Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
presents: Georg Simmel Online

  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online Georg Simmel: Verschiedene Schriften

 

Georg Simmel: Gestalter und Schöpfer

ex: Der Tag, Nr. 74, 10. Februar 1916, Ausgabe A, Morgenausgabe, Illustrierter Teil, Nr. 34 (Berlin)

Die Leistungen der Geistesgeschichte werden von einem Gegensatz durchzogen, den man als Schöpfertum und Gestaltertum bezeichnen kann.

Bei einer gewissen Ausspannung der Begriffe zwar gibt es jenseits der reinen Nachahmungen kein Menschenwerk, das nicht gleichzeitig gestaltend und schöpferisch wäre.

Wie es uns nicht gegeben ist, körperliche Substanz zu erschaffen, alles äußere Tun vielmehr gegebene physische Elemente umlagert, umformt, so gibt es auch kein geistiges Tun und Wirken, das nicht die Gegebenheit irgendwelcher geistiger Materialien voraussetzte.

Andererseits aber ist die noch nicht da gewesene, jedenfalls die aus der Eigenkraft des Individuums erfolgte Umgestaltung oder Weiterbildung des Gegebenen doch ein Schöpfertum, in all solchem Wirken liegt ein Element, durch das alles Vorgefundene und Überlieferte um ein gewisses Maß vermehrt wird, und das mit diesem Vorgefundenen und Überlieferten, von ihm weitergebildeten, die Einheit des Werkes ausmacht.

Diese eigentümliche Kombination macht den Menschen zum historischen Wesen.

Das Tier wiederholt schlechthin, was seine Gattung von je und je getan hat; gerade deshalb fängt jedes Individuum von vorn an, da, wo auch dessen Vorfahren angefangen haben.

Der Mensch, gerade weil er nicht nur wiederholt, sondern Neues schafft, kann nicht jedes Mal von neuem anfangen, sondern braucht ein gegebenes Material, gegebene Antezedenzien, auf Grund derer sich seine Leistung als Neuformung vollzieht.

Wir würden nicht historische Wesen sein, wenn wir absolut schöpferisch wären, unser Wirken schlechthin Neues schüfe - damit wären wir sozusagen überhistorisch - noch wenn wir ohne Schöpfertum uns absolut an das Gegebene und etwa seine nur mechanische Umstellung, seine Umformung im engsten Sinne hielten.

Historisch aber nennen wir eine Existenz, die zwar Neues und erst ihr Eigenes schafft, aber auf Grund und als Fortbildung, Formgebung eines schon Vorhandenen und Überlieferten - die organische Synthese von Schöpfertum und Gestaltertum, die wir leben.

Diese allgemeine einheitliche Grundlage anerkennend, dürfen wir nun doch innerhalb der Produktivität menschlicher Individualitäten die wesentlich gestaltenden von den wesentlich schöpferischen scheiden - so schwer es sein mag, die Scheidung nach objektiven Kriterien zu vollziehen.

Vielleicht sind solche Kriterien überhaupt nicht auffindbar, sondern man kann nur durch Hinweis auf einzelne Beispiele den einen und den anderen Charakter klarlegen.

Sieht man Volksindividualitäten daraufhin an, so ist gar kein Zweifel, dass die klassisch griechische als eine gestaltende gelten muss - womit selbstverständlich an das unvergleichlich schöpferische Genie ihrer Geistigkeit nicht gerührt, sondern nur dessen besondere Äußerungsart charakterisiert werden soll.

Von der indischen, wie von vielen späteren westeuropäischen Spekulationen hat man den Eindruck, dass sie sich in den Grund der Dinge einbohren und aus ihm eine neue Welt wachsen lassen wollen, die dann freilich mit der gegebenen Welt übereinstimmen soll.

Dem Griechen aber ist die gegebene Welt der unverlierbare Stoff, in dessen gedanklicher und künstlerischer Formung sich sein geistiges Bemühen erschöpft.

Dabei braucht er weder Empirist noch Naturalist zu sein, denn er begnügt sich keineswegs mit der gegebenen Welt, sie ist ihm die Materie, die ulh, die er gedanklich und künstlerisch formt, damit sie seinem allbeherrschenden Bedürfnis nach anschaulicher Geschlossenheit und in sich harmonischer Vernunft entspräche.

Im Gegensatz aber zu der Souveränität nicht nur, sondern verächtlichen und verneinenden Unbekümmertheit gegen das Gegebene, mit der die hieratische Kunst Ostasiens und Ägyptens ihre Phantasiegebilde hinsetzt, bleibt der Grieche immer der Sohn der Erde, und dies nicht allein, weil die Gegebenheit der nie ganz verlassene Stoff seiner formenden Tätigkeit ist, sondern weil das nun Geformte selbst in das Gegebene hineingestellt wird, selbst den Charakter einer Begebenheit tragen soll.

Die platonischen Ideen, ebenso logische Bedeutung wie fordernde Norm des Irdischen, bilden doch eine überhimmlische Welt, die die Seele in ihrer vorirdischen Existenz als eine gegebene schaut, um von ihr aus das Irdische denkerisch und praktisch zu gestalten.

Selbst der Liebesaffekt ist für Plato keine eigentliche Spontaneität der Seele, sondern entsteht, indem das irdisch Gegebene an das im Ideenreich gegebene Urbild der Schönheit erinnert.

Die Sehnsucht der klassisch-griechischen Denker oder vielmehr ihr unerschütterlich dogmatisches Zentrum ist das Sein, die feste, in sich ruhende Substanz.

Unter dieser Voraussetzung versteht es sich, dass ihre schöpferische Tätigkeit eben nur Formgebung sein kann.

Und selbst ihre dramatische Poesie offenbart diesen Zug, wenn sie sich die immer neue Aus- und Umformung der immer gleichen überlieferten Sagenstoffe zur Aufgabe macht.

Darum kennt ihr Drama auch keine eigentliche Schuld.

Das Tragische ist ihnen die Gegebenheit: dass der Mensch so und so ist, dies und dies tut oder leidet - und das Problem ist nur, wie seine Kraft und sein Ethos dieses Gegebene formt, und wie der Dichter es zum Gebilde macht.

In den uferlosen, unplastischen Grund der niemals »gegebenen« Freiheit, aus dem die Schuld unmittelbar hervorgeht, steigen sie nicht herab.

Das Freiheitsproblem ist ihnen überhaupt nicht in seiner Tiefe aufgegangen, weil sie allenthalben auf dem Boden des Seins und der gegebenen Welt stehen, die der Geist durch Formung bestimmt.

So viele und höchst schöpferische Kraft nun auch diese Formung voraussetzt, so kann man doch eine andere Wesensart im spezifischen Sinne schöpferisch nennen, diejenige, deren produktive Kraft Stoffe und Formen ihrer Gebilde in engerer Einheit hervorbringt.

Man möchte mit einer gewissen Paradoxie sagen: aus dem Nichts -, weil man hier eben nicht wie bei den klassischen Gebilden eine vorbestehende Gegebenheit fühlt, über die jetzt erst die neue schaffende Form kommt.

Natürlich ist in jenem Falle das Hineinnehmen gegebener Daseinsstücke nicht ausgeschlossen, so wenig wie die Naturtreue des Kunstwerkes: der Unterschied des geistigen Wollens, der Intention, wird davon nicht berührt.

Ebenso versteht es sich von selbst, dass kein historisches Wesen die absolute, begrifflich reine Verkörperung der einen Seite ist, dass nicht nur Übergänge und Mischungen, sondern auch Fraglichkeiten und Mehrdeutigkeiten in der Zuweisung an die eine und die andere bestehen und oft eine Unentschiedenheit oder Versöhnung zwischen ihnen zeigen, von der sie als Prinzipien nichts wissen.

Sie stoßen aber auch - und das ist besonders belehrend - in einzelnen Individuen zu Hemmung und Kampf zusammen.

Michelangelo war gewiss der vollkommenste Typus des Schöpfers: die von seinen Gestalten bevölkerte Welt ist ausschließlich in seinem Geiste erwachsen.

Allein er formte sie nach den Normen der klassischen Tradition, und diese übten den Zwang, an dem das Ungestüm seiner Schöpferkraft sich fortwährend brach, in dem es sich, zu tragischem Konflikt, eingeengt fühlte: die klassische Formgebung legte ihm ein ihm im Innersten fremdes Gesetz auf, nicht nur weil er eine gotische Seele war, sondern prinzipiell, weil diese Formen überhaupt den eminenten Ton einer vorbestehenden Gesetzlichkeit tragen, der der Freiheit des Schöpfertums widerspricht.

Die Kraft seines Genies hat den Werken dennoch Einheit errungen.

Denn wie Frieden eine Einheitsform heterogener Elemente ist, so ist es auch der Kampf.

Was man von je an Michelangelos Gestalten empfunden hat: dass die Gewalt einer von innen vorbrechenden Leidenschaft gegen die Strenge der Form anringt, dass eine an sich formlose Dynamik in den Bann klassischer Gesetzlichkeit des Umrisses gestellt wird, und dass als Einheit des Ganzen der Moment der Machtgleichheit der Parteien erfasst ist - dies ist, auf das Subjekt hin angesehen, nichts anderes als die gleichzeitige Herrschaft des antagonistischen Paares: Schöpfertum und Gestaltertum.

Raffael aber lässt von diesem Dualismus nichts spüren.

Von vornherein ist sein Problem die Umformung des Gegebenen in eine Welt des Schönen, deren Ungestörtheit von undurchbrechlichen, weil selbstverständlichen Gesetzen gewährleistet ist; die einzelnen Gestalten erscheinen wie aus den allgemeinen Formprinzipien entwickelt, wie im logischen Schluss sich aus zwei allgemeinen Vordersätzen ein determinierterer Schlusssatz ergibt.

Das Schöpfertum nun, in dem angedeuteten engeren Sinne, entzieht sich der analytischen Beschreibung mehr als das Gestaltertum.

Denn sein Erzeugnis hat nicht angebbare Elemente, aus denen es erwüchse, sondern steigt als unmittelbare Einheit aus dem tiefsten, zeugenden Grund der Persönlichkeit auf.

Hier ist kein Gesetz irgendwelcher vorbestehender Formen, das über eine gegebene Welt käme (mögen diese Formen ihrerseits auch erst vom Geist erzeugt sein), kein dunkler allgemeiner Grund der Dinge, den die Gestaltung erst zur Klarheit und Vernünftigkeit brächte - wie dies in der Klassik der Antike, der Renaissance und auch Goethes vorliegt.

Hier spricht vielmehr das Leben in dem absoluten Sinne, in dem es nicht mehr in irgendeinem Gegensatz zur Form steht, sondern als Sein selbst, mit seiner nur diesem verhafteten, nicht ablösbaren Form entspringt.

Bei den größten Vertretern dieses Typus, bei Shakespeare und Rembrandt sehen wir die Gebilde nicht durch einen Sinn oder eine Form hindurch, die sich jenseits dieser individuellen Verwirklichung ausdrücken ließe.

Othello als Verkörperung der Eifersucht oder Macbeth als die des Ehrgeizes anzusehen, wäre nicht sinniger als dass der Turm des Straßburger Münsters dazu da wäre, das abstrakte geometrische Dreieck zu verkörpern.

Nicht von Shakespeare und Rembrandt als Persönlichkeiten her gesehen oder als Ausdruck ihrer Werthöhe, sondern um der immanenten Art ihrer Gebilde willen, muss man sie als Schöpfer im Gegensatz zu den Gestaltern charakterisieren.

Man mag hier, nur zu verdeutlichendem Symbol, die verschiedenen Vorstellungen über die göttliche Macht heranziehen.

Man stellt sich diese einerseits als die schlechthin schöpferische vor: die Substanz des Daseins wie seine Formen und Schicksale sind durch Schöpfertat Gottes aus dem Nichts entsprungen.

Da nun aber dieses Entstehen aus dem Nichts dem Denken eine kaum überwindliche Schwierigkeit bietet, so setzt man andererseits das substanzielle Sein als ein von Ewigkeit bestehendes, an dem die göttliche Macht die Formung zu der gegebenen Welt vollzöge.

Dort ist die unmittelbare Existenz des ganzen Daseins, in dem sich Stoff und Form überhaupt nicht scheiden, der Beweis für ein göttliches Schöpfertum, weil diese Existenz doch eine absolute Ursache fordert - hier weisen die Gesetzlichkeit und Zweckmäßigkeit, die Schönheiten und Harmonien des Weltbaues auf einen Baumeister hin, der den rohen, bloß daseienden Stoff so sinnvoll geformt habe.

Dies sind ersichtlich die religiösen Verabsolutierungen des Gegensatzes, der hier für das Kunstgebiet in Frage steht.

Wenn man nun das Schöpfertum in diesem bestimmten Sinne erfasst, so scheint dies historisch mehr dem germanischen Geist zu eignen; womit freilich begreiflich wird, dass dieser für die anders gerichtete Sinnesart manchmal etwas Unförmiges, ja Stilloses hat, da ja Stil immer ein formal Allgemeines ist, das der realen Einzelheit das Gesetz ihrer Erscheinung auferlegt.

Und zugleich begreifen wir damit einen der Gründe, aus denen das germanische Wesen dem Außenstehenden unzugängig ist.

Denn ersichtlich erleichtern allgemeine Formen des Tuns und Bildens das Eindringen in die Gebilde.

Der Punkt, an dem der rembrandtisch-germanische Individualitätssinn sich mit seinem Schöpfertum tief verbindet, liegt in der Ablehnung der allgemein gültigen - oder was dasselbe ist, für sich gültigen - Form.

Dass Shakespeare und Rembrandt den klassizistisch gerichteten Zeiten vielfach als Barbaren erschienen, ist die künstlerische - und als solche den Grundgegensatz ebenso heraushebende wie doch auch mildernde und versöhnende - Metamorphose eines fundamental germanischen Zuges, der auf den Fremden unleugbar als eine gewisse Ungeschicklichkeit und Formlosigkeit wirkt; auf den Mangel an jenen allgemeinen Formen, die gewissermaßen als Brücke zu der einzelnen Realität funktionieren können, gründet sich jene Einsamkeit und Schwerzugängigkeit des germanischen Geistes, die sich in seinem Verhältnis zu der übrigen Kulturwelt immer von neuem erweist.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
Andreasstr. 15 
8050 Zürich 
Tel. ++41 55 2444012