Georg Simmel: Die Philosophie und die Jugend
ex: Zur Einführung in
das akademische Leben an der Universität Berlin, herausgegeben vom
Präsidium der Berliner Freien Studentenschaft, Berlin: Verlag und
Druckerei Freistudentischer Schriften, Oktober 1910, S. 14-15.
Wenn nicht die Zeichen trügen, bereitet sich in der Philosophie eine
grundsätzliche Wendung vor.
Wo immer die Philosophie versucht hat, die geistigen Tatsachen,
unsere Erkenntnis der Welt, die Wirklichkeit und den Wert des sittlichen
oder des ästhetischen Verhaltens in ein Bild zusammenzufassen und zu
deuten, tat sie es mit Hilfe festabgeschlossener Begriffe, aus denen ein
systematischer Bau zu errichten war.
Fast von jeher aber hat sich dem gegenüber ein Instinkt geregt,
dahin gehend, dass der eigentliche Kern und Sinn des Lebens sich diesen
starren Abstraktionen als ein ihnen im tiefsten Fremdes entzöge.
Es handelt sich nicht um das, was der äusserliche und ungeistige
Mensch die »Lebensfremdheit« der Philosophie nennt, womit er nur
meint, dass sie nicht die Banalitäten des Alltags naturalistisch
nachzeichnet, - was freilich nicht ihre Aufgabe ist.
Nicht das Leben mangelt ihr, das der Gegensatz zur metaphysischen
Erhebung, zum Übereinzelnen, zur Idee wäre, sondern das Leben, dessen
Bewegtheit und rastlose Produktivität sich nicht in die Starrheit und
Dürftigkeit von ein paar systematischen Begriffen will einfangen
lassen.
Die Irrigkeit oder die inneren Widersprüche der einzelnen
philosophischen Lehren würden noch nicht das Gefühl erzeugen, in das
gerade das neuerdings wieder lebhaft erwachte Bedürfnis nach
Philosophie häufig ausläuft: dass die Philosophie uns den wesentlichen
Fragen gegenüber im Stich lässt.
Wir empfinden wohl an den Imponderabilien, die die Werke der grossen
Denker durchziehen, wie tief das Dasein sie erschüttert hat, mit wie
viel Leiden und Leidenschaft sie sich einen Weg durch das Chaos der
Dinge, der Seele und der Schicksale gesucht haben.
Die Bilder der Wirklichkeit und der Werte, zu denen sie gelangten,
mögen ihnen selbst zwar Erlösung gewesen sein, weil sich für sie noch
die ganze Lebendigkeit der Produktion, des Suchens und Findens darin
spiegelte.
Uns andern aber, die wir nur das gleichsam kalt gewordene Gebilde
vorfinden, entfaltet es nur selten, vielleicht nur bei ähnlicher
Geistesanlage, das volle Mass des Lebens, von dessen Strömung es einst
getragen wurde.
Denn in dem Augenblick dieses Festwerdens in den logischen,
systematischen Formen verschliessen sich die Begriffe der Dynamik dieses
Lebens, so dass die Frage der Wahrheit oder des Irrtums hier gar nicht
angebracht ist, weil die innere Struktur des Ausdrucks und dessen, was
er ausdrücken soll, gegen einander fremd sind und sozusagen in zwei
einander gar nicht berührenden Ebenen liegen.
Es steht, wie gesagt, keine naturalistische Kopie der Lebensinhalte
in Frage, sondern dies: dass die Form des Lebens als solchen, sein
Charakter als Prozess, nicht diejenigen Beziehungen zu den
intellektuellen Begriffen der Philosophie hat, deren diese bedürften,
wenn sie die Fragen über Wesen und Wert, über Ablauf und Sinn des
Lebens beantworten sollten.
Ich lasse nun dahingestellt, ob die Begriffsbildung und Denktechnik,
die uns heute zu Gebote steht, diesen Fragen überhaupt gewachsen sind,
ob nicht vielleicht unser allgemeines Verhängnis, zu den höchsten
Problemen, aber nicht zu den höchsten Lösungen zu gelangen, sich auch
hier geltend macht.
Aber das wenigstens steht fest, dass in Deutschland und in Frankreich
- und, freilich in sehr fragwürdiger Art, auch in Nordamerika - zu
einer Umbildung des Denkens über die letzten philosophischen Probleme
gestrebt wird, die den Lebensprozess diesem Denken heimischer mache, und
zwar indem das Denken dem Lebensprozess enger verflochten wird.
Die Begriffe und das von ihnen getragene Weltbild sollen für das
Leben aufnahmefähiger werden, damit sie die diesem Leben entquellenden
Fragen aus einer tieferen Beziehung zu ihm, einer metaphysischen
Formverwandtschaft mit ihm heraus beantworten können.
Sicher bedürfen diese Versuche noch unzähliger Richtigstellungen
und Weiterentwicklungen.
Das aber kann man mit Sicherheit von ihnen sagen, dass sie dem
Wesensprinzip der Jugend als solcher näher stehen als die Denkweisen,
die sie zu ergänzen oder zu ersetzen streben; denn die Jugend gibt sich
dem Lebensprozess als solchem hin, der Dynamik seiner Funktion, während
das Alter, dem der Strom des Lebens langsamer fliesst, die Inhalte des
Lebens, das begrifflich Fixierbare, dominieren lässt.
Diese Tendenz des Alters hat die bisherige Philosophie sozusagen
objektiviert und zu extremer Reinheit gesteigert.
Mit den Ausnahmen deshalb, in denen jene modernen Bestrebungen
vorklingen, hat sie einen greisenhaften Zug gehabt.
Wenn diese Bestrebungen also das fliessende, kontinuierliche Leben in
die begriffliche Systematik, in die logische Kristallform der Inhalte
hineinleiten wollen, so dürfen sie hoffen, auch dem spezifischen
Lebensgefühl der Jugend näher zu rücken und ihm von innen her
verständlicher zu sein, als es der Mehrzahl der historischen
Philosophien gelungen ist.
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