Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Einheit und Zwiespalt - Zeitgemässes in Goethes Weltanschauung

ex: Berliner Tageblatt, 44. Jg, Nr. 570, 7. November 1915, Morgen-Ausgabe, 2. Beiblatt

Die Erfahrungen dieses Krieges, in denen sich die tiefste Niedergeschlagenheit über den Wahn von Völkern und die sinnlose Vernichtung unersetzlicher Werte mit der Ehrfurcht vor unerhörten Heldentaten, vor ungeahnten Erhebungen und Vertiefungen des Lebens zusammenfindet - haben, wie wohl selten eine Zeit, täglich das alte Weltproblem vor unsere Seele gerückt: dass die Wirklichkeit des Daseins, in ihrer naturhaften Notwendigkeit, auf der einen Seite, und der Wert, der Sinn, die wir den Dingen abverlangen und die sie für uns existenzwürdig machen, auf der anderen, ein ganz zufälliges Verhältnis zueinander zu haben scheinen.

Völlig prinziplos sozusagen verwirklichen die natürlichen und geschichtlichen Kräfte das Gute und das Böse, das Schöne und das Hässliche, das Vernünftige und das Widersinnige.

Die tiefsten Bemühungen des Geistes aber gehen dahin, diesen Zufall, diese Prinzipienlosigkeit zu überwinden, das Dasein von irgendeinem Punkte her so zu verstehen, es in ein geschaffenes Gebilde so aufzufangen, dass von einer inneren Notwendigkeit her Wirklichkeit und Wert zur Einheit verbunden erscheinen.

Darf man die letzte Absicht des Goetheschen Denkens überhaupt in eine einzelne Formel fassen, so ist es diese, die er einmal in den Satz fasst: »Ich glaube einen Gott: das ist ein schönes und löbliches Wort. Aber Gott anerkennen, wie und wo er sich offenbare, das ist die eigentliche Seligkeit auf Erden.«

Dass er den Wert, die Idee, den Sinn, das Absolute, oder wie man das Göttliche über dem Dasein auch benennen mag, in dem Dasein selbst offenbart sah - das eben hatte ihm die Natur mitgegeben, hatte es ihm gegeben, weil sein Künstlertum, über das bloß künstlerische Gestalten hinausgreifend, ihm die Welt in unerhörter Weite und Breite deutete.

Denn auf der Voraussetzung, dass Wirklichkeit und Wert nicht prinzipiell auseinander klaffen, sondern dass eine tiefe Einheit beider an dem einzelnen Werk nur eine besonders überzeugende Deutlichkeit gewinne - darauf steht die Existenz jedes Künstlers.

Sie würde leer und sinnlos sein, wäre er nicht überzeugt, dass die Schönheit und Bedeutsamkeit, die die Erscheinung unter seinen Händen annimmt, kein äußeres Hinzufügesel ist, sondern die eigentliche Wahrheit, das von allen Verfälschungen befreite Wesen dieser Wirklichkeit anspricht.

Darin liegt die Symbolik jedes großen Kunstwerkes: dass es uns ein Pfand für jene Einheit der Welt ist, die der Zufall unmittelbarer Erfahrungen in ihre Wirklichkeit und ihren Wert zerreißt.

Jedoch diese Einheit war für Goethe kein jederzeit sicherer Besitz.

Nachdem seine Jugend, bis zu Weimar, sie einerseits als eine naive Leidenschaft für die Natur, andererseits als eine Ungestörtheit seines dichterischen Lebens besessen hatte, spannte das Weimarer Leben ihm Wirklichkeit und Wert immer weiter gegeneinander: immer verworrener und sinnloser erschien ihm der Kleinkram und die Hässlichkeit dieses Lebens, immer steriler fühlte er sich als Dichter, immer mehr spiegelte sich diese Spaltung seines Weltbildes in einer Uneinheitlichkeit seines eigenen Wesens und Lebens.

Man kann wohl sagen, dass ihm erst hier die Wirklichkeit in ihrer ganzen Substantialität, ihrer wertfremden Härte, ihrer Eigengesetzlichkeit entgegentrat.

Indem ihm damit die Möglichkeit, die tiefsten Bedürfnisse seiner Natur an irgend einem Geschauten, einem Wirklichen, befriedigt zu finden, immer hoffnungsloser fernrückte, - entstand jene fürchterliche Spannung seines ganzen Wesens, zu deren Lösung ihm sein glücklicher Instinkt die italienische, die klassische Welt anbot.

(Ich entnehme diese und einige weitere Formulierungen meinem Buche: Goethe. 1913 - [In: GSG 15]) Dort nun belehrte ihn eine erfahrene Wirklichkeit und eine zur Kunst erhobene Wahrheit, dass die ideellen Werte des Lebens nicht außerhalb des Lebens selbst zu stehen brauchen, wie »der gräuliche Tag hinten im Norden« sie ihm schließlich zu zeigen schien.

In dieser Einheit von Wirklichkeit und Wert, von Natur und Idee liegt die Einheit, die Goethe in der Natur selbst, für sich allein betrachtet, empfand und deren Durchführung sein ganzes naturwissenschaftliches Bemühen galt.

Denn im Gegensatz zu aller mechanistischen Ansicht, die das Dasein analytisch in Stücke spaltet, um es aus diesen wieder zusammenzusetzen - wobei denn die Nähte niemals ganz verwachsen - erscheint ihm die Natur als ein Leben, der Organismus ist ihm das Symbol der Welt.

Wie das Lebendige, so ist ihm die Welt nicht Eins, sondern immer ein Vieles; und wie das Lebendige, so ist ihm die Welt die Einheit dieses Vielen, das Leben jedes Teiles nicht anders als das in ihm sich vollziehende Leben des Ganzen.

Dass kein Teil in isolierender Abschnürung lebt, sondern jeder aus dem Ganzen heraus; dass die Natur im kleinen genau dasselbe tut wie im großen; dass die Erkenntnis, die ihr Objekt zerstückelt, von vornherein irrig sei - alles dies und unzähliges anderes zeugte von seiner tiefen Gewissheit, dass die Gesamtheit des Naturgeschehens ein großes einheitliches Leben ist, zusammengehalten und innerlich bewegt von der göttlichen Kraft, die »sich in Natur, Natur in sich hegt«.

Wird diese Einheit aber davon getragen, dass der Wert, der göttliche Sinn oder die Idee der Erscheinung innewohnt, so dass die Natur für den, der zu sehen versteht, die Idee nackt vor Augen stellt - so begegnen uns, namentlich in Goethes späteren Jahren, manche Äußerungen, die an Stelle des Zusammengehörens der beiden Weltprinzipien (denn unter ganz verschiedenen Namen sind es immer dieselben), eine deutliche Entzweitheit setzt: »Kein organisches Wesen ist ganz der Idee, die zugrunde liegt, entsprechend.« Ganz spät sagt er, dass er die Natur keineswegs »in allen ihren Äußerungen schön« finde; sie habe eben nicht immer die Bedingungen, »ihre Intentionen« vollkommen zur Erscheinung zu bringen.

Die Natur ist zwar in Gott gehegt, aber dennoch ist das göttliche Prinzip in der Erscheinung »bedrängt«, dennoch können Taten »ohne Gott« geschehen; und die Idee »tritt immer als ein fremder Gast in die Erscheinung«.

»Zwischen Idee und Erfahrung scheint eine gewisse Kluft befestigt, die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich bemüht«.

Über Byrons griechisches Unternehmen und seinen Tod sagt er: »Es ist aber das Unglück, dass so ideenreiche Geister ihr Ideal durchaus verwirklichen wollen.

Das geht nun einmal nicht, das Ideal und die gemeine Wirklichkeit müssen streng geschieden bleiben.« Neben dem letzten und eigentlich absoluten Prinzip des Goetheschen Weltbildes: der Einheit der Pole des »ewig Einen, das sich vielfach offenbart«, der »Ruh in Gott dem Herrn«, die alles Drängen, Irren, Spalten zusammenschließt, der »göttlichen Kraft, die überall entwickelt, der ewigen Liebe, die überall wirksam« ist - neben diesem steht ein dualistisches Prinzip, das jenem gegenüber einigermaßen im Dunkeln bleibt und sich nur in solchen einzelnen Äußerungen über die Unstimmigkeit zwischen Idee und erfahrbarer Wirklichkeit verrät.

Er hat die Empfindung eines dumpfen Widerstandes der realen Welt, der wir selbst zugehören, gegen das Höhere und Absolute, von dem sie selbst doch ihren ganzen Inhalt und Wert zu Lehen trägt.

Ein das Dasein durchziehender Dualismus von Wirklichkeit und Wert also steht in Goethes Weltanschauung neben der alle Mannigfaltigkeit zusammenfassenden, zusammenlebenden Einheit.

Und man muss in ein höheres Stockwerk der Gedanken aufsteigen, um hier keinen unbegreiflichen Riss bestehen zu lassen.

Für Goethe lebt alles reale und ideelle Dasein in der Form der Polarität, jede Einheit spaltet sich in Gegensätze, ruft Gegensätze hervor, in einem unendlichen Prozess löst Entzweiung und Vereinheitlichung einander ab.

Und dies eben ist die einheitliche Formel des Weltgeschehens.

Wie die Gegensätze der Dinge nicht starr nebeneinander liegen, sondern gerade durch ihre Wechselwirkung eine lebendige Einheit formen, so hebt sich dies Prinzip auf die höchste allgemeinste Stufe, indem die Einheit der Dinge und die Entzweitheit der Dinge selbst wieder ein solches Gegensatzpaar bilden, zusammenwirken zur Einheit in einem nun absoluten Sinne; vorher hatte sie nur den relativen, in dem ihr noch die Entzweitheit als ihr Gegenpart gegenübersteht.

Hier handelt es sich um den Schlussstein, zu dem die Seiten des Goetheschen Weltbaus aufstreben.

Ihm genügt nicht die gewöhnliche Entscheidung, die auf eine Seite der großen Wertgegensätze unseres Lebens den alleinigen Akzent fallen lässt: auf das Wahre gegenüber dem Irrtum, das Geistige gegenüber dem Sinnlichen, das Gute gegenüber dem Bösen.

Zu weit ist sein Blick, sein Weltempfinden, als dass er auch das scheinbar Negative vom Wertsinn des Daseins ausschließen könnte.

Er bringt einen unerhört tiefen Wahrheitsbegriff auf, der das Wahre und das Falsche in dem gewöhnlichen empirischen Sinne umfasst, indem Wahrheit letzter Instanz für ihn erst dasjenige ist, was das Leben fördert und fruchtbar macht.

Er schließt das Sinnliche, obgleich es auf niederer Stufe dem Vernünftig-Geistigen entgegengesetzt sein mag, mit diesem zu einem Leben zusammen, das geistig im weitesten Wortsinne ist.

Über das Gute und das Böse, so polar sie zueinander stehen mögen, erhebt sich ihm Begriff oder Ahnung eines vollkommenen Seins, in das auch das, was wir im relativen Sinne böse nennen, als unentbehrlich, ja als »Fördernis des Heiligen« eingeschmolzen ist.

Und so nun schließen Einheit und Entzweitheit in ihrer unmittelbaren Bedeutung gewiss einander aus; aber eben deshalb bedürfen sie einander und bilden erst zusammen die letzte Einheit des Weltgedankens, die nun die Entzweitheit nicht mehr sich gegenüber, sondern als ihren eigenen Pendelschlag, ihr eigenes Lebensmoment in sich hat.

Solange man die doppelte Bedeutung von Einheit in Goethes Weltbild nicht erfasst hat, wird dieses immer mit einer problematischen Unversöhntheit behaftet scheinen: indem alles Dasein von der durchflutenden Idee, Wert, göttlichem Leben zur Einheit zusammengehalten wird und diese doch in einem dauernd fühlbaren Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Wert, zwischen Erfahrung und Idee auseinander bricht.

Erst wenn man über jenem relativen Sinn der Einheit, mit dem sie noch die Gegnerin des dualistischen Prinzips ist, ihren absoluten Sinn erblickt, als dessen Pulsierung nur diese Gegnerschaft erscheint - erst dann hat man ein Recht, von der Einheit und Harmonie der Goetheschen Weltanschauung zu sprechen.

Das tiefste Erlebnis aber der Einheitlichkeit des Seins, die kein Element aus ihrem Leben und ihren Gesetzen herauslässt, kam ihm ersichtlich aus dem Gefühl seiner eigenen Harmonie, seiner eigenen Verwurzelung mit dem Leben des Kosmos.

Es hat wohl unter den großen Menschen wenige gegeben, die ihre eigene Existenz als so Eines mit der Natur, der »guten Mutter«, fühlten; dass ihm der Kern der Natur »Menschen im Herzen« lag, war nur ein Ausdruck dafür, dass das Menschenherz, sein Menschenherz, im Kern der Natur lag.

Das »Gesetz, nach dem er angetreten«, stand in geheimnisvoller Harmonie mit den kosmischen Gesetzen; mit deutlicher Beziehung auf sich selbst konnte er deshalb sagen: »Der Mensch erlangt die Gewissheit seines eigenen Wesens dadurch, dass er das Wesen außer ihm als seinesgleichen anerkennt.«

Der sozusagen praktische Erweis davon war es, dass er sich den produktiven Impulsen und Notwendigkeiten, wie sie rein aus der Entwicklung seines innersten Lebens quollen, mit einer unerhörten Subjektivität überlassen konnte und dabei sicher war und sein durfte, das objektiv Wertvolle, den Normen der Sache Angemessene zu schaffen: die bloße Wirklichkeit seines schöpferischen Lebens führte von selbst auf Wert und Bedeutung.

Aus dieser tiefen Verwandtschaft mit dem Kosmos erwächst sein eigenes inneres Wesen; was sich dann natürlich so darstellt, dass dessen Struktur ihm die Art an die Hand gegeben habe, wie er den Kosmos deutet.

Tatsächlich bietet auch sein subjektives Leben jenes Pendeln zwischen Zwiespalt und Einheit, das gerade die Form ist, in der sein übergreifendes, einheitlich quellendes Leben sich entfaltet.

Viel mehr, als es im allgemeinen bekannt ist, war Goethes Leben innerlich entzweit und pulsierte zwischen leidenschaftlich entgegengesetzten Extremen.

Nicht nur, dass in seinen jüngeren Jahren ein Freund über ihn sagt: »Wie oft sah ich ihn schmelzend und wütend in einer Viertelstunde« und dass das »Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt«, die Formel seines jugendlichen Lebens war, das er selbst als ein »liebendes« bezeichnet - auch die eigentümlichen Paare seiner männlichen Helden stellen ersichtlich gleichzeitig vorhandene Gegensätzlichkeiten seiner eigenen Natur dar: Götz und Weißlingen, Egmont und Oranien, Tasso und Antonio, ja sogar Faust und Mephisto und manche andere.

Immer aber wechselt mit der Herrschaft der Gegensätzlichkeit wieder Einheit ab.

Von der Philosophie sagt er einmal, auf der Höhe seines Lebens, sie lehre ihn mehr und mehr sich von sich selbst zu scheiden, er könne das aber um so eher, »als meine Natur, wie getrennte Quecksilberkügelchen sich so leicht und schnell wieder vereinigt«.

Aber Einheit und Entzweiung in ihrem gegensätzlichen Sinne sind hier nur wie Ein- und Ausatmen, mit deren entgegengesetzten Bewegungen sich ein einheitliches Leben vollzieht - ein Leben, das gewissermaßen zu weit und zu mächtig ist, um sich nur einer dieser Parteien dauernd zu verhaften.

Wie ein solches Weltbild harmonischer war, als vielleicht irgendeines, das wir kennen, weil es keine Dissonanz draußen ließ, sondern sie alle, ohne sie in ihrem Gegensinn gegen die Harmonie abzuschwächen, doch in deren absoluten Sinn hineinzog - so war sein Leben von unerhörter Harmonie, nicht, wie mit populärer Oberflächlichkeit vorgestellt wird, weil er alles Widersprechende, Schmerzhaft-Zerreißende, kühl abgelehnt und dem Kunstwerk eines Lebens ferngehalten hätte; diese Vorstellung des Olympiers Goethe ist ein Märchen und eine Verfälschung.

Auch sein subjektives Leben hatte jene höchste Einheit, die die Entzweitheit nicht ausschließt, sondern einschließt, fast möchte man sagen: die mit keinem Einzelbegriff zu benennende Kraftströmung dieses Lebens stand jenseits des Gegensatzes von Einheit und Entzweitheit.

Aber an dies letzte Geheimnis des Lebens kann man nur von fern rühren.

Nur das Ineinandergreifen der Funktionen, mit dem diese Einheit sich gewissermaßen darlegt, kann man vielleicht andeuten.

Goethes Existenz wird durch das glücklichste Gleichgewicht der drei Richtungen unserer Kräfte charakterisiert, deren mannigfaltige Proportionen die Grundform jedes Lebens abgeben: der aufnehmenden, der verarbeitenden, der sich äußernden.

In diesem dreifachen Verhältnis steht der Mensch zur Welt: zentripetale Strömungen, das Äußere dem Inneren vermittelnd, führen die Welt als Stoff und Anregung in ihn ein, zentrale Bewegungen formen das so Erhaltene zu einem geistigen Leben und lassen das Äußere zu unserem Ichbesitz werden, zentrifugale Tätigkeiten entladen die Kräfte und Inhalte des Ich wieder in die Welt hinein.

Beachtet man nun, wie sehr das Übergewicht einer dieser Richtungen die anderen und die Gesamtheit des Lebens irritiert, so möchte man ihre wundervolle Ausgeglichenheit in Goethes Natur als den Ausdruck für deren Schönheit und Kraft ansehen.

Er hat innerlich sozusagen niemals vom Kapital gezehrt, sondern seine geistige Tätigkeit war fortwährend von der aufnehmenden Hinwendung zur Wirklichkeit genährt; seine inneren Bewegungen haben sich nie gegenseitig aufgerieben, sondern seine ungeheure Fähigkeit, sich nach außen hin handelnd und redend auszudrücken, verschaffte jeder die Entladung, in der sie sich völlig ausleben konnte: in diesem Sinne hat er es so dankbar hervorgehoben, dass ihm ein Gott gegeben hat zu sagen, was er leide.

Noch mehr aus dem Mittelpunkt heraus mag es sich so darstellen.

So viel Subjektives, Momentanes, Launisches man in seinem Leben, ja in seinem Werk finden mag, man hat doch immer das Gefühl, dass das ganze Leben nie sein Übergewicht über den gerade an der Oberfläche befindlichen Teil verloren hat.

Dass er in jedem Augenblick als Ganzer in seiner Äußerung lebt, das gibt dieser die wundervolle Temperierung.

Was man als seine Kühle angesehen hat, ist nichts als dieses Aufwiegen des Einzelnen durch die Ganzheit des Lebens (und deshalb musste es mit dem Mehr-werden dieses Lebens immer zunehmen).

Im großen und ganzen mindestens besaß er diese menschliche Vollendung: er konnte sich ganz hingeben, ganz hingerissen werden, ohne damit aus seinem Zentrum gerückt zu werden.

Die absolute Festigkeit und Sinnsicherheit seines tiefsten Lebens und die »Proteusnatur«, die sich täglich wandelte - unter diesen Synthesen spürt man eine gemeinsame große Lebensformel, die sich nicht unmittelbar, sondern nur in derartig gleichsam provinziellen Äußerungen ergreifen lässt.

Sehen wir von dem hiermit erreichten Punkte, an dem die Verfassung der Goetheschen Seele ihre unlösliche Verwehung mit seiner Weltdeutung offenbart, auf den Beginn dieser Gedankenreihe zurück.

Diese Reihe, obgleich aus der geschichtlichen Persönlichkeit Goethe entwickelt, ist ihrem Sinne nach doch zeitlos, jenem Bezirk ewiger Ideen angehörig, aus dem sich das geschichtlich geistige Leben der Menschheit speist.

Und so gegenwärtig, so zeitlich bedingt das Erlebnis ist, das uns jetzt Stunde um Stunde erfüllt, so liegt seine eigentliche Bedeutung doch in dem Ideengehalt, zu dessen Vollstreckern sich, bewusst oder unbewusst, die Kräfte dieser Gegenwart machen.

Wir alle sind überzeugt, dass Wahnsinn und Verbrechen diesen Krieg entzündet haben; und wenn uns nun die Aufgabe Zufällt, diesen Widersinn zum Sinn zu gestalten, ein erneuertes, reineres, verinnerlichtes Deutschland, ja vielleicht Europa aus ihm heraus zu gewinnen - was anderes ist es, als eine Verwirklichung jener Goetheschen Weltformel: dass die Zerrissenheit, der Gegenwert, der leidvoll sinnlose Widerspruch, dass alle Gegensätze zu Harmonie und Einheit doch ein geheimnisvolles Zusammen mit eben diesen Werten bilden? Dass, wo immer das Leben Wirklichkeit und Wert auseinander führt, ein letzter und mächtigster Sinn seiner auch diesen Gegensatz zu seinen unmittelbaren Erwünschtheiten umgreift, dass schließlich in Zerstören und Erhalten, im Leben und im Tode der Individuen, ja in Sinn und Widersinn die große Einheit des Weltlebens flutet? In keiner Weise ist damit ein »versöhnlicher Schluss« gemeint, der die erlebten Leiden und Furchtbarkeiten milderte; von ihrer grauenvollen Krassheit ist nichts abzuhandeln.

Gerade bis zu dieser äußersten Weite müssen die Wertkontraste schwingen, damit die Größe und Tiefe der Lebenseinheit, die all dieses trägt, deren Pulsschlag all dieses ist, geahnt werde.

Diese Einheit ist auch nichts Friedliches, Ideales, Wundenheilendes, denn sie steht auch über diesem Pol des Gegensatzes.

Sie ist das göttliche Leben des Weltganzen, das wir, mit Goethes Worten zu reden, nur »schweigend verehren« können.

Unser, die wir in die Ebene er Gegensätze des Daseins hineingestellt sind, ist die Aufgabe, die die Gegenwart unbedingter als je gemacht hat: gegen den Wahnwitz den Sinn zu stellen und zu verwirklichen, gegen die Vernichtung der Werte ihre Rettung, gegen die Wunden das Heil und gegen das Unrecht das Recht.


 

Editorial:

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