zweckmäßigkeit entlassen, die in der wesentlichen Unwillkürlichkeit und also Zweckmäßigkeit der niedrigeren Organismen herrscht.

Der Mensch hat eine Existenzstufe erlangt, die über dem Zweck steht.

Es ist sein eigentlicher Wert, dass er zwecklos handeln kann.

Darunter sind nur Handlungen als ganze verstanden, die innerhalb ihrer selbst teleologisch konstruiert sein mögen oder müssen, d. h. die einzelne Handlungsreihe baut sich aus Mitteln auf, die zu einem Zweck führen.

Aber das Ganze ist nicht wieder in eine übergreifende Gesamtteleologie eingestellt.

Solche Reihen füllen das Leben natürlich nicht aus, welches vielmehr in seinem größten Teile zweckmäßig ist, d. h. in Reihen verläuft, deren Endglied wieder als Mittel für einen weiteren Zweck, d. h. schließlich zu dem Leben als solchem führt.

Hier und da aber lebt der Mensch in der Kategorie des Nichtzweckmäßigen.

Wenn man den Charakter solcher Reihen dadurch zu bezeichnen meint, dass man ihre Endglieder Selbstzwecke nennt, so bringt man ihre ganz einzigartige Bedeutung doch wieder auf die tiefere Stufe, auf die der Zweckmäßigkeit zurück.

Diese ist vielmehr bloßer Durchgang, bloße Entwicklungsstufe.

Wären wir reiner Geist, d. h. wäre unser Verhalten gar nicht mehr als Teil oder Fortsetzung der unwillkürlichen Zweckmäßigkeit unserer körperlichen Organisation zu denken, so wären wir von der Kategorie des Zweckes prinzipiell unabhängig geworden.

Freilich, wenn man unter »zwecksetzend« die bewusst vernünftige Form des Zweckes und der beliebig verlängerten Mittelreihe versteht, dann ist nur der Mensch zwecksetzend.

Aber dies ist doch nur ein Teil der Zweckmäßigkeit des Lebens und derjenige, der bei der Vergleichung mit der Teleologie der Tiere gar nicht in Frage kommt.

Bei dem Menschen tritt nicht nur das teleologisch Entstandene in Ablösung von allem Zweck auf, sondern indem es dies tut, stört und schädigt es unzählige Mal unsere Zweckprozesse.

Das kann indes nur für solche Wesen einen Sinn haben, die sich jenseits des Lebens stellen können.

Alle Gebilde des spezifisch menschlichen Daseins scheinen freilich - und darauf wird es uns hier ankommen - die Stufe der Zweckmäßigkeit durchgemacht zu haben, ehe sie in die des reinen Fürsichseins, d. h. der Freiheit, aufgestiegen sind.-

Der Gegensatz zur Freiheit ist nicht der Zwang; denn erstens ist der Ablauf von Ereignissen nach der Teleologie organischer Gesetzmäßigkeit nicht als Zwang zu bezeichnen, weil die Gegenstrebung fehlt; nur das irgendwie freie Wesen kann gezwungen werden.

Und dann beträfe die ganze Zwangskategorie, mit der ihr korrelativen Freiheit, nur die äußere Verwirklichungsform des tieferen Verhaltens.

Der Gegensatz zur Freiheit ist vielmehr die Zweckmäßigkeit.

Freiheit ist nichts Negatives, nicht die Abwesenheit von Zwang, sondern die ganz neue Kategorie, zu der die Entwicklung des Menschen aufsteigt, sobald sie die Stufe der an seine innere Physis gebundenen Zweckmäßigkeit und deren bloßer Fortsetzung in das Handeln hinein verlassen hat.

Freiheit ist nicht Lösung vom terminus a quo, sondern vom terminus ad quem.

Daher der Eindruck von Freiheit bei Kunst, Wissenschaft, Moral, wirklicher Religiosität, daher auch die volle Widerspruchslosigkeit gegen die Kausalität

__________

Den Vollzug dieser Emanzipation sollen die folgenden Seiten in einige wesentliche Linien verfolgen.

Ich deute ihn einleitenderweise für zwei Gebiete an, deren ursprüngliche Verwebtheit in die Lebensteleologie ganz unlösbar scheinen möchte - das eudämonistische und das erotische Gebiet.

Lust und Schmerz sind ursprünglich - so wird man wohl mit allgemeiner Zustimmung vermuten dürfen - Anregungen zu vital-zweckmäßigem Verhalten.

Lustgefühle sind die lockende Prämie für das Einnehmen zuträglicher Nahrung, für den Aufenthalt in gesundem Milieu, für die Fortpflanzung der Gattung; Schmerzgefühle sind Warnungssignale gegen das entgegengesetzte Benehmen, biologische Strafen, die von dessen Wiederholung abschrecken.

Indem diese Verbindung auch für den Menschen besteht, hat sie sich zugleich auch hier und da für ihn gelöst.

Er kann nun zunächst Lust suchen, die der eigenen und der Gattungserhaltung zerstörerisch ist: allein dies ist nur das Zeichen für das prinzipielle Unabhängigsein von diesen Fördernissen, das das Lustgefühl gewonnen hat und das ihm auch bei Weiterbestand der biologischen Nützlichkeit zukommt.

Wenn das Tier auch einzelne Handlungen um der winkenden Lust willen vornimmt, so ist dies doch immer nur etwas Sekundäres, hinter dem als eigentlicher Sinn die vitale Zweckmäßigkeit der so hervorgelockten Handlung steht.

Beim Menschen allein kann diese Drehung eine definitive sein, er allein kann sein Leben samt dessen erhaltenen oder pervertierten Zweckmäßigkeiten in den Dienst der Lust als des schlechthin Letzten stellen.

Der Begriff des »Glücks« scheint mir dies in tieferer Weise anzudeuten.

Die rohe Psychologie der traditionellen Ethik hat mit seltenen Ausnahmen die entscheidende Wendung verkannt, mit der dieser Begriff sich von dem der Lust abhebt; nur die Griechen haben an diesem Punkte tiefer gesehen.

Die Lust mag Schopenhauer mit Recht von vorhergehendem Bedürfnis abhängen lassen, was ihre Eingewurzeltheit in den einreihigen Verlauf der Lebensprozesse anzeigt.

Was wir aber Glück nennen - wobei es nicht auf einen definitorischen, sondern auf einen Unterschied innerer Realitäten ankommt - ist zwar auch für das leibliche Wohlbefinden und damit für die ganze Lebenszweckmäßigkeit von zweifellosem Wert; allein außerdem bedeutet es eine abschließende Zuständlichkeit, einen Gipfel, zu dem das Leben aufstrebt und über den es, in der Richtung dieses Strebens, so wenig hinaus kann wie man vom erreichten Gipfel eines Berges noch weiter in die Höhe wandern kann.

Dem Glück fehlt jene Vereinzelung des Lustgefühls, vermöge deren dieses zum bloßen Elemente des Lebenszusammenhanges wird.

Dieser hat vielmehr in seiner Ganzheit eine gar nicht zu lokalisierende Färbung, sobald wir uns »glücklich« nennen, die eigentümliche Gefühlsspannung der Lust hat gewissermaßen ihren Ort in der Wechselwirkung der Lebensmomente verlassen und ist als Glück ein Definitivum geworden, zu dem diese Momente zusammenwirken müssen.

Durch nichts wird der Rationalismus dieser Wendung stärker erwiesen als durch die transzendente Steigerung des Glücks zum Begriff der »Seligkeit«.

Hier kann nun die Übervitalität des Glückszustandes gar nicht mehr zweifelhaft sein, hier hat er die absolute und deshalb von aller Lustvermischung freie Form erlangt, für deren Gewinn das ganze Leben eingesetzt und oft genug das Märtyrertum erduldet wird.

Im Begriff der Seligkeit ist die Emanzipation des Glücks von aller innervitalen Zweckmäßigkeit vollendet und unverkennlich geworden.

Ähnlich, wenn auch nicht in genauer Parallelität, verhält es sich mit dem Schmerz, der genetisch als Abschreckung von lebensunkzweckmäßigem Verhalten zu denken ist.

Und einigermaßen entsprechend wie sich zur Lust das Glück, scheint sich zum Schmerz das Leid zu verhalten.

Als Schmerz bezeichnen wir - vorbehalten, dass der Sprachgebrauch die Begriffsgrenzen auch verschwimmen lässt - einen lokalisierten, in einer singulären Linie verlaufenden Vorgang.

Neben ihm aber - und manchmal auch neben der Lust - steht der chronische Tonus unseres Gesamtseins, den wir Leid zu nennen pflegen und der biologisch in keiner Weise über sich hinausweist.

Das Schmerzereignis innerhalb des Lebens hat sich damit jener Lokalisierung entrissen und sich zu einer Färbung des Lebens verbreitert, auf deren Basis es nun erst wieder immanent teleologische oder dysteleologische Ereignisse erfährt.

Während der Schmerz sich dem Leben einfügt, rinnen die Ströme des Lebens, wie in das Glück, so in das Leid hinein, die Seele kann im Leid wie im Glück - nur mit umgekehrten Vorzeichen - eine Vollendung, ein Fertigsein des Lebens, ja eine Erlöstheit seiner von sich selbst finden, die das Gegenteil der Rolle des Schmerzes ist.

Dass wir geistige Leiden empfinden können, die prinzipiell keine teleologische Bedeutung haben - das scheint mir ein ganz entscheidendes Kennzeichen des Menschenwesens zu sein.

Charakteristischer noch als in der eudämonistischen Teleologie tritt in der erotischen die bezeichnete Wendung hervor.

Primär gegeben ist die biologische Bedeutung der Anziehung der Geschlechter und der an sie geknüpften Lustgefühle.

Indem die letzteren zum psychologischen Ziel werden, um dessentwillen der Aktus gesucht wird, verschiebt sich schon die teleologische Reihung, die Fortpflanzung wird ein bloßes, oft nicht gewolltes Akzidenz des eigentlich Gewollten.

Immerhin kann auch dies noch - etwas altmodisch ausgedrückt - als eine List der Natur zur Erreichung ihrer Gattungszwecke erscheinen; ja sogar dann noch, wenn die erotische Absicht nicht mehr auf das Geschlecht als ganzes, d. h. nicht mehr auf irgendeine, einigermaßen annehmbare Person des anderen Geschlechts geht, sondern völlig individualisiert ist und unter dem Schema: diese oder keine - verläuft.

Denn auch solche Zuspitzung kann als Instinkt für den geeignetsten Partner zur Erzeugung des wohlgeratensten Kindes gedeutet werden.

Aber doch setzt sich an diesen Punkt zugleich die entscheidende Abwendung der Erotik vom Dienst des Lebens an.

Gleichviel welches genetische oder homochrone Verhältnis zwischen der Liebe und dem sinnlichen Begehren besteht - ihrem Sinne nach und als Zuständlichkeiten haben sie nichts miteinander zu tun.

Jenes Begehren ist gattungsmäßiger Natur und wo es ausschließend auf ein Individuum geht, ist dieser allgemeine Lebensstrom nur kanalisiert, fließt aber schließlich wieder in die Allgemeinheit seiner Quelle zurück.

Die Liebe aber, als Liebe, hat das Eigentümliche, dass sie ein reines, in sich abgeschlossenes Binnenereignis in der Seele ist, das sich freilich um das jetzt schlechthin unvertauschbare Bild des anderen Individuums webt.

Ungezählte, unverfolgbare Kräfte der Persönlichkeit münden in sie ein, aber sie ist nicht etwa für diese nur eine Durchgangsstation, sondern, beglückend oder vernichtend, ein Definitivum.

Das: »Wenn ich dich liebe, was geht's dich an« - drückt das Wesen der Liebe zwar negativ, aber in unüberbietbarer Reinheit aus.

Solange die Liebe im Generellen bleibt und solange sie Begehren bleibt, ist sie eine Form, die das Leben um seiner »Zwecke« willen annimmt.

Allein diese Form emanzipiert sich, wie sich in der - hier ganz einseitigen - Schopenhauerschen Lehre nur der Intellekt vom Leben emanzipieren kann; der Liebende, der sich und das geliebte Wesen aus dem breit und vorwärts strömenden Gattungserlebnis herausgehoben hat, weiß, dass nun das Leben dazu da ist, um diesen Wert, dieses neue So-Sein zu nähren.

Als eine »Zweckbeziehung« kann man das freilich nicht bezeichnen.

Indem aber diese, wie sie im gattungsmäßigen Begehren herrscht, aufgehoben ist, - gleichviel ob dieses noch neben der autonomen Liebe und in unscheidbarer Verbindung mit ihr besteht - hat die Liebe die ganze Kategorie des Teleologischen hinter sich gelassen.

Diese bestimmt nur ihre lebengebundene Vorform, aus der sie zu freiem Selbst-Sein herauswächst.

Gewiss ist hier ein stetiger Übergang und so wenig etwa in dem ersten Getriebenwerden zum anderen Geschlecht die Liebe schon »präformiert« liegt, so ist es doch ein allmählicher Prozess der Epigenesis, der sie aus jenem entstehen lässt, die Wirklichkeit setzt die Form der Kontinuität zwischen die beiden Kategorien, die ideell und dem Wesen nach durch eine absolute Schwelle geschieden sind.

Eine viel breitere Darstellung nun fordert dieser Prozess, wo er die eigentlich sogenannten Kulturgebiete gestaltet (obgleich man vielleicht sagen kann: Kultur überhaupt entstünde eben, wo die im Leben und um des Lebens willen erzeugten Kategorien zu selbständigen Bildnern eigenwertiger Formationen werden, die dem Leben gegenüber objektiv sind).

So entschieden Religion, Kunst, Wissenschaft ihren Sinn als solche in überpsychologischer Ideellität besitzen, so sind gewisse Vorgänge des zeitlich-subjektiven Lebens doch wie Embryonalstadien ihrer, sie erscheinen, von jener aus gesehen, wie ihre Vorformen; oder auch: eben dasselbe erscheint in der Form des Lebens, was jene in der der eigenweltlichen Ideellität sind.

In dem Augenblick, in dem jene formalen - d. h. gegebene Inhalte zu einer bestimmten Welt formenden - Triebkräfte oder Gestaltungsarten für sich das Bestimmende werden (während bisher das Leben und sein materialer Interessenzusammenhang es war) und von sich aus ein Objekt erzeugen oder gestalten - ist jedes Mal ein Stück der kulturellen Welten aufgebracht, die nun gleichsam vor dem Leben stehen, ihm die Stationen seines Verlaufes oder einen Vorrat an Inhalten bietend.

Vielleicht ist das reine Wesen der Wissenschaft im Unterschiede gegen das auch sonst vorhandene Wissen nur unter dieser Voraussetzung zu erfassen.

Das praktische Leben ist auf Schritt und Tritt - und mehr als man es sich klarzumachen pflegt - von Erkenntnisvorgängen durchzogen: wir erwerben vor dem Entstehen der Wissenschaft im großen und ganzen nicht weniger und nicht mehr Wissen als zur Durchführung unseres praktischen, äußerlichen wie innerlichen, Verhaltens erforderlich ist.

Nicht weniger: weil wir angesichts der Bedingtheit unseres Lebens durch Wissensvorstellungen nicht leben würden, wenn nicht ein gewisses Maß und eine gewisse Zulänglichkeit dieser bestünde; nicht mehr: weil dies, solange nur das Leben als solches und als praktisches in Frage kommt, eine unnütze Belastung für dieses, das sogar eigentlich gar keinen Platz dafür hätte, bedeuten würde - wobei natürlich das zwischen Zuwenig und Zuviel stehende Maß je nach Individuen und historischen Situationen äußerst variiert.

Wie entscheidend hier die vitale Determination ist, zeigt sich daran, dass dieses jeweilige Wissen, so fragmentarisch und zufällig es anderen Perioden erscheinen mag, doch immer als ein irgendwie geschlossener und befriedigender Zusammenhang sich bietet: eine Rechtfertigung und zentrale Begründung für diese jeweils empfundene Einheit, nach Logik und Sachgehalt dieser Erkenntniskomplexe, pflegen jene anderen Perioden eben nicht zuzugeben, sie kann vielmehr nur in der real fordernden, souverän bestimmenden Lebenssituation liegen.

Das weit überwiegende Quantum unserer Wissensvorstellungen stellt sich dar, als ob es von der Lebenszweckmäßigkeit hervorgerufen und bestimmt wäre - wobei die genauere Definition eben dieser nach Sinn und Richtung dahingestellt bleiben kann.

Nur mache man sich, um pragmatistische Verengerung zu vermeiden, klar, dass unsere inneren Vorgänge, so sehr sie unserem vitalen Verhalten in der Welt dienen, doch selbst ein Stück dieses Verhaltens und dieser Welt sind.

Darum ist es ganz einseitig und verblendet, Sinn und Zweck unserer Bewusstseinsvorgänge ausschließlich in unser Handeln, d. h. in unser praktisches Verhältnis zur Außenwelt zu setzen.

Auch wenn wir annehmen, dass alle seelischen Vorgänge, auch die rein triebmäßig auftretenden, durch die Lebenszweckmäßigkeit bestimmt sind, so schließt diese doch auch unsere innere Beschaffenheit ein; der Gedanke erhält seinen Vitalwert nicht nur durch seine äußeren Folgen, nicht einmal unter Hinzurechnung seiner inneren, sondern sein So-Sein ist unmittelbar eine, wertvollere oder niedrigere, Qualität des Lebens, in dem er steht.

Diese Erweiterung und Vertiefung ist stets mitgemeint, wo ich kurz von der Lebenszweckmäßigkeit spreche.

Sehen wir unser Leben als biologischen Prozess an, so ist es nicht anders als die Pflanze in die Wirklichkeit der Welt verwebt und alle seine Funktionen vollziehen sich in ihrer Zweckmäßigkeit wie das Atmen des Schlafenden.

Schiebt sich nun in diese Teleologie unserer Wirklichkeit ein Erkennen ein, so ist unser Status und unsere Wirksamkeit damit noch nicht prinzipiell geändert: das vorwärtsströmende Leben ist nur um diese Wellenform bereichert.

Das Erkennen ist insoweit nichts anderes als eine Szene des Lebens selbst, die eine andere vorbereitet und damit der vitalen Gesamtintention dient.

Für die sogenannten rein sinnlichen Vorstellungen ist dies schon ausgesprochen worden.

Sie erscheinen als Fortsetzungen des körperlichen Mechanismus, der als ganzer teleologisch dirigiert ist.

Wird diese letztere Vorstellung beibehalten, so müssen alle überhaupt dem Leben eingefügten und es mitbestimmenden Vorstellungen des gleichen Wesens sein.

Der Fluss des Lebens geht, herrschend und beherrscht, durch sie hindurch wie durch jedes andere seiner Elemente; die Kategorien, in denen sich das bewusste Bild der Dinge herstellt, sind bloße Werkzeuge innerhalb des vitalen Zusammenhanges.

Ganz irrig scheint mir die typische Vorstellung, dass wir aus einer zuvor gegebenen, gleichsam im intellektuellen Raum freischwebenden Welt von Erkenntnisbildern diejenigen in unser praktisches Leben hineinnehmen, die ihm förderlich sind.

Dies schneidet das Problem ab, indem es einen wählenden Menschen in den Menschen hineinsetzt und die Verbindung zwischen Theorie und Praxis ganz ungeklärt lässt.

Ist erst einmal eine fertige Erkenntniswelt unser erarbeiteter und durchgearbeiteter Besitz, so mag es so zugehen; allein die Frage, wie es überhaupt zu ihr kommt und was sie ursprünglich bedeutet, wird damit nicht berührt.

Sie löst sich vielmehr in einheitlicher Weise nur so, dass das Leben, wie alle seine anderen Funktionen, so auch die erkennenden schafft.

Der Mensch ist ein zu vielfältiges Wesen, um sich in einer so geradlinig teleologischen Weise, wie die Pflanze, in der Welt erhalten zu können.

Die Vielheit seiner Sinneseindrücke und seiner Berührungsflächen mit der ihn angehenden Welt fordert jene Konzentration der von dieser kommenden Einflüsse und jene Vorbereitung auf seine Reaktion, die vermöge der Begriffsbildung und der kategorialen Formen geschieht.

Dass man auch umgekehrt diese als Grund ansprechen kann, der ihm jene Mannigfaltigkeit der Weltbeziehungen zuwachsen lässt, beweist nur, dass die Teleologie überhaupt nur einen vorläufigen oder symbolischen Ausdruck für das eigentliche Gesetz des Lebens bietet.

Indem die intellektuellen Formen die Welt für unser praktisches Leben um uns aufbauen, ermöglichen sie die tatsächliche Verbindung zwischen den Inhalten der Welt und uns, um der dazu erforderlichen Bearbeitung der Inhalte willen sind sie da.

Außerhalb dieser Funktion haben sie im Leben nichts zu suchen.

Wenn etwa behauptet wird, Kausalität sei nur die Übertragung der gefühlten, willentlichen Lebenswirksamkeit auf die Objektwelt, so heißt das eben, dass das Leben sich innerhalb seines eigenen Wesensbezirkes die Form ausgebildet hat, mit Hilfe deren es eine praktisch zu bearbeitende Welt gewinnt.

Was vielfach Verwunderung erregte: dass wir die so fest geglaubte Kausalität doch nirgends »sehen«, kommt einfach daher, dass sie eine Form und Bedingung für unsere praktisch reale Wirksamkeit in der Welt ist; sie außerdem theoretisch-objektiv durch »Sehen« festzustellen, ist für diesen Zweck: für unser rein tatsächliches Eingreifen, dessen Voraussetzung sie bildet -eben nicht erforderlich.

Aber all solches vital bestimmte »Erkennen« ist noch keine Wissenschaft: durch keine graduelle, wenn auch noch so hohe Steigerung und Verfeinerung dieses Erkennens ist das Prinzip der Wissenschaft überhaupt zu erreichen - vielmehr erst in dem Augenblick, wenn das bisher geschilderte Verhältnis sich umkehrt, wenn die Inhalte ausschließlich insoweit von Interesse sind, als sie die Formen des Erkennens erfüllen.

Das Wesen aller Wissenschaft als solcher scheint mir darin zu bestehen, dass gewisse geistige Formen ideell da sind (Kausalität, induktive und deduktive Erschließbarkeit, systematische Ordnung, Kriterien der Tatsachenfeststellung usw.), denen die gegebenen Weltinhalte, durch Einstellung in sie, zu genügen haben.

In psychologischer Realisierung ausgedrückt: zuerst erkennen die Menschen um zu leben, dann aber gibt es Menschen, die leben um zu erkennen.

Welcher Inhalt gewählt wird, um sich als Erfüller jener Forderungen zu zeigen, ist eigentlich zufällig und hängt von historisch-psychologischen Konstellationen ab, von Motiven, mindestens für die Ausgangspunkte, die, genau angesehen, nicht innerhalb der Wissenschaft selbst liegen; denn für diese sind prinzipiell alle Inhalte gleichwertig.

Die Zusammengehörigkeiten, in denen die Inhalte innerhalb der Lebensreihen mit ihrem Sinn und ihrem Zwang stehen, sind hier völlig aufgelöst; die Bedeutung ihres Erkanntwerdens für das Leben entscheidet nicht mehr über ihre Herausholung und Anordnung, sondern diese hängen von der Forderung und Möglichkeit ab, die jetzt als Eigenwerte betrachteten Erkenntnisformen auf die Inhalte anzuwenden - vorbehalten natürlich, dass das so Gewonnene diesen Einstellungen wieder entrissen werden und, von neuem mit vitaler Dynamik geladen, in den teleologischen Lebensstrom tauchen kann.

Wäre nun diese ideozentrische Einstellung an allen überhaupt möglichen Inhalten vollbracht; würden sie alle diejenige Form, denjenigen Gesamtzusammenhang zeigen, die die Alleinherrschaft der Erkenntnisgesetze ihnen auferlegt - so wäre die Wissenschaft vollendet.

Die Annäherung hieran bleibt so lange aus, wie unser tatsächliches Forschen statt durch die Erkenntnisnormen als solche, durch das Lebensinteresse bestimmt wird.

Wenn wir Erkenntnisse suchen, die sich in den von praktischen Notwendigkeiten, von Willen und Gefühl gelenkten und durchsetzten Lebensstrom einstellen, so mögen diese noch so wahr sein - sie finden ihren Ort nicht durch den Zusammenhang mit anderen Wahrheiten, da ja Wahrheit gar nicht der letzten Endes sie beherrschende und zusammenführende Begriff ist; sie müssen vielmehr aus der Lebenslinie erst herausgelöst sein, um Wissenschaft zu sein, d. h. dem ideell vorgezeichneten Bezirk des Nur-Wahren anzugehören, dessen Inhalte gerade nur dadurch designiert und zusammengeschlossen sind, dass sie den Erkenntnisnormen genügen.

Dass diese Normen selbst nicht nur ihrem zeitlichen Auftreten, sondern ihrer qualitativen Bestimmtheit nach den Forderungen des ihnen vorgelagerten Lebens entstammen, ist hierfür ganz gleichgültig.

Es genügt, dass sie Jetzt der Träger des - so paradox der Ausdruck klingt -genuin gewordenen Wahrheitswertes sind, der Grund, aus dem Wahrheit Wahrheit ist, tritt in ihre jetzt gewonnene Alleinherrschaft nicht ein.

Von hier aus erhält Kants Äußerung, dass die apriorischen Sätze (die man mit dem, was ich hier Formen der Wahrheit nenne, identifizieren kann) »für sich nicht Erkenntnisse sind« eine interessante Beleuchtung.

Einzelne Wahrheiten können sich auf einzelne zuvor bestehende Wahrheiten gründen; Wahrheit überhaupt aber kann sich nicht wieder auf Wahrheit gründen, ohne dass ein Zirkel entstünde.

Behandelt man also, wie Kant es tut, als Erkenntnis ausschließlich die Wissenschaft, schneidet man das Wahrheitsproblem mit dieser ab, so ist es durchaus in der Ordnung, dass man die formgebenden Normen als »für sich nicht Erkenntnisse« seiend erklärt.

Lässt man aber die Frage weiter vorrücken, sieht man die primäre Geltung jener Formen schon im bloß praktischen Lebensbezirk, so können auch sie schon Erkenntnisse sein, weil an Stelle der Begründung, die sie innerhalb der Wissenschaft allein haben könnten, der selbst wieder theoretischen, jetzt eine andere getreten ist: die aus den Forderungszusammenhängen des bloß gelebten Lebens.

Im Sinne dessen, was hier Wahrheit heißen kann, sind auch sie Wahrheiten und daraus wird erklärlich, dass sie in der völlig anders konstruierten, durch jene radikale Wendung entstandenen Wissenschaft die Voraussetzungen für deren Wahrheiten werden können - ohne doch innerhalb dieser, wenn Kant recht hat, selbst Wahrheiten zu sein.

Wie sie zu dieser Rolle kämen, wäre nicht recht verständlich, hätte etwas von Zufall und Willkür, wenn ihnen nicht von ihrer Rolle innerhalb jenes anderen Zusammenhanges her eine Dignität bestimmt wäre.

- Im Gegensatz also zu der vital-teleologischen Erkenntnis ist in der Wissenschaft der Gegenstand als solcher gleichgültig, weil, wie schon erwähnt, ein jeder jedem anderen gleichwertig ist; ein Wertvorrang eines Gegenstandes kann hier nur die Technik innerhalb der Wissenschaft angehen, insofern der eine für den Gewinn weiterer Erkenntnisse fruchtbarer ist als der andere.

Dass uns im übrigen die Physiologie des Menschen wertvoller ist als die der Fledermaus und die Biographie Goethes wertvoller als die seines Schneiders, ist in Schätzungen begründet, die von außerhalb der Wissenschaft herkommen, die nicht vom Wahrheitsinteresse als solchem ausgehen.

Die allgemeine Wendung: in der Wissenschaft würde »die Wahrheit um der Wahrheit willen gesucht« trifft tatsächlich das Richtige - während sie innerhalb der Praxis um des Lebens willen, innerhalb der Religion um Gottes oder des Heiles willen, innerhalb der Kunst um der ästhetischen Werte willen gesucht wird.

Wenn innerhalb dieser beiden letzteren Teleologien etwa andere Vorstellungen als die wahren die dienlicheren wären, so würden diese anderen statt der wahren gesucht werden.

Wir pflegen freilich auch die innerhalb dieser Gebiete als gültig akzeptierten Vorstellungen als »wahre« zu bezeichnen und sprechen von einer künstlerischen und einer religiösen Wahrheit und Logik.

Dies entstammt ersichtlich dem ungeheuren Übergewicht, das den mit intellektueller Gültigkeit ausgestatteten Vorstellungen innerhalb des Vorstellungsbezirks überhaupt zukommt, und zwar deshalb zukommt, weil gerade diese der Ganzheit unseres Lebens entstammen und zugeordnet sind.

Freilich gehören Religion und Kunst als erzeugte und wirkende Realitäten gleichfalls in das Leben hinein und zweifellos sind manche von ihnen ausgehende Impulse und Ansprüche in den Vitalzusammenhang verwebt, innerhalb dessen unsere Intelligenz die »Wahrheit« bildet; hier und da hat man die Zeugnisse davon in unseren als rein rational akzeptierten Erkenntnissen aufweisen können.

Fasst man Praxis in dem engen, wesentlich äußerlichen Sinne, in dem der Pragmatismus es zu tun liebt, so können auch für sie Vorstellungen gültig werden, die von denen der theoretischen Intelligenz abweichen.

Wird sie aber in dem weiteren, weitesten Sinne des gesamten Lebensverhaltens verstanden, so ist eine Abweichung der für sie gültigen Vorstellungen von denen der reinen Theorie - wie die religiösen und künstlerischen eine solche Abweichung zeigen - unmöglich und sich selbst widersprechend, da die Theorie ihre konstitutiven Formen, so souverän sie im Augenblick der Wissenschaftswertung sind, ja gerade aus der Totalität des Lebens und seines Weltverhältnisses bezieht.

Den Hiatus zwischen Theorie und Praxis, den die Redensart symbolisiert: das mag in der Theorie richtig sein, gilt aber nicht für die Praxis - hat man damit zu überwinden gemeint, dass in diesen Fällen die Theorie nur noch unvollständig sei; als ganz vollendete umfasse sie eben die ganze Realität, also auch die praktische.

Für die Oberfläche der fertig ausgebildeten Erfahrung verhält es sich freilich so.

In der innerlichsten Schicht aber liegt es umgekehrt; jener Spruch hat eine relative Richtigkeit, insoweit »Praxis« in dem gewöhnlichen, eingeschränkten Sinne einer mehr oder weniger momentanen Aktivität der Außenwelt gegenüber verstanden wird.

Hier kann, innerhalb einer ganz partiellen Lage, tatsächlich eine Vorstellung sich zweckmäßig in unser Verfahren einfügen, die »theoretisch« unhaltbar ist.

Fasst man aber Praxis als das Gesamtverhalten unseres Lebens und als Bestimmung jeder Vorname durch das dieser Totalität Förderliche - so verliert der Spruch seinen Sinn, weil Theorie ja nichts anderes ist, als Erzeugnis und Herrschaftsbezirk der jenem Gesamtverhalten zweckmäßig eingefügten Erkenntnisformen; von jedem Einzelzweck, Einzelnutzen ist die Theorie prinzipiell unabhängig, da sie, in ihrer Vollendung, dem Ganzen des Lebens entsteigt.

Dass sie der Praxis in diesem Sinne entspricht, ist ein analytischer Satz.

Und, auf den eigentlich wurzelhaften Zusammenhang angesehen, ist jener Hiatus nicht, wie die angedeutete Kritik wollte, durch Vollendung der Theorie zu überwinden - dies wenigstens nur rückläufig - sondern durch Vollendung der »Praxis«, denn diese erst entlässt aus sich die vollendete Theorie.

In welchen Lebensbeziehungen und im Dienste welcher historischen Zwecke indes auch die (im weitesten Sinne) logischen und methodischen Formen entstanden sein mögen; das Entscheidende ist, dass sie nun in reiner, jede weitere Legitimierung abweisender Selbstherrschaft sich ihren Gegenstand - als Inhalt der Wissenschaft - selbst schaffen.

Jenes praktische, vom Leben erforderte und in das Leben eingewebte Wissen hat prinzipiell mit Wissenschaft nichts zu tun; von ihr aus gesehen ist es eine Vorform ihrer.

Die Kantische Vorstellung, dass der Verstand die Natur schafft, ihr ihre Gesetze vorschreibt, gilt nur für die immanent wissenschaftliche Welt.

Das Erkennen, insofern es ein Pulsschlag oder eine Vermittlung des bewussten praktischen Lebens ist, stammt keineswegs aus dem eigenen Schöpfertum der reinen intellektuellen Formen, sondern es wird von jener Dynamik des Lebens getragen, die unsere Realität in sich und mit der Realität der Welt verwebt.

Mag nun auch das Bild des einzelnen Objekts für die Wissenschaft das gleiche sein wie für die Praxis; die weltmäßige Gesamtheit der Bilder und ihrer Zusammenhänge, die wir Wissenschaft nennen, entsteht erst durch die Axendrehung, die die Bestimmungsgründe der Erkenntnisbilder aus den Inhalten und ihrer Bedeutung für das Leben heraus und in die Erkenntnisformen selbst hineinverlegt.

Diese erscheinen jetzt wie mit einer ganz genuinen Schöpfungskraft erfüllt und stellen von sich aus eine Welt her, deren Eigengesetzlichkeit und Selbstgenügsamkeit dadurch nicht alteriert wird, dass unsere Arbeit von ihrem ideellen Bestande nur einzelne und oft ganz unzusammenhängende Teile zu unserem Besitz macht.

Denn erst mit jener Wendung steht die in sich logisch verbundene Totalität ideell vor uns, als deren Nachzeichnung das wissenschaftliche Wissen erscheint.

Solange das Wissen nur ein Moment des Lebensverlaufes ist, aus ihm kommend und in ihn mündend, ist hiervon nicht die Rede; der Sinn, zu dessen Realisierung es in diesem Fall berufen ist, ist die vitale Zweckmäßigkeit, die Herstellung eines gewissen Seins in uns und Seinsverhältnisses zwischen uns und den Dingen.

Man könnte sagen: das Leben erfindet, die Wissenschaft entdeckt.

Auch dort ordnet sich das Erkennen seiner Intention nach einer einheitlichen Ganzheit ein.

Nur ist es nicht der theoretische Kosmos der Wissenschaft, sondern die Linie des praktischen Lebens, im Sinne inneren wie äußeren Verhaltens.

Indem die einzelne Erkenntnis in diese organisch hineingehört und ihren Zweck völlig erfüllt, fragt sie als Erkenntnis gar nicht über sich hinaus.

Das vom Leben erzeugte und verbrauchte Wissen ist für die Wissenschaft darum nicht weniger etwas vorläufiges, weil die Denkformen, die von sich aus die Gestaltung der Weltinhalte zur Wissenschaft übernehmen, selbst im Lebensprozess erzeugt worden sind, selbst nur den prinzipiellsten Ausdruck jenes praktischen Verhältnisses zwischen uns und dem übrigen Sein bilden.

Von der Provenienz dieser Formen und Forderungen wird das Wesen der Wissenschaft gar nicht angerührt.

Denn ob sie ihrer qualitativen Artung nach solche oder solche sind, ist für dieses Wesen in seinem reinen Sinn und Begriff ohne Belang; nur dass sie nun ihrerseits eine Welt bestimmen, dass die Inhalte nun in diese Welt aufgenommen werden, um deren Formen zu genügen - das macht die Wissenschaft in ihrer Abtrennung vom Leben aus.

Das scharfe Erfassen des Radikalismus dieser Wendung wird dadurch einigermaßen erschwert, dass der isolierte Inhalt innerhalb der vitalen Vorform der Wissenschaft und innerhalb der Wissenschaft selbst oft ununterscheidbar aussieht und dass der Unterschied nur durch die Betrachtung vom Ganzen her, durch die Zusammenhänge und die innere Intention gestiftet wird.

Viel deutlicher tritt er hervor, wo sich aus und über den vom Leben erzeugten Vorformen die Welt der Kunst aufbaut.

Für das Gebiet der empirisch praktischen Anschaulichkeit steht es fest, dass es uns ein prinzipiell anders gebautes Weltbild liefert, als dasjenige, das die Wissenschaft uns als objektives anzuerkennen veranlasst.

Für dieses nämlich sind die Dinge in absoluter Koordination durch den unendlichen Raum hin ausgebreitet, ohne dass ein Punkt besonders betont wäre und ihnen dadurch eine Abgestuftheit der räumlichen Ordnung aufdrängte.

Ferner bestehen sie hier in absoluter Kontinuität, in der gleichen wie der Raum selbst, und jeder kleinste Teil ist durch seine rastlose Bewegtheit mit jedem seiner Nachbarn dynamisch verbunden.

Endlich bedeutet diese Bewegtheit ein stetiges Fließen, die rastlose Umsetzung der Energien gestattet keine wirkliche Festigkeit einer Form, kein qualitatives oder räumliches Beharren eines einmalig gewordenen Daseins.

Diese Bestimmungen ändern sich vollkommen, sobald ein lebendiges Subjekt die Welt anschaut.

Mit ihm ist zunächst ein Zentrum oder Ausgangspunkt gegeben, der das gleichmäßige Nebeneinander der räumlichen Dinge in eine abgestufte oder perspektivische Ordnung um den Kopf des Anschauenden herum überführt.* 

* Ich entnehme einige dieser Formulierungen meiner Studie: Der Fragmentcharakter des Lebens
(vgl. http://socio.ch/sim/fra16.htm)

Jetzt gibt es eine als solche akzentuierte Nähe und Ferne, Deutlichkeit und Undeutlichkeit, Verschiebungen und Sprünge, Überschneidungen und Leerheiten, wozu in dem subjektfreien Dasein der Dinge gar keine Analogie besteht; ebenso wird die Stetigkeit der Materie (natürlich in dem Sinne, der von dem atomistischen Problem nicht berührt wird) von unserem praktischen Sehen durchbrochen, so dass man fast sagen könnte: dieses Sehen bestände geradezu in dem eingrenzenden Herausschneiden bestimmter »Dinge« aus der Kontinuität des Daseins; wir »sehen« sie, indem wir sie als irgendwie geschlossene Einheiten aus jener objektiven Kontinuität heraus- oder richtiger, in sie hineinformen; und damit ist schließlich auch der heraklitische Fluss der Wirklichkeit in ihrem objektiven zeitlichen Werden durch unseren Blick gestaut: unsere Art, zu sehen, schafft sich wirklich beharrende Gestalten, und die platonische Vorstellung, die Sinnenwelt zeige nur ewige Unruhe und Veränderung, während allein der abstrakte Gedanke die Wahrheit, d. h. das unveränderte So-Sein der Formen erfasse, ist, wenn nicht im absoluten, so doch im nächsten und empirischen Sinn, ungefähr das Gegenteil des wirklichen Verhaltens.

Verfolgt man diese vom Leben und seiner praktischen Eingrerichtetheit getragenen Funktionsarten unseres Sehens über das von der Praxis ihnen gegebene Maß hinaus, so stößt man in ihrer Richtung auf die Schaffensart der bildenden Kunst.

Denn dies ist doch wohl deren erste Leistung: dass sie ihr Gebilde als eine selbstgenügsame Einheit den kontinuierlichen Verflechtungen des realen Daseins enthebt, die verbindenden Fäden zu allem Außerhalb abschneidet, eine Form aufbringt, die, ihrem Sinne nach, nichts von Werden, Sich-Ändern, Vergehen weiß.

Aber dies ist jetzt nicht eine Technik, die das Leben für Organisationen unserer Art innerhalb unseres Milieus notwendig macht - wobei die Heraussonderung eines Gegenstandes als »eines«, als Exemplar eines Begriffes, doch nur geschieht, um ihn sogleich wieder dem kontinuierten weiterströmenden Lebensverlauf einzufügen -, sondern solche Formung ist ein Selbstzweck der Kunst; der Inhalt, das eigentlich Gegenständliche, ist jetzt nicht ein Lebenbestimmendes, das um eben dieser Verknüpfung willen in diese Form gefasst werden muss, sondern er wird als ein relativ zufälliger gewählt, damit diese künstlerische Form sich an ihm darstelle, damit sie sei - wie in der Wissenschaft aller Dinge gleichberechtigt waren, weil sie als Material des Erkennens als Endzweckes überhaupt nicht »berechtigt«, sondern gleichgültig sind.

Dies ist das legitime Moment an der Behauptung, dass für das Kunstwerk sein gegenständlicher Inhalt gleichgültig wäre.

Allein gerade von ihm aus wird sie für die tatsächliche Kunstübung wieder dementiert, da verschiedene Gegenstände ja doch ganz abgestufte Möglichkeiten gewähren, das rein artistische Sehen an ihnen zu realisieren.

Ihre Unterschiedlichkeit in dieser Hinsicht gewährt den Inhalten wieder einen Wertunterschied für die Kunst, aus der ihre, anderen Wertkategorien entstammenden, Differenzen mit Recht verbannt bleiben.

- Man kann den Schaffensprozess in der bildenden Kunst als eine Fortsetzung des künstlerischen Sehprozesses deuten.

Die äußeren und inneren Gesichte sind bei den anderen Menschen in die mannigfaltigsten praktischen Reihen derart verflochten, dass sie diesen zwar einzelne Inhalte und Modifikationen geben können, aber der eigentliche Anstoß und das durchgehende Telos geht nicht vom Sehen als solchem aus; dieses bleibt hier ein bloßes Mittel sonst schon beabsichtigter Aktivitäten, und wo es das nicht ist, ist es nur kontemplativer Art, ein überhaupt nicht in Tätigkeit sich umsetzendes Schauen.

Bei dem Maler aber scheint, in den Stunden seiner Produktivität, der Sehakt für sich allein gewissermaßen sich in die kinetische Energie der Hand umzusetzen.

Dass bekanntlich viele Künstler auch bei freistem Umbilden der Natur nur das zu schaffen meinen, was sie »sehen«, mag wohl auch aus dem Gefühl dieser unmittelbaren Verbindung stammen; nur dass diese Künstler als eine sozusagen substantialistische Übertragung des formal Gleichen deuten, was in Wirklichkeit etwas Funktionelles, gegen Gleichheit oder Ungleichheit von Ursache und Wirkung ganz Gleichgültiges ist: das Schöpferischwerden des bloßen Sehens, das seine Kraft sonst nur stützend und vermittelnd in Strömungen aus anderen Quellflüssen mischt.

Dieses selbständige, selbstverantwortliche Sichfortsetzen des Sehprozesses in das Tun des Künstlers entspricht aber ersichtlich einer im sonstigen Sehen nicht vorhandenen Selbständigkeit des künstlerischen Sehens selbst.

Das Sehen ist hier aus seiner Verwebung mit den praktischen, nicht optischen Zwecken gleichsam isoliert, es verläuft ausschließlich nach seinen eigensten Gesetzen; so dass man das Sehen des Künstlers mit Recht als ein schöpferisches bezeichnet hat - aber schließlich kann es sich doch nur durch die eben hierdurch bewirkten Modifikationen von dem Sehen der Menschen überhaupt unterscheiden.

Es hat nur die Drehung stattgefunden, dass nicht um der Inhalte willen die Sehensfunktion in Kraft tritt, sondern um dieser willen und durch sie die Inhalte kreiert werden; in zugespitztem Ausdruck: im allgemeinen sehen wir um zu leben, der Künstler lebt um zu sehen.

Freilich vergesse man nicht, dass immer und überhaupt der ganze Mensch sieht, nicht nur das Auge als anatomisch differenziertes Organ.

Wenn nun das Auge des Künstlers wirklich in einem besonders autonomen, ausschließenden Sinne sieht, so ist die Meinung nicht etwa die, dass sein Auge in entschiednerer Abstraktion vom eigentlichen Leben funktionierte, als bei anderen Menschen.

Sondern umgekehrt, bei dem schöpferischen Künstler geht eine größere Summe von Leben in sein Sehen hinein, die Lebensganzheit fügt sich williger darein, in diese Richtung kanalisiert zu werden.

Nur sekundär und sozusagen technisch hat der Künstler mehr Sehen in seinem Leben als andere; primär und wesentlich hat er mehr Leben in seinem Sehen; was eben jene Wendung ausdrückt: dass die innerhalb und zu den Zwecken des realen Lebens erzeugte Form eine ideale Welt erzeugt, indem sie sich nicht mehr in die vitale Ordnung einfügt, sondern selbst eine Ordnung bestimmt oder ausmacht, in die sich das Leben - als Wirklichkeit, als Vorstellung, als Bild - einzufügen hat.

Ich erwähne nur einen einzelnen Zug dieses Verhältnisses zwischen dem praktisch empirischen Sehen und dem künstlerischen Sehen und Gestalten.

Jede optische Wahrnehmung bedeutet unmittelbar eine Auswahl aus unbegrenzten Möglichkeiten; innerhalb jedes jeweiligen Gesichtsfeldes betonen wir aus Motiven, die mit dem bloß Optischen nur in Ausnahmefällen zu tun haben, immer nur einzelne Punkte, zahlloses lässt die Wahrnehmung außerhalb ihrer, als ob es überhaupt nicht da wäre, auch an jedem einzelnen Gegenstand bestehen so und so viele Seiten und Qualitäten, die unser Blick übergeht.

Unsere Formung der Anschauungswelt geschieht also nicht nur durch benennbare physisch-psychische Aprioritäten, sondern fortwährend auch in negativer Weise.

Das Material unserer Anschauungswelt ist also nicht dasjenige, das wirklich da ist, sondern der Rest, der nach dem Fortfall unzähliger möglicher Bestandteile übrigbleibt - was denn freilich die Formungen, die Zusammenhänge, die Einheitsbildungen des Ganzen in sehr positiver Weise bestimmt.

Wenn also ein bedeutender moderner Maler gesagt hat: Zeichnen ist Weglassen - so ist die Voraussetzung dieser Wahrheit die andere: Sehen ist Weglassen.

Insoweit der künstlerische Prozess überhaupt in dieser Richtung charakterisiert werden kann, ist er - unter Jener völligen Drehung der Intention - die Fortsetzung und sozusagen systematische Steigerung der Art, wie wir überhaupt die Welt wahrnehmen.

Das »Weglassen« ist hier künstlerischer Selbstzweck, während es in der Praxis eine leidige Notwendigkeit ist.

Der Künstler - dies kam schon vorhin in Frage - sieht mehr als andere Menschen: d. h. nun, er muss ein viel größeres Material haben als andere, weil er viel mehr »weglässt«, und weil das Schöpfertum des Sehens einen viel größeren Spielraum verlangt als das Leben, für das das Gesehene nur ein Element ist, das noch dazu durch den außerhalb gelegenen Vitalzweck von vornherein determiniert ist.

Wir sind also wirklich alle, als Sehende, fragmentarische oder embryonale Maler wie wir, als Erkennende, eben solche Wissenschaftler sind.

Aber dieser bloß graduelle Unterschied lässt die wesentliche Entwicklung noch nicht erkennen, die von dem Vitalvorgang zu dem idealen Gebilde führt, und man darf das letztere ja nicht als graduelle Steigerung des ersteren verstehen.

Diese ist nur eine Art äußerer Index für das Wesentliche, für die Einsetzung der formalen Funktion oder der Idee an die dominierende Stelle, die sonst das Leben einnahm - wobei der Gegensatz jener Intention gegen diese doch insofern Fortsetzung und Versöhntheit ist, als die jetzt dem Leben gegenüber souveräne Funktion durch und für das Leben erzeugt war.

Dass die Lebensrealität in dieser Bedeutung als Vorform der Kunst auftritt, offenbart sich neben den so exemplifizierten subjektiven Fällen auch an objektiven.

Die künstlerischen Gebilde primitiver Völker gehen oft davon aus, dass z. B. ein Stein ungefähr an eine Menschen- oder Tiergestalt erinnert und sie nun durch Abschlagen, Färben oder sonstiges Nachhelfen diese Ähnlichkeit vervollständigen.

Das erste ist ein assoziativ-psychologisches Ereignis, eine der Verwebungen von Optik und Begrifflichkeit, die das praktische Leben auf Schritt und Tritt tragen.

Äußerlich angesehen, ist nun das genauere Herausarbeiten der Ähnlichkeit nur ein graduelles Weiterführen solcher Analogiebildung.

Dem Sinne nach aber ist es eine ganz prinzipielle Drehung.

Nachdem die gegebene Gestalt im Verlauf des seelischen Prozesses zu dem Bilde etwa eines Fisches geführt hat, wird dieses nun seinerseits aktiv, schafft von sich aus, nach den Gesetzen, die ihm ausschließlich einhaften, ein sichtbares Gebilde.

Zuerst hat die Steingestalt zur Idee des Fisches geführt, dann die anschauliche Idee des Fisches zu einer Steingestalt.

Der Sehprozess, durch die Verkettung mit der äußeren und zufälligen Wirklichkeit zu einer Formwahrnehmung bewogen, reißt jetzt die selbständige Führung an sich: dass das Gebilde als Fisch gesehen wird, ist Jetzt nicht mehr das Bestimmte, sondern das Bestimmende, das Sehen erzeugt jetzt, von seiner einmal gewonnenen Ausgestaltung her und in seiner reinen produktiven Fortsetzung, das künstlerische Gebilde, nachdem es durch die Einwirkung des natürlichen Gebildes zu eben dieser Gestaltung gekommen war.

In Schellings System erzeugt die Natur vermittels der Stufenreihe der Erscheinungen den Geist, andererseits der Geist vermittels der Kunst eine (höhere) Natur.

Diese innerlich unverbundene, parallele Gegenläufigkeit wird durch die hier angedeutete Axendrehung der geistigen Funktion in einheitliche Einreihigkeit gestellt: in seiner Funktionalität wie in seiner singulären Inhaltlichkeit wird der Sehprozess von der Lebenswirklichkeit getragen, bis zu dem Punkte, wo er seinerseits die weitere Lebensfunktion und damit deren Produkt, das Kunstwerk, von sich aus bestimmt.

Jetzt wird das Herausschneiden, das Sinn-Geben, die Einheitlichkeit, die unser »Sehen« gegenüber der objektiven Natur bedeuten, weil dieses Sehen nur so praktisch möglich ist, zum Für-Sich-Entscheidenden, das Leben trägt die Form nicht mehr, um sie wieder in sich einmünden zu lassen, sondern diese enthebt die Seinsinhalte der sonst von ihr vermittelten Lebensverknüpfung, um sich souverän an diesen Inhalten auszugestalten; woher einerseits das Gefühl von Freiheit begreiflich wird, das aller Kunst, in ihrem Prozess wie in ihrem Ergebnis einwohnt - denn hier schafft der Geist wirklich ex solis suae naturae legibus - andererseits der Inhalt des Lebensprozesses, insoweit er rein naturhaft-wirklich und weltverwebt auftritt, als Vorform des Kunstwerks sich offenbart.

Das Gefühl von Reinheit und Unschuld, das als durchgehende Kompetenz der Kunst gelten kann, mag mit der so bezeichneten Unabhängigkeit von aller Weltgegebenheit zusammenhängen, mit deren ganzer Problematik und Wertzufälligkeit uns sonst das Sehen und das daran anschließende Handeln sozusagen vermischt.

Die Kunst mag eine noch so anstößige Szene darstellen: dieser Charakter eignet ihr doch nur, insoweit sie erlebt wird, ihr Inhalt also unter einer ganz anderen Kategorie steht, als unter der des bloßen Schauens.

Man deutet wahrscheinlich jene Reinheit der Kunst falsch, wenn man sie als eine positive Gesinnung ansieht, wie sie unter dem gleichen Namen auf ethische oder auf religiöse Weise besteht.

In diesen Fällen handelt es sich um Reinheit des Lebens, bei der Kunst aber um Reinheit vom Leben.

Deshalb wehren sich die Künstler gegen alles Moralisieren gegenüber ihren Vorwürfen: sie fühlen sich durch dieses, das nur die Lebensform dieser Vorwürfe betrifft, gar nicht getroffen.

Denn, gleichgültig wie viel Leben in das künstlerische Schaffen eingeströmt ist und wie viel von ihm ausströmt: als künstlerisches ist es von dem Leben, innerhalb dessen das Schauen jedenfalls nur ein Element unter anderen ist, gelöst und ist nur Schauen und dessen »reine« d. h. von allen Lebensverflechtungen gesonderte schöpferische Konsequenz.

Die künstlerische Anschauung, als die ungestörte Herrschaft des Anschauungsprozesses als solchen, ist so wenig Abstraktion, dass eher die praktisch-empirische Anschauung so zu bezeichnen wäre.

Denn gerade dadurch, dass das nicht-künstlerische Bild der Dinge von lauter nicht anschaulichen Gerichtetheiten, Assoziationen, zentrifugalen Bedeutungen durchwachsen ist und als eines der vielen koordinierten Mittel für praktische Zwecke dient, muss es von der ganzen Fülle und reinen Konsequenz des anschaulichen Phänomens als solchen abstrahieren, die Praxis nimmt nicht das ganze angeschaute Ding, sondern nur das Quantum seiner Anschauung auf, das sie für ihre ganz anderen Zwecke braucht.

In ihren Zusammenhängen ist das angeschaute Ding vielleicht der Totalität des Lebens verschmolzen, als Anschauung aber ist es hier ein bloßes Fragment, durch einen Abzug von der Totalität seines Angeschautwerdens zustande gekommen.

Hier liegt die tiefe Verwandtschaft wie der breite Abstand zwischen der geometrischen und der künstlerischen Anschauung.

Den letzteren, selbstverständlichen vorbehalten, kann man sagen, dass beide ihre Vorform in jenem alltäglichen, praktisch dirigierten Anschauen der Dinge haben.

Die Geometrie spricht die Gesetze aus, nach denen die besondere Art unserer räumlichen Anschauungen zustande kommt, sie ist also in der konkreten Gegebenheit eben dieser latent enthalten, und indem wir die konstruktive Handlung des räumlichen Anschauens in ihrer reinen, von aller Gegenständlichkeit absehenden Konsequenz vollziehen, entsteht das geometrische Gebilde.

Die Geometrie beschreibt - nach der Kantischen Auffassung - die reinen und konsequentesten Formen des Anschauens des Gegenstandes, wie die bildende Kunst das Anschauen des Gegenstandes den Verflechtungen des Lebens entreißt, innerhalb deren sein Anschauungsbild ein bloßes Mittel und nichts für sich Sinnvolles ist.

Ich führe das noch an einem abgelegenen und diffizilen Falle aus.

Altjapanische Teeschalen, wie sie jetzt Sammelgegenstände bilden, sind vielfach von feinen goldnen Linien durchzogen, mit denen Sprünge oder ausgeschlagene Stücke repariert sind.

Für den europäischen Blick wirken diese Steingutstücke überhaupt zunächst rustikal, ja roh und zufällig, und offenbaren erst langer Kennerschaft ihre Schönheiten und Tiefen.

Aber auch dann sind sie nicht in gewöhnlichem Sinne »Kunst«, wie es etwa chinesische Porzellane sind, sondern wirken wie ein gewisses Mittleres zwischen zufälligem Naturprodukt und stilisierter Kunst, für dessen charakteristische Einheit unsere europäische Ästhetik keine Kategorie hat.

Auch handelt es sich nicht etwa um die Synthese der naturalistischen Kunst, denn kein dargestellter Inhalt, sondern das unmittelbare Dasein des Gebildes ist naturhaft.

In Farbenstellung und Oberflächenbehandlung klingt zwar immer ein Natureindruck an: an einen Stein oder eine Fischhaut, an Baumrinde oder Wolkenfärbung wird man erinnert.

Aber dies ist nicht naturalistische Nachahmung, sondern -da man diesen fremdartigen Eindruck nur symbolisch bezeichnen kann - als hätte die Natur die poetischen und taktilen Elemente, die sie an den genannten Gegenständen hervortreibt, jetzt in irgendwelcher Abwandlung durch die Hand eines Japaners hindurchwachsen lassen.

Während hierin nun die Sprünge und Lücken etwas rein naturhaft Zufälliges sind und in unausgebessertem Zustand selbstverständlich auch so wirken, ergeben die ihnen folgenden goldnen Linien, wie durch eine prästabilisierte Harmonie, in außerordentlich vielen Fällen ein hinsichtlich der Führung wie der Flächenverteilung wahrhaft entzückendes, künstlerisch ganz vollkommenes Bild, ein so vollkommenes, dass man oft nur schwer an die Zufälligkeit der Risse glauben mag.

Nirgends vielleicht erscheint unser Prinzip markanter als hier, wo sich der künstlerische Prozess absolut eng an die Naturansicht anschließt und seine Wahlfreiheit nur an der Breite, dem Relief und der Tönung der Goldlinien zeigen kann.

Unmittelbarer als irgend sonst hat sich das, was der Künstler sieht, in das umgesetzt, was er tut.

Aber jener Umschwung des Eindrucks von einem naturhaft bestimmten empirischen zu einem zweifellos künstlerisch-formalen offenbart, dass hier eine prinzipielle Wendung geschehen sein muss.

Solange der Bruch der Schale in seiner ursprünglichen Form besteht, wird zwar sein optisches Bild auch erst von dem synthetischen Sehprozess erzeugt; allein so ist es rein naturhaft und durch die Verflechtung unseres Blickens mit der Naturgegebenheit bestimmt.

Aber nun übernimmt die so zustande gekommene optische Form die Leitung der künstlerischen Aktivität.

Ist das Sehen der gegebenen Wirklichkeit und innerhalb unserer Lebensverflechtung mit ihr die Vorform der Kunst, und entsteht Kunst, indem das Sehen sich aus dieser Verflechtung löst und von sich aus das Leben des Schaffenden in seine autonomen Rhythmen hineinleitet - so ist es nun hier das empirisch, im Zusammenhang der Wirklichkeit wahrgenommene Linienbild, das für den keramischen Künstler zur Richtschnur dafür wird, wie er die Schale aussehen machen will.

Das Kunstwerk entsteht durch die Emanzipation des Gesichtsbildes vom praktischen Leben, die in der Formung eines neuen, nun der Funktion des Sehens gehorsamen Gebildes produktiv wird.

Wenn dieser Sachverhalt gilt, so erklärt sich mit ihm das öfters gehörte Paradoxon: dass die Natur für jede Zeitepoche so aussieht, wie die jeweilige Kunst ihrer Künstler es ihr vorschreibt; wir sähen die Wirklichkeit nicht »objektiv«, sondern mit den Augen der Künstler an.

Gleichviel ob dies die ganze Wahrheit ist - ein Teil der Wahrheit ist es jedenfalls.

Die Möglichkeit davon aber, dass die Kunst unsere Art des Sehens bestimmt, liegt darin, dass das Sehen die Kunst bestimmt hat.

Nachdem unser Leben in der Welt das Sehen ausgebildet hat, entnehmen die Künstler die Sehfunktion diesem Zusammenhang zu gesonderter Ausbildung, zu der selbstgenügsamen Fähigkeit, die Dinge in einen nur durch das Sehen geschaffenen Zusammenhang einzustellen.

Und dies wirkt nun auf das empirisch-weltmässige Sehen zurück: die Genesis der Kunst aus ihrer vitalen Vorform hat die Brücke geschlagen, auf der sich die Kunst wieder dem Leben zurückverbindet.

Wir alle sind präexistenziale Maler und deshalb fähig, nachdem der wirkliche Maler uns den Weg gebahnt hat, ihm nach zu gehen.

Die Künstler verfahren nur ungefähr wie der Denker, der, wenn die Erfahrung vorliegt, aus ihr die Kausalität als ein reines selbständiges Gebilde herausgewinnt - dies aber nur kann, weil sie selbst schon jene Erfahrung geformt hat.

Sie zwingen uns nicht – wie jenes Paradoxon, solange es sich an das bloße Phänomen hält, ausspricht - statt einer generell unkünstlerischen Betrachtungsart, die wir ohne sie haben würden, die ihrige, rein künstlerische auf, sondern nur die jeweils besondere Ausgestaltung eines A priori, das sowieso in seinem unkünstlerischen Funktionieren eine Vorform der Kunst ist, wird von ihnen bestimmt.

Dies gilt nicht nur für die Malerei, sondern ersichtlich ebenso für die Dichtkunst.

Wenn wir empfinden und erleben, wie die Dichter uns vorempfunden und vorerlebt haben, so ist es, weil zur Bildung der inneren Welt die Kategorien von vornherein mitgewirkt haben, die, in reiner Herauslösung und nur sich selbst folgsamer Beherrschung des seelischen Materials, »Kunst« bewirken.

Denn was ich bezüglich der Anschauungskünste sagte, bestimmt auch die Dichtkunst: wir sind alle präexistenziale Dichter.

Nur sei wiederum nicht vergessen, dass dieser Ausdruck eine Vordatierung ist, da die fraglichen Formen, innerhalb des empirisch-praktischen Lebens wirksam, noch nicht Kunst sind, auch nicht ein »Stückchen« Kunst; etwas nicht graduell, sondern generell anderes sind sie, das nur bestimmt ist, in Kunst umzuschlagen.

Innerhalb des Lebens stehen die Formen in einfacher Koordination oder Wirkungseinheit mit all den anderen Mitteln, durch die wir die Wirklichkeit teleologisch gestalten; erst wenn die Wendung, mit der sie ihrer Lebensbestimmtheit enthoben und zu selbstbestimmenden, eine neue Welt schaffenden Mächten werden, eingetreten ist, kann man, von den jetzt entstandenen Schöpfungen zurückblickend, jene Formen als kunstmässige herauserkennen.

Für die Poesie ist hier zunächst des sprachlichen Ausdrucks zu gedenken.

Sehen wir die Sprache als ein bloßes Mittel an, sich von Person zu Person zu verständigen, so scheint in diesem logischen Prozess nichts kunstmässige Raum zu haben.

Dies gilt indes nur, wo ein sozusagen mechanisches Hineinschütten eines bestimmten Bewusstseinsinhaltes in ein anderes Bewusstsein in Frage steht und, der Intention nach, die Rede des Einen im Anderen keine eigentlich diesem eigene Funktion auszulösen hat.

Hier freilich genügt der Telegrammstil.

Allein die Zwecke der Rede - der mündlichen wie der schriftlichen - pflegen außer der Inhaltsgleichheit zwischen der hervorgerufenen und der hervorrufenden Vorstellung noch seelische Bewegungen des Aufnehmenden zu fordern, die nicht in gleicher Weise logisch erzwingbar sind und, obgleich durch das Gehörte angeregt, doch in höherem Maße, als die Reproduktion der reinen Sachgehalte, aus der Spontaneität des Hörers hervorgehen.

Er soll das Gehörte doch in einer gewissen Stimmung aufnehmen, es soll sich ihm einprägen oder umgekehrt gerade nur für einen Moment in ihm verweilen, er soll zu den besonderen Reaktionen der Zustimmung, des Überzeugtseins, des Anknüpfens praktischer Konsequenzen gebracht werden - welches alles nicht auf den bloßen Inhalt hin logisch stringent erfolgt, sondern als ein Neues und Weiteres zum großen Teil von der Form abhängt, in der jener Inhalt dargeboten wird.

Fasst man einmal den Begriff »Musik« in einem allerweitesten Sinn: als Rhythmik der Äußerung, als Schwingung des Gefühls über das begrifflich Fixierbare hinweg, als diejenige zeitliche und dynamische Ordnung des Darbietens, die für unsere Auffassungskraft die günstigste ist, als unmittelbare und kontinuierliche Übertragung eines seelischen Zustandes, den Worte und Begriffe nur stückweise und wie in Zusammensetzung vermitteln können - fasst man dies als die »Musik« unserer Äußerungen, so wird sie von deren praktischer Zweckmäßigkeit fortwährend gefordert.

In der Poesie aber erst wird diese Formung zu selbstgenügsamem Wert, hier hat mit der Erreichung der so bezeichneten Vollkommenheit das Wortgebilde seinen Sinn gewonnen und nicht schon oder erst dann, wenn es mit ihr als Mittel in das zu weiterhin gelegenen Zwecken sich spannende Leben eingestellt ist.

Darum hat vom Leben aus gesehen Schopenhauer recht: »die Kunst ist überall am Ziele« - weil sie überhaupt kein »Ziel« im Lebenssinne hat.

Teleologie ist eine Vitalkategorie, keine künstlerische.

Ohne weiteres ist ersichtlich, dass jene Formen, sobald sie die Wendung zur Autonomie erfahren haben, ihr Anwendungsgebiet viel konsequenter, einheitlicher, radikaler durchgestalten, als es ihnen in ihrer vitalen Funktion möglich ist.

Denn in dieser haben sie die Zufälligkeit des bloßen Mittels, werden durch anders gerichtete Erfordernisse fortwährend unterbrochen und gelangen zu keiner auf sich selbst gerichteten, folgerechten Entwicklung, sondern müssen Fragment bleiben - nicht vom Standpunkt des Lebens aus, in dem sie Wirklichkeit haben; denn in dessen kontinuierlicher Strömung ist (präsumtiverweise) eine jede genau in dem Maß ihrer Wirksamkeit an ihrer Stelle und in ihrem Quantum richtig und Jedes Mehr ihrer Herrschaft würde das jetzt von ihr Verlangte nicht vervollständigen, sondern unvollkommener machen.

Erst von dem neuen Gebilde, das durch ihre Alleinherrschaft zustande gekommen ist, von der Kunst her gesehen, erscheinen jene Formungen einzelner Lebensmomente als Fragmente.

Dass man so oft das Leben als Fragment bezeichnen hört, das sich erst in der Kunst zu Fertigkeit und Ganzheit abrunde, hat seinen richtigen Sinn wohl in diesem Formprinzip: das Kunstwerk kann ein Ganzes und prinzipiell in sich Vollendetes sein, weil es ganz und gar von Normen gestaltet ist, die hier mit ihrer Durchführung ihren ganzen Sinn erschöpft haben - während sie sonst einem Höheren, der Norm des Lebens als solchen untertan sind, das ihnen nur wechselnde und unterbrochene Anwendungen gestattet; das Leben erscheint als ganzes wie ein Fragment, insofern jedes einzelne seiner Stücke, von seiner in autonomem Schöpfertum vollendeten Form her gesehen, natürlich nur ein Bruchstück ist.

Und daraus ergibt sich weiterhin, dass wir in zwei ganz unterschiedenen Bedeutungen von unvollkommener Kunst reden können.

Es gibt unvollkommene Kunst, insoweit das Werk zwar ganz und gar um der künstlerischen Intention willen gestaltet ist und sich in der strengen Umgrenzung der autokratisch künstlerischen Formen hält - aber uninteressant, banal, kraftlos ist.

Und es gibt unvollkommene Kunst, wenn das Werk, die letzteren Beeinträchtigungen vielleicht nicht zeigend, seine künstlerischen Formen noch nicht völlig von der Lebensdienstbarkeit befreit, die Wendung dieser Formen von ihrem Mittel-Sein zu ihrem Eigenwert-Sein noch nicht im absoluten Maße vollzogen hat.

Dies ist der Fall, wo ein tendenzhaftes, anekdotisches, sinnlich exzitatives Interesse als ein irgendwie bestimmendes in der Darstellung mitklingt.

Dabei kann das Werk von großer seelischer und kultureller Bedeutung sein; denn dazu braucht es keineswegs an die begriffliche Reinheit einer einzelnen Kategorie gebunden zu sein.

Aber als Kunst bleibt es unvollkommen, solange seine Formungen noch irgend etwas von derjenigen Bedeutung fühlbar machen, mit der sie sich den Strömungen des Lebens einfügen.

Die vitale Form der Poesie nun beschränkt sich keineswegs auf den sprachlichen Ausdruck.

Vielmehr, die innere und inhaltliche Gestaltung des Schauens, mit der sich die dichterische Schöpfung vollzieht, formt sich in unzähligen seelischen Akten vor, mit denen wir den Stoff des Lebens den Zwecken des Lebens gefügig machen.

Ich beschränke mich auf wenige Beispiele.

Man hat es der Kunst überhaupt - hier aber soll uns nur die Poesie angehen - von jeher zugeschrieben, dass sie nicht die isolierte Individualität menschlicher Existenzen, sondern immer ein Allgemeines, Typen der Menschlichkeit zur Darstellung bringe, für die das so und so benannte Individuum nur ein Bild und ein Vorname sei.

Ich lasse dahingestellt, ob dies annehmbar ist; jedenfalls wenn und insoweit es richtig ist, scheint es die Dichtkunst - und so würde man im allgemeinen urteilen - in Gegensatz zu dem Verfahren der Praxis zu stellen, die die menschlichen Erscheinungen in ihrer Wirklichkeit, d. h. eine jede als diese individuelle, in der Einzigkeit ihres Umrisses, ihrer Position, ihres Lebenssinnes erfasse.

Hiermit aber scheint mir unser Bild von den Menschen, wie wir es gerade zum Zweck der praktischen Beziehungen zu ihnen gestalten, keineswegs ausreichend charakterisiert.

Man macht es sich selten ganz klar, wie durchgehend wir die Menschen, mit denen wir zu tun haben, generalisieren und typisieren.

Zunächst in mehr äußerlicher, sozialer Hinsicht.

Mit einem Offizier oder einem Geistlichen, einem Arbeiter oder einem Professor verkehrend, selbst nicht in Angelegenheiten ihrer Berufe, pflegen wir sie nicht einfach als Individuen, sondern wie selbstverständlich als Exemplare jener generellen Standes- oder Berufsbegriffe zu behandeln, und zwar nicht nur so, dass diese überindividuelle Bestimmtheit als reales und natürlich nicht zu vernachlässigendes Element der Persönlichkeit wirksam wäre.

Über die strömende Lebenseinheit, in welche dies Element mit anderen koordiniert und kontinuierlich verflochten ist, erhebt es sich vielmehr als ein praktisch führendes, es gibt die Tonart des Verkehrs an, wir sehen überhaupt nicht die reine Individualität, sondern zunächst und manchmal zuletzt den Offizier, den Arbeiter, oft auch »die Frau« usw. und die persönliche Bestimmtheit erscheint nur als die spezifische Differenz, mit der sich jenes Allgemeine darstellt.

Diese Struktur der Vorstellung vom Anderen ist die Voraussetzung, mit der sich unser sozialer Verkehr vollzieht.

Aber sie erhebt sich ebenso über den im engeren Sinne persönlichen Eigenschaften.

So entschieden wir die Unvergleichlichkeit und unanalysierbare Einheit an einer Natur empfinden mögen - wenn wir sie in der Weise vorstellen, die gerade ein praktisches Verhältnis zu ihr tragen kann, so erscheint sie unter einem psychologischen Allgemeinbegriff oder als die Synthese solcher: klug oder dumm, schlaff oder energisch, heiter oder trübe, großzügig oder pedantisch und wie die Generalisationen alle heißen mögen, die gerade ihren Allgemeinheitscharakter daran zeigen, dass je ein Gegensatzpaar die möglichen Richtungen einer fundamentalen seelischen Energie unter sich aufteilt.

Wir mögen uns bewusst sein, dass eine noch so große Häufung solcher Allgemeinheiten doch kein Koordinatensystem bildet, in dem der Punkt der eigentlichen Persönlichkeit sich unzweideutig festlegte, und dass wir sie mit diesen Verallgemeinerungen ihrer eigensten Wurzelung entreißen; wir können innerhalb der Lebenspraxis derartigen Umstimmungen des Individuellen ins Allgemeine doch nicht entgehen.

Und endlich enthält die Vorstellung des Anderen noch eine Umbildung seiner eigentlichen Realität, die gleichsam durch diese hindurch nach der entgegengesetzten Seite geht.

Diese Realität des uns gegenüberstehenden Menschen (vielleicht sogar auch die eigene) erblicken wir unvermeidlich so, dass wir die allein dargebotenen einzelnen Züge zu einem Gesamtbild ergänzen, dass wir das nacheinander sich Entfaltende seines Wesens auf die Gleichzeitigkeit eines »Charakters«, einer »Wesensart«, projizieren, dass wir endlich das qualitativ Unvollkommene, Verstümmelte, Unentwickelte, nur Angedeutete seiner Persönlichkeit zu einer gewissen Absolutheit führen; wir sehen einen jeden - nicht immer, aber sicher viel öfter als wir es uns bewusst machen - so, wie er wäre, wenn er sozusagen ganz er selbst wäre, wenn er nach der guten oder der schlechten Seite hin die volle Möglichkeit seiner Natur, seiner Idee, verwirklicht hätte.

Wir alle sind Fragmente, nicht nur eines sozialen Typus, nicht nur eines mit allgemeinen Begriffen bezeichenbaren seelischen Typus, sondern auch gleichsam des Typus, der nur wir selbst ist.

Und all dies Fragmentarische ergänzt der Blick des Anderen wie automatisch zu dem, was wir niemals ganz und rein sind.

Während die Praxis des Lebens darauf zu drängen scheint, dass wir das Bild des Anderen nur aus den real gegebenen Stücken zusammensetzen, ruht gerade sie bei genauerem Hinsehen auf jenen Ergänzungen und, wenn man will, Idealisierungen zu der Allgemeinheit des Typus, den wir mit anderen teilen, und dessen, den wir mit niemandem teilen.

Der Ausdruck Ergänzung könnte freilich an dem entscheidendsten Punkte vorbeiführen.

Wenn wir das in uns wirksame Bild eines Anderen gestalten, fügen wir nicht nur in die gegebenen Fragmente seines sich äußernden Lebens weitere, des gleichen Charakters ein, so dass wir uns phantasiemässig und mit psychologischer Induktion vorstellen, wie er sich in dieser und jener Lage, in der wir ihn nie gesehen haben, benehmen würde.

Sicher wird dies mehr oder weniger bewusst oft geschehen.

Wesentlicher aber ist die Herstellung eines generell anderen Bildes: des einheitlich geschauten Wesens, das überhaupt nicht aus noch so vielen Einzelheiten zusammenzusetzen ist, von vornherein in einer anderen Ebene liegt.

Mag es sich auch auf Grund jener gekannten Einzelheiten erheben, so gibt es doch nun erst seinerseits ihrer Diskontinuität Einheit und charakterologische Bedeutung; hier erst liegt das eigentlich Einzige am Menschen, das mit logischen Begriffen nicht Auszudrückende seines Seins, durch dessen Gewinn aber erst unser eigenes Leben mit dem anderen eigentlich etwas anzufangen weiß.

So nun - wie allenthalben die empirische Relativität unserer Auffassungen zwischen zwei Absolutheiten steht

stellen wir den anderen Menschen zwischen die Absolutheit eines Allgemeinen und die Absolutheit seines eigenen Subjekts - die er beide nicht deckt.

Es bedarf keiner näheren Ausführung, dass alle poetische und überhaupt künstlerische Menschendarstellung an diesen, im Lebensverlauf fortwährend geübten Modis der Auffassung ihr Prototyp findet.

Die Verallgemeinerungen in soziologischer und psychologischer Hinsicht schaffen die Grundlage, auf der Verkehr und Verständnis sich erhebt, jenes perfektionierte Bild der Individualität dient uns gewissermaßen als Schema, in das wir die empirischen Züge und Handlungen der Persönlichkeit (gleichviel ob es auch erst auf deren Grund erwachsen ist) eintragen, das sie in Zusammenhang bringt und das uns den Menschen erst zu einem festen Faktor für unsere Berechnungen und unsere Forderungen macht.

Das künstlerische Bild aber entsteht durch eine volle Axendrehung: jetzt kommt es nicht mehr darauf an, durch die Wirksamkeit dieser Kategorisierungen den Anderen unserem Lebenslauf einfügbar zu machen, sondern die künstlerische Absicht endet daran, einem menschlichen Charakter, einer Möglichkeit des Mensch-Seins diese Formen zu geben.

Die vollkommensten dichterischen Gestalten, die wir besitzen: bei Dante und Cervantes, bei Shakespeare und Goethe, bei Balzac und C. E Meyer, stehen in einer Einheit da, die wir nur als die Gleichzeitigkeit der hier angedeuteten gegensätzlichen Führungen bezeichnen können: sie sind einerseits ein ganz Generelles, als wäre das Individuum von sich erlöst, aufgegangen in einen typischen Umriss, empfindbar nur als ein Pulsschlag des allgemeinen Lebens der Menschheit; und sie sind andererseits bis zu dem Punkte hin vertieft, an dem der Mensch schlechthin nur er selbst ist, bis zu der Quelle, wo sein Leben in absoluter Selbstverantwortlichkeit und Unverwechselbarkeit entspringt, um dann erst von seinem empirischen Verlaufe Anähnlichungen und Verallgemeinerungen mit anderen zu erfahren.

Ich nenne noch einen zweiten Fall, der in einer ganz anderen Ebene liegt. Von den Gefühlskategorien, unter deren Perspektiven das Lebensmaterial sich stellt, hat die Lyrik zwei erwählt, um sie häufiger als alle anderen in ihre Kunstform zu gießen: die Sehnsucht und die Resignation.

Die Augenblicke der Erfüllung, in denen der Lebenswille und sein Gegenstand sich abstandslos durchdringen, begegnen in der Lyrik nicht nur überhaupt seltener, sondern verhältnismäßig noch viel seltener gelangen sie in ihr zu wirklich künstlerischer Vollendung.

Der Grund scheint mir zu sein, dass Sehnsucht und Resignation - oder, etwas abgestimmt, Hoffnung und Verlust - in sich ein Moment von Distanzierung tragen, das der künstlerischen Distanznahme und Objektivierung sozusagen vorarbeitet.

Täusche ich mich nicht, so neigt der Sprachgebrauch zur Bezeichnung von Sehnsucht und Resignation als »lyrischen Empfindungen«; und ich wüsste nicht, woraufhin diese Affinität gefühlt würde, außer auf jenes eigentümliche Entfernt sein von der erfüllten Ganzheit des Lebens, die der Besitz bringt.

Für die Sehnsucht wie für die Resignation ist der Zeitverlauf - wenn auch in ganz verschiedenen Bedeutungen - gewissermaßen zum Stillstand gekommen, mit beiden stellt sich die Seele irgendwie jenseits der Bedingungen der Zeit (wie es nach einer Seite hin Goethe ausspricht: »Was ich besitze sehe ich wie im Weiten/Und was verschwand wird mir zu Wirklichkeiten«) und schafft damit ebenso eine Vorform des künstlerischen Verhältnisses zur Zeit, wie die Abgedrängtheit von dem eigentlich vollen Leben, die in beiden Affekten liegt, diese in die Vorsphäre der Kunst stellen.

Aber unterhalb dieser scheinbaren äußeren Kontinuität vollzieht sich die radikale Wendung: in dem wirklichen Erleben entsteht Sehnsucht und Resignation, weil wir von einer gewissen intensiven Unmittelbarkeit des Lebens entfernt sind - in der lyrischen Kunst umgekehrt werden jene Affekte mit Vorliebe gesucht, weil sie uns eben diese artistisch erforderliche Distanz schaffen.

Der Affekt, den das Leben als Wirkung einer Unberührsamkeit, einer Distanznahme erzeugt, wird nun seinerseits zum Zentrum, weil er am besten den Bedingungen der Kunst genügt.

Die Distanznahme bildet noch in einer anderen Hinsicht den Drehpunkt zwischen dem empirischen Leben und der dichterischen Idealität.

Man hat lange bemerkt, dass Personen und Vorgänge der Vergangenheit zu poetischer Verwendung, in Epos wie Drama besonders günstig disponiert sind.

Tatsächlich ist schon die Art, wie sich uns das Vergangene als solches darstellt, eine Vorform der Kunst: die Gelöstheit von allem praktischen Interesse, das Hervorleuchten des Wesentlichen und Charakteristischen vor den zurücksinkenden Unbedeutsamkeiten, die Macht, die der Geist hier - anders als gegenüber der unmittelbaren Wirklichkeit - in der Anordnung und Bildgestaltung des Materials übt - alle diese Züge der Vergangenheitserinnerung sind Wesensbildner der Kunst, sobald sie ihrerseits den gegebenen Stoff sich anpassen.

Dies geschieht auch, nur in weniger absoluter Art, in der Geschichte als wissenschaftlicher Bildgestaltung.

Auch sie formt den gelebten Stoff des Geschehens vermöge solcher Kategorien zu einem idealen, lebensjenseitigen Gebilde, aber in ihr stellt der Inhalt noch größere Ansprüche an das schließlich herausgeformte Ergebnis, als in der Kunst; so dass die Historie als eine Art Überleitung zwischen der erlebnismässigen - jene Kategorien im Embryonalzustand enthaltenden - Erinnerung und der (historischen) Dichtung steht.

Man pflegt die Beziehung zwischen Geschichte und Kunst so aufzufassen, als wären künstlerische Formen und Qualitäten für sich gegeben, die dann für das Entwerfen des historischen Bildes verwendet werden.

Mag sich das psychologisch und nach Ausbildung beider Bezirke so verhalten - die ideelle Wesensbeziehung verläuft umgekehrt.

Denn hier kommt nicht nur die Historie als wissenschaftlich-methodisch erforschte in Betracht, sondern deren Vorläufer, der ihr freilich die Formen bereitet: die unser Leben fast ununterbrochen durchziehende Vergegenwärtigung erlebter oder Überlieferter Vergangenheit in irgendwie abgeschlossenen Bildern.

Und dieses fortwährende Erlebnis setzt nicht Kunst voraus, sondern wird unmittelbar durch jene Kategorien gestaltet, die innerhalb des Lebens dienend und fragmentarisch sind, sowie sie aber zentral bestimmen und den Stoff sich unterwerfen, den Kunstbezirk als solchen erzeugen.

In dieser tiefsten Schicht betrachtet, ist nicht die Kunst ein Vehikel der Historie, sondern umgekehrt die Historie ihrer eigensten Notwendigkeit nach eine zweite Vorform der Kunst, deren erste die innerhalb des Lebens sich erzeugende Art der Vergangenheitserinnerung ist. -

Stellt man das Verhältnis von Leben und Kunst in dieser grundsätzlichen Weise vor, so ist damit eine Gegensätzlichkeit der Motive oder Ordnungen versöhnt, die das Wesen der Idee überhaupt mit innerem Widerspruch bedroht.

Wir können - mit größerer oder geringerer historisch-psychologischer Vollkommenheit - die Entwicklung der Kunst wie die der Wissenschaft und der Religion aus dem Verlauf des natürlichen empirischen Lebens oder auch innerhalb desselben verfolgen; in unmerklichen Übergängen erheben sich aus den nicht ideellen Gebilden die ideellen, die Phänomene als solche scheinen kein absolut hartes Absetzen, keinen Punkt des prinzipiellen Umschwungs zu kennen.

Dennoch halten wir daran fest, dass ein solcher gerade im Prinzip besteht, dass die Kunst, allgemein: die Idee, ihren Sinn und ihr Recht gerade daraus zieht, dass sie das Andere des Lebens ist, die Erlösung aus seiner Praxis, seiner Zufälligkeit, seinem zeitlichen Verfließen, seiner endlosen Verkettung von Zwecken und Mitteln.

Erkennen wir nun, dass dennoch in all diesem sich Formen auswirken, die nur aus ihrer Stellung als Mittel, als Durchgangspunkte, in die andere: als Eigenwerte, als autonome und zu definitiven Gestaltungen führende Kräfte, gebracht zu werden brauchen, damit jene idealen Gebilde dastehen - so ist beiden Forderungen Genüge geschehen.

Denn nun handelt es sich dem äußeren Phänomen nach nur darum, dass immer bestehende und in verschiedensten Maßen wirksame Formungsweisen zu alleinherrschenden werden; wodurch dann begreiflich wird, dass die Grenze zwischen dem Lebensgebilde und dem Kunstgebilde als Gegebenheiten nicht immer scharf zu ziehen ist, dass sie hier und da einander übergreifen, dass z. B. die Rede des Alltags unmerklich in Poesie übergeht und ebenso die empirische Art des Schauens in die künstlerische.

Aber gerade weil so der wesentliche Unterschied in der Intention liegt: ob Jene Formungen sich als Mittel dem Stoff des Lebens und seiner unabsehlichen Strömung bieten oder ob sie umgekehrt als Selbstwerte diesen Stoff in sich hineinleiten und ihn damit in definitive Gebilde fassen - gerade deshalb ist der Unterschied zwischen dem natürlich wirklichen Leben und der Kunst dem Sinne nach ein schlechthin radikaler.

Da der ganze Prozess in beiden Fällen die Prägung bestimmten Stoffes in bestimmten Formen ist und die ganze Differenz sich um die Frage dreht, was Mittel und was Endwert sein soll, also zunächst eine rein innere ist und sich nur darin ausspricht, dass die Formen aus dem Zufälligen, Fragmentarischen, Durcheinander-Gemischten in das Herrschende, Vollständige, Abschließende übergehen - so ist die Kontinuität der Erscheinungen kein Widerspruch mehr gegen die vermittlungslose Drehung ihres Sinnes; sondern gerade in der Vereinigung beider spricht sich die Struktur des Verhältnisses aus.

Freilich wird dadurch auch verständlich, dass wir in dem großen Kunstwerk immer mehr als das bloße Kunstwerk empfinden.

Wenn die Kunstformen aus der Bewegung und Produktivität des Lebens stammen, so werden sie im einzelnen Falle um so kraftvoller, bedeutsamer, tiefergreifend wirken, je stärker und weiter das Leben ist, das sie trägt.

Die notwendige Vermittlung ist freilich, was wir Talent nennen: dass jene Formen nicht nur dem Dienst des Lebens ausgeliefert sind, sondern vermöge einer individuellen Kraft die Wendung zu selbstherrlichem Gestalten des Weltstoffs überhaupt vollziehen können.

Bei gleichgesetztem Maße dieses spezifischen Talentes aber ist nun das Entscheidende, wie intensiv und reich das in diese Formen eingegangene Leben ist.

Es fließt jetzt nicht mehr durch sie hindurch, seinen eigenen praktischen Zielen zu, sondern es hat sich in ihnen gestaut, hat sozusagen seine Kraft ihnen übertragen und mit ihr und in ihrem Maße wirken sie nun nach ihrem eigenen Gesetz.

Ist dies fundierende Leben schwach und eng, so ergeben sich die Erscheinungen eines bloßen formgewandten Artistentums und einer leeren technischen Vollkommenheit.

Anderenfalls aber entsteht der Eindruck, dass die Gesamtbedeutung des Werkes mit seinem bloß künstlerischen Werte nicht erschöpft sei, dass über diesen hinaus noch ein Breiteres und Tieferes in ihm zu Worte käme.

Ist das hier Vorgetragene richtig, so weist dieser Eindruck nicht auf einen Dualismus der wirkenden Faktoren, sondern auf ihre einheitliche Reihung hin.

Das Leben mit seiner biologischen und religiösen, seelischen und metaphysischen Bedeutung wirkt nicht von jenseits der künstlerischen Formen in das Werk hinein, sondern diese Formen sind die Formen des Lebens selbst, die sich freilich vom Leben, als einem teleologisch strömenden, emanzipiert haben, aber ihre Dynamik und ihren Reichtum doch von eben diesem Leben, soweit es diese Güter besitzt, zu Lehen tragen.

Das Mehr-als-Kunst, das jede große Kunst zeigt, fließt aus derselben Quelle, der sie, nun als ein ideales lebensfreies Gebilde, entstammt ist.

Nur mit wenigen Strichen suche ich noch für einige andere Gebiete die Wirksamkeit dieses Prinzips zu zeichnen; zunächst für das rechtliche.

Es ist wohl nicht zu bezweifeln, dass das Verhalten, das wir als dem Rechte gemäß und durch das Recht erzwingbar bezeichnen, sich im wesentlichen schon in gesellschaftlichen Zuständen findet, die den Begriff des Rechts und die erst durch ihn möglichen Institutionen noch nicht ausgebildet hatten.

Die Selbsterhaltung der Gruppe muss dies entweder als Instinkt und selbstverständlich geübten Brauch oder durch Strafandrohung erreicht haben.

Dass dieses Verhalten von sozialem Ganzen und Individuum zueinander als »Recht« im Sinne des Richtigen, Gerechtfertigten empfunden wurde, wird man annehmen können.

Aber die Forderung entsprang nicht aus dem »Recht« als einer der Realität jenseitigen Idee, sondern sie und ihre Erfüllung waren Funktionen des unmittelbaren Lebens, dessen Zwecken die Gruppe, wenn auch oft auf wunderlichen Wegen, nachging.

An dieser realen Lebensverwebtheit darf nicht irre machen, dass solche Gebote und Verbote zum großen, wahrscheinlich überwiegenden Teil unter religiöser Sanktion auftreten.

Denn die religiösen Potenzen so primitiver Zustände, das Totem und die angebeteten Vorfahren, der Fetisch und die die ganze Umgebung bewohnenden Geister sind eben selbst Elemente jenes unmittelbaren Lebens, auch der höher entwickelte Gott bleibt noch lange ein Mitglied der Gruppe selbst.

Gerade indem in der Norm des »richtigen« Verhaltens alle später differenzierten Sanktionen, sittlicher wie rechtlicher, religiöser wie konventioneller Art, noch ungeschieden ruhen, ist sie, ebenso wie ihre Befolgung, in den tatsächlich ablaufenden Lebensprozess, organisch und solidarisch, als eine seiner Funktionen eingestellt.

Das »Recht« aber hat seinen Ort in einer ganz anderen Ebene.

Sobald es dasteht, mögen seine Inhalte (die in diesem Sinn seine Formen einschließen) noch so »zweckmäßig« sein - nicht dies ist jetzt der Sinn ihrer Verwirklichung, sondern dass sie Recht sind.

Es ist jetzt nicht mehr ein Mittel, eine Technik, über die etwa ihr Endzweck vergessen wäre; das weiterbestehende Bewusstsein seiner Zweckmäßigkeit setzt die neue Absolutheit der Rechtsforderung als solcher so wenig herab, dass diese Forderung sich sogar bei bewusster Verneinung jener Zweckmäßigkeit aufrechthält: fiat justitia, pereat mundus.

Es gehört zu den in den tiefsten Grund der geistigen Welten eingesenkten Paradoxien, dass die wirksame Tatsächlichkeit der Rechtskategorie sich in und aus dem Leben entwickelt, aber von dem Augenblick an, von dem sie nun umgekehrt das Leben nach sich bestimmt, ihre Unabhängigkeit, den Wert ihres objektiven Daseins, bis zur Verneinung dieses Lebens hin bewährt.

Gewiss kann man von einem gesellschaftlichen »Zweck im Recht« sprechen.

Allein dieser betrifft nur seine inhaltlichen Bestimmungen und die Tatsache, dass überhaupt die sanktionierte Form der Erzwingbarkeit für sie besteht.

Denn dieses beides, aus der Teleologie des gesellschaftlichen Lebens geboren, ist allen Stadien der Entwicklung gemeinsam.

Bezüglich des inneren wesenhaften Sinnes aber zeigen diese jenen radikalen Umschwung.

Sobald wir sagen, dass ein eigentliches »Recht« besteht, das heißt solches, das erfüllt werden soll, weil es Recht ist, fällt alle Teleologie fort: das Recht als solches ist Selbstzweck, was nur ein etwas unklarer Ausdruck dafür ist, dass es eben keinen »Zweck« hat.

Die Kontinuität in seinen Inhalten, seiner Sanktioniertheit, seiner sozialen Nützlichkeit, darf diesen prinzipiellen Umschlag nicht verschleiern.

Es ist höchst bezeichnend, dass wohl alle primitiven Rechte vorwiegend kriminellen Charakter tragen.

Die Idee einer objektiven Ordnung, von der jedes empirische Verhältnis nur ein von ihr geregelter Teil und Beispiel ist, liegt ursprünglich ganz fern.

Selbst eine so einfache Norm: dass das Geschuldete erstattet werden muss - tritt ursprünglich nicht als objektive Gerechtigkeitsforderung auf, nicht als gesollte Realisierung einer Wertlogik, sondern das Nichtzahlen wird als eine subjektive unerlaubte Handlung am Schuldner heimgesucht.

Noch 'in späteren römischen Recht klingt dies nach, indem bei einigen rein privatrechtlichen Klagen nicht einfach Verurteilung zu der allein in Frage stehenden Geldleistung erfolgte, sondern der Verurteilte der Infamie verfiel.

Statt des Prinzips, dass der Vertrag gehalten werden muss, wobei die Personen Träger von Rechten und Pflichten sind, übrigens aber gänzlich außer Betracht bleiben, so dass der Prozess sich schlechthin nur auf den geschlossenen Vertrag beziehen kann - statt dessen ist der viel unmittelbarere, den Lebensverflechtungen viel immanentere Impuls wirksam, dass der Unrechttuende verurteilt werden soll.

Damit hängt aufs engste zusammen, dass das Recht am Anfang seiner Entwicklung wesentlich auf Wahrung des »Friedens« gerichtet ist und vor allem die Bedrohung des Gesamtwesens durch individuelle Gewalttätigkeit und deren nicht weniger gewalttätige individuelle Abwehr zu beseitigen strebt: seine Friedewirkung, so hat man dies ausgedrückt, überschattet ursprünglich seine Gerechtigkeitswirkung.

Die Gesamtheit will leben und aus diesem Willen heraus und als seine Mittel bildet sie die Formen, die das Verhalten des Einzelnen regeln.

Dies aber bleibt insoweit noch ganz in der Teleologie des Gesamtlebens, gerade wie die Verhaltungsweisen des individuellen Lebens sich um dessen Teleologie willen regeln, und auch hier sehr häufig mittels des Zwanges, den das Zentrum der Persönlichkeit auf peripherische Einzelimpulse ausübt.

Das Recht besteht hier in der Form des Lebens, so überindividuell dies sei, es ist - in extremem Ausdruck dieser Intention - eine immanente Vornahme der Lebensteleologie in der Reihe ihrer Technik; von da erst tritt es in die Form der Idee, ohne dass sich in dem Phänomen etwas zu ändern braucht: nur dass vorher die Gerechtigkeit gut war, insoweit sie dem Leben diente, jetzt aber das Leben gut ist, insoweit es der Gerechtigkeit dient. -

Auf sittlichem Gebiet fällt der Kantische Unterschied zwischen dem hypothetischen und dem kategorischen Imperativ eigentlich genau mit dem hier Gemeinten zusammen.

Was Kant die subjektive, innerlich noch sittlichkeitsfremde Triebfeder nennt, ist gerade das, was ich hier als Moment der vitalen Teleologie anspreche: der naturhafte Trieb, einem Maximum empirischer Lebenserfüllung zustrebend, Mittel an Mittel bauend, von denen viele dem äußerlich praktischen Anspruch der Moral völlig genügen.

Dass nach gewissen Moralisten »das wohlverstandene Eigeninteresse« mit Sittlichkeit identisch ist, drückt dies in Vollendung aus.

Dass aber die Sittlichkeit als Idee noch nicht realisiert wird, wenn das Pflichtmäßige in der Weise geschieht, dass der Lebensverlauf von sich aus die außerdem auch pflichtmäßigen Handlungen erzeugt, sondern erst wenn die Pflicht von sich aus und als einzige Instanz den Lebensverlauf bestimmt - damit hat Kant die hier behandelte Wendung in ihrem ganzen Radikalismus ausgesprochen.

Eine Zustimmung zu seiner Fassung des Pflichtbegriffs und zu der Wertexklusivität seines Moralismus ist damit nicht gegeben.

Vor allem aber tritt in die Kantische Erwägung das vermittelnde Moment nicht ein, auf das es mir hier ankommt: als ein bloßer Zufall und fremdes Nebeneinander erscheint es ihm, dass innerhalb der subjektiv-vitalen Zweckmäßigkeit Handlungen auftreten, die der Tatsache nach sittlich richtig sind.

Diese Sinnlosigkeit unserer Verfassung aber, die ihrem Bilde bei Kant einen tief pessimistischen Zug gibt, möchte ich nicht zugeben.

Gewiss sind die Motivierungen in beiden Fällen voneinander schlechthin verschieden.

Allein sie sind, über alle Zufälligkeit im einzelnen hinweg, prinzipiell dadurch verbunden, dass das Leben aus seinen eigenen teleologischen Notwendigkeiten heraus die Handlungsformen zustande bringt, um die, als Achse gleichsam, das Leben gedreht zu werden braucht, damit jene Formen als alleinherrschende Idee dastehen und das Leben und seinen Wert von sich aus bestimmen.

Kant glaubte die Absolutheit der ideellen Bestimmung gegenüber der Relativität der vitalen nur durch die völlige Zufälligkeit ihres Verhältnisses retten zu können.

Allein gerade hierin liegt ein gewisser Mangel an letztem Zutrauen zu jener Absolutheit.

Ist man ihrer ganz und gar sicher und legt man sie wirklich in die letzte Innerlichkeit der Gesinnung hinein, so leidet sie in keiner Weise dadurch, dass das Leben die von ihr bestimmten Verhaltungsweisen schon - vorher oder zugleich - aus seinen relativen Zusammenhängen heraus erzeugt hat, und dass empirisch und psychologisch sogar gleitende Übergänge zwischen beiden Motivierungen dieser Verhaltungsweisen bestehen.

Die Religion endlich macht dem einmal darauf eingestellten Blick ihre Vorformen unverkennlich.

Von der dornigen Frage nach dem »Wesen« der Religion kann ich hier absehen.

Nur dies muss feststehen, dass Religion unter allen Umständen ein Verhalten des Menschen ist - gleichviel welchem metaphysischen Zusammenhang es angehört und wie es auf Transzendentes gerichtet und von ihm bestimmt sei.

Tatsächlich gibt es nun unzählige, teils innerseelische, teils interindividuelle Lebensverhältnisse, die unmittelbar von sich aus religiösen Charakter haben, ohne im geringsten von einer vorbestehenden Religion bedingt oder bestimmt zu sein; das Wort »religiös« kann auf sie nur angewendet werden, indem man von einer sonst gewussten Religion auf sie zurücksieht und an ihnen, die in sich nicht religiös, sondern rein vital gestimmt sind, die nun religiös zu nennende Charakterisierung empfindet.

Wenn wir im empirischen Leben an einen Menschen »glauben«; wenn wir im Verhältnis zum Vaterland oder zur Menschheit, zu dem »höheren« oder dem geliebten Menschen die eigenartige Mischung oder Spannung von Demut und Erhebung, von Hingabe und Begehren, von Abstand und Verschmelzung erleben; wenn wir uns eigentlich immer zugleich preisgegeben und gesichert, abhängig und verantwortlich wissen, wenn dunkle Sehnsüchte und ein Ungenügen an allem Einzelnen uns von Tag zu Tage treibt - so erhebt sich nun Religion, indem diese Zustände und Affekte sich von ihrem irdischen veranlassenden Stoffe lösen, gewissermaßen absolut werden und von sich aus ihren absoluten Gegenstand schaffen.

Gewiss geschieht auch dies psychologisch in unmerklichen Übergängen, schließlich und wesentlich aber ist Gott »die Liebe selbst«, er ist der schlechthinnige Gegenstand von Glaube und Sehnsucht, von Hoffnung und Abhängigkeit, er ist nicht ein Etwas, mit dem wir eins zu werden und in dem wir zu ruhen begehren, sondern indem diese Leidenschaften, vom Irdischen her gesehen, gegenstandslos geworden, ins Unendliche ausstrahlen, nennen wir ihren Gegenstand und das Absolute, auf das sie hinstrahlen - Gott.

Vollkommener vielleicht als irgendwo hat sich hier die Drehung um die Formen vollzogen, die das Leben in sich erzeugt, um seinen Inhalten unmittelbar Zusammenhang und Wärme, Tiefe und Wert zu geben.

Nun aber sind sie stark genug geworden, um sich von diesen Inhalten nicht mehr bestimmen zu lassen, sondern das Leben von sich aus ganz rein zu bestimmen; nur der von ihnen selbst gestaltete, ihrem nun nicht mehr begrenzten Maß entsprechende Gegenstand kann jetzt die Führung des Lebens übernehmen.

Dass die Götter nur Verabsolutierungen der empirischen Relativitäten sind, ist solange eine aufklärerische Banalität, als es ein Urteil über das Wesen des Göttlichen selbst vorstellen soll.

Fragt man aber nach dem Wege des Menschen zu Gott - insoweit er in der menschlich religiösen Ebene verläuft - so ist sein entscheidender Wendepunkt allerdings das Losreißen jener Formungen des innersten Lebens von ihren teleologisch relativen Inhalten, ihr Absolutwerten; der Gegenstand, den sie sich in diesem reinen Selbst-Sein schaffen, kann selbst nur ein absoluter, die Idee des Absoluten sein.

Die Frage nach seinem Sein und seinen geglaubten Bestimmungen bleibt dahingestellt, ebenso wie die, ob nicht etwa solche einzelnen Bestimmungen noch Reste sind, die jene Formen aus ihren empirischen Zusammenhängen mitschleppen und von denen sie das Reich ihrer sich selbst gehörenden Idealität noch nicht befreien konnten.

Die Erörterung dieser Reihen soll nicht etwa zeigen, dass das entscheidende Prinzip sie alle in genau umschriebener Gleichheit beherrscht.

Jede Reihe hat vielmehr eine gleichsam organische Einheit, in der der formale Grundvorgang durch seinen Inhalt in dessen eigene differenzielle Charakterisiertheit hineingezogen ist.

Sie besitzen untereinander nur das besondere Verhältnis der »Ähnlichkeit«, das sich nicht aus einem Quantum Gleichheit und einem Quantum Ungleichheit zusammensetzen lässt, sondern sui generis ist.

Nur der abstrakten Reflexion ist der schlecht deckende Ausdruck unvermeidlich, als wäre das Motiv des Umschlags vital erzeugter Formen in das ideale Gebiet ein konstanter Faktor, der sich mechanisch mit allen möglichen Entwicklungsinhalten kombinierte.

Der letzte Sinn dieses Motivs, an seinem weitestgreifenden Fall aufgesucht, ist die Herstellung eines organischen Verhältnisses zwischen Psychologie und Logik.

Dass dies so wenig durch den Psychologismus wie von dem Eigenbezirk der Logik her zu gewinnen ist, steht jetzt wohl gleichmäßig fest, ebenso freilich, dass die gegenseitige Zufälligkeit beider Bezirke nicht auf die Dauer zu ertragen ist.

Ich kann hier keinen anderen Ausweg als einen metaphysischen sehen, von dem ich - seine prinzipielle Darstellung vorbehalten - für den jetzigen Zusammenhang nur dies andeute.

Wie das Leben auf seiner physiologischen Stufe ein fortwährendes Erzeugen ist, so dass, mit komprimierteren Ausdruck, Leben immer Mehr-Leben ist - so erzeugt es auf der Stufe des Geistes etwas, das Mehr-als-Leben ist: das Objektive, das Gebilde, das in sich Bedeutsame und Gültige.

Diese Steigerung des Lebens über sich hinaus ist nicht ein zu ihm Hinzukommendes, sondern ist sein eigenes unmittelbares Wesen selbst; insoweit es dies offenbart, nennen wir es eben geistiges Leben, wird es, jenseits alles Subjektiv-Psychologischen, selbst etwas Objektives und entwickelt aus sich Objektives.

Es braucht dazu nicht in ein anderes Reich zu greifen (was so wie so keine Erklärung wäre und das Rätsel, wie diese Inhalte in den subjektiven Geist eingehen und wieder aus ihm herauskommen sollten, bestehen ließe): vielmehr, das Transzendieren ist dem Leben selbst immanent.

An anderer Stelle ist das Verhältnis zum Kantischen Idealismus auseinander zusetzen, der die Objektivität nur durch Formung des Subjektiven gewinnt, also prinzipiell über dieses nicht hinauskommt, der außerdem nur die fertigen Wissenschaftsergebnisse analysiert, aber nach den lebendigen Kräften, durch die es überhaupt die Objektivität der Wissenschaft gibt, nicht fragt.

Hier soll nur der Grundgedanke berührt werden: dass das schöpferische Leben (in Fortsetzung des zeugenden Lebens) fortwährend über sich selbst hinausgeht, dass es selbst sein Anderes vor sich hinstellt und diese Objektivität dadurch als sein Geschöpf, dadurch als mit ihm einen Wachstumszusammenhang bildend erweist, dass es ihre Bedeutungen, Folgen, Normierungen wieder in sich einbezieht und sich nach dem gestaltet, was von ihm selbst gestaltet worden ist.

Was an diesem Drehpunkt steht, nennen wir eben Objektivität, die dem Subjekt transzendent und nichts weniger als eine bloße Verkleidung seiner ist.

Beides vielmehr sind, als Gegebenheiten, Stadien der Entwicklung des Lebens, sobald es geistiges Leben geworden ist, das freilich durch das eine hindurch geht, um das andere zu erreichen, in der Rückwirkung dieses auf jenes aber seine Einheit zeigt.

In relativistischem Prozess erhebt sich über das subjektiv psychologische Geschehen die von ihm unabhängige objektive Gestalt und Wahrheit, Norm und Absolutheit - bis auch sie wieder als subjektiv erkannt wird, weil eine höhere Objektivität entwickelt ist, und so fort in die Unabsehlichkeit des Kulturprozesses.

Freilich liegt hierin auch dessen ganze Tragik, die Tragik des Geistes überhaupt: dass das Leben sich an den Gebilden, die es als starr objektive aus sich herausgesetzt hat, oft wund stößt, keinen Zugang zu ihnen findet, den Forderungen, die es in ihrer Gestalt entwickelt, in seiner subjektiven Gestalt nicht genügt.

Das eben ist der schmerzliche Beweis, dass es sich hier um wahre Objektivität, in jedem ihr abzuverlangenden Sinne, handelt und keineswegs um eine Psychologisierung ihrer.

Was ich hier vorlegte, sind nur einige Fälle des Objektivwerdens des Lebens, die Aufweisung einiger Punkte, an denen es das erzeugt, was ihm gegenübersteht und an dessen an sich seiender, vom realen Leben unabhängiger Bedeutung der metaphysische, nicht der psychologische Charakter des schöpferischen Lebens sichtbar wird.

In der logischen Formung und dem sprachlichen Ausdruck der Erörterungen selbst suchte ich die Einwebung dieses metaphysischen Motivs zu vermeiden, von dem Wunsche aus, dass sie auch bei dessen Ablehnung nicht ganz ohne Ertrag bleiben mögen.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
Andreasstr. 15 
8050 Zürich 
Tel. ++41 55 2444012