Georg Simmel:
Das Verhältnis von Leben und Schaffen bei Goethe
ex: Der
Tag. Moderne illustrierte Zeitung Nr. 150, Morgenblatt vom 22. März 1912,
Illustrierter Teil Nr. 69,S. 1-3 und Nr. 152, Morgenblatt vom 23. März
1912, Illustrierter Teil Nr. 70, S. 1-2 (Berlin)
Indem die Kultur aus dem bloß
triebhaften Leben im beständigere Inhalte, eine Welt objektiver Gebilde
und Forderungen entwickelt, stellt sie uns in einen Dualismus, den wir in,
ziemlich einseitiger Weise zu entscheiden pflegen.
Der eine Typus der Durchschnittsnaturen
lebt ein nur subjektives Leben, der Inhalt jedes Momentes ist nichts
anderes als die Brücke zwischen dem vorangehenden und dem nachfolgenden
Moment des Lebensprozesses und bleibt in diesem befangen.
Der andere Typus will gerade nur
Objektives leisten, gleichgültig, um welchen Preis des eigenen Lebens und
mit welchem Ertrage dafür; aller Wertakzent der Arbeit verbleibt in deren
rein sachlichen Normierungen.
Jene kommen, in der Intention ihres
Lebens, nie über sich hinaus, diese nie zu sich zurück, sie schaffen
sozusagen nicht aus sich, sondern aus einer unpersönlichen Ordnung der
Dinge heraus.
Es ist nun das Wesen des Genies, die
organische Einheit dieser wie mechanisch auseinanderliegenden Elemente
darzustellen.
Der Lebensprozess des Genies vollzieht
sich nach dessen innersten, ihm allein eigenen Notwendigkeiten - aber die
Inhalte und Ergebnisse, die er erzeugt, sind von der sachlichen Bedeutung,
als hätten nur die objektiven Forderungen der Sache sie hervorgebracht.
Dadurch wird Goethe zum Typus des
Genies, dass in ihm, vielleicht mehr als in irgendeinem andern Menschen,
das subjektive Leben wie selbstverständlich in der objektiv wertvollen
Produktion in Kunst, Erkennen, praktischem Verhalten ausmündete.
Diese Erzeugung von an sich wertvollen
Inhalten des Lebens aus dem unmittelbaren, nur sich selbst gehorsamen
Prozess des Lebens selbst, begründet Goethes tiefe Abneigung gegen alles
bloß »Verstandesmäßige«; denn das eigentliche Absehen des
Rationalismus ist, umgekehrt das Leben aus den Inhalten zu entwickeln,
erst aus ihnen ihm Kraft und Recht zuzuleiten - weil er dem Leben selbst
nicht traut.
Das tiefe Zutrauen zum Leben, das überall
in Goethe zu Worte kommt, ist nur der Ausdruck jener genialischen
Grundformel seiner Existenz.
Gewiss war er einer der »sachlichsten«
Menschen, die es je gegeben hat.
Allein dies war die Bestimmung seiner
Natur selbst und durchaus damit verträglich, dass ihm bei seinem Schaffen
die zweckhafte Überlegung der »Sachmenschen«: was dabei herauskommen
werde-ganz fern war.
Noch in seinem 37. Jahre spricht er
davon, »der Betrachtung der Dinge« »sein ganzes Leben zu widmen« - »ohne
mich im mindesten zu bekümmern, wie weit ich kommen werde, und was mir
zugeschnitten ist«.
Dies eben bezeichnet den Menschen,
dessen Leben nur Entwicklung aus dem inneren Zentrum heraus ist, nur
bestimmt durch die Kräfte und Notwendigkeiten seiner selbst, und bei dem
das fertige Werk nur das von selbst sich ergebende Produkt, aber nicht der
Zweck ist, der das Tun von sich abhängig machte.
Er konnte sich der instinktiven
Sicherheit seines Lebensprozesses mit dieser Einfachheit und
Selbstgenugsamkeit überlassen, weil sein Sein die Überzeugung in sich
trug, dass er eben damit das objektiv Rechte und Wertvolle erzeuge.
Dass ihm jene »Zweckmäßigkeit«, die
die Sachmenschen als ihren Ruhm empfinden, ganz fern lag, gehört gewiss
zu den letzten Motiven, aus denen er auch der Natur gegenüber alle
teleologische Betrachtung vermied.
Wenn er von der Natur sagt, sie »wäre
zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und hätte es auch nicht nötig« - so
gilt dies auch für ihn selbst -, welches alles natürlich nur ganz
prinzipiell und übersingulär verstanden werden will.
Vielleicht das reinste Phänomen dieses
entscheidenden Lebenssinnes ist in seinen merkwürdigen Äußerungen über
Beruf und Liebhabertum zu finden.
»Nur nichts als Profession getrieben!
Das ist mir zuwider. - Ich will alles, was ich kann, spielend treiben, was
mir eben kommt und solange die Lust daran währt. So hab' ich in meiner
Jugend gespielt, unbewusst; so will ich's bewusst fortsetzen durch mein übriges
Leben.« (1807) Und:
»Was willst du, dass von deiner
Gesinnung Man dir nach ins Ewige sende?« Er gehörte zu keiner Innung, Blieb Liebhaber bis ans Ende.
Nichts kann paradoxer scheinen als
dieses Sicheinstellen auf t Liebhaberei und Spiel bei dem Menschen, der
den Dilettantismus mit leidenschaftlichem Hass verfolgt und dauernd
betont, wie sauer er sich's im Leben habe werden lassen, wie er gearbeitet
habe, wo man sonst jedem zu ruhen vergönnt, wie ihm z. B. in den fünfzig
Jahren seines geognostischen Studiums kein Berg zu hoch, kein Schacht zu
tief, kein Stollen zu niedrig gewesen wäre.
An dem Schnittpunkt dieser
gegeneinanderstehenden Bekenntnisse muss Goethes Wesen ergriffen werden.
Die Abneigung gegen Profession und »Innung«
ist nichts weniger als ein extremer Individualismus (da er im Gegenteil
auf Zusammenwirksamkeiten drängt und das »Monologisieren« der Forscher
beklagt); sie gilt vielmehr dem Bestimmtsein der Lebensarbeit von einem
fixierten, ideell vorbestehenden Inhalte her.
Das Liebhabertum und das Spielen
bedeutet nichts anderes, als dass die Lebensenergien sich in voller Unabhängigkeit
von all solchem Äußeren auswirken sollen.
Es ist im Sinne Schillers: der Mensch
sei erst da ganz Mensch, wo er spielt - d. h. im Spiele, als formalem
Prinzip, habe der Mensch alle von der Sache als solcher herkommenden
Determinierungen abgetan, es drängt ihn nicht mehr die schwere Fremdheit
sachlicher Ordnungen, sondern wohin er gelangt, wird durch sein ausschließlich
eigenes Wollen und Können bestimmt.
In diesem Sinne eben war die
ununterbrochene mühselige Arbeit Goethes ein Spielen; der tiefe Ernst
seines Wirkens, die Hingegebenheit an den Gegenstand, das Überwinden
fortwährender Schwierigkeiten - alles wohnt seinem Lebensprozess selbst
ein, wie er sich, aus sich selbst und durch seine eigenen Wurzelkräfte
vorwärts gedrängt, entwickelt.
Die Vollendung des Werks, die die
meisten Menschen nur um den Preis einer Entselbstung, an der Hand einer
von jenseits ihres Lebens herkommenden Regulative erreichen, war für ihn
das selbstverständliche, keiner Antizipation bedürftige Fruchtbringen
eines Reifeprozesses, der nur in sich vollkommen zu sein brauchte, damit
auch die Frucht es sei.
Daraus erklärt sich auch das ungeheure
Quantum seiner Arbeitsleistung, das ihn doch, wenn ich nicht irre, niemals
über eigentliche Überarbeitung klagen lässt.
Weil er sich seine Aufgaben in allen
Hauptsachen aus seiner inneren Notwendigkeit und Entwicklung heraus
stellte, waren auch die Kräfte für sie immer verfügbar, und umgekehrt,
er konnte sich für jede verfügbare Kraft eine Aufgabe stellen.
Dem modernen Menschen reißt jene von
Goethe so gehasste »Professionsmäßigkeit« unzählige Male die Aufgabe
und die Kraftrichtung auseinander.
Die steigende Objektivierung des Lebens
fordert Leistungen von uns, deren Maß und Folge eine eigene, dem Subjekt
jenseitige Logik besitzt, und damit wird diesem ein mühseligerer,
subjektiv unzweckmäßigerer Kraftaufwand abverlangt.
Das Gefühl des modernen Menschen wird
begreiflich: er habe nicht genug gearbeitet, wenn er nicht zu viel
gearbeitet hätte - denn tatsächlich arbeitet er bei dieser Konstellation
subjektiv zu viel, weil er die Lücken seiner Spontaneität mit bewusster
Anstrengung füllen muss, um der anders orientierten Objektivität zu genügen;
während andererseits manche seiner Möglichkeiten und Kräfte keinen
Auswirkungsbereich finden.
Dass in den Lebensintentionen so vieler
gegenwärtiger Menschen eine rationalistische, ja bureaukratische
Reguliertheit und eine anarchische Formlosigkeit unorganisch verwachsen,
geht letzten Endes auf diese Entzweiung zwischen der subjektiven und der
objektiven Bedingtheit des Tuns zurück - während aus ihrer Einheit
heraus Goethe eine sozusagen pausenlose und intensivste Arbeit »spielend«
vollbrachte.
Hier liegt das - dem Maße nach -
Einzige dieser Existenz: dass die Inhalte ihres Wirkens an jedem Punkt ein
Einheitliches sind, mag man sie von der Seite des Lebensprozesses und als
dessen natürliche Ergebnisse betrachten, oder von der ideellen Ordnung
her, unter die sie als Sachgehalte gehören.
Sind diese beiden Bedeutungen der
geistigen Inhalte getrennt, so bekommt deren Produktion leicht etwas
Mechanisches, indem sie mehr ein aus vorbestehenden Teilen
Zusammengesetztes, als ein lebendig Gewachsenes zu sein scheint.
Goethe selbst hat diesen Unterschied,
und zwar ersichtlich in lebhaftem Selbstbewusstsein, empfunden.
Es muss, sagt er, beim Dichter und allen
eigentlichen Künstlern »ihre innere produktive Kraft jene Nachbilder,
die im Organ, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurückgebliebenen
Idole freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen, lebendig hervortun.
Sie müssen sich entfalten, wachsen,
sich ausdehnen und zusammenziehen, um aus flüchtigen Schemen wahrhaft
gegenständliche Wesen zu werden.
Je größer das Talent, desto
entschiedener bildet sich gleich anfangs das zu produzierende Bild.
Man sehe Zeichnungen von Raffael,
Michelangelo, wo auf der Stelle ein strenger Umriss das, was dargestellt
werden soll, vom Grunde loslöst und körperlich einfasst.
Dagegen werden spätere, obgleich
treffliche Künstler auf einer Art von Tasten ertappt; es ist öfters, als
wenn sie erst durch leichte, aber gleichgültige Züge aufs Papier ein
Element schaffen wollen, woraus nachher Kopf und Haar, Gestalt und Gewand
sich bilden solle.« Er charakterisiert damit sehr gut den Mangel jener
Einheit, in der die Elemente der Produktion ihre Sonderwirklichkeit gegenüber
dem von innen quellenden Schöpfertum aufgeben.
Wer herumprobiert, ob sich die Sache aus
der Skizze bilden wolle, ob diese von selbst allmählich ein Bild hergebe,
der erwartet das Produkt von einer äußeren, wenn auch ideellen Fügung
her, es ist nicht in demselben Sinn und Maß sein Gebilde, wie das des
eigentlichen Schöpfers, in dem es sich nach dem Gesetz und durch die
selbstverantwortlichen Kräfte des reinen Innern erbaut.
Diese Konstellation seines Wirkens
machte es ihm sozusagen irrelevant, welchen Gegenstand er damit ergriff.
Wer seiner Lebenseinheit mit der Idee
der Dinge sicher ist, dem wird leicht jeder Inhalt seines Wirkens mit
jedem anderen äquivalent sein, da das im tiefsten Wesentliche: dass der
Ausdruck des Seins sich in dem Ausleben des Ichs realisiert - an einem
jeden gelingt.
Darum kann er zu Eckermann äußern: »Ich
habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen, und es
ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte
oder Schüsseln.« Aber in welchem Sinne symbolisch? Was wird durch sein
Wirken und Leisten symbolisiert? Gewiss ein letzter, unaussprechlicher
Sinn der Dinge; aber doch ebenso auch das Persönlich-Innerlichste, die
reine Dynamik seines Lebens.
Das Werk, wie es als konkreter Inhalt
dasteht, ist nur ein Zeichen dieser tiefsten Lebendigkeit, ihres Rhythmus
und ihrer Schicksale.
Eine Äußerung Werthers kann wohl,
trotz des dazwischenliegenden halben Jahrhunderts, wegen der merkwürdigen
Gleichheit des Ausdrucks, die Deutung jener Worte bestätigen: »Meine
Mutter möchte mich gern in Aktivität haben.
Bin ich jetzt nicht auch aktiv? Und
ist's im Grunde nicht einerlei, ob ich Erbsen zähle oder Linsen? - Ein
Mensch, der um anderer willen, ohne dass es sein eigenes Bedürfnis ist,
sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor.« Nun
ist freilich jeglichem menschlichen Werkinhalt diese Doppelbestimmung
eigen: was als unser Werk dasteht, kann auf der einen Seite als Gleichnis
höherer, geahnter Werte gelten und hierin sein eigentliches Wesen und
Recht finden; auf der anderen Seite ist es Zeichen und Erweis des inneren
Lebens, zwar vielleicht nur, wie wir die Kontinuität eines Laufes mit den
Punkten markieren, an denen wir sein jeweiliges Vorgedrungensein gleichsam
erstarren lassen, oder wie das Meer seinen Schaum am Ufer ablegt,
Erzeugnis und Zeugnis seiner Wellen, deren Form und Kraft es freilich in
sich zurücknimmt.
Diese zweifache Symbolik, die um alles
Menschenwerk ist, hat Goethe aber vollkommener offenbart, als es anderen
gelingen will, weil in seinem Sein und Tun ihre beiden, sonst
gegeneinander zufälligen Seiten wie in einer notwendigen Einheit
erwachsen.
Dass die Produktivität nach dem eigenen
Gesetz und Trieb bei Goethe die vollkommenste Angemessenheit zur Welt
besitzt, das zeigt sich, psychologisch, von der ungeheuren
Assimilationskraft seines Wesens gegenüber allem Gegebenen getragen:
Diese Schaffensenergie, die ununterbrochen aus dem einheitlichen Quell der
Persönlichkeit heraus zeugte, nährte sich ebenso ununterbrochen aus der
Wirklichkeit um sie herum.
Seine Geistigkeit muss dem ganz gesunden
physischen Organismus analog gewesen sein, der die Nahrungsmittel bis ins
letzte ausnutzt, das Unverwendbare störungslos ausscheidet, das Zurückbehaltene
dem Lebenskreislauf wie selbstverständlich einverleibt.
Darum gehören bei ihm die polaren
Erscheinungen durchaus zusammen: dass er einerseits Dinge und Ideen, aus
denen er das ihm Gemäße gesogen hatte, mit Entschiedenheit aus seinem
Leben entließ - »sobald ich eine Sache einmal durchgesprochen habe«,
schreibt er an Schiller, »ist sie auf eine ganze Zeit für mich wie
abgetan«; dass er sich andererseits bewusst war, all sein Schaffen sei
gleichsam nur ein Hindurchgehen der Dinge durch seinen Geist, ihr Eingehen
in dessen Form.
In dieser Tiefe wurzelt seine bekannte
Äußerung alle seine Gedichte seien Gelegenheitsgedichte, sie seien durch
die Wirklichkeit angeregt und hätten in ihr Grund und Boden; von
Gedichten, aus der Luft gegriffen, halte er nichts.
In dieser Eckermannschen Überlieferung
klingt der Satz etwas philiströs und nicht eben tief.
Aber er offenbart nun doch jene letzte
Wesenseinheit und Angemessenheit zwischen der Wirklichkeit und seinem
produktiven Leben; das Erleben der Welt setzte sich ihm gleichsam ohne
Energieverlust in Schaffen um.
Bei den so begnadeten Menschen wird
gleichsam der göttliche Schöpfungsprozess rückläufig: wie in ihm die
Schöpferkraft zur Welt wird, so wird bei jenen die Welt zur Schöpferkraft.
Darum war es begreiflich, dass ihm sein
Schöpfertum durch das Erleben der Welt bedingt erschien.
Und die Einheit von Wirklichkeit und
geistigem Wirken ließ ihn den Grund dieser Bedingtheit darin finden, dass
die Wirklichkeit den Geist enthielte und man ihn nur herauszuholen
brauchte.
Von den vielen dahin gerichteten Äußerungen
nenne ich nur die besonders entschiedene: »Das Benutzen der Erlebnisse
ist mir immer alles gewesen; das Erfinden aus der Luft war nie meine
Sache, ich habe die Welt stets für genialer gehalten als mein Genie.«
Und nur, dass alledem jenes Einheitsgefühl zum Grunde lag, macht genau
gegenteilige Äußerungen begreiflich, die tatsächlich nur die gleiche
Einheit von der anderen Seite sehen: »Die Kunst, wie sie sich im höchsten
Künstler darstellt, erschafft eine so gewaltsam lebendige Form, dass sie
jeden Stoff veredelt und verwandelt.
Ja, es ist daher dem vortrefflichen Künstler
ein würdiges Substrat gewissermaßen im Wege, weil es ihm die Hände
bindet und ihm die Freiheit verkümmert, in der er sich als Bildner und
Individuum zu ergehen Lust hat.«
Er leistet also der naturalistischen
Modelltheorie keinen Vorschub, in deren Nähe seine Erlebnistheorie leicht
und bedenklich rückt.
Es ist ein Irrtum ersten Ranges, zu
meinen, dass nur das geringste für das Verständnis einer dichterischen
Gestalt damit gewonnen wäre, wenn man ihr Modell aufzeigt - das
bestenfalls nur das eine benennbare Erfahrungselement aus den Tausenden
ist, die zu der Gestalt beigetragen haben, und die, auch wenn man sie alle
aufzählen könnte, die dichterische Gestaltung, um derentwillen man sich
überhaupt auch um jene kümmert, mit keinem Atom berühren würden.
Schließlich ist es die »Milieu«-Theorie
mit all ihrer Grobheit und Äußerlichkeit, die in der Überschätzung des
Modells als Erklärungsgrund des Kunstwerks zu Worte kommt.
Immer soll durch ein von außen
Kommendes und sich mechanisch in das Innere Übertragendes die Produktivität
dieses Innern erklärt oder vielmehr ersetzt werden.
Wenn man nun neuerdings in dem »Erlebnis«
die Quelle des Kunstwerks findet, so ist damit die Herleitung aus Milieu
und Modell keineswegs grundsätzlich verlassen, sondern nur
subjektivischer, verfeinerter geworden.
Denn auch aus dem Erlebnis wächst
unmittelbar keine Überleitung zu der künstlerischen Spontaneität.
Im Verhältnis zu ihr ist auch das
Erlebnis etwas Äußeres - mag sich auch beides im Umfang des Ich
abspielen.
Es bedarf viel tieferer Bestimmungen, um
das Begreifen des Kunstwerks aus Gegebenheit und Erlebnis in der Weise,
auf die Goethe hindeutet, zu rechtfertigen.
Diese Möglichkeit liegt darin, dass der
Lebensprozess mit seinem beharrenden Charakter, Intention und Rhythmus als
die gemeinsame Voraussetzung und Formgebung sowohl für das Erleben wie für
das Schaffen wirkt.
Es gibt vielleicht eine – für jedes
Individuum andere - allgemeinste, nicht in Begriffe zu fassende
Wesensformel, nach der seine seelischen Vorgänge sich bestimmen: das
Hineinnehmen der Welt in das Ich im Erlebnis und ebenso das Hinausgeben
des Ich in die Welt im Schöpfertum.
Dass ein solches typisches Gesetz des
individuellen Lebens dessen gesamte Phänomene beherrsche, scheint Goethe
sehr früh bemerkt zu haben; er schreibt 1780 in sein Tagebuch: »Ich muss
den Zirkel, der sich in mir umdreht, von guten und bösen Tagen näher
bemerken, Leidenschaften, Anhänglichkeit, Trieb, dies oder jenes zu tun.
Erfindung, Ausführung, Ordnung, alles
wechselt und hält einen regelmäßigen Kreis, Heiterkeit, Trübe, Stärke,
Elastizität, Schwäche, Gelassenheit, Begier ebenso.« In dem Maße nun,
in dem diese fundamentale Wesensbewegtheit selbst schon den Charakter überwiegender
Spontaneität und künstlerischen Gestaltens trägt - in eben dem wird
auch schon das Erlebnis von vornherein und in der Art seines Erlebtwerdens
die Züge des Schöpfertums und der künstlerischen Werte an sich tragen.
Wo die Wurzelsäfte der Persönlichkeit,
von denen das Wirkliche assimiliert und zum Erlebnis gestaltet wird, künstlerisch
tingiert sind, da ist das Erlebnis sozusagen schon ein artistisches
Halbprodukt und seine prinzipielle Fremdheit gegen das Kunstwerk
aufgehoben.
Dies ist der Grund, weshalb so viele Künstler
von größter Stilisierungskraft und souveränster Umgestaltung des
Wirklichen aufrichtig überzeugt sind, nur treue Abschriften des
Natureindrucks, der unmittelbaren Erlebtheit, zu schaffen; und dies
unterscheidet den wirklichen Künstler von dem, der nur »Kunst macht«.
Denn dieser bringt an den ursprünglich
unter ganz anderen Kategorien erlebten Inhalt eine ihm irgendwie gegebene
Kunstform heran und gestaltet mechanisch jenen nach dieser, während doch
der künstlerische Organismus das Gebilde einheitlich-innerlich erwachsen
lässt.
Bei Goethe aber scheint dieser Prozess
sich mit einer so selbstverständlichen Unmittelbarkeit und Ungestörtheit
durch Kategorien anderer Richtung vollzogen zu haben, vor allem über eine
so weite Gesamtheit einer höchst differenzierten Existenz hin, wie bei
keiner uns sonst bekannten Erscheinung.
Dass er, auf den ersten Blick schwer
begreiflich, einen förmlich deskriptiven Naturalismus der Poesie verkündet,
geht einfach aus dem unvergleichlich hohen Maße hervor, in dem die künstlerische
Wesensform die Tatsachen seines Lebens durchdrang und zu seinen »Erlebnissen«
machte.
Sogar die Hingabe an das Erkennen und an
reine Wissenschaft war nicht imstande, die Herrschaft seiner künstlerischen
Kategorien in Weltbild und Erlebnis zu durchbrechen.
In diesem funktionellen Sinne der künstlerischen
Natur ist er vielleicht die größte, von der wir wissen.
Gewiss, wer seinen einzelnen Werken
gegenüber behaupten wollte: keines reiche an Wucht und Vollkommenheit an
die Orestie oder den Lear, an die Mediceergräber oder Rembrandts religiöse
Bilder, an die H-moll-Messe oder die 9. Symphonie - den wird man nicht
gerade widerlegen können.
Aber bei keinem anderen Künstler
reichte die organisierende Kraft des Künstlertums in die Einheit der Persönlichkeit
mit solcher Breite und so unbedingt formgebend hinab, dass ein so weiter
Kreis von Welt und Erlebnis durch sie gleichsam zu potentiellen
Kunstwerken erschaut und erlebt wurde.
Hierfür ist es nur der theoretische
Ausdruck, wenn er in seinen Kunstwerken nichts anderes als die gegebene
Realität auszusprechen meinte.
Sein Schaffen machte nur anschaulich,
was sein Lebensprozess schon bei der Empfängnis der Lebensinhalte geformt
hatte - vielleicht das größte und tiefste Beispiel, dass wir nicht nur
erkennend und genießend, sondern auch schaffend aus dem Leben nur nehmen,
was wir selbst hineingelegt haben; sein Schaffen schien ihm von dem
Erleben nicht getrennt, weil schon sein Erleben ein Schaffen war. |