Georg Simmel:
Vorformen der Idee
Aus
den Studien zu einer Metaphysik
ex: LOGOS. Internationale
Zeitschrift für Philosophie der Kultur, herausgegeben von Richard
Kroner und Georg Mehlis, Band VI, 1916/I7, Heft 2, S-103-141, Tübingen:
J.C.B. Mohr (Paul Siebeck)
Unser Geist besitzt eine
Reihe von Betätigungsformen, durch deren gestaltgebende Anwendung auf
beliebig einander fremde und ferne Inhalte es ihm gelingt, diese zu je
einem prinzipiell einheitlichen Bezirk, zu einer - engeren oder weiteren -
»Welt« zusammenzubringen.
Eine jede solche erscheint
uns von je einem Begriff beherrscht, z. B. der Wissenschaft oder der
Religion, der Kunst oder des Rechts - ohne dass dieser doch als abstraktes
Bewusstsein zu bestehen brauchte.
Denn entscheidend ist nur
die Funktion, die die Lebensinhalte tatsächlich so und so formt, mag man
ihr nachträglich einen allgemeinen Namen geben oder nicht.
Allein dass die Umfassung
durch einen solchen Begriff möglich ist, ist das Symbol dafür, dass es
sich hier jeweils um Erscheinungen handelt, die durch die aufgeprägte
Form objektiv zusammengehören, eine der Idee nach einheitliche Welt
bilden.
Es ist die allgemeine Überzeugung,
dass diese durch psychologische Kräfte wirklich gewordenen Welten dennoch
einen Eigenbestand haben, der sie von dem wirklichen Verlaufe des
seelischen Lebens unabhängig stellt, und zwar von den beiden möglichen
Seiten her.
Wir erblicken in jedem
dieser Bezirke eine innere sachliche Logik; diese gibt zwar Spielraum für
große Mannigfaltigkeiten und Gegensätze, hat aber in jedem einzelnen
Falle doch eine objektive Gültigkeit, an die auch der schöpferische
Geist gebunden ist - mag man hier von Normen sprechen, die ein solcher erfüllen
oder verfehlen kann, mag man mit symbolischem Ausdruck das geistige
Gebilde als Verwirklichung eines ideell vorgezeichneten ansehen, wie nach
Michelangelos Wort die Statue im Marmorblock ruht und es nur darauf
ankommt, sie herauszuholen.
Von der anderen Seite her:
diese einmal geschaffenen Gebilde denken wir als in ihrem Sinn und Wert
ganz unabhängig davon, ob und wie oft sie von Individuen aufgenommen und
seelisch nachrealisiert werden.
Als Werke oder
Heiligkeiten, als Systeme oder Imperative haben sie einen selbstgenügsamen,
von innen her zusammengehaltenen Bestand, mit dem sie sich sowohl aus dem
seelischen Leben, aus dem sie gekommen sind, wie aus dem anderen, das sie
aufnimmt, gelöst haben.
Immerhin - diese Reiche als
ganze und auf den sie jeweils beherrschenden Begriff hin angesehen, kommen
aus dem gelebten Menschheitsleben, in dessen Unmittelbarkeit sie freilich
in einer ganz anderen, sozusagen embryonalen Form auftreten, unter anderen
begrifflichen Namen, mit zufälligen und empirischen Veranlassungen
entstehend und vergehend.
Oder besser ausgedrückt:
es vollzieht sich hier dasselbe in der Form des Lebens, was dort in der
Form eigenweltlicher Idealität besteht.
Es sind zunächst
Erzeugnisse des Lebens, wie all seine anderen Erscheinungen, seinem
kontinuierlichen Lauf eingeordnet und dienend.
Und nun geschieht die große
Wendung, mit der uns die Reiche der Idee entstehen: die Formen oder
Funktionen, die das Leben um seiner selbst willen, aus seiner eigenen
Dynamik hervorgetrieben hat, werden derart selbständig und definitiv,
dass umgekehrt das Leben ihnen dient, seine Inhalte in sie einordnet, und
dass das Gelingen dieser Einordnung als eine ebenso letzte Wert- und
Sinnerfüllung gilt, wie zuvor die Einfügung dieser Formen in die Ökonomie
des Lebens.
Die großen geistigen
Kategorien bauen zwar am Leben, auch wenn sie noch ganz in ihm befangen
sind, noch ganz in seiner Ebene liegen.
Allein so lange haben sie
dennoch etwas ihm gegenüber Passives, ihm Untertanes, weil sie sich
seiner Gesamtforderung fügen und ihr gemäß das, was sie ihm leisten,
modifizieren müssen.
Erst wenn jene große
Achsendrehung des Lebens um sie herum geschehen ist, werden sie eigentlich
produktiv, ihre sachlich eigenen Formen sind jetzt die Dominanten, sie
nehmen den Lebensstoff in sich auf und er muss ihnen nachgeben.
Dies ist als ein
historischer Prozess gemeint, als die metabasiz eiz allo genoz, mit der
aus dem Wissen, das nur um praktischer Zwecke willen erworben wird, die
Wissenschaft sich erhebt, aus gewissen vital-teleologischen Elementen die
Kunst, die Religion, das Recht usw.
Diesen Prozess in all
seinen Linien zu verfolgen, überall den Punkt des Umschlags der Form aus
ihrer vitalen in ihre ideale Geltung unterhalb der gleitenden Übergänge
des tatsächlichen Bewusstseins zu entdecken - geht natürlich gänzlich
über unser Vermögen.
Es handelt sich hier aber
auch nur um das Prinzip und den inneren Sinn dieser Entwicklung, um die
Charakterisierung ihrer Stadien in deren reinem Gegensatz, ganz gleichgültig
gegen die Mischungen und Abflachungen, mit denen sie sich historisch
vollzieht.
Bevor ich dies für einige
Einzelgebiete unternehme, lege ich dem eine prinzipielle Bemerkung über
das Zweckmäßigkeitsprinzip zugrunde.
Wenn ich davon sprach, dass
gewisse Funktionen, innerhalb des Lebens ausgebildet und in seine
Zweckverwebungen eingebettet, zu selbständigen Zentren und Führungen
werden, die das Leben in seinen Dienst nehmen - so kann dies leicht als
das typische Vorkommnis erscheinen, dass die Mittel zu einem Zweck
psychologisch zu Zwecken werden.
Das Beispiel dafür, dessen
Reinheit ebenso extrem ist wie seine geschichtliche Wirkung, bildet
bekanntlich das Geld.
Denn einerseits gibt es
innerhalb der Menschenwelt nichts, was so absolut ohne Eigenwert und
schlechthin bloß Mittel wäre, da es ja ganz und gar nur als
wirtschaftliche Vermittlung entstanden ist; andererseits kein irdisches
Ding, das einer gleich großen Anzahl von Menschen als der Zweck aller
Zwecke vorkäme, als der definitiv befriedigende Besitz, der Abschluss
alles Strebens und Mühens.
Jene Drehung scheint sich
hier also radikaler als irgend sonst vollzogen zu haben.
In Wirklichkeit sind die
geistigen Strukturen beider Typen ganz unterschieden.
Das Auswachsen von Mitteln
zu Zwecken bleibt durchaus in der allgemeinen Form des Teleologischen
beschlossen und lässt nur den seelischen Akzent des Definitiven eine
Stufe zurückrücken.
Ob jemand, statt für Geld
Genüsse zu erwerben, sich mit dem Besitz des Geldes für befriedigt erklärt,
wie der Geizige, macht einen Unterschied in der Materie, aber nicht in der
wesentlichen Form der Wertung.
Die sachlich rationale
Gliederung einer Reihe ist für das Wertbewusstsein nicht verpflichtend,
sondern überlässt ihm die Wahl des Punktes, an dem es sich aufgipfeln
will.
Denn an und für sich ist
jene Reihe ja doch unabschließbar.
Kein noch so vernünftiges
oder unmittelbar beglückendes Ziel ist davor sicher, als Durchgangspunkt
für ein noch höher gelegenes enthüllt zu werden, die Kette irdischer
Lebensinhalte reißt an keinem Gliede definitiv ab, sondern lässt die
Markierung eines endgültigen der niemals inkorrigibeln Willens- oder Gefühlsentscheidung.
Auch soll man nicht übersehen,
wie tief dies scheinbar Irrationelle der Überbewertung der Mittel gerade
in die menschliche Teleologie verflochten ist.
Unzählige Male würden wir
weder Mut noch Kraft für unsere Handlungen haben, wenn wir nicht die
ganze Konzentration, das überhaupt verfügbare Wertbewusstsein auf die
zunächst zu erreichende Stufe der teleologischen Leiter verwendeten.
Wir müssen diese Stufe,
mag sie sachlich ein noch so vorübergehendes Mittel sein, so behandeln,
als ob sozusagen das ganze Heil von ihr allein abhinge, da sie nun doch
einmal unentbehrlich ist.
Wollten wir ihr nur so viel
Interesse widmen, wie ihrem Eigengewicht sachlich angemessen wäre, und
die volle Wertungsintensität nur auf das ferne und fernste Endziel
richten, so würde dies unsere Energie der praktischen Aufgabe gegenüber
höchst dysteleologisch zersplittern.
Die Wendung aber, mit der
die idealen Gebilde sich erheben, tritt aus der ganzen
Zweck-Mittel-Kategorie heraus und die Einsicht in diese - nachher auszuführende
- Möglichkeit bedarf der anderen: dass diese Kategorie überhaupt
innerhalb der tiefsten Schicht menschlicher Existenz eine viel geringere
Bedeutung hat, als man ihr, verführt durch ihre Rolle in der oberflächlichen
Praxis, zuzuschreiben pflegt.
Das Gebiet
allbeherrschender Zweckmäßigkeit bildet der körperliche Organismus.
Dass sein tiefstes,
eigentlich formendes Wesen damit bezeichnet ist, glaube ich freilich
nicht, ebenso wenig wie der Mechanismus, unter dessen Kategorie wir seine
Erscheinungen mit nicht absehbarem Gelingen ordnen können, dazu
ausreicht.
Wird aber der teleologische
Gesichtspunkt, so sehr er bloß heuristisch oder symbolisch sei, einmal
auf die Organismen als physische angewandt, so findet er sich im
erstaunlichsten, mit jeder neuen physiologischen Entdeckung wachsenden Maße
bestätigt.
Je genauer ein tierisches
Wesen auf die unmittelbare Auswirkung seiner Körperlichkeit angewiesen
ist, d. h. je geringer sein Aktionsradius ist, desto unbedingter ist es
der Zweckmäßigkeit verhaftet.
Die vollkommenste Zweckmäßigkeit
besteht innerhalb des Körpers; sie verringert sich in dem Maß, in dem
die Lebensbewegungen über ihn hinausgreifen, weil diese dann mit einer
widerstehenden, gegen das Leben zufälligen Welt zu rechnen haben.
Sie nähert sich dem
Maximum ihrer Gefährdung und unter Umständen dem Minimum ihrer
Realisierung, indem der bewusste Geist und Wille sich in beliebige
Entfernung von den innerleiblichen, strukturgegebenen Bewegungen und ihrer
ganz unmittelbaren Auswirkung in sein Milieu begibt.
Der Mensch, weil er den größten
Aktionsradius hat, weil seine Zwecksetzung sich am weitesten und unabhängigsten
von dem vitalen Automatismus seines Leibes stellt, ist seiner Teleologie
am wenigsten gewiss.
Das ist, was man seine
Freiheit nennen kann.
Das Wesen, das sich an
jenen Automatismus hält, hat zwar die größte Lebenszweckmäßigkeit,
aber es bezahlt sie mit der Enge des Gebundenseins an die körperliche
Apriorität.
Freiheit bedeutet gerade
die Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit zu durchbrechen, sie besteht eben
in dem Maße, in dem das Verhalten des organischen Wesens über die
Grenzen seines unwillkürlich regulierten Körpers hinausgreift.
Hiermit ist natürlich
nicht nur die Ortsveränderung gemeint, die einfach den Körper als ganzen
den Raum durchmessen lässt, um der Nahrung, des Schutzes, der
Fortpflanzung willen, sondern vielmehr die qualitativen und
differenziellen Eingriffe des Menschen in die Umwelt.
Je entwickelter, d. h. je
freier der Mensch ist, desto weiter steht sein Verhalten von der Zweckmäßigkeit
ab, die in seiner Körperstruktur als solcher und in ihrer Unwillkürlichkeit
investiert ist.
Um dieser Distanz willen,
die zwischen der physiologischen Gegebenheit des menschlichen Organismus
und seinem praktischen Verhalten besteht, kann man den Menschen
prinzipiell als das unzweckmäßige Wesen bezeichnen, er ist relativ aus
der Zweckmäßigkeit entlassen, die in der wesentlichen Unwillkürlichkeit
und also Zweckmäßigkeit der niedrigeren Organismen herrscht.
Der Mensch hat eine
Existenzstufe erlangt, die über dem Zweck steht.
Es ist sein eigentlicher
Wert, dass er zwecklos handeln kann.
Darunter sind nur
Handlungen als ganze verstanden, die innerhalb ihrer selbst teleologisch
konstruiert sein mögen oder müssen, d. h. die einzelne Handlungsreihe
baut sich aus Mitteln auf, die zu einem Zweck führen.
Aber das Ganze ist nicht
wieder in eine übergreifende Gesamtteleologie eingestellt.
Solche Reihen füllen das
Leben natürlich nicht aus, welches vielmehr in seinem größten Teile
zweckmäßig ist, d. h. in Reihen verläuft, deren Endglied wieder als
Mittel für einen weiteren Zweck, d. h. schließlich zu dem Leben als
solchem führt.
Hier und da aber lebt der
Mensch in der Kategorie des Nichtzweckmäßigen.
Wenn man den Charakter
solcher Reihen dadurch zu bezeichnen meint, dass man ihre Endglieder
Selbstzwecke nennt, so bringt man ihre ganz einzigartige Bedeutung doch
wieder auf die tiefere Stufe, auf die der Zweckmäßigkeit zurück.
Diese ist vielmehr bloßer
Durchgang, bloße Entwicklungsstufe.
Wären wir reiner Geist, d.
h. wäre unser Verhalten gar nicht mehr als Teil oder Fortsetzung der
unwillkürlichen Zweckmäßigkeit unserer körperlichen Organisation zu
denken, so wären wir von der Kategorie des Zweckes prinzipiell unabhängig
geworden.
Freilich, wenn man unter »zwecksetzend«
die bewusst vernünftige Form des Zweckes und der beliebig verlängerten
Mittelreihe versteht, dann ist nur der Mensch zwecksetzend.
Aber dies ist doch nur ein
Teil der Zweckmäßigkeit des Lebens und derjenige, der bei der
Vergleichung mit der Teleologie der Tiere gar nicht in Frage kommt.
Bei dem Menschen tritt
nicht nur das teleologisch Entstandene in Ablösung von allem Zweck auf,
sondern indem es dies tut, stört und schädigt es unzählige Mal unsere
Zweckprozesse.
Das kann indes nur für
solche Wesen einen Sinn haben, die sich jenseits des Lebens stellen können.
Alle Gebilde des spezifisch
menschlichen Daseins scheinen freilich - und darauf wird es uns hier
ankommen - die Stufe der Zweckmäßigkeit durchgemacht zu haben, ehe sie
in die des reinen Fürsichseins, d. h. der Freiheit, aufgestiegen sind.-
Der Gegensatz zur Freiheit
ist nicht der Zwang; denn erstens ist der Ablauf von Ereignissen nach der
Teleologie organischer Gesetzmäßigkeit nicht als Zwang zu bezeichnen,
weil die Gegenstrebung fehlt; nur das irgendwie freie Wesen kann gezwungen
werden.
Und dann beträfe die ganze
Zwangskategorie, mit der ihr korrelativen Freiheit, nur die äußere
Verwirklichungsform des tieferen Verhaltens.
Der Gegensatz zur Freiheit
ist vielmehr die Zweckmäßigkeit.
Freiheit ist nichts
Negatives, nicht die Abwesenheit von Zwang, sondern die ganz neue
Kategorie, zu der die Entwicklung des Menschen aufsteigt, sobald sie die
Stufe der an seine innere Physis gebundenen Zweckmäßigkeit und deren bloßer
Fortsetzung in das Handeln hinein verlassen hat.
Freiheit ist nicht Lösung
vom terminus a quo, sondern vom terminus ad quem.
Daher der Eindruck von
Freiheit bei Kunst, Wissenschaft, Moral, wirklicher Religiosität, daher
auch die volle Widerspruchslosigkeit gegen die Kausalität
__________
Den Vollzug dieser
Emanzipation sollen die folgenden Seiten in einige wesentliche Linien
verfolgen.
Ich deute ihn
einleitenderweise für zwei Gebiete an, deren ursprüngliche Verwebtheit
in die Lebensteleologie ganz unlösbar scheinen möchte - das eudämonistische
und das erotische Gebiet.
Lust und Schmerz sind ursprünglich
- so wird man wohl mit allgemeiner Zustimmung vermuten dürfen -
Anregungen zu vital-zweckmäßigem Verhalten.
Lustgefühle sind die
lockende Prämie für das Einnehmen zuträglicher Nahrung, für den
Aufenthalt in gesundem Milieu, für die Fortpflanzung der Gattung;
Schmerzgefühle sind Warnungssignale gegen das entgegengesetzte Benehmen,
biologische Strafen, die von dessen Wiederholung abschrecken.
Indem diese Verbindung auch
für den Menschen besteht, hat sie sich zugleich auch hier und da für ihn
gelöst.
Er kann nun zunächst Lust
suchen, die der eigenen und der Gattungserhaltung zerstörerisch ist:
allein dies ist nur das Zeichen für das prinzipielle Unabhängigsein von
diesen Fördernissen, das das Lustgefühl gewonnen hat und das ihm auch
bei Weiterbestand der biologischen Nützlichkeit zukommt.
Wenn das Tier auch einzelne
Handlungen um der winkenden Lust willen vornimmt, so ist dies doch immer
nur etwas Sekundäres, hinter dem als eigentlicher Sinn die vitale Zweckmäßigkeit
der so hervorgelockten Handlung steht.
Beim Menschen allein kann
diese Drehung eine definitive sein, er allein kann sein Leben samt dessen
erhaltenen oder pervertierten Zweckmäßigkeiten in den Dienst der Lust
als des schlechthin Letzten stellen.
Der Begriff des »Glücks«
scheint mir dies in tieferer Weise anzudeuten.
Die rohe Psychologie der
traditionellen Ethik hat mit seltenen Ausnahmen die entscheidende Wendung
verkannt, mit der dieser Begriff sich von dem der Lust abhebt; nur die
Griechen haben an diesem Punkte tiefer gesehen.
Die Lust mag Schopenhauer
mit Recht von vorhergehendem Bedürfnis abhängen lassen, was ihre
Eingewurzeltheit in den einreihigen Verlauf der Lebensprozesse anzeigt.
Was wir aber Glück nennen
- wobei es nicht auf einen definitorischen, sondern auf einen Unterschied
innerer Realitäten ankommt - ist zwar auch für das leibliche
Wohlbefinden und damit für die ganze Lebenszweckmäßigkeit von
zweifellosem Wert; allein außerdem bedeutet es eine abschließende Zuständlichkeit,
einen Gipfel, zu dem das Leben aufstrebt und über den es, in der Richtung
dieses Strebens, so wenig hinaus kann wie man vom erreichten Gipfel eines
Berges noch weiter in die Höhe wandern kann.
Dem Glück fehlt jene
Vereinzelung des Lustgefühls, vermöge deren dieses zum bloßen Elemente
des Lebenszusammenhanges wird.
Dieser hat vielmehr in
seiner Ganzheit eine gar nicht zu lokalisierende Färbung, sobald wir uns
»glücklich« nennen, die eigentümliche Gefühlsspannung der Lust hat
gewissermaßen ihren Ort in der Wechselwirkung der Lebensmomente verlassen
und ist als Glück ein Definitivum geworden, zu dem diese Momente
zusammenwirken müssen.
Durch nichts wird der
Rationalismus dieser Wendung stärker erwiesen als durch die transzendente
Steigerung des Glücks zum Begriff der »Seligkeit«.
Hier kann nun die Übervitalität
des Glückszustandes gar nicht mehr zweifelhaft sein, hier hat er die
absolute und deshalb von aller Lustvermischung freie Form erlangt, für
deren Gewinn das ganze Leben eingesetzt und oft genug das Märtyrertum
erduldet wird.
Im Begriff der Seligkeit
ist die Emanzipation des Glücks von aller innervitalen Zweckmäßigkeit
vollendet und unverkennlich geworden.
Ähnlich, wenn auch nicht
in genauer Parallelität, verhält es sich mit dem Schmerz, der genetisch
als Abschreckung von lebensunkzweckmäßigem Verhalten zu denken ist.
Und einigermaßen
entsprechend wie sich zur Lust das Glück, scheint sich zum Schmerz das
Leid zu verhalten.
Als Schmerz bezeichnen wir
- vorbehalten, dass der Sprachgebrauch die Begriffsgrenzen auch
verschwimmen lässt - einen lokalisierten, in einer singulären Linie
verlaufenden Vorgang.
Neben ihm aber - und
manchmal auch neben der Lust - steht der chronische Tonus unseres
Gesamtseins, den wir Leid zu nennen pflegen und der biologisch in keiner
Weise über sich hinausweist.
Das Schmerzereignis
innerhalb des Lebens hat sich damit jener Lokalisierung entrissen und sich
zu einer Färbung des Lebens verbreitert, auf deren Basis es nun erst
wieder immanent teleologische oder dysteleologische Ereignisse erfährt.
Während der Schmerz sich
dem Leben einfügt, rinnen die Ströme des Lebens, wie in das Glück, so
in das Leid hinein, die Seele kann im Leid wie im Glück - nur mit
umgekehrten Vorzeichen - eine Vollendung, ein Fertigsein des Lebens, ja
eine Erlöstheit seiner von sich selbst finden, die das Gegenteil der
Rolle des Schmerzes ist.
Dass wir geistige Leiden
empfinden können, die prinzipiell keine teleologische Bedeutung haben -
das scheint mir ein ganz entscheidendes Kennzeichen des Menschenwesens zu
sein.
Charakteristischer noch als
in der eudämonistischen Teleologie tritt in der erotischen die
bezeichnete Wendung hervor.
Primär gegeben ist die
biologische Bedeutung der Anziehung der Geschlechter und der an sie geknüpften
Lustgefühle.
Indem die letzteren zum
psychologischen Ziel werden, um dessentwillen der Aktus gesucht wird,
verschiebt sich schon die teleologische Reihung, die Fortpflanzung wird
ein bloßes, oft nicht gewolltes Akzidenz des eigentlich Gewollten.
Immerhin kann auch dies
noch - etwas altmodisch ausgedrückt - als eine List der Natur zur
Erreichung ihrer Gattungszwecke erscheinen; ja sogar dann noch, wenn die
erotische Absicht nicht mehr auf das Geschlecht als ganzes, d. h. nicht
mehr auf irgendeine, einigermaßen annehmbare Person des anderen
Geschlechts geht, sondern völlig individualisiert ist und unter dem
Schema: diese oder keine - verläuft.
Denn auch solche Zuspitzung
kann als Instinkt für den geeignetsten Partner zur Erzeugung des
wohlgeratensten Kindes gedeutet werden.
Aber doch setzt sich an
diesen Punkt zugleich die entscheidende Abwendung der Erotik vom Dienst
des Lebens an.
Gleichviel welches
genetische oder homochrone Verhältnis zwischen der Liebe und dem
sinnlichen Begehren besteht - ihrem Sinne nach und als Zuständlichkeiten
haben sie nichts miteinander zu tun.
Jenes Begehren ist
gattungsmäßiger Natur und wo es ausschließend auf ein Individuum geht,
ist dieser allgemeine Lebensstrom nur kanalisiert, fließt aber schließlich
wieder in die Allgemeinheit seiner Quelle zurück.
Die Liebe aber, als Liebe,
hat das Eigentümliche, dass sie ein reines, in sich abgeschlossenes
Binnenereignis in der Seele ist, das sich freilich um das jetzt
schlechthin unvertauschbare Bild des anderen Individuums webt.
Ungezählte, unverfolgbare
Kräfte der Persönlichkeit münden in sie ein, aber sie ist nicht etwa für
diese nur eine Durchgangsstation, sondern, beglückend oder vernichtend,
ein Definitivum.
Das: »Wenn ich dich liebe,
was geht's dich an« - drückt das Wesen der Liebe zwar negativ, aber in
unüberbietbarer Reinheit aus.
Solange die Liebe im
Generellen bleibt und solange sie Begehren bleibt, ist sie eine Form, die
das Leben um seiner »Zwecke« willen annimmt.
Allein diese Form
emanzipiert sich, wie sich in der - hier ganz einseitigen -
Schopenhauerschen Lehre nur der Intellekt vom Leben emanzipieren kann; der
Liebende, der sich und das geliebte Wesen aus dem breit und vorwärts strömenden
Gattungserlebnis herausgehoben hat, weiß, dass nun das Leben dazu da ist,
um diesen Wert, dieses neue So-Sein zu nähren.
Als eine »Zweckbeziehung«
kann man das freilich nicht bezeichnen.
Indem aber diese, wie sie
im gattungsmäßigen Begehren herrscht, aufgehoben ist, - gleichviel ob
dieses noch neben der autonomen Liebe und in unscheidbarer Verbindung mit
ihr besteht - hat die Liebe die ganze Kategorie des Teleologischen hinter
sich gelassen.
Diese bestimmt nur ihre
lebengebundene Vorform, aus der sie zu freiem Selbst-Sein herauswächst.
Gewiss ist hier ein
stetiger Übergang und so wenig etwa in dem ersten Getriebenwerden zum
anderen Geschlecht die Liebe schon »präformiert« liegt, so ist es doch
ein allmählicher Prozess der Epigenesis, der sie aus jenem entstehen lässt,
die Wirklichkeit setzt die Form der Kontinuität zwischen die beiden
Kategorien, die ideell und dem Wesen nach durch eine absolute Schwelle
geschieden sind.
Eine viel breitere
Darstellung nun fordert dieser Prozess, wo er die eigentlich sogenannten
Kulturgebiete gestaltet (obgleich man vielleicht sagen kann: Kultur überhaupt
entstünde eben, wo die im Leben und um des Lebens willen erzeugten
Kategorien zu selbständigen Bildnern eigenwertiger Formationen werden,
die dem Leben gegenüber objektiv sind).
So entschieden Religion,
Kunst, Wissenschaft ihren Sinn als solche in überpsychologischer Ideellität
besitzen, so sind gewisse Vorgänge des zeitlich-subjektiven Lebens doch
wie Embryonalstadien ihrer, sie erscheinen, von jener aus gesehen, wie
ihre Vorformen; oder auch: eben dasselbe erscheint in der Form des Lebens,
was jene in der der eigenweltlichen Ideellität sind.
In dem Augenblick, in dem
jene formalen - d. h. gegebene Inhalte zu einer bestimmten Welt formenden
- Triebkräfte oder Gestaltungsarten für sich das Bestimmende werden (während
bisher das Leben und sein materialer Interessenzusammenhang es war) und
von sich aus ein Objekt erzeugen oder gestalten - ist jedes Mal ein Stück
der kulturellen Welten aufgebracht, die nun gleichsam vor dem Leben
stehen, ihm die Stationen seines Verlaufes oder einen Vorrat an Inhalten
bietend.
Vielleicht ist das reine
Wesen der Wissenschaft im Unterschiede gegen das auch sonst vorhandene
Wissen nur unter dieser Voraussetzung zu erfassen.
Das praktische Leben ist
auf Schritt und Tritt - und mehr als man es sich klarzumachen pflegt - von
Erkenntnisvorgängen durchzogen: wir erwerben vor dem Entstehen der
Wissenschaft im großen und ganzen nicht weniger und nicht mehr Wissen als
zur Durchführung unseres praktischen, äußerlichen wie innerlichen,
Verhaltens erforderlich ist.
Nicht weniger: weil wir
angesichts der Bedingtheit unseres Lebens durch Wissensvorstellungen nicht
leben würden, wenn nicht ein gewisses Maß und eine gewisse Zulänglichkeit
dieser bestünde; nicht mehr: weil dies, solange nur das Leben als solches
und als praktisches in Frage kommt, eine unnütze Belastung für dieses,
das sogar eigentlich gar keinen Platz dafür hätte, bedeuten würde -
wobei natürlich das zwischen Zuwenig und Zuviel stehende Maß je nach
Individuen und historischen Situationen äußerst variiert.
Wie entscheidend hier die
vitale Determination ist, zeigt sich daran, dass dieses jeweilige Wissen,
so fragmentarisch und zufällig es anderen Perioden erscheinen mag, doch
immer als ein irgendwie geschlossener und befriedigender Zusammenhang sich
bietet: eine Rechtfertigung und zentrale Begründung für diese jeweils
empfundene Einheit, nach Logik und Sachgehalt dieser Erkenntniskomplexe,
pflegen jene anderen Perioden eben nicht zuzugeben, sie kann vielmehr nur
in der real fordernden, souverän bestimmenden Lebenssituation liegen.
Das weit überwiegende
Quantum unserer Wissensvorstellungen stellt sich dar, als ob es von der
Lebenszweckmäßigkeit hervorgerufen und bestimmt wäre - wobei die
genauere Definition eben dieser nach Sinn und Richtung dahingestellt
bleiben kann.
Nur mache man sich, um
pragmatistische Verengerung zu vermeiden, klar, dass unsere inneren Vorgänge,
so sehr sie unserem vitalen Verhalten in der Welt dienen, doch selbst ein
Stück dieses Verhaltens und dieser Welt sind.
Darum ist es ganz einseitig
und verblendet, Sinn und Zweck unserer Bewusstseinsvorgänge ausschließlich
in unser Handeln, d. h. in unser praktisches Verhältnis zur Außenwelt zu
setzen.
Auch wenn wir annehmen,
dass alle seelischen Vorgänge, auch die rein triebmäßig auftretenden,
durch die Lebenszweckmäßigkeit bestimmt sind, so schließt diese doch
auch unsere innere Beschaffenheit ein; der Gedanke erhält seinen
Vitalwert nicht nur durch seine äußeren Folgen, nicht einmal unter
Hinzurechnung seiner inneren, sondern sein So-Sein ist unmittelbar eine,
wertvollere oder niedrigere, Qualität des Lebens, in dem er steht.
Diese Erweiterung und
Vertiefung ist stets mitgemeint, wo ich kurz von der Lebenszweckmäßigkeit
spreche.
Sehen wir unser Leben als
biologischen Prozess an, so ist es nicht anders als die Pflanze in die
Wirklichkeit der Welt verwebt und alle seine Funktionen vollziehen sich in
ihrer Zweckmäßigkeit wie das Atmen des Schlafenden.
Schiebt sich nun in diese
Teleologie unserer Wirklichkeit ein Erkennen ein, so ist unser Status und
unsere Wirksamkeit damit noch nicht prinzipiell geändert: das vorwärtsströmende
Leben ist nur um diese Wellenform bereichert.
Das Erkennen ist insoweit
nichts anderes als eine Szene des Lebens selbst, die eine andere
vorbereitet und damit der vitalen Gesamtintention dient.
Für die sogenannten rein
sinnlichen Vorstellungen ist dies schon ausgesprochen worden.
Sie erscheinen als
Fortsetzungen des körperlichen Mechanismus, der als ganzer teleologisch
dirigiert ist.
Wird diese letztere
Vorstellung beibehalten, so müssen alle überhaupt dem Leben eingefügten
und es mitbestimmenden Vorstellungen des gleichen Wesens sein.
Der Fluss des Lebens geht,
herrschend und beherrscht, durch sie hindurch wie durch jedes andere
seiner Elemente; die Kategorien, in denen sich das bewusste Bild der Dinge
herstellt, sind bloße Werkzeuge innerhalb des vitalen Zusammenhanges.
Ganz irrig scheint mir die
typische Vorstellung, dass wir aus einer zuvor gegebenen, gleichsam im
intellektuellen Raum freischwebenden Welt von Erkenntnisbildern diejenigen
in unser praktisches Leben hineinnehmen, die ihm förderlich sind.
Dies schneidet das Problem
ab, indem es einen wählenden Menschen in den Menschen hineinsetzt und die
Verbindung zwischen Theorie und Praxis ganz ungeklärt lässt.
Ist erst einmal eine
fertige Erkenntniswelt unser erarbeiteter und durchgearbeiteter Besitz, so
mag es so zugehen; allein die Frage, wie es überhaupt zu ihr kommt und
was sie ursprünglich bedeutet, wird damit nicht berührt.
Sie löst sich vielmehr in
einheitlicher Weise nur so, dass das Leben, wie alle seine anderen
Funktionen, so auch die erkennenden schafft.
Der Mensch ist ein zu vielfältiges
Wesen, um sich in einer so geradlinig teleologischen Weise, wie die
Pflanze, in der Welt erhalten zu können.
Die Vielheit seiner
Sinneseindrücke und seiner Berührungsflächen mit der ihn angehenden
Welt fordert jene Konzentration der von dieser kommenden Einflüsse und
jene Vorbereitung auf seine Reaktion, die vermöge der Begriffsbildung und
der kategorialen Formen geschieht.
Dass man auch umgekehrt
diese als Grund ansprechen kann, der ihm jene Mannigfaltigkeit der
Weltbeziehungen zuwachsen lässt, beweist nur, dass die Teleologie überhaupt
nur einen vorläufigen oder symbolischen Ausdruck für das eigentliche
Gesetz des Lebens bietet.
Indem die intellektuellen
Formen die Welt für unser praktisches Leben um uns aufbauen, ermöglichen
sie die tatsächliche Verbindung zwischen den Inhalten der Welt und uns,
um der dazu erforderlichen Bearbeitung der Inhalte willen sind sie da.
Außerhalb dieser Funktion
haben sie im Leben nichts zu suchen.
Wenn etwa behauptet wird,
Kausalität sei nur die Übertragung der gefühlten, willentlichen
Lebenswirksamkeit auf die Objektwelt, so heißt das eben, dass das Leben
sich innerhalb seines eigenen Wesensbezirkes die Form ausgebildet hat, mit
Hilfe deren es eine praktisch zu bearbeitende Welt gewinnt.
Was vielfach Verwunderung
erregte: dass wir die so fest geglaubte Kausalität doch nirgends »sehen«,
kommt einfach daher, dass sie eine Form und Bedingung für unsere
praktisch reale Wirksamkeit in der Welt ist; sie außerdem
theoretisch-objektiv durch »Sehen« festzustellen, ist für diesen Zweck:
für unser rein tatsächliches Eingreifen, dessen Voraussetzung sie bildet
-eben nicht erforderlich.
Aber all solches vital
bestimmte »Erkennen« ist noch keine Wissenschaft: durch keine graduelle,
wenn auch noch so hohe Steigerung und Verfeinerung dieses Erkennens ist
das Prinzip der Wissenschaft überhaupt zu erreichen - vielmehr erst in
dem Augenblick, wenn das bisher geschilderte Verhältnis sich umkehrt,
wenn die Inhalte ausschließlich insoweit von Interesse sind, als sie die
Formen des Erkennens erfüllen.
Das Wesen aller
Wissenschaft als solcher scheint mir darin zu bestehen, dass gewisse
geistige Formen ideell da sind (Kausalität, induktive und deduktive
Erschließbarkeit, systematische Ordnung, Kriterien der
Tatsachenfeststellung usw.), denen die gegebenen Weltinhalte, durch
Einstellung in sie, zu genügen haben.
In psychologischer
Realisierung ausgedrückt: zuerst erkennen die Menschen um zu leben, dann
aber gibt es Menschen, die leben um zu erkennen.
Welcher Inhalt gewählt
wird, um sich als Erfüller jener Forderungen zu zeigen, ist eigentlich
zufällig und hängt von historisch-psychologischen Konstellationen ab,
von Motiven, mindestens für die Ausgangspunkte, die, genau angesehen,
nicht innerhalb der Wissenschaft selbst liegen; denn für diese sind
prinzipiell alle Inhalte gleichwertig.
Die Zusammengehörigkeiten,
in denen die Inhalte innerhalb der Lebensreihen mit ihrem Sinn und ihrem
Zwang stehen, sind hier völlig aufgelöst; die Bedeutung ihres
Erkanntwerdens für das Leben entscheidet nicht mehr über ihre
Herausholung und Anordnung, sondern diese hängen von der Forderung und Möglichkeit
ab, die jetzt als Eigenwerte betrachteten Erkenntnisformen auf die Inhalte
anzuwenden - vorbehalten natürlich, dass das so Gewonnene diesen
Einstellungen wieder entrissen werden und, von neuem mit vitaler Dynamik
geladen, in den teleologischen Lebensstrom tauchen kann.
Wäre nun diese
ideozentrische Einstellung an allen überhaupt möglichen Inhalten
vollbracht; würden sie alle diejenige Form, denjenigen Gesamtzusammenhang
zeigen, die die Alleinherrschaft der Erkenntnisgesetze ihnen auferlegt -
so wäre die Wissenschaft vollendet.
Die Annäherung hieran
bleibt so lange aus, wie unser tatsächliches Forschen statt durch die
Erkenntnisnormen als solche, durch das Lebensinteresse bestimmt wird.
Wenn wir Erkenntnisse
suchen, die sich in den von praktischen Notwendigkeiten, von Willen und
Gefühl gelenkten und durchsetzten Lebensstrom einstellen, so mögen diese
noch so wahr sein - sie finden ihren Ort nicht durch den Zusammenhang mit
anderen Wahrheiten, da ja Wahrheit gar nicht der letzten Endes sie
beherrschende und zusammenführende Begriff ist; sie müssen vielmehr aus
der Lebenslinie erst herausgelöst sein, um Wissenschaft zu sein, d. h.
dem ideell vorgezeichneten Bezirk des Nur-Wahren anzugehören, dessen
Inhalte gerade nur dadurch designiert und zusammengeschlossen sind, dass
sie den Erkenntnisnormen genügen.
Dass diese Normen selbst
nicht nur ihrem zeitlichen Auftreten, sondern ihrer qualitativen
Bestimmtheit nach den Forderungen des ihnen vorgelagerten Lebens
entstammen, ist hierfür ganz gleichgültig.
Es genügt, dass sie Jetzt
der Träger des - so paradox der Ausdruck klingt -genuin gewordenen
Wahrheitswertes sind, der Grund, aus dem Wahrheit Wahrheit ist, tritt in
ihre jetzt gewonnene Alleinherrschaft nicht ein.
Von hier aus erhält Kants
Äußerung, dass die apriorischen Sätze (die man mit dem, was ich hier
Formen der Wahrheit nenne, identifizieren kann) »für sich nicht
Erkenntnisse sind« eine interessante Beleuchtung.
Einzelne Wahrheiten können
sich auf einzelne zuvor bestehende Wahrheiten gründen; Wahrheit überhaupt
aber kann sich nicht wieder auf Wahrheit gründen, ohne dass ein Zirkel
entstünde.
Behandelt man also, wie
Kant es tut, als Erkenntnis ausschließlich die Wissenschaft, schneidet
man das Wahrheitsproblem mit dieser ab, so ist es durchaus in der Ordnung,
dass man die formgebenden Normen als »für sich nicht Erkenntnisse«
seiend erklärt.
Lässt man aber die Frage
weiter vorrücken, sieht man die primäre Geltung jener Formen schon im
bloß praktischen Lebensbezirk, so können auch sie schon Erkenntnisse
sein, weil an Stelle der Begründung, die sie innerhalb der Wissenschaft
allein haben könnten, der selbst wieder theoretischen, jetzt eine andere
getreten ist: die aus den Forderungszusammenhängen des bloß gelebten
Lebens.
Im Sinne dessen, was hier
Wahrheit heißen kann, sind auch sie Wahrheiten und daraus wird erklärlich,
dass sie in der völlig anders konstruierten, durch jene radikale Wendung
entstandenen Wissenschaft die Voraussetzungen für deren Wahrheiten werden
können - ohne doch innerhalb dieser, wenn Kant recht hat, selbst
Wahrheiten zu sein.
Wie sie zu dieser Rolle kämen,
wäre nicht recht verständlich, hätte etwas von Zufall und Willkür,
wenn ihnen nicht von ihrer Rolle innerhalb jenes anderen Zusammenhanges
her eine Dignität bestimmt wäre.
- Im Gegensatz also zu der
vital-teleologischen Erkenntnis ist in der Wissenschaft der Gegenstand als
solcher gleichgültig, weil, wie schon erwähnt, ein jeder jedem anderen
gleichwertig ist; ein Wertvorrang eines Gegenstandes kann hier nur die
Technik innerhalb der Wissenschaft angehen, insofern der eine für den
Gewinn weiterer Erkenntnisse fruchtbarer ist als der andere.
Dass uns im übrigen die
Physiologie des Menschen wertvoller ist als die der Fledermaus und die
Biographie Goethes wertvoller als die seines Schneiders, ist in Schätzungen
begründet, die von außerhalb der Wissenschaft herkommen, die nicht vom
Wahrheitsinteresse als solchem ausgehen.
Die allgemeine Wendung: in
der Wissenschaft würde »die Wahrheit um der Wahrheit willen gesucht«
trifft tatsächlich das Richtige - während sie innerhalb der Praxis um
des Lebens willen, innerhalb der Religion um Gottes oder des Heiles
willen, innerhalb der Kunst um der ästhetischen Werte willen gesucht
wird.
Wenn innerhalb dieser
beiden letzteren Teleologien etwa andere Vorstellungen als die wahren die
dienlicheren wären, so würden diese anderen statt der wahren gesucht
werden.
Wir pflegen freilich auch
die innerhalb dieser Gebiete als gültig akzeptierten Vorstellungen als »wahre«
zu bezeichnen und sprechen von einer künstlerischen und einer religiösen
Wahrheit und Logik.
Dies entstammt ersichtlich
dem ungeheuren Übergewicht, das den mit intellektueller Gültigkeit
ausgestatteten Vorstellungen innerhalb des Vorstellungsbezirks überhaupt
zukommt, und zwar deshalb zukommt, weil gerade diese der Ganzheit unseres
Lebens entstammen und zugeordnet sind.
Freilich gehören Religion
und Kunst als erzeugte und wirkende Realitäten gleichfalls in das Leben
hinein und zweifellos sind manche von ihnen ausgehende Impulse und Ansprüche
in den Vitalzusammenhang verwebt, innerhalb dessen unsere Intelligenz die
»Wahrheit« bildet; hier und da hat man die Zeugnisse davon in unseren
als rein rational akzeptierten Erkenntnissen aufweisen können.
Fasst man Praxis in dem
engen, wesentlich äußerlichen Sinne, in dem der Pragmatismus es zu tun
liebt, so können auch für sie Vorstellungen gültig werden, die von
denen der theoretischen Intelligenz abweichen.
Wird sie aber in dem
weiteren, weitesten Sinne des gesamten Lebensverhaltens verstanden, so ist
eine Abweichung der für sie gültigen Vorstellungen von denen der reinen
Theorie - wie die religiösen und künstlerischen eine solche Abweichung
zeigen - unmöglich und sich selbst widersprechend, da die Theorie ihre
konstitutiven Formen, so souverän sie im Augenblick der
Wissenschaftswertung sind, ja gerade aus der Totalität des Lebens und
seines Weltverhältnisses bezieht.
Den Hiatus zwischen Theorie
und Praxis, den die Redensart symbolisiert: das mag in der Theorie richtig
sein, gilt aber nicht für die Praxis - hat man damit zu überwinden
gemeint, dass in diesen Fällen die Theorie nur noch unvollständig sei;
als ganz vollendete umfasse sie eben die ganze Realität, also auch die
praktische.
Für die Oberfläche der
fertig ausgebildeten Erfahrung verhält es sich freilich so.
In der innerlichsten
Schicht aber liegt es umgekehrt; jener Spruch hat eine relative
Richtigkeit, insoweit »Praxis« in dem gewöhnlichen, eingeschränkten
Sinne einer mehr oder weniger momentanen Aktivität der Außenwelt gegenüber
verstanden wird.
Hier kann, innerhalb einer
ganz partiellen Lage, tatsächlich eine Vorstellung sich zweckmäßig in
unser Verfahren einfügen, die »theoretisch« unhaltbar ist.
Fasst man aber Praxis als
das Gesamtverhalten unseres Lebens und als Bestimmung jeder Vorname durch
das dieser Totalität Förderliche - so verliert der Spruch seinen Sinn,
weil Theorie ja nichts anderes ist, als Erzeugnis und Herrschaftsbezirk
der jenem Gesamtverhalten zweckmäßig eingefügten Erkenntnisformen; von
jedem Einzelzweck, Einzelnutzen ist die Theorie prinzipiell unabhängig,
da sie, in ihrer Vollendung, dem Ganzen des Lebens entsteigt.
Dass sie der Praxis in
diesem Sinne entspricht, ist ein analytischer Satz.
Und, auf den eigentlich
wurzelhaften Zusammenhang angesehen, ist jener Hiatus nicht, wie die
angedeutete Kritik wollte, durch Vollendung der Theorie zu überwinden -
dies wenigstens nur rückläufig - sondern durch Vollendung der »Praxis«,
denn diese erst entlässt aus sich die vollendete Theorie.
In welchen
Lebensbeziehungen und im Dienste welcher historischen Zwecke indes auch
die (im weitesten Sinne) logischen und methodischen Formen entstanden sein
mögen; das Entscheidende ist, dass sie nun in reiner, jede weitere
Legitimierung abweisender Selbstherrschaft sich ihren Gegenstand - als
Inhalt der Wissenschaft - selbst schaffen.
Jenes praktische, vom Leben
erforderte und in das Leben eingewebte Wissen hat prinzipiell mit
Wissenschaft nichts zu tun; von ihr aus gesehen ist es eine Vorform ihrer.
Die Kantische Vorstellung,
dass der Verstand die Natur schafft, ihr ihre Gesetze vorschreibt, gilt
nur für die immanent wissenschaftliche Welt.
Das Erkennen, insofern es
ein Pulsschlag oder eine Vermittlung des bewussten praktischen Lebens ist,
stammt keineswegs aus dem eigenen Schöpfertum der reinen intellektuellen
Formen, sondern es wird von jener Dynamik des Lebens getragen, die unsere
Realität in sich und mit der Realität der Welt verwebt.
Mag nun auch das Bild des
einzelnen Objekts für die Wissenschaft das gleiche sein wie für die
Praxis; die weltmäßige Gesamtheit der Bilder und ihrer Zusammenhänge,
die wir Wissenschaft nennen, entsteht erst durch die Axendrehung, die die
Bestimmungsgründe der Erkenntnisbilder aus den Inhalten und ihrer
Bedeutung für das Leben heraus und in die Erkenntnisformen selbst
hineinverlegt.
Diese erscheinen jetzt wie
mit einer ganz genuinen Schöpfungskraft erfüllt und stellen von sich aus
eine Welt her, deren Eigengesetzlichkeit und Selbstgenügsamkeit dadurch
nicht alteriert wird, dass unsere Arbeit von ihrem ideellen Bestande nur
einzelne und oft ganz unzusammenhängende Teile zu unserem Besitz macht.
Denn erst mit jener Wendung
steht die in sich logisch verbundene Totalität ideell vor uns, als deren
Nachzeichnung das wissenschaftliche Wissen erscheint.
Solange das Wissen nur ein
Moment des Lebensverlaufes ist, aus ihm kommend und in ihn mündend, ist
hiervon nicht die Rede; der Sinn, zu dessen Realisierung es in diesem Fall
berufen ist, ist die vitale Zweckmäßigkeit, die Herstellung eines
gewissen Seins in uns und Seinsverhältnisses zwischen uns und den Dingen.
Man könnte sagen: das
Leben erfindet, die Wissenschaft entdeckt.
Auch dort ordnet sich das
Erkennen seiner Intention nach einer einheitlichen Ganzheit ein.
Nur ist es nicht der
theoretische Kosmos der Wissenschaft, sondern die Linie des praktischen
Lebens, im Sinne inneren wie äußeren Verhaltens.
Indem die einzelne
Erkenntnis in diese organisch hineingehört und ihren Zweck völlig erfüllt,
fragt sie als Erkenntnis gar nicht über sich hinaus.
Das vom Leben erzeugte und
verbrauchte Wissen ist für die Wissenschaft darum nicht weniger etwas
vorläufiges, weil die Denkformen, die von sich aus die Gestaltung der
Weltinhalte zur Wissenschaft übernehmen, selbst im Lebensprozess erzeugt
worden sind, selbst nur den prinzipiellsten Ausdruck jenes praktischen
Verhältnisses zwischen uns und dem übrigen Sein bilden.
Von der Provenienz dieser
Formen und Forderungen wird das Wesen der Wissenschaft gar nicht angerührt.
Denn ob sie ihrer
qualitativen Artung nach solche oder solche sind, ist für dieses Wesen in
seinem reinen Sinn und Begriff ohne Belang; nur dass sie nun ihrerseits
eine Welt bestimmen, dass die Inhalte nun in diese Welt aufgenommen
werden, um deren Formen zu genügen - das macht die Wissenschaft in ihrer
Abtrennung vom Leben aus.
Das scharfe Erfassen des
Radikalismus dieser Wendung wird dadurch einigermaßen erschwert, dass der
isolierte Inhalt innerhalb der vitalen Vorform der Wissenschaft und
innerhalb der Wissenschaft selbst oft ununterscheidbar aussieht und dass
der Unterschied nur durch die Betrachtung vom Ganzen her, durch die
Zusammenhänge und die innere Intention gestiftet wird.
Viel deutlicher tritt er
hervor, wo sich aus und über den vom Leben erzeugten Vorformen die Welt
der Kunst aufbaut.
Für das Gebiet der
empirisch praktischen Anschaulichkeit steht es fest, dass es uns ein
prinzipiell anders gebautes Weltbild liefert, als dasjenige, das die
Wissenschaft uns als objektives anzuerkennen veranlasst.
Für dieses nämlich sind
die Dinge in absoluter Koordination durch den unendlichen Raum hin
ausgebreitet, ohne dass ein Punkt besonders betont wäre und ihnen dadurch
eine Abgestuftheit der räumlichen Ordnung aufdrängte.
Ferner bestehen sie hier in
absoluter Kontinuität, in der gleichen wie der Raum selbst, und jeder
kleinste Teil ist durch seine rastlose Bewegtheit mit jedem seiner
Nachbarn dynamisch verbunden.
Endlich bedeutet diese
Bewegtheit ein stetiges Fließen, die rastlose Umsetzung der Energien
gestattet keine wirkliche Festigkeit einer Form, kein qualitatives oder räumliches
Beharren eines einmalig gewordenen Daseins.
Diese Bestimmungen ändern
sich vollkommen, sobald ein lebendiges Subjekt die Welt anschaut.
Mit ihm ist zunächst ein
Zentrum oder Ausgangspunkt gegeben, der das gleichmäßige Nebeneinander
der räumlichen Dinge in eine abgestufte oder perspektivische Ordnung um
den Kopf des Anschauenden herum überführt.*
* Ich
entnehme einige dieser Formulierungen meiner Studie: Der
Fragmentcharakter des Lebens
(vgl. http://socio.ch/sim/fra16.htm)
Jetzt gibt es eine als
solche akzentuierte Nähe und Ferne, Deutlichkeit und Undeutlichkeit,
Verschiebungen und Sprünge, Überschneidungen und Leerheiten, wozu in dem
subjektfreien Dasein der Dinge gar keine Analogie besteht; ebenso wird die
Stetigkeit der Materie (natürlich in dem Sinne, der von dem atomistischen
Problem nicht berührt wird) von unserem praktischen Sehen durchbrochen,
so dass man fast sagen könnte: dieses Sehen bestände geradezu in dem
eingrenzenden Herausschneiden bestimmter »Dinge« aus der Kontinuität
des Daseins; wir »sehen« sie, indem wir sie als irgendwie geschlossene
Einheiten aus jener objektiven Kontinuität heraus- oder richtiger, in sie
hineinformen; und damit ist schließlich auch der heraklitische Fluss der
Wirklichkeit in ihrem objektiven zeitlichen Werden durch unseren Blick
gestaut: unsere Art, zu sehen, schafft sich wirklich beharrende Gestalten,
und die platonische Vorstellung, die Sinnenwelt zeige nur ewige Unruhe und
Veränderung, während allein der abstrakte Gedanke die Wahrheit, d. h.
das unveränderte So-Sein der Formen erfasse, ist, wenn nicht im
absoluten, so doch im nächsten und empirischen Sinn, ungefähr das
Gegenteil des wirklichen Verhaltens.
Verfolgt man diese vom
Leben und seiner praktischen Eingrerichtetheit getragenen Funktionsarten
unseres Sehens über das von der Praxis ihnen gegebene Maß hinaus, so stößt
man in ihrer Richtung auf die Schaffensart der bildenden Kunst.
Denn dies ist doch wohl
deren erste Leistung: dass sie ihr Gebilde als eine selbstgenügsame
Einheit den kontinuierlichen Verflechtungen des realen Daseins enthebt,
die verbindenden Fäden zu allem Außerhalb abschneidet, eine Form
aufbringt, die, ihrem Sinne nach, nichts von Werden, Sich-Ändern,
Vergehen weiß.
Aber dies ist jetzt nicht
eine Technik, die das Leben für Organisationen unserer Art innerhalb
unseres Milieus notwendig macht - wobei die Heraussonderung eines
Gegenstandes als »eines«, als Exemplar eines Begriffes, doch nur
geschieht, um ihn sogleich wieder dem kontinuierten weiterströmenden
Lebensverlauf einzufügen -, sondern solche Formung ist ein Selbstzweck
der Kunst; der Inhalt, das eigentlich Gegenständliche, ist jetzt nicht
ein Lebenbestimmendes, das um eben dieser Verknüpfung willen in diese
Form gefasst werden muss, sondern er wird als ein relativ zufälliger gewählt,
damit diese künstlerische Form sich an ihm darstelle, damit sie sei - wie
in der Wissenschaft aller Dinge gleichberechtigt waren, weil sie als
Material des Erkennens als Endzweckes überhaupt nicht »berechtigt«,
sondern gleichgültig sind.
Dies ist das legitime
Moment an der Behauptung, dass für das Kunstwerk sein gegenständlicher
Inhalt gleichgültig wäre.
Allein gerade von ihm aus
wird sie für die tatsächliche Kunstübung wieder dementiert, da
verschiedene Gegenstände ja doch ganz abgestufte Möglichkeiten gewähren,
das rein artistische Sehen an ihnen zu realisieren.
Ihre Unterschiedlichkeit in
dieser Hinsicht gewährt den Inhalten wieder einen Wertunterschied für
die Kunst, aus der ihre, anderen Wertkategorien entstammenden, Differenzen
mit Recht verbannt bleiben.
- Man kann den
Schaffensprozess in der bildenden Kunst als eine Fortsetzung des künstlerischen
Sehprozesses deuten.
Die äußeren und inneren
Gesichte sind bei den anderen Menschen in die mannigfaltigsten praktischen
Reihen derart verflochten, dass sie diesen zwar einzelne Inhalte und
Modifikationen geben können, aber der eigentliche Anstoß und das
durchgehende Telos geht nicht vom Sehen als solchem aus; dieses bleibt
hier ein bloßes Mittel sonst schon beabsichtigter Aktivitäten, und wo es
das nicht ist, ist es nur kontemplativer Art, ein überhaupt nicht in Tätigkeit
sich umsetzendes Schauen.
Bei dem Maler aber scheint,
in den Stunden seiner Produktivität, der Sehakt für sich allein
gewissermaßen sich in die kinetische Energie der Hand umzusetzen.
Dass bekanntlich viele Künstler
auch bei freistem Umbilden der Natur nur das zu schaffen meinen, was sie
»sehen«, mag wohl auch aus dem Gefühl dieser unmittelbaren Verbindung
stammen; nur dass diese Künstler als eine sozusagen substantialistische
Übertragung des formal Gleichen deuten, was in Wirklichkeit etwas
Funktionelles, gegen Gleichheit oder Ungleichheit von Ursache und Wirkung
ganz Gleichgültiges ist: das Schöpferischwerden des bloßen Sehens, das
seine Kraft sonst nur stützend und vermittelnd in Strömungen aus anderen
Quellflüssen mischt.
Dieses selbständige,
selbstverantwortliche Sichfortsetzen des Sehprozesses in das Tun des Künstlers
entspricht aber ersichtlich einer im sonstigen Sehen nicht vorhandenen
Selbständigkeit des künstlerischen Sehens selbst.
Das Sehen ist hier aus
seiner Verwebung mit den praktischen, nicht optischen Zwecken gleichsam
isoliert, es verläuft ausschließlich nach seinen eigensten Gesetzen; so
dass man das Sehen des Künstlers mit Recht als ein schöpferisches
bezeichnet hat - aber schließlich kann es sich doch nur durch die eben
hierdurch bewirkten Modifikationen von dem Sehen der Menschen überhaupt
unterscheiden.
Es hat nur die Drehung
stattgefunden, dass nicht um der Inhalte willen die Sehensfunktion in
Kraft tritt, sondern um dieser willen und durch sie die Inhalte kreiert
werden; in zugespitztem Ausdruck: im allgemeinen sehen wir um zu leben,
der Künstler lebt um zu sehen.
Freilich vergesse man
nicht, dass immer und überhaupt der ganze Mensch sieht, nicht nur das
Auge als anatomisch differenziertes Organ.
Wenn nun das Auge des Künstlers
wirklich in einem besonders autonomen, ausschließenden Sinne sieht, so
ist die Meinung nicht etwa die, dass sein Auge in entschiednerer
Abstraktion vom eigentlichen Leben funktionierte, als bei anderen
Menschen.
Sondern umgekehrt, bei dem
schöpferischen Künstler geht eine größere Summe von Leben in sein
Sehen hinein, die Lebensganzheit fügt sich williger darein, in diese
Richtung kanalisiert zu werden.
Nur sekundär und sozusagen
technisch hat der Künstler mehr Sehen in seinem Leben als andere; primär
und wesentlich hat er mehr Leben in seinem Sehen; was eben jene Wendung
ausdrückt: dass die innerhalb und zu den Zwecken des realen Lebens
erzeugte Form eine ideale Welt erzeugt, indem sie sich nicht mehr in die
vitale Ordnung einfügt, sondern selbst eine Ordnung bestimmt oder
ausmacht, in die sich das Leben - als Wirklichkeit, als Vorstellung, als
Bild - einzufügen hat.
Ich erwähne nur einen
einzelnen Zug dieses Verhältnisses zwischen dem praktisch empirischen
Sehen und dem künstlerischen Sehen und Gestalten.
Jede optische Wahrnehmung
bedeutet unmittelbar eine Auswahl aus unbegrenzten Möglichkeiten;
innerhalb jedes jeweiligen Gesichtsfeldes betonen wir aus Motiven, die mit
dem bloß Optischen nur in Ausnahmefällen zu tun haben, immer nur
einzelne Punkte, zahlloses lässt die Wahrnehmung außerhalb ihrer, als ob
es überhaupt nicht da wäre, auch an jedem einzelnen Gegenstand bestehen
so und so viele Seiten und Qualitäten, die unser Blick übergeht.
Unsere Formung der
Anschauungswelt geschieht also nicht nur durch benennbare
physisch-psychische Aprioritäten, sondern fortwährend auch in negativer
Weise.
Das Material unserer
Anschauungswelt ist also nicht dasjenige, das wirklich da ist, sondern der
Rest, der nach dem Fortfall unzähliger möglicher Bestandteile übrigbleibt
- was denn freilich die Formungen, die Zusammenhänge, die
Einheitsbildungen des Ganzen in sehr positiver Weise bestimmt.
Wenn also ein bedeutender
moderner Maler gesagt hat: Zeichnen ist Weglassen - so ist die
Voraussetzung dieser Wahrheit die andere: Sehen ist Weglassen.
Insoweit der künstlerische
Prozess überhaupt in dieser Richtung charakterisiert werden kann, ist er
- unter Jener völligen Drehung der Intention - die Fortsetzung und
sozusagen systematische Steigerung der Art, wie wir überhaupt die Welt
wahrnehmen.
Das »Weglassen« ist hier
künstlerischer Selbstzweck, während es in der Praxis eine leidige
Notwendigkeit ist.
Der Künstler - dies kam
schon vorhin in Frage - sieht mehr als andere Menschen: d. h. nun, er muss
ein viel größeres Material haben als andere, weil er viel mehr »weglässt«,
und weil das Schöpfertum des Sehens einen viel größeren Spielraum
verlangt als das Leben, für das das Gesehene nur ein Element ist, das
noch dazu durch den außerhalb gelegenen Vitalzweck von vornherein
determiniert ist.
Wir sind also wirklich
alle, als Sehende, fragmentarische oder embryonale Maler wie wir, als
Erkennende, eben solche Wissenschaftler sind.
Aber dieser bloß graduelle
Unterschied lässt die wesentliche Entwicklung noch nicht erkennen, die
von dem Vitalvorgang zu dem idealen Gebilde führt, und man darf das
letztere ja nicht als graduelle Steigerung des ersteren verstehen.
Diese ist nur eine Art äußerer
Index für das Wesentliche, für die Einsetzung der formalen Funktion oder
der Idee an die dominierende Stelle, die sonst das Leben einnahm - wobei
der Gegensatz jener Intention gegen diese doch insofern Fortsetzung und
Versöhntheit ist, als die jetzt dem Leben gegenüber souveräne Funktion
durch und für das Leben erzeugt war.
Dass die Lebensrealität in
dieser Bedeutung als Vorform der Kunst auftritt, offenbart sich neben den
so exemplifizierten subjektiven Fällen auch an objektiven.
Die künstlerischen Gebilde
primitiver Völker gehen oft davon aus, dass z. B. ein Stein ungefähr an
eine Menschen- oder Tiergestalt erinnert und sie nun durch Abschlagen, Färben
oder sonstiges Nachhelfen diese Ähnlichkeit vervollständigen.
Das erste ist ein
assoziativ-psychologisches Ereignis, eine der Verwebungen von Optik und
Begrifflichkeit, die das praktische Leben auf Schritt und Tritt tragen.
Äußerlich angesehen, ist
nun das genauere Herausarbeiten der Ähnlichkeit nur ein graduelles
Weiterführen solcher Analogiebildung.
Dem Sinne nach aber ist es
eine ganz prinzipielle Drehung.
Nachdem die gegebene
Gestalt im Verlauf des seelischen Prozesses zu dem Bilde etwa eines
Fisches geführt hat, wird dieses nun seinerseits aktiv, schafft von sich
aus, nach den Gesetzen, die ihm ausschließlich einhaften, ein sichtbares
Gebilde.
Zuerst hat die Steingestalt
zur Idee des Fisches geführt, dann die anschauliche Idee des Fisches zu
einer Steingestalt.
Der Sehprozess, durch die
Verkettung mit der äußeren und zufälligen Wirklichkeit zu einer
Formwahrnehmung bewogen, reißt jetzt die selbständige Führung an sich:
dass das Gebilde als Fisch gesehen wird, ist Jetzt nicht mehr das
Bestimmte, sondern das Bestimmende, das Sehen erzeugt jetzt, von seiner
einmal gewonnenen Ausgestaltung her und in seiner reinen produktiven
Fortsetzung, das künstlerische Gebilde, nachdem es durch die Einwirkung
des natürlichen Gebildes zu eben dieser Gestaltung gekommen war.
In Schellings System
erzeugt die Natur vermittels der Stufenreihe der Erscheinungen den Geist,
andererseits der Geist vermittels der Kunst eine (höhere) Natur.
Diese innerlich
unverbundene, parallele Gegenläufigkeit wird durch die hier angedeutete
Axendrehung der geistigen Funktion in einheitliche Einreihigkeit gestellt:
in seiner Funktionalität wie in seiner singulären Inhaltlichkeit wird
der Sehprozess von der Lebenswirklichkeit getragen, bis zu dem Punkte, wo
er seinerseits die weitere Lebensfunktion und damit deren Produkt, das
Kunstwerk, von sich aus bestimmt.
Jetzt wird das
Herausschneiden, das Sinn-Geben, die Einheitlichkeit, die unser »Sehen«
gegenüber der objektiven Natur bedeuten, weil dieses Sehen nur so
praktisch möglich ist, zum Für-Sich-Entscheidenden, das Leben trägt die
Form nicht mehr, um sie wieder in sich einmünden zu lassen, sondern diese
enthebt die Seinsinhalte der sonst von ihr vermittelten Lebensverknüpfung,
um sich souverän an diesen Inhalten auszugestalten; woher einerseits das
Gefühl von Freiheit begreiflich wird, das aller Kunst, in ihrem Prozess
wie in ihrem Ergebnis einwohnt - denn hier schafft der Geist wirklich ex
solis suae naturae legibus - andererseits der Inhalt des Lebensprozesses,
insoweit er rein naturhaft-wirklich und weltverwebt auftritt, als Vorform
des Kunstwerks sich offenbart.
Das Gefühl von Reinheit
und Unschuld, das als durchgehende Kompetenz der Kunst gelten kann, mag
mit der so bezeichneten Unabhängigkeit von aller Weltgegebenheit
zusammenhängen, mit deren ganzer Problematik und Wertzufälligkeit uns
sonst das Sehen und das daran anschließende Handeln sozusagen vermischt.
Die Kunst mag eine noch so
anstößige Szene darstellen: dieser Charakter eignet ihr doch nur,
insoweit sie erlebt wird, ihr Inhalt also unter einer ganz anderen
Kategorie steht, als unter der des bloßen Schauens.
Man deutet wahrscheinlich
jene Reinheit der Kunst falsch, wenn man sie als eine positive Gesinnung
ansieht, wie sie unter dem gleichen Namen auf ethische oder auf religiöse
Weise besteht.
In diesen Fällen handelt
es sich um Reinheit des Lebens, bei der Kunst aber um Reinheit vom Leben.
Deshalb wehren sich die Künstler
gegen alles Moralisieren gegenüber ihren Vorwürfen: sie fühlen sich
durch dieses, das nur die Lebensform dieser Vorwürfe betrifft, gar nicht
getroffen.
Denn, gleichgültig wie
viel Leben in das künstlerische Schaffen eingeströmt ist und wie viel
von ihm ausströmt: als künstlerisches ist es von dem Leben, innerhalb
dessen das Schauen jedenfalls nur ein Element unter anderen ist, gelöst
und ist nur Schauen und dessen »reine« d. h. von allen
Lebensverflechtungen gesonderte schöpferische Konsequenz.
Die künstlerische
Anschauung, als die ungestörte Herrschaft des Anschauungsprozesses als
solchen, ist so wenig Abstraktion, dass eher die praktisch-empirische
Anschauung so zu bezeichnen wäre.
Denn gerade dadurch, dass
das nicht-künstlerische Bild der Dinge von lauter nicht anschaulichen
Gerichtetheiten, Assoziationen, zentrifugalen Bedeutungen durchwachsen ist
und als eines der vielen koordinierten Mittel für praktische Zwecke
dient, muss es von der ganzen Fülle und reinen Konsequenz des
anschaulichen Phänomens als solchen abstrahieren, die Praxis nimmt nicht
das ganze angeschaute Ding, sondern nur das Quantum seiner Anschauung auf,
das sie für ihre ganz anderen Zwecke braucht.
In ihren Zusammenhängen
ist das angeschaute Ding vielleicht der Totalität des Lebens
verschmolzen, als Anschauung aber ist es hier ein bloßes Fragment, durch
einen Abzug von der Totalität seines Angeschautwerdens zustande gekommen.
Hier liegt die tiefe
Verwandtschaft wie der breite Abstand zwischen der geometrischen und der künstlerischen
Anschauung.
Den letzteren, selbstverständlichen
vorbehalten, kann man sagen, dass beide ihre Vorform in jenem alltäglichen,
praktisch dirigierten Anschauen der Dinge haben.
Die Geometrie spricht die
Gesetze aus, nach denen die besondere Art unserer räumlichen Anschauungen
zustande kommt, sie ist also in der konkreten Gegebenheit eben dieser
latent enthalten, und indem wir die konstruktive Handlung des räumlichen
Anschauens in ihrer reinen, von aller Gegenständlichkeit absehenden
Konsequenz vollziehen, entsteht das geometrische Gebilde.
Die Geometrie beschreibt -
nach der Kantischen Auffassung - die reinen und konsequentesten Formen des
Anschauens des Gegenstandes, wie die bildende Kunst das Anschauen des
Gegenstandes den Verflechtungen des Lebens entreißt, innerhalb deren sein
Anschauungsbild ein bloßes Mittel und nichts für sich Sinnvolles ist.
Ich führe das noch an
einem abgelegenen und diffizilen Falle aus.
Altjapanische Teeschalen,
wie sie jetzt Sammelgegenstände bilden, sind vielfach von feinen goldnen
Linien durchzogen, mit denen Sprünge oder ausgeschlagene Stücke
repariert sind.
Für den europäischen
Blick wirken diese Steingutstücke überhaupt zunächst rustikal, ja roh
und zufällig, und offenbaren erst langer Kennerschaft ihre Schönheiten
und Tiefen.
Aber auch dann sind sie
nicht in gewöhnlichem Sinne »Kunst«, wie es etwa chinesische Porzellane
sind, sondern wirken wie ein gewisses Mittleres zwischen zufälligem
Naturprodukt und stilisierter Kunst, für dessen charakteristische Einheit
unsere europäische Ästhetik keine Kategorie hat.
Auch handelt es sich nicht
etwa um die Synthese der naturalistischen Kunst, denn kein dargestellter
Inhalt, sondern das unmittelbare Dasein des Gebildes ist naturhaft.
In Farbenstellung und
Oberflächenbehandlung klingt zwar immer ein Natureindruck an: an einen
Stein oder eine Fischhaut, an Baumrinde oder Wolkenfärbung wird man
erinnert.
Aber dies ist nicht
naturalistische Nachahmung, sondern -da man diesen fremdartigen Eindruck
nur symbolisch bezeichnen kann - als hätte die Natur die poetischen und
taktilen Elemente, die sie an den genannten Gegenständen hervortreibt,
jetzt in irgendwelcher Abwandlung durch die Hand eines Japaners
hindurchwachsen lassen.
Während hierin nun die Sprünge
und Lücken etwas rein naturhaft Zufälliges sind und in unausgebessertem
Zustand selbstverständlich auch so wirken, ergeben die ihnen folgenden
goldnen Linien, wie durch eine prästabilisierte Harmonie, in außerordentlich
vielen Fällen ein hinsichtlich der Führung wie der Flächenverteilung
wahrhaft entzückendes, künstlerisch ganz vollkommenes Bild, ein so
vollkommenes, dass man oft nur schwer an die Zufälligkeit der Risse
glauben mag.
Nirgends vielleicht
erscheint unser Prinzip markanter als hier, wo sich der künstlerische
Prozess absolut eng an die Naturansicht anschließt und seine Wahlfreiheit
nur an der Breite, dem Relief und der Tönung der Goldlinien zeigen kann.
Unmittelbarer als irgend
sonst hat sich das, was der Künstler sieht, in das umgesetzt, was er tut.
Aber jener Umschwung des
Eindrucks von einem naturhaft bestimmten empirischen zu einem zweifellos künstlerisch-formalen
offenbart, dass hier eine prinzipielle Wendung geschehen sein muss.
Solange der Bruch der
Schale in seiner ursprünglichen Form besteht, wird zwar sein optisches
Bild auch erst von dem synthetischen Sehprozess erzeugt; allein so ist es
rein naturhaft und durch die Verflechtung unseres Blickens mit der
Naturgegebenheit bestimmt.
Aber nun übernimmt die so
zustande gekommene optische Form die Leitung der künstlerischen Aktivität.
Ist das Sehen der gegebenen
Wirklichkeit und innerhalb unserer Lebensverflechtung mit ihr die Vorform
der Kunst, und entsteht Kunst, indem das Sehen sich aus dieser
Verflechtung löst und von sich aus das Leben des Schaffenden in seine
autonomen Rhythmen hineinleitet - so ist es nun hier das empirisch, im
Zusammenhang der Wirklichkeit wahrgenommene Linienbild, das für den
keramischen Künstler zur Richtschnur dafür wird, wie er die Schale
aussehen machen will.
Das Kunstwerk entsteht
durch die Emanzipation des Gesichtsbildes vom praktischen Leben, die in
der Formung eines neuen, nun der Funktion des Sehens gehorsamen Gebildes
produktiv wird.
Wenn dieser Sachverhalt
gilt, so erklärt sich mit ihm das öfters gehörte Paradoxon: dass die
Natur für jede Zeitepoche so aussieht, wie die jeweilige Kunst ihrer Künstler
es ihr vorschreibt; wir sähen die Wirklichkeit nicht »objektiv«,
sondern mit den Augen der Künstler an.
Gleichviel ob dies die
ganze Wahrheit ist - ein Teil der Wahrheit ist es jedenfalls.
Die Möglichkeit davon
aber, dass die Kunst unsere Art des Sehens bestimmt, liegt darin, dass das
Sehen die Kunst bestimmt hat.
Nachdem unser Leben in der
Welt das Sehen ausgebildet hat, entnehmen die Künstler die Sehfunktion
diesem Zusammenhang zu gesonderter Ausbildung, zu der selbstgenügsamen Fähigkeit,
die Dinge in einen nur durch das Sehen geschaffenen Zusammenhang
einzustellen.
Und dies wirkt nun auf das
empirisch-weltmässige Sehen zurück: die Genesis der Kunst aus ihrer
vitalen Vorform hat die Brücke geschlagen, auf der sich die Kunst wieder
dem Leben zurückverbindet.
Wir alle sind präexistenziale
Maler und deshalb fähig, nachdem der wirkliche Maler uns den Weg gebahnt
hat, ihm nach zu gehen.
Die Künstler verfahren nur
ungefähr wie der Denker, der, wenn die Erfahrung vorliegt, aus ihr die
Kausalität als ein reines selbständiges Gebilde herausgewinnt - dies
aber nur kann, weil sie selbst schon jene Erfahrung geformt hat.
Sie zwingen uns nicht –
wie jenes Paradoxon, solange es sich an das bloße Phänomen hält,
ausspricht - statt einer generell unkünstlerischen Betrachtungsart, die
wir ohne sie haben würden, die ihrige, rein künstlerische auf, sondern
nur die jeweils besondere Ausgestaltung eines A priori, das sowieso in
seinem unkünstlerischen Funktionieren eine Vorform der Kunst ist, wird
von ihnen bestimmt.
Dies gilt nicht nur für
die Malerei, sondern ersichtlich ebenso für die Dichtkunst.
Wenn wir empfinden und
erleben, wie die Dichter uns vorempfunden und vorerlebt haben, so ist es,
weil zur Bildung der inneren Welt die Kategorien von vornherein mitgewirkt
haben, die, in reiner Herauslösung und nur sich selbst folgsamer
Beherrschung des seelischen Materials, »Kunst« bewirken.
Denn was ich bezüglich der
Anschauungskünste sagte, bestimmt auch die Dichtkunst: wir sind alle präexistenziale
Dichter.
Nur sei wiederum nicht
vergessen, dass dieser Ausdruck eine Vordatierung ist, da die fraglichen
Formen, innerhalb des empirisch-praktischen Lebens wirksam, noch nicht
Kunst sind, auch nicht ein »Stückchen« Kunst; etwas nicht graduell,
sondern generell anderes sind sie, das nur bestimmt ist, in Kunst
umzuschlagen.
Innerhalb des Lebens stehen
die Formen in einfacher Koordination oder Wirkungseinheit mit all den
anderen Mitteln, durch die wir die Wirklichkeit teleologisch gestalten;
erst wenn die Wendung, mit der sie ihrer Lebensbestimmtheit enthoben und
zu selbstbestimmenden, eine neue Welt schaffenden Mächten werden,
eingetreten ist, kann man, von den jetzt entstandenen Schöpfungen zurückblickend,
jene Formen als kunstmässige herauserkennen.
Für die Poesie ist hier
zunächst des sprachlichen Ausdrucks zu gedenken.
Sehen wir die Sprache als
ein bloßes Mittel an, sich von Person zu Person zu verständigen, so
scheint in diesem logischen Prozess nichts kunstmässige Raum zu haben.
Dies gilt indes nur, wo ein
sozusagen mechanisches Hineinschütten eines bestimmten
Bewusstseinsinhaltes in ein anderes Bewusstsein in Frage steht und, der
Intention nach, die Rede des Einen im Anderen keine eigentlich diesem
eigene Funktion auszulösen hat.
Hier freilich genügt der
Telegrammstil.
Allein die Zwecke der Rede
- der mündlichen wie der schriftlichen - pflegen außer der
Inhaltsgleichheit zwischen der hervorgerufenen und der hervorrufenden
Vorstellung noch seelische Bewegungen des Aufnehmenden zu fordern, die
nicht in gleicher Weise logisch erzwingbar sind und, obgleich durch das
Gehörte angeregt, doch in höherem Maße, als die Reproduktion der reinen
Sachgehalte, aus der Spontaneität des Hörers hervorgehen.
Er soll das Gehörte doch
in einer gewissen Stimmung aufnehmen, es soll sich ihm einprägen oder
umgekehrt gerade nur für einen Moment in ihm verweilen, er soll zu den
besonderen Reaktionen der Zustimmung, des Überzeugtseins, des Anknüpfens
praktischer Konsequenzen gebracht werden - welches alles nicht auf den bloßen
Inhalt hin logisch stringent erfolgt, sondern als ein Neues und Weiteres
zum großen Teil von der Form abhängt, in der jener Inhalt dargeboten
wird.
Fasst man einmal den
Begriff »Musik« in einem allerweitesten Sinn: als Rhythmik der Äußerung,
als Schwingung des Gefühls über das begrifflich Fixierbare hinweg, als
diejenige zeitliche und dynamische Ordnung des Darbietens, die für unsere
Auffassungskraft die günstigste ist, als unmittelbare und kontinuierliche
Übertragung eines seelischen Zustandes, den Worte und Begriffe nur stückweise
und wie in Zusammensetzung vermitteln können - fasst man dies als die »Musik«
unserer Äußerungen, so wird sie von deren praktischer Zweckmäßigkeit
fortwährend gefordert.
In der Poesie aber erst
wird diese Formung zu selbstgenügsamem Wert, hier hat mit der Erreichung
der so bezeichneten Vollkommenheit das Wortgebilde seinen Sinn gewonnen
und nicht schon oder erst dann, wenn es mit ihr als Mittel in das zu
weiterhin gelegenen Zwecken sich spannende Leben eingestellt ist.
Darum hat vom Leben aus
gesehen Schopenhauer recht: »die Kunst ist überall am Ziele« - weil sie
überhaupt kein »Ziel« im Lebenssinne hat.
Teleologie ist eine
Vitalkategorie, keine künstlerische.
Ohne weiteres ist
ersichtlich, dass jene Formen, sobald sie die Wendung zur Autonomie
erfahren haben, ihr Anwendungsgebiet viel konsequenter, einheitlicher,
radikaler durchgestalten, als es ihnen in ihrer vitalen Funktion möglich
ist.
Denn in dieser haben sie
die Zufälligkeit des bloßen Mittels, werden durch anders gerichtete
Erfordernisse fortwährend unterbrochen und gelangen zu keiner auf sich
selbst gerichteten, folgerechten Entwicklung, sondern müssen Fragment
bleiben - nicht vom Standpunkt des Lebens aus, in dem sie Wirklichkeit
haben; denn in dessen kontinuierlicher Strömung ist (präsumtiverweise)
eine jede genau in dem Maß ihrer Wirksamkeit an ihrer Stelle und in ihrem
Quantum richtig und Jedes Mehr ihrer Herrschaft würde das jetzt von ihr
Verlangte nicht vervollständigen, sondern unvollkommener machen.
Erst von dem neuen Gebilde,
das durch ihre Alleinherrschaft zustande gekommen ist, von der Kunst her
gesehen, erscheinen jene Formungen einzelner Lebensmomente als Fragmente.
Dass man so oft das Leben
als Fragment bezeichnen hört, das sich erst in der Kunst zu Fertigkeit
und Ganzheit abrunde, hat seinen richtigen Sinn wohl in diesem
Formprinzip: das Kunstwerk kann ein Ganzes und prinzipiell in sich
Vollendetes sein, weil es ganz und gar von Normen gestaltet ist, die hier
mit ihrer Durchführung ihren ganzen Sinn erschöpft haben - während sie
sonst einem Höheren, der Norm des Lebens als solchen untertan sind, das
ihnen nur wechselnde und unterbrochene Anwendungen gestattet; das Leben
erscheint als ganzes wie ein Fragment, insofern jedes einzelne seiner Stücke,
von seiner in autonomem Schöpfertum vollendeten Form her gesehen, natürlich
nur ein Bruchstück ist.
Und daraus ergibt sich
weiterhin, dass wir in zwei ganz unterschiedenen Bedeutungen von
unvollkommener Kunst reden können.
Es gibt unvollkommene
Kunst, insoweit das Werk zwar ganz und gar um der künstlerischen
Intention willen gestaltet ist und sich in der strengen Umgrenzung der
autokratisch künstlerischen Formen hält - aber uninteressant, banal,
kraftlos ist.
Und es gibt unvollkommene
Kunst, wenn das Werk, die letzteren Beeinträchtigungen vielleicht nicht
zeigend, seine künstlerischen Formen noch nicht völlig von der
Lebensdienstbarkeit befreit, die Wendung dieser Formen von ihrem
Mittel-Sein zu ihrem Eigenwert-Sein noch nicht im absoluten Maße
vollzogen hat.
Dies ist der Fall, wo ein
tendenzhaftes, anekdotisches, sinnlich exzitatives Interesse als ein
irgendwie bestimmendes in der Darstellung mitklingt.
Dabei kann das Werk von großer
seelischer und kultureller Bedeutung sein; denn dazu braucht es keineswegs
an die begriffliche Reinheit einer einzelnen Kategorie gebunden zu sein.
Aber als Kunst bleibt es
unvollkommen, solange seine Formungen noch irgend etwas von derjenigen
Bedeutung fühlbar machen, mit der sie sich den Strömungen des Lebens
einfügen.
Die vitale Form der Poesie
nun beschränkt sich keineswegs auf den sprachlichen Ausdruck.
Vielmehr, die innere und
inhaltliche Gestaltung des Schauens, mit der sich die dichterische Schöpfung
vollzieht, formt sich in unzähligen seelischen Akten vor, mit denen wir
den Stoff des Lebens den Zwecken des Lebens gefügig machen.
Ich beschränke mich auf
wenige Beispiele.
Man hat es der Kunst überhaupt
- hier aber soll uns nur die Poesie angehen - von jeher zugeschrieben,
dass sie nicht die isolierte Individualität menschlicher Existenzen,
sondern immer ein Allgemeines, Typen der Menschlichkeit zur Darstellung
bringe, für die das so und so benannte Individuum nur ein Bild und ein
Vorname sei.
Ich lasse dahingestellt, ob
dies annehmbar ist; jedenfalls wenn und insoweit es richtig ist, scheint
es die Dichtkunst - und so würde man im allgemeinen urteilen - in
Gegensatz zu dem Verfahren der Praxis zu stellen, die die menschlichen
Erscheinungen in ihrer Wirklichkeit, d. h. eine jede als diese
individuelle, in der Einzigkeit ihres Umrisses, ihrer Position, ihres
Lebenssinnes erfasse.
Hiermit aber scheint mir
unser Bild von den Menschen, wie wir es gerade zum Zweck der praktischen
Beziehungen zu ihnen gestalten, keineswegs ausreichend charakterisiert.
Man macht es sich selten
ganz klar, wie durchgehend wir die Menschen, mit denen wir zu tun haben,
generalisieren und typisieren.
Zunächst in mehr äußerlicher,
sozialer Hinsicht.
Mit einem Offizier oder
einem Geistlichen, einem Arbeiter oder einem Professor verkehrend, selbst
nicht in Angelegenheiten ihrer Berufe, pflegen wir sie nicht einfach als
Individuen, sondern wie selbstverständlich als Exemplare jener generellen
Standes- oder Berufsbegriffe zu behandeln, und zwar nicht nur so, dass
diese überindividuelle Bestimmtheit als reales und natürlich nicht zu
vernachlässigendes Element der Persönlichkeit wirksam wäre.
Über die strömende
Lebenseinheit, in welche dies Element mit anderen koordiniert und
kontinuierlich verflochten ist, erhebt es sich vielmehr als ein praktisch
führendes, es gibt die Tonart des Verkehrs an, wir sehen überhaupt nicht
die reine Individualität, sondern zunächst und manchmal zuletzt den
Offizier, den Arbeiter, oft auch »die Frau« usw. und die persönliche
Bestimmtheit erscheint nur als die spezifische Differenz, mit der sich
jenes Allgemeine darstellt.
Diese Struktur der
Vorstellung vom Anderen ist die Voraussetzung, mit der sich unser sozialer
Verkehr vollzieht.
Aber sie erhebt sich ebenso
über den im engeren Sinne persönlichen Eigenschaften.
So entschieden wir die
Unvergleichlichkeit und unanalysierbare Einheit an einer Natur empfinden mögen
- wenn wir sie in der Weise vorstellen, die gerade ein praktisches Verhältnis
zu ihr tragen kann, so erscheint sie unter einem psychologischen
Allgemeinbegriff oder als die Synthese solcher: klug oder dumm, schlaff
oder energisch, heiter oder trübe, großzügig oder pedantisch und wie
die Generalisationen alle heißen mögen, die gerade ihren
Allgemeinheitscharakter daran zeigen, dass je ein Gegensatzpaar die möglichen
Richtungen einer fundamentalen seelischen Energie unter sich aufteilt.
Wir mögen uns bewusst
sein, dass eine noch so große Häufung solcher Allgemeinheiten doch kein
Koordinatensystem bildet, in dem der Punkt der eigentlichen Persönlichkeit
sich unzweideutig festlegte, und dass wir sie mit diesen
Verallgemeinerungen ihrer eigensten Wurzelung entreißen; wir können
innerhalb der Lebenspraxis derartigen Umstimmungen des Individuellen ins
Allgemeine doch nicht entgehen.
Und endlich enthält die
Vorstellung des Anderen noch eine Umbildung seiner eigentlichen Realität,
die gleichsam durch diese hindurch nach der entgegengesetzten Seite geht.
Diese Realität des uns
gegenüberstehenden Menschen (vielleicht sogar auch die eigene) erblicken
wir unvermeidlich so, dass wir die allein dargebotenen einzelnen Züge zu
einem Gesamtbild ergänzen, dass wir das nacheinander sich Entfaltende
seines Wesens auf die Gleichzeitigkeit eines »Charakters«, einer »Wesensart«,
projizieren, dass wir endlich das qualitativ Unvollkommene, Verstümmelte,
Unentwickelte, nur Angedeutete seiner Persönlichkeit zu einer gewissen
Absolutheit führen; wir sehen einen jeden - nicht immer, aber sicher viel
öfter als wir es uns bewusst machen - so, wie er wäre, wenn er sozusagen
ganz er selbst wäre, wenn er nach der guten oder der schlechten Seite hin
die volle Möglichkeit seiner Natur, seiner Idee, verwirklicht hätte.
Wir alle sind Fragmente,
nicht nur eines sozialen Typus, nicht nur eines mit allgemeinen Begriffen
bezeichenbaren seelischen Typus, sondern auch gleichsam des Typus, der nur
wir selbst ist.
Und all dies
Fragmentarische ergänzt der Blick des Anderen wie automatisch zu dem, was
wir niemals ganz und rein sind.
Während die Praxis des
Lebens darauf zu drängen scheint, dass wir das Bild des Anderen nur aus
den real gegebenen Stücken zusammensetzen, ruht gerade sie bei genauerem
Hinsehen auf jenen Ergänzungen und, wenn man will, Idealisierungen zu der
Allgemeinheit des Typus, den wir mit anderen teilen, und dessen, den wir
mit niemandem teilen.
Der Ausdruck Ergänzung könnte
freilich an dem entscheidendsten Punkte vorbeiführen.
Wenn wir das in uns
wirksame Bild eines Anderen gestalten, fügen wir nicht nur in die
gegebenen Fragmente seines sich äußernden Lebens weitere, des gleichen
Charakters ein, so dass wir uns phantasiemässig und mit psychologischer
Induktion vorstellen, wie er sich in dieser und jener Lage, in der wir ihn
nie gesehen haben, benehmen würde.
Sicher wird dies mehr oder
weniger bewusst oft geschehen.
Wesentlicher aber ist die
Herstellung eines generell anderen Bildes: des einheitlich geschauten
Wesens, das überhaupt nicht aus noch so vielen Einzelheiten
zusammenzusetzen ist, von vornherein in einer anderen Ebene liegt.
Mag es sich auch auf Grund
jener gekannten Einzelheiten erheben, so gibt es doch nun erst seinerseits
ihrer Diskontinuität Einheit und charakterologische Bedeutung; hier erst
liegt das eigentlich Einzige am Menschen, das mit logischen Begriffen
nicht Auszudrückende seines Seins, durch dessen Gewinn aber erst unser
eigenes Leben mit dem anderen eigentlich etwas anzufangen weiß.
So nun - wie allenthalben
die empirische Relativität unserer Auffassungen zwischen zwei
Absolutheiten steht
stellen wir den anderen
Menschen zwischen die Absolutheit eines Allgemeinen und die Absolutheit
seines eigenen Subjekts - die er beide nicht deckt.
Es bedarf keiner näheren
Ausführung, dass alle poetische und überhaupt künstlerische
Menschendarstellung an diesen, im Lebensverlauf fortwährend geübten
Modis der Auffassung ihr Prototyp findet.
Die Verallgemeinerungen in
soziologischer und psychologischer Hinsicht schaffen die Grundlage, auf
der Verkehr und Verständnis sich erhebt, jenes perfektionierte Bild der
Individualität dient uns gewissermaßen als Schema, in das wir die
empirischen Züge und Handlungen der Persönlichkeit (gleichviel ob es
auch erst auf deren Grund erwachsen ist) eintragen, das sie in
Zusammenhang bringt und das uns den Menschen erst zu einem festen Faktor für
unsere Berechnungen und unsere Forderungen macht.
Das künstlerische Bild
aber entsteht durch eine volle Axendrehung: jetzt kommt es nicht mehr
darauf an, durch die Wirksamkeit dieser Kategorisierungen den Anderen
unserem Lebenslauf einfügbar zu machen, sondern die künstlerische
Absicht endet daran, einem menschlichen Charakter, einer Möglichkeit des
Mensch-Seins diese Formen zu geben.
Die vollkommensten
dichterischen Gestalten, die wir besitzen: bei Dante und Cervantes, bei
Shakespeare und Goethe, bei Balzac und C. E Meyer, stehen in einer Einheit
da, die wir nur als die Gleichzeitigkeit der hier angedeuteten gegensätzlichen
Führungen bezeichnen können: sie sind einerseits ein ganz Generelles,
als wäre das Individuum von sich erlöst, aufgegangen in einen typischen
Umriss, empfindbar nur als ein Pulsschlag des allgemeinen Lebens der
Menschheit; und sie sind andererseits bis zu dem Punkte hin vertieft, an
dem der Mensch schlechthin nur er selbst ist, bis zu der Quelle, wo sein
Leben in absoluter Selbstverantwortlichkeit und Unverwechselbarkeit
entspringt, um dann erst von seinem empirischen Verlaufe Anähnlichungen
und Verallgemeinerungen mit anderen zu erfahren.
Ich nenne noch einen
zweiten Fall, der in einer ganz anderen Ebene liegt. Von den Gefühlskategorien,
unter deren Perspektiven das Lebensmaterial sich stellt, hat die Lyrik
zwei erwählt, um sie häufiger als alle anderen in ihre Kunstform zu gießen:
die Sehnsucht und die Resignation.
Die Augenblicke der Erfüllung,
in denen der Lebenswille und sein Gegenstand sich abstandslos
durchdringen, begegnen in der Lyrik nicht nur überhaupt seltener, sondern
verhältnismäßig noch viel seltener gelangen sie in ihr zu wirklich künstlerischer
Vollendung.
Der Grund scheint mir zu
sein, dass Sehnsucht und Resignation - oder, etwas abgestimmt, Hoffnung
und Verlust - in sich ein Moment von Distanzierung tragen, das der künstlerischen
Distanznahme und Objektivierung sozusagen vorarbeitet.
Täusche ich mich nicht, so
neigt der Sprachgebrauch zur Bezeichnung von Sehnsucht und Resignation als
»lyrischen Empfindungen«; und ich wüsste nicht, woraufhin diese Affinität
gefühlt würde, außer auf jenes eigentümliche Entfernt sein von der erfüllten
Ganzheit des Lebens, die der Besitz bringt.
Für die Sehnsucht wie für
die Resignation ist der Zeitverlauf - wenn auch in ganz verschiedenen
Bedeutungen - gewissermaßen zum Stillstand gekommen, mit beiden stellt
sich die Seele irgendwie jenseits der Bedingungen der Zeit (wie es nach
einer Seite hin Goethe ausspricht: »Was ich besitze sehe ich wie im
Weiten/Und was verschwand wird mir zu Wirklichkeiten«) und schafft damit
ebenso eine Vorform des künstlerischen Verhältnisses zur Zeit, wie die
Abgedrängtheit von dem eigentlich vollen Leben, die in beiden Affekten
liegt, diese in die Vorsphäre der Kunst stellen.
Aber unterhalb dieser
scheinbaren äußeren Kontinuität vollzieht sich die radikale Wendung: in
dem wirklichen Erleben entsteht Sehnsucht und Resignation, weil wir von
einer gewissen intensiven Unmittelbarkeit des Lebens entfernt sind - in
der lyrischen Kunst umgekehrt werden jene Affekte mit Vorliebe gesucht,
weil sie uns eben diese artistisch erforderliche Distanz schaffen.
Der Affekt, den das Leben
als Wirkung einer Unberührsamkeit, einer Distanznahme erzeugt, wird nun
seinerseits zum Zentrum, weil er am besten den Bedingungen der Kunst genügt.
Die Distanznahme bildet
noch in einer anderen Hinsicht den Drehpunkt zwischen dem empirischen
Leben und der dichterischen Idealität.
Man hat lange bemerkt, dass
Personen und Vorgänge der Vergangenheit zu poetischer Verwendung, in Epos
wie Drama besonders günstig disponiert sind.
Tatsächlich ist schon die
Art, wie sich uns das Vergangene als solches darstellt, eine Vorform der
Kunst: die Gelöstheit von allem praktischen Interesse, das Hervorleuchten
des Wesentlichen und Charakteristischen vor den zurücksinkenden
Unbedeutsamkeiten, die Macht, die der Geist hier - anders als gegenüber
der unmittelbaren Wirklichkeit - in der Anordnung und Bildgestaltung des
Materials übt - alle diese Züge der Vergangenheitserinnerung sind
Wesensbildner der Kunst, sobald sie ihrerseits den gegebenen Stoff sich
anpassen.
Dies geschieht auch, nur in
weniger absoluter Art, in der Geschichte als wissenschaftlicher
Bildgestaltung.
Auch sie formt den gelebten
Stoff des Geschehens vermöge solcher Kategorien zu einem idealen,
lebensjenseitigen Gebilde, aber in ihr stellt der Inhalt noch größere
Ansprüche an das schließlich herausgeformte Ergebnis, als in der Kunst;
so dass die Historie als eine Art Überleitung zwischen der erlebnismässigen
- jene Kategorien im Embryonalzustand enthaltenden - Erinnerung und der
(historischen) Dichtung steht.
Man pflegt die Beziehung
zwischen Geschichte und Kunst so aufzufassen, als wären künstlerische
Formen und Qualitäten für sich gegeben, die dann für das Entwerfen des
historischen Bildes verwendet werden.
Mag sich das psychologisch
und nach Ausbildung beider Bezirke so verhalten - die ideelle
Wesensbeziehung verläuft umgekehrt.
Denn hier kommt nicht nur
die Historie als wissenschaftlich-methodisch erforschte in Betracht,
sondern deren Vorläufer, der ihr freilich die Formen bereitet: die unser
Leben fast ununterbrochen durchziehende Vergegenwärtigung erlebter oder
Überlieferter Vergangenheit in irgendwie abgeschlossenen Bildern.
Und dieses fortwährende
Erlebnis setzt nicht Kunst voraus, sondern wird unmittelbar durch jene
Kategorien gestaltet, die innerhalb des Lebens dienend und fragmentarisch
sind, sowie sie aber zentral bestimmen und den Stoff sich unterwerfen, den
Kunstbezirk als solchen erzeugen.
In dieser tiefsten Schicht
betrachtet, ist nicht die Kunst ein Vehikel der Historie, sondern
umgekehrt die Historie ihrer eigensten Notwendigkeit nach eine zweite
Vorform der Kunst, deren erste die innerhalb des Lebens sich erzeugende
Art der Vergangenheitserinnerung ist. -
Stellt man das Verhältnis
von Leben und Kunst in dieser grundsätzlichen Weise vor, so ist damit
eine Gegensätzlichkeit der Motive oder Ordnungen versöhnt, die das Wesen
der Idee überhaupt mit innerem Widerspruch bedroht.
Wir können - mit größerer
oder geringerer historisch-psychologischer Vollkommenheit - die
Entwicklung der Kunst wie die der Wissenschaft und der Religion aus dem
Verlauf des natürlichen empirischen Lebens oder auch innerhalb desselben
verfolgen; in unmerklichen Übergängen erheben sich aus den nicht
ideellen Gebilden die ideellen, die Phänomene als solche scheinen kein
absolut hartes Absetzen, keinen Punkt des prinzipiellen Umschwungs zu
kennen.
Dennoch halten wir daran
fest, dass ein solcher gerade im Prinzip besteht, dass die Kunst,
allgemein: die Idee, ihren Sinn und ihr Recht gerade daraus zieht, dass
sie das Andere des Lebens ist, die Erlösung aus seiner Praxis, seiner Zufälligkeit,
seinem zeitlichen Verfließen, seiner endlosen Verkettung von Zwecken und
Mitteln.
Erkennen wir nun, dass
dennoch in all diesem sich Formen auswirken, die nur aus ihrer Stellung
als Mittel, als Durchgangspunkte, in die andere: als Eigenwerte, als
autonome und zu definitiven Gestaltungen führende Kräfte, gebracht zu
werden brauchen, damit jene idealen Gebilde dastehen - so ist beiden
Forderungen Genüge geschehen.
Denn nun handelt es sich
dem äußeren Phänomen nach nur darum, dass immer bestehende und in
verschiedensten Maßen wirksame Formungsweisen zu alleinherrschenden
werden; wodurch dann begreiflich wird, dass die Grenze zwischen dem
Lebensgebilde und dem Kunstgebilde als Gegebenheiten nicht immer scharf zu
ziehen ist, dass sie hier und da einander übergreifen, dass z. B. die
Rede des Alltags unmerklich in Poesie übergeht und ebenso die empirische
Art des Schauens in die künstlerische.
Aber gerade weil so der
wesentliche Unterschied in der Intention liegt: ob Jene Formungen sich als
Mittel dem Stoff des Lebens und seiner unabsehlichen Strömung bieten oder
ob sie umgekehrt als Selbstwerte diesen Stoff in sich hineinleiten und ihn
damit in definitive Gebilde fassen - gerade deshalb ist der Unterschied
zwischen dem natürlich wirklichen Leben und der Kunst dem Sinne nach ein
schlechthin radikaler.
Da der ganze Prozess in
beiden Fällen die Prägung bestimmten Stoffes in bestimmten Formen ist
und die ganze Differenz sich um die Frage dreht, was Mittel und was
Endwert sein soll, also zunächst eine rein innere ist und sich nur darin
ausspricht, dass die Formen aus dem Zufälligen, Fragmentarischen,
Durcheinander-Gemischten in das Herrschende, Vollständige, Abschließende
übergehen - so ist die Kontinuität der Erscheinungen kein Widerspruch
mehr gegen die vermittlungslose Drehung ihres Sinnes; sondern gerade in
der Vereinigung beider spricht sich die Struktur des Verhältnisses aus.
Freilich wird dadurch auch
verständlich, dass wir in dem großen Kunstwerk immer mehr als das bloße
Kunstwerk empfinden.
Wenn die Kunstformen aus
der Bewegung und Produktivität des Lebens stammen, so werden sie im
einzelnen Falle um so kraftvoller, bedeutsamer, tiefergreifend wirken, je
stärker und weiter das Leben ist, das sie trägt.
Die notwendige Vermittlung
ist freilich, was wir Talent nennen: dass jene Formen nicht nur dem Dienst
des Lebens ausgeliefert sind, sondern vermöge einer individuellen Kraft
die Wendung zu selbstherrlichem Gestalten des Weltstoffs überhaupt
vollziehen können.
Bei gleichgesetztem Maße
dieses spezifischen Talentes aber ist nun das Entscheidende, wie intensiv
und reich das in diese Formen eingegangene Leben ist.
Es fließt jetzt nicht mehr
durch sie hindurch, seinen eigenen praktischen Zielen zu, sondern es hat
sich in ihnen gestaut, hat sozusagen seine Kraft ihnen übertragen und mit
ihr und in ihrem Maße wirken sie nun nach ihrem eigenen Gesetz.
Ist dies fundierende Leben
schwach und eng, so ergeben sich die Erscheinungen eines bloßen
formgewandten Artistentums und einer leeren technischen Vollkommenheit.
Anderenfalls aber entsteht
der Eindruck, dass die Gesamtbedeutung des Werkes mit seinem bloß künstlerischen
Werte nicht erschöpft sei, dass über diesen hinaus noch ein Breiteres
und Tieferes in ihm zu Worte käme.
Ist das hier Vorgetragene
richtig, so weist dieser Eindruck nicht auf einen Dualismus der wirkenden
Faktoren, sondern auf ihre einheitliche Reihung hin.
Das Leben mit seiner
biologischen und religiösen, seelischen und metaphysischen Bedeutung
wirkt nicht von jenseits der künstlerischen Formen in das Werk hinein,
sondern diese Formen sind die Formen des Lebens selbst, die sich freilich
vom Leben, als einem teleologisch strömenden, emanzipiert haben, aber
ihre Dynamik und ihren Reichtum doch von eben diesem Leben, soweit es
diese Güter besitzt, zu Lehen tragen.
Das Mehr-als-Kunst, das
jede große Kunst zeigt, fließt aus derselben Quelle, der sie, nun als
ein ideales lebensfreies Gebilde, entstammt ist.
Nur mit wenigen Strichen
suche ich noch für einige andere Gebiete die Wirksamkeit dieses Prinzips
zu zeichnen; zunächst für das rechtliche.
Es ist wohl nicht zu
bezweifeln, dass das Verhalten, das wir als dem Rechte gemäß und durch
das Recht erzwingbar bezeichnen, sich im wesentlichen schon in
gesellschaftlichen Zuständen findet, die den Begriff des Rechts und die
erst durch ihn möglichen Institutionen noch nicht ausgebildet hatten.
Die Selbsterhaltung der
Gruppe muss dies entweder als Instinkt und selbstverständlich geübten
Brauch oder durch Strafandrohung erreicht haben.
Dass dieses Verhalten von
sozialem Ganzen und Individuum zueinander als »Recht« im Sinne des
Richtigen, Gerechtfertigten empfunden wurde, wird man annehmen können.
Aber die Forderung
entsprang nicht aus dem »Recht« als einer der Realität jenseitigen
Idee, sondern sie und ihre Erfüllung waren Funktionen des unmittelbaren
Lebens, dessen Zwecken die Gruppe, wenn auch oft auf wunderlichen Wegen,
nachging.
An dieser realen
Lebensverwebtheit darf nicht irre machen, dass solche Gebote und Verbote
zum großen, wahrscheinlich überwiegenden Teil unter religiöser Sanktion
auftreten.
Denn die religiösen
Potenzen so primitiver Zustände, das Totem und die angebeteten Vorfahren,
der Fetisch und die die ganze Umgebung bewohnenden Geister sind eben
selbst Elemente jenes unmittelbaren Lebens, auch der höher entwickelte
Gott bleibt noch lange ein Mitglied der Gruppe selbst.
Gerade indem in der Norm
des »richtigen« Verhaltens alle später differenzierten Sanktionen,
sittlicher wie rechtlicher, religiöser wie konventioneller Art, noch
ungeschieden ruhen, ist sie, ebenso wie ihre Befolgung, in den tatsächlich
ablaufenden Lebensprozess, organisch und solidarisch, als eine seiner
Funktionen eingestellt.
Das »Recht« aber hat
seinen Ort in einer ganz anderen Ebene.
Sobald es dasteht, mögen
seine Inhalte (die in diesem Sinn seine Formen einschließen) noch so »zweckmäßig«
sein - nicht dies ist jetzt der Sinn ihrer Verwirklichung, sondern dass
sie Recht sind.
Es ist jetzt nicht mehr ein
Mittel, eine Technik, über die etwa ihr Endzweck vergessen wäre; das
weiterbestehende Bewusstsein seiner Zweckmäßigkeit setzt die neue
Absolutheit der Rechtsforderung als solcher so wenig herab, dass diese
Forderung sich sogar bei bewusster Verneinung jener Zweckmäßigkeit
aufrechthält: fiat justitia, pereat mundus.
Es gehört zu den in den
tiefsten Grund der geistigen Welten eingesenkten Paradoxien, dass die
wirksame Tatsächlichkeit der Rechtskategorie sich in und aus dem Leben
entwickelt, aber von dem Augenblick an, von dem sie nun umgekehrt das
Leben nach sich bestimmt, ihre Unabhängigkeit, den Wert ihres objektiven
Daseins, bis zur Verneinung dieses Lebens hin bewährt.
Gewiss kann man von einem
gesellschaftlichen »Zweck im Recht« sprechen.
Allein dieser betrifft nur
seine inhaltlichen Bestimmungen und die Tatsache, dass überhaupt die
sanktionierte Form der Erzwingbarkeit für sie besteht.
Denn dieses beides, aus der
Teleologie des gesellschaftlichen Lebens geboren, ist allen Stadien der
Entwicklung gemeinsam.
Bezüglich des inneren
wesenhaften Sinnes aber zeigen diese jenen radikalen Umschwung.
Sobald wir sagen, dass ein
eigentliches »Recht« besteht, das heißt solches, das erfüllt werden
soll, weil es Recht ist, fällt alle Teleologie fort: das Recht als
solches ist Selbstzweck, was nur ein etwas unklarer Ausdruck dafür ist,
dass es eben keinen »Zweck« hat.
Die Kontinuität in seinen
Inhalten, seiner Sanktioniertheit, seiner sozialen Nützlichkeit, darf
diesen prinzipiellen Umschlag nicht verschleiern.
Es ist höchst bezeichnend,
dass wohl alle primitiven Rechte vorwiegend kriminellen Charakter tragen.
Die Idee einer objektiven
Ordnung, von der jedes empirische Verhältnis nur ein von ihr geregelter
Teil und Beispiel ist, liegt ursprünglich ganz fern.
Selbst eine so einfache
Norm: dass das Geschuldete erstattet werden muss - tritt ursprünglich
nicht als objektive Gerechtigkeitsforderung auf, nicht als gesollte
Realisierung einer Wertlogik, sondern das Nichtzahlen wird als eine
subjektive unerlaubte Handlung am Schuldner heimgesucht.
Noch 'in späteren römischen
Recht klingt dies nach, indem bei einigen rein privatrechtlichen Klagen
nicht einfach Verurteilung zu der allein in Frage stehenden Geldleistung
erfolgte, sondern der Verurteilte der Infamie verfiel.
Statt des Prinzips, dass
der Vertrag gehalten werden muss, wobei die Personen Träger von Rechten
und Pflichten sind, übrigens aber gänzlich außer Betracht bleiben, so
dass der Prozess sich schlechthin nur auf den geschlossenen Vertrag
beziehen kann - statt dessen ist der viel unmittelbarere, den
Lebensverflechtungen viel immanentere Impuls wirksam, dass der
Unrechttuende verurteilt werden soll.
Damit hängt aufs engste
zusammen, dass das Recht am Anfang seiner Entwicklung wesentlich auf
Wahrung des »Friedens« gerichtet ist und vor allem die Bedrohung des
Gesamtwesens durch individuelle Gewalttätigkeit und deren nicht weniger
gewalttätige individuelle Abwehr zu beseitigen strebt: seine
Friedewirkung, so hat man dies ausgedrückt, überschattet ursprünglich
seine Gerechtigkeitswirkung.
Die Gesamtheit will leben
und aus diesem Willen heraus und als seine Mittel bildet sie die Formen,
die das Verhalten des Einzelnen regeln.
Dies aber bleibt insoweit
noch ganz in der Teleologie des Gesamtlebens, gerade wie die
Verhaltungsweisen des individuellen Lebens sich um dessen Teleologie
willen regeln, und auch hier sehr häufig mittels des Zwanges, den das
Zentrum der Persönlichkeit auf peripherische Einzelimpulse ausübt.
Das Recht besteht hier in
der Form des Lebens, so überindividuell dies sei, es ist - in extremem
Ausdruck dieser Intention - eine immanente Vornahme der Lebensteleologie
in der Reihe ihrer Technik; von da erst tritt es in die Form der Idee,
ohne dass sich in dem Phänomen etwas zu ändern braucht: nur dass vorher
die Gerechtigkeit gut war, insoweit sie dem Leben diente, jetzt aber das
Leben gut ist, insoweit es der Gerechtigkeit dient. -
Auf sittlichem Gebiet fällt
der Kantische Unterschied zwischen dem hypothetischen und dem
kategorischen Imperativ eigentlich genau mit dem hier Gemeinten zusammen.
Was Kant die subjektive,
innerlich noch sittlichkeitsfremde Triebfeder nennt, ist gerade das, was
ich hier als Moment der vitalen Teleologie anspreche: der naturhafte
Trieb, einem Maximum empirischer Lebenserfüllung zustrebend, Mittel an
Mittel bauend, von denen viele dem äußerlich praktischen Anspruch der
Moral völlig genügen.
Dass nach gewissen
Moralisten »das wohlverstandene Eigeninteresse« mit Sittlichkeit
identisch ist, drückt dies in Vollendung aus.
Dass aber die Sittlichkeit
als Idee noch nicht realisiert wird, wenn das Pflichtmäßige in der Weise
geschieht, dass der Lebensverlauf von sich aus die außerdem auch pflichtmäßigen
Handlungen erzeugt, sondern erst wenn die Pflicht von sich aus und als
einzige Instanz den Lebensverlauf bestimmt - damit hat Kant die hier
behandelte Wendung in ihrem ganzen Radikalismus ausgesprochen.
Eine Zustimmung zu seiner
Fassung des Pflichtbegriffs und zu der Wertexklusivität seines Moralismus
ist damit nicht gegeben.
Vor allem aber tritt in die
Kantische Erwägung das vermittelnde Moment nicht ein, auf das es mir hier
ankommt: als ein bloßer Zufall und fremdes Nebeneinander erscheint es
ihm, dass innerhalb der subjektiv-vitalen Zweckmäßigkeit Handlungen
auftreten, die der Tatsache nach sittlich richtig sind.
Diese Sinnlosigkeit unserer
Verfassung aber, die ihrem Bilde bei Kant einen tief pessimistischen Zug
gibt, möchte ich nicht zugeben.
Gewiss sind die
Motivierungen in beiden Fällen voneinander schlechthin verschieden.
Allein sie sind, über alle
Zufälligkeit im einzelnen hinweg, prinzipiell dadurch verbunden, dass das
Leben aus seinen eigenen teleologischen Notwendigkeiten heraus die
Handlungsformen zustande bringt, um die, als Achse gleichsam, das Leben
gedreht zu werden braucht, damit jene Formen als alleinherrschende Idee
dastehen und das Leben und seinen Wert von sich aus bestimmen.
Kant glaubte die
Absolutheit der ideellen Bestimmung gegenüber der Relativität der
vitalen nur durch die völlige Zufälligkeit ihres Verhältnisses retten
zu können.
Allein gerade hierin liegt
ein gewisser Mangel an letztem Zutrauen zu jener Absolutheit.
Ist man ihrer ganz und gar
sicher und legt man sie wirklich in die letzte Innerlichkeit der Gesinnung
hinein, so leidet sie in keiner Weise dadurch, dass das Leben die von ihr
bestimmten Verhaltungsweisen schon - vorher oder zugleich - aus seinen
relativen Zusammenhängen heraus erzeugt hat, und dass empirisch und
psychologisch sogar gleitende Übergänge zwischen beiden Motivierungen
dieser Verhaltungsweisen bestehen.
Die Religion endlich macht
dem einmal darauf eingestellten Blick ihre Vorformen unverkennlich.
Von der dornigen Frage nach
dem »Wesen« der Religion kann ich hier absehen.
Nur dies muss feststehen,
dass Religion unter allen Umständen ein Verhalten des Menschen ist -
gleichviel welchem metaphysischen Zusammenhang es angehört und wie es auf
Transzendentes gerichtet und von ihm bestimmt sei.
Tatsächlich gibt es nun
unzählige, teils innerseelische, teils interindividuelle Lebensverhältnisse,
die unmittelbar von sich aus religiösen Charakter haben, ohne im
geringsten von einer vorbestehenden Religion bedingt oder bestimmt zu
sein; das Wort »religiös« kann auf sie nur angewendet werden, indem man
von einer sonst gewussten Religion auf sie zurücksieht und an ihnen, die
in sich nicht religiös, sondern rein vital gestimmt sind, die nun religiös
zu nennende Charakterisierung empfindet.
Wenn wir im empirischen
Leben an einen Menschen »glauben«; wenn wir im Verhältnis zum Vaterland
oder zur Menschheit, zu dem »höheren« oder dem geliebten Menschen die
eigenartige Mischung oder Spannung von Demut und Erhebung, von Hingabe und
Begehren, von Abstand und Verschmelzung erleben; wenn wir uns eigentlich
immer zugleich preisgegeben und gesichert, abhängig und verantwortlich
wissen, wenn dunkle Sehnsüchte und ein Ungenügen an allem Einzelnen uns
von Tag zu Tage treibt - so erhebt sich nun Religion, indem diese Zustände
und Affekte sich von ihrem irdischen veranlassenden Stoffe lösen,
gewissermaßen absolut werden und von sich aus ihren absoluten Gegenstand
schaffen.
Gewiss geschieht auch dies
psychologisch in unmerklichen Übergängen, schließlich und wesentlich
aber ist Gott »die Liebe selbst«, er ist der schlechthinnige Gegenstand
von Glaube und Sehnsucht, von Hoffnung und Abhängigkeit, er ist nicht ein
Etwas, mit dem wir eins zu werden und in dem wir zu ruhen begehren,
sondern indem diese Leidenschaften, vom Irdischen her gesehen,
gegenstandslos geworden, ins Unendliche ausstrahlen, nennen wir ihren
Gegenstand und das Absolute, auf das sie hinstrahlen - Gott.
Vollkommener vielleicht als
irgendwo hat sich hier die Drehung um die Formen vollzogen, die das Leben
in sich erzeugt, um seinen Inhalten unmittelbar Zusammenhang und Wärme,
Tiefe und Wert zu geben.
Nun aber sind sie stark
genug geworden, um sich von diesen Inhalten nicht mehr bestimmen zu
lassen, sondern das Leben von sich aus ganz rein zu bestimmen; nur der von
ihnen selbst gestaltete, ihrem nun nicht mehr begrenzten Maß
entsprechende Gegenstand kann jetzt die Führung des Lebens übernehmen.
Dass die Götter nur
Verabsolutierungen der empirischen Relativitäten sind, ist solange eine
aufklärerische Banalität, als es ein Urteil über das Wesen des Göttlichen
selbst vorstellen soll.
Fragt man aber nach dem
Wege des Menschen zu Gott - insoweit er in der menschlich religiösen
Ebene verläuft - so ist sein entscheidender Wendepunkt allerdings das
Losreißen jener Formungen des innersten Lebens von ihren teleologisch
relativen Inhalten, ihr Absolutwerten; der Gegenstand, den sie sich in
diesem reinen Selbst-Sein schaffen, kann selbst nur ein absoluter, die
Idee des Absoluten sein.
Die Frage nach seinem Sein
und seinen geglaubten Bestimmungen bleibt dahingestellt, ebenso wie die,
ob nicht etwa solche einzelnen Bestimmungen noch Reste sind, die jene
Formen aus ihren empirischen Zusammenhängen mitschleppen und von denen
sie das Reich ihrer sich selbst gehörenden Idealität noch nicht befreien
konnten.
Die Erörterung dieser
Reihen soll nicht etwa zeigen, dass das entscheidende Prinzip sie alle in
genau umschriebener Gleichheit beherrscht.
Jede Reihe hat vielmehr
eine gleichsam organische Einheit, in der der formale Grundvorgang durch
seinen Inhalt in dessen eigene differenzielle Charakterisiertheit
hineingezogen ist.
Sie besitzen untereinander
nur das besondere Verhältnis der »Ähnlichkeit«, das sich nicht aus
einem Quantum Gleichheit und einem Quantum Ungleichheit zusammensetzen lässt,
sondern sui generis ist.
Nur der abstrakten
Reflexion ist der schlecht deckende Ausdruck unvermeidlich, als wäre das
Motiv des Umschlags vital erzeugter Formen in das ideale Gebiet ein
konstanter Faktor, der sich mechanisch mit allen möglichen
Entwicklungsinhalten kombinierte.
Der letzte Sinn dieses
Motivs, an seinem weitestgreifenden Fall aufgesucht, ist die Herstellung
eines organischen Verhältnisses zwischen Psychologie und Logik.
Dass dies so wenig durch
den Psychologismus wie von dem Eigenbezirk der Logik her zu gewinnen ist,
steht jetzt wohl gleichmäßig fest, ebenso freilich, dass die
gegenseitige Zufälligkeit beider Bezirke nicht auf die Dauer zu ertragen
ist.
Ich kann hier keinen
anderen Ausweg als einen metaphysischen sehen, von dem ich - seine
prinzipielle Darstellung vorbehalten - für den jetzigen Zusammenhang nur
dies andeute.
Wie das Leben auf seiner
physiologischen Stufe ein fortwährendes Erzeugen ist, so dass, mit
komprimierteren Ausdruck, Leben immer Mehr-Leben ist - so erzeugt es auf
der Stufe des Geistes etwas, das Mehr-als-Leben ist: das Objektive, das
Gebilde, das in sich Bedeutsame und Gültige.
Diese Steigerung des Lebens
über sich hinaus ist nicht ein zu ihm Hinzukommendes, sondern ist sein
eigenes unmittelbares Wesen selbst; insoweit es dies offenbart, nennen wir
es eben geistiges Leben, wird es, jenseits alles
Subjektiv-Psychologischen, selbst etwas Objektives und entwickelt aus sich
Objektives.
Es braucht dazu nicht in
ein anderes Reich zu greifen (was so wie so keine Erklärung wäre und das
Rätsel, wie diese Inhalte in den subjektiven Geist eingehen und wieder
aus ihm herauskommen sollten, bestehen ließe): vielmehr, das
Transzendieren ist dem Leben selbst immanent.
An anderer Stelle ist das
Verhältnis zum Kantischen Idealismus auseinander zusetzen, der die
Objektivität nur durch Formung des Subjektiven gewinnt, also prinzipiell
über dieses nicht hinauskommt, der außerdem nur die fertigen
Wissenschaftsergebnisse analysiert, aber nach den lebendigen Kräften,
durch die es überhaupt die Objektivität der Wissenschaft gibt, nicht
fragt.
Hier soll nur der
Grundgedanke berührt werden: dass das schöpferische Leben (in
Fortsetzung des zeugenden Lebens) fortwährend über sich selbst
hinausgeht, dass es selbst sein Anderes vor sich hinstellt und diese
Objektivität dadurch als sein Geschöpf, dadurch als mit ihm einen
Wachstumszusammenhang bildend erweist, dass es ihre Bedeutungen, Folgen,
Normierungen wieder in sich einbezieht und sich nach dem gestaltet, was
von ihm selbst gestaltet worden ist.
Was an diesem Drehpunkt
steht, nennen wir eben Objektivität, die dem Subjekt transzendent und
nichts weniger als eine bloße Verkleidung seiner ist.
Beides vielmehr sind, als
Gegebenheiten, Stadien der Entwicklung des Lebens, sobald es geistiges
Leben geworden ist, das freilich durch das eine hindurch geht, um das
andere zu erreichen, in der Rückwirkung dieses auf jenes aber seine
Einheit zeigt.
In relativistischem Prozess
erhebt sich über das subjektiv psychologische Geschehen die von ihm unabhängige
objektive Gestalt und Wahrheit, Norm und Absolutheit - bis auch sie wieder
als subjektiv erkannt wird, weil eine höhere Objektivität entwickelt
ist, und so fort in die Unabsehlichkeit des Kulturprozesses.
Freilich liegt hierin auch
dessen ganze Tragik, die Tragik des Geistes überhaupt: dass das Leben
sich an den Gebilden, die es als starr objektive aus sich herausgesetzt
hat, oft wund stößt, keinen Zugang zu ihnen findet, den Forderungen, die
es in ihrer Gestalt entwickelt, in seiner subjektiven Gestalt nicht genügt.
Das eben ist der
schmerzliche Beweis, dass es sich hier um wahre Objektivität, in jedem
ihr abzuverlangenden Sinne, handelt und keineswegs um eine
Psychologisierung ihrer.
Was ich hier vorlegte, sind
nur einige Fälle des Objektivwerdens des Lebens, die Aufweisung einiger
Punkte, an denen es das erzeugt, was ihm gegenübersteht und an dessen an
sich seiender, vom realen Leben unabhängiger Bedeutung der metaphysische,
nicht der psychologische Charakter des schöpferischen Lebens sichtbar
wird.
In der logischen Formung
und dem sprachlichen Ausdruck der Erörterungen selbst suchte ich die
Einwebung dieses metaphysischen Motivs zu vermeiden, von dem Wunsche aus,
dass sie auch bei dessen Ablehnung nicht ganz ohne Ertrag bleiben mögen. |