Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit
ex: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom
19.-22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge von Georg
Simmel, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Werner Sombart, Alfred Ploetz,
Ernst Troeltsch, Eberhard Gothein, Andreas Voigt, Hermann Kantorowicz
und Debatten. (Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie I.
Serie: Verhandlungen der Deutschen Soziologentage. 1. Band) Tübingen:
Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 1-16
Der alte Streit um das Wesen der
Gesellschaft, in dem sie bald eine mystisch gesteigerte Bedeutung
besitzt, alles menschliche Leben gleichsam erst mit Wirklichkeit tränkend,
bald ein nur abstrakter Begriff sein soll, mit dem der Betrachter die
Realitäten der Einzelexistenzen nachträglich zusammenfasst, wie man Bäume
und Bäche, Häuser und Wiesen als »eine Landschaft« bezeichnet -
dieser Streit muss der Gesellschaft jedenfalls eine Realität in
doppeltem Sinne lassen.
Einmal die Individuen in ihrer
unmittelbaren sinnlichen Existenz, die Träger der
Vergesellschaftungsprozesse, die durch diese zu der höheren Einheit,
die man »eine Gesellschaft« nennt, zusammengeschlossen werden.
Und dann: die Interessen, die, in den
Individuen lebendig, solchen Zusammenschluss motivieren: ökonomische
und ideale Interessen, kriegerische und erotische, religiöse und
karitative.
Um solchen Trieben zu genügen, solche
Zwecke zu erreichen, erwachsen die unübersehbar mannigfaltigen Formen
des sozialen Lebens, all das Miteinander, Füreinander, Ineinander,
Gegeneinander, Durcheinander in Staat und Gemeinde, in Kirche und
Wirtschaftsgenossenschaft, in Familie und Vereinen.
Wie die Energiewirkungen, die die
Stoffteilchen auf einander ausüben, die Materie in die Formen bringen,
die wir als die Zahllosigkeit der einzelnen »Dinge« vorfinden, so
bewirken die Impulse und Interessen, die der Mensch in sich vorfindet,
und die ihn über sich hinaus zum andern drängen, all die
Vereinigungsformen, durch die aus einer bloßen Anzahl neben einander
bestehender Wesen jedes Mal eine »Gesellschaft« wird.
Innerhalb der so angedeuteten
Konstellation oder aus ihr heraus, entwickelt sich nun ein besonderes
soziologisches Gebilde, entsprechend jenen der Kunst und des Spieles,
die aus den geformten Wirklichkeiten ihre Form heraus ziehen und ihre
Wirklichkeit hinter sich lassen.
Es bleibe dahingestellt, ob der
Begriff des Spieltriebes oder Kunsttriebes einen wirklichen Erklärungswert
besitzt; jedenfalls weist er darauf hin, dass in jeder einzelnen
spielenden oder künstlerischen Betätigung ein von den Unterschieden
ihrer Inhalte nicht berührtes Allgemeines enthalten ist.
Irgend eine Gleichmäßigkeit der
Befriedigung liegt im gymnastischen Spiel wie im Kartenspiel, oder auch
in der Musik und der Plastik, die mit der Besonderheit der Musik als
solcher oder der Plastik als solcher nichts zu tun hat, sondern nur
damit, dass jedes von beiden Kunst oder jedes von jenen ersteren Spiel
ist.
Ein Gemeinsames, Gleichartiges an
seelischer Reaktion und seelischem Bedürfnis knüpft sich an all diese
Mannigfaltigkeiten, sehr wohl zu unterscheiden von dem speziellen
Interesse, das gerade ihren Verschiedenheiten gilt.
In dem gleichen Sinne nun kann man von
einem Geselligkeitstriebe der Menschen reden.
Sicherlich ist es der Erfolg
spezieller Notwendigkeiten und Interessen, wenn die Menschen sich in
Wirtschaftsvereinigungen oder Blutsbrüderschaften, in
Kultgenossenschaften oder Räuberbanden zusammentun.
Allein jenseits dieser besonderen
Inhalte werden alle diese Vergesellschaftungen von einem Gefühl dafür,
von einer Befriedigung daran begleitet, dass man eben vergesellschaftet
ist, dass die Einsamkeit des Individuums in ein Zusammen, eine
Vereinigung mit anderen aufgehoben ist.
Gewiss kann dieses Gefühl in
individuellen Fällen durch seelische Gegeninstanzen aufgehoben, die
Form der Vergesellschaftung kann als eine bloße leidige Notwendigkeit für
unsere sachlichen Zwecke empfunden werden.
Typischer Weise aber verwebt sich in
alle realen Veranlassungen zur Gesellschaftsbildung ein Gefühl für den
Wert der Gesellschaftsbildung als solcher, ein Trieb, der auf diese Form
der Existenz drängt und manchmal erst seinerseits jene realen Inhalte
herbeiruft, die die einzelne Vergesellschaftung tragen.
Und wie nun das, was ich den
Kunsttrieb nannte, aus den Ganzheiten der erscheinenden Dinge ihre Form
gleichsam herauszieht und zu einem besonderen, eben diesem Trieb
korrespondierenden Gebilde gestaltet, so löst der Geselligkeitstrieb
gleichsam in reiner Wirksamkeit aus den Realitäten des sozialen Lebens
die Form des Miteinander, des bloßen Gesellschaftsprozesses als einen
Wert und ein Glück heraus und konstituiert damit, was wir Geselligkeit
im engeren Sinne nennen.
Es ist kein bloßer Zufall des
Sprachgebrauchs, dass alle Geselligkeit, auch die ganz naturalistische,
wenn sie irgend welchen Sinn und Bestand haben soll, einen so großen
Wert auf die Form legt, auf die gute Form.
Denn Form ist gegenseitiges
Sich-Bestimmen, Wechselwirken der Elemente, wodurch sie eben eine
Einheit bilden; und da nun für die Geselligkeit die konkreten, an die
Zwecksetzungen des Lebens angeknüpften Motivierungen der
Vereinheitlichung in Wegfall kommen, so muss die reine Form, der
sozusagen freischwebende, wechselwirkende Zusammenhang der Individuen
umso stärker und mit umso größerer Wirksamkeit akzentuiert werden.
Und was die Kunst mit dem Spiele
verbindet, tritt an der Analogie beider mit der Geselligkeit hervor.
Der gegebenen Realität des Lebens
entnimmt das Spiel seine großen formalen Motive: das jagen und
Erlisten, die Bewährung der physischen und der geistigen Kraft, den
Wettbewerb und das Gestelltsein auf die Chance und die Gunst der
unbeeinflussbaren Lebensmächte.
Von der Materie entlastet, durch die
diese Bewegtheiten den Ernst des Lebens ausmachen, gewinnt das Spiel
seine Heiterkeit, aber auch jene symbolische Bedeutsamkeit, die es von
allem bloßen Spaß unterscheidet.
Und eben dies wird sich mehr und mehr
als das Wesen der Geselligkeit enthüllen: dass sie sich aus unzähligen
fundamentalen Formen der ernsthaften Beziehungen unter den Menschen
ihren Körper baut, dem zwar die Reibungswiderstände der Realität
erspart sind: aber aus seiner Formbeziehung zu dieser gewinnt die
Geselligkeit, je vollkommener sie gerade als Geselligkeit ist, auch für
den tieferen Menschen eine symbolisch spielende Fülle des Lebens und
eine Bedeutsamkeit, die ein oberflächlicher Rationalismus immer nur in
den konkreten Inhalten sucht; so dass er, da er diese hier nicht findet,
die Geselligkeit nur als eine hohle Läppischkeit abzutun weiß, jenem
Gelehrten analog, der einem Kunstwerk gegenüber fragte: Qu'est-ce que
cela prouve? Es ist doch nicht bedeutungslos, dass in vielen, vielleicht
in allen europäischen Sprachen Gesellschaft schlechthin eben das
gesellige Zusammensein bezeichnet.
Die staatliche, die wirtschaftende,
die durch irgend einen Zweckgedanken zusammengehaltene Gesellschaft ist
doch durchaus »Gesellschaft«.
Aber nur die gesellige ist eben »eine
Gesellschaft« ohne weiteren Zusatz, weil sie die reine, prinzipiell über
jeden spezifischen Inhalt erhobene Form all jener einseitig
charakterisierten »Gesellschaften« in einem gleichsam abstrakten, alle
Inhalte in das bloße Spiel der Form auflösenden Bilde darstellt.
Von den soziologischen Kategorien her
betrachtend, bezeichne ich also die Geselligkeit als die Spielform der
Vergesellschaftung und als - mutatis mutandis - zu deren
inhaltsbestimmter Konkretheit sich verhaltend, wie das Kunstwerk zur
Realität.
Es kommt zunächst das große, wenn
man will: das größte Problem der Gesellschaft innerhalb der
Geselligkeit zu einer nur innerhalb ihrer möglichen Lösung: welches Maß
von Bedeutung und Akzent dem Individuum als solchem in und gegenüber
dem sozialen Umkreis zukomme.
Indem die Geselligkeit in ihren reinen
Gestaltungen keinen sachlichen Zweck hat, keinen Inhalt und kein
Resultat, das sozusagen außerhalb des geselligen Augenblicks als
solchen läge, ist sie gänzlich auf die Persönlichkeiten gestellt,
nichts als die Befriedigtheit dieses Momentes - allenfalls noch mit
einem Nachklang von ihr - soll erreicht werden, und so bleibt der
Vorgang in seinen Bedingungen, wie in seinem Ertrage ausschließlich auf
seine personalen Träger beschränkt; die persönlichen Eigenschaften
der Liebenswürdigkeit, Bildung, Herzlichkeit, Anziehungskräfte jeder
Art entscheiden über den Charakter des rein geselligen Beisammenseins.
Aber gerade darum, weil hier alles auf
die Persönlichkeiten gestellt ist, dürfen die Persönlichkeiten sich
nicht gar zu individuell betonen; wo reale Interessen, kooperierend oder
kollidierend, die Sozialform bestimmen, sorgen sie schon, dass das
Individuum seine Besonderheiten und Einzigkeiten nicht allzu unbeschränkt
und eigengesetzlich präsentiere.
Wo aber diese Bedingtheit fortfällt,
muss eine andere, nur aus der Form des Beisammenseins entspringende
Herabsetzung der persönlichen Zugespitztheit und Selbstherrlichkeit
stattfinden, damit ein Beisammensein überhaupt möglich sei.
Darum ist in der Gesellschaft das
Taktgefühl von so besonderer Bedeutung, weil dies die Selbstregulierung
des Individuums in seinem persönlichen Verhältnis zu anderen leitet,
wo keine äußeren oder unmittelbar egoistischen Interessen die
Regulative übernehmen.
Und vielleicht ist es die
spezifischste Leistung des Taktes, den individuellen Impulsivitäten,
Betonungen des Ich, geistigen und äußeren Ansprüchen die Grenze zu
ziehen, die das Recht des anderen fordert.
Eine sehr merkwürdige soziologische
Struktur kommt hier auf.
In die Geselligkeit hat nicht
einzutreten, was die Persönlichkeit etwa an objektiven Bedeutungen
besitzt, an solchen, die ihr Zentrum außerhalb des aktuellen Kreises
haben; Reichtum und gesellschaftliche Stellung, Gelehrsamkeit und Berühmtheit,
exzeptionelle Fähigkeiten und Verdienste des Individuums haben in der
Geselligkeit keine Rolle zu spielen, höchstens als eine leichte Nuance
von jener Immaterialität, mit der allein die Realität überhaupt in
das soziale Kunstgebilde der Geselligkeit hineinragen darf.
Ebenso aber wie dies Objektive, das um
die Persönlichkeit herum ist, muss nun auch gerade das rein und
zutiefst Persönliche aus ihrer Funktion als Element der Geselligkeit
ausscheiden: das Allerpersönlichste des Lebens, des Charakters, der
Stimmung, des Schicksals hat gleichfalls im Rahmen der Geselligkeit
keinen Platz.
Es ist taktlos, bloß persönliche
Stimmung und Verstimmung, Aufgeregtheiten und Depressionen, Licht und
Dunkelheit des tiefsten Lebens in die Geselligkeit mitzubringen.
Wo eine gesellig begonnene Vereinigung
- und keineswegs nur eine oberflächlich gesellschaftliche und
konventionelle - schließlich um so individuelle Werte zentriert,
verliert sie den Charakter der eigentlichen Geselligkeit und wird zu
einem durch einen Inhalt bestimmten Zusammensein - nicht anders als ein
geschäftliches oder kirchliches, für welches das Zusammen, der
Austausch, das Gespräch nur der Träger für anderweitige Zwecke ist, während
für die Geselligkeit diese Formen eben den ganzen Sinn und Inhalt des
soziologischen Ereignisses ausmachen.
Bis in das Äußerlichste hinein
reicht dieser Ausschluss des Persönlichen: eine Dame würde in einem
wirklich persönlichen, intim freundschaftlichen Beisammensein mit einem
oder wenigen Männern nicht so dekolletiert erscheinen mögen, wie sie
es ganz unbefangen in einer großen Gesellschaft tut.
Sie fühlt sich in dieser eben nicht
in dem Maße wie dort als Individuum engagiert und kann sich deshalb wie
unter der unpersönlichen Freiheit der Maske preisgeben, da sie ja zwar
nur sie selbst, aber doch nicht ganz sie selbst ist, sondern nur ein
Element in einer formal zusammengehaltenen Vereinigung.
Der Mensch als ganzer ist sozusagen
ein noch ungeformter Komplex von Inhalten, Kräften, Möglichkeiten und
je nach den Motivierungen und Beziehungen des wechselnden Daseins
gestaltet er sich daraus zu einem differenzierten, grenzbestimmten
Gebilde.
Als wirtschaftender und als
politischer Mensch, als Familienmitglied und als Repräsentant eines
Berufes ist er sozusagen je ein ad hoc konstruiertes Elaborat, sein
Lebensmaterial ist jedes Mal, von einer besonderen Idee bestimmt, in
eine besondere Form gegossen, deren relativ selbständiges Leben
freilich von der gemeinsamen, unmittelbar aber nicht zu bezeichnenden
Kraftquelle des Ich gespeist wird.
In diesem Sinne nun ist auch der
Mensch als geselliger ein eigentümliches, in keiner anderen Beziehung
so vorkommendes Gebilde.
Er hat einerseits alle Sachbedeutungen
der Persönlichkeit abgetan und tritt nur mit den Fähigkeiten, Reizen,
Interessen seiner reinen Menschlichkeit in die Geselligkeitsform ein.
Andererseits aber macht dies Gebilde
vor dem ganz und gar Subjektiven und rein Innerlichen der Persönlichkeit
halt.
Die Diskretion, die dem anderen gegenüber
ein erstes Erfordernis der Geselligkeit ist, ist ebenso dem eigenen Ich
gegenüber erforderlich, weil ihre Verletzung in beiden Fällen die
soziologische Kunstform der Geselligkeit in einen soziologischen
Naturalismus ausarten lässt.
Man kann also von einer oberen und
unteren »Geselligkeitsschwelle« für die Individuen sprechen.
Sowohl in dem Augenblick, in dem diese
ihr Zusammensein auf einen objektiven Inhalt und Zweck stellen, wie in
dem anderen, wo das absolut Personale und Subjektive des Einzelnen rückhaltlos
in die Erscheinung tritt, ist die Geselligkeit nicht mehr das zentrale
und formende, sondern höchstens noch das formalistische und äußerlich
vermittelnde Prinzip.
Zu dieser negativen Bestimmung des
Geselligkeitswesens durch Grenzen und Schwellen aber kann man vielleicht
das positive Formmotiv finden.
Kant hat es als das Prinzip des Rechts
aufgestellt, dass ein jeder dasjenige Maß von Freiheit haben solle, das
mit der Freiheit jedes anderen zusammen bestehen kann.
Bleibt man einmal bei dem
Geselligkeitstriebe als dem Quell oder auch der Substanz der
Geselligkeit stehen, so ist nun das Prinzip, nach dem sie konstituiert
ist: jeder solle so viel Befriedigung dieses Triebes haben, wie es mit
der Befriedigung eben dieses für alle anderen vereinbar ist.
Drückt man dies, statt von dem
Triebe, vielmehr von dem Erfolge her aus, so formuliert sich das Prinzip
der Geselligkeit so: jeder soll dem anderen dasjenige Maximum an
geselligen Werten (von Freude, Entlastung, Lebendigkeit) gewähren, das
mit dem Maximum der von ihm selbst empfangenen Werte vereinbar ist.
Wie nun das Recht auf jener Kantischen
Basis ein durchaus demokratisches ist, so zeigt dies Prinzip die
demokratische Struktur aller Geselligkeit, die freilich jede
Gesellschaftsschicht nur in sich selbst realisieren kann, und die eine
Geselligkeit unter Angehörigen ganz verschiedener sozialer Klassen so
oft zu etwas Widerspruchsvollem und Peinlichem macht.
Aber auch innerhalb der
gesellschaftlich Gleichstehenden ist die Demokratie ihrer Geselligkeit
eine gespielte.
Die Geselligkeit schafft, wenn man
will, eine ideale soziologische Welt: denn in ihr ist - das sprechen
jene Prinzipien aus - die Freude des Einzelnen durchaus daran gebunden,
dass auch die anderen froh sind, hier kann prinzipiell niemand auf
Kosten ganz entgegengesetzter Empfindungen des anderen seine
Befriedigung finden - wie die anderen Lebensgestaltungen es zwar durch
über sie gestellte ethische Imperative, aber nicht durch ihr
unmittelbar eigenes und inneres Prinzip ausschließen.
Aber diese Welt der Geselligkeit, die
einzige, in der eine Demokratie der Gleichberechtigten ohne Reibungen möglich
ist, ist eine künstliche Welt, aufgebaut aus Wesen, die sowohl auf das
Objektive, wie auf das ganz Persönliche der Lebensintensität und -
extensität verzichtet haben, um jene ganz reine, durch keinen gleichsam
materialen Akzent debalancierte Wechselwirkung unter einander
herzustellen.
Wenn wir jetzt die Vorstellung haben,
in die Geselligkeit kämen wir rein »als Menschen«, als das, was wir
wirklich sind, unter Abwerfung all der Belastungen, der Hin- und
Hergerissenheiten, des Zuviel und Zuwenig, womit das reale Leben die
Reinheit unseres Bildes entstellt, so liegt das daran, dass das moderne
Leben mit objektivem Inhalt und Sachforderungen überlastet ist.
Diese im geselligen Kreise von uns
abtuend, glauben wir zu unserem natürlich-persönlichen Sein zurückzukehren
und übersehen dabei, dass auch dies Persönliche nicht in seiner ganzen
Besonderheit und naturalistischen Vollständigkeit, sondern nur in einer
gewissen Reserve und Stilisierung den geselligen Menschen ausmacht.
In früheren Zeiten, als dieser Mensch
noch nicht so vielem Sachlichem, objektiv Inhaltlichem abgewonnen werden
musste, machte sich sein Formgesetz mehr und deutlicher seinem persönlichen
Sein gegenüber geltend: daher war das persönliche Benehmen in der
Geselligkeit früherer Zeiten viel zeremonieller, steifer und strenger
überindividuell reguliert als heute.
Diese Reduktion der personalen
Peripherie auf das Bedeutungsmaß, das die homogene Wechselwirkung mit
anderen dem Einzelnen konzediert, schwingt bis in das entgegengesetzte
Extrem: ein spezifisches Verhalten in der Gesellschaft ist die
Courtoisie, mit der der Starke, Hervorragende, nicht nur den Schwächeren
sich gleichstellt, sondern sogar die Attitüde annimmt, als sei jener
der Wertvollere und Überlegene.
Wenn Vergesellschaftung überhaupt
Wechselwirkung ist, so ist es deren reinster und sozusagen
stilisiertester Fall, wenn sie unter Gleichen vor sich geht, wie
Symmetrie und Gleichgewicht die einleuchtendsten künstlerischen
Stilisierungsformen anschaulicher Elemente sind.
Indem Geselligkeit also die mit dem
Charakter der Kunst oder des Spieles vollzogene Abstraktion der
Vergesellschaftung ist, fordert sie die reinste, durchsichtigste, am
leichtesten ansprechende Art der Wechselwirkung, die unter Gleichen; sie
muss sich, um ihrer fundamentalen Idee willen, Wesen fingieren, die von
ihrem objektiven Inhalt so viel abgeben, die nach ihrer äußeren wie
inneren Bedeutung so modifiziert werden, dass sie als gesellige gleich
sind und ein jedes die Geselligkeitswerte für sich nur unter der
Bedingung gewinnen kann, dass die anderen, mit ihm wechselwirkenden, sie
ebenso gewinnen.
Sie ist das Spiel, in dem man »so tut«,
als ob alle gleich wären, und zugleich, als ob man jeden besonders
ehrte.
Dies ist so wenig Lüge, wie das Spiel
oder die Kunst mit all ihrer Abweichung von der Realität Lügen sind.
Dazu wird es erst in dem Augenblick,
in dem das Tun und die Rede der Geselligkeit in die Absichten und
Geschehnisse der praktischen Realität eintritt - wie das Gemälde zur Lüge
wird, wenn es panoramahaft die Realität vortäuschen will.
Was innerhalb des eigengesetzlichen,
nur in dem immanenten Spiel seiner Formen betätigten Lebens der
Geselligkeit durchaus richtig und in der Ordnung ist, wird zur Lüge,
wenn diese Erscheinung ein bloßer Schein ist, der in Wirklichkeit von
Zwecken ganz anderer als geselliger Art gelenkt wird oder diese
unsichtbar machen soll - wozu freilich die tatsächliche Verflechtung
der Geselligkeit in die Reihen des realen Lebens leicht verführen mag.
Dieser Zusammenhang legt nahe, dass in
der Geselligkeit alles das unterkommen wird, was man schon von sich aus
als soziologische Spielform bezeichnen kann: vor allem das eigentliche
Spiel selbst, das in der Geselligkeit aller Epochen einen breiten Raum
einnimmt.
Der Ausdruck des »Gesellschaftsspieles«
ist in dem tieferen Sinne bedeutsam, auf den ich vorher hinwies.
Die ganzen Wechselwirkungs- oder
Vergesellschaftungsformen zwischen den Menschen: das Übertreffenwollen
und der Tausch, die Parteibildung und das Abgewinnenwollen, der Wechsel
zwischen Gegnerschaft und Kooperation, das Überlisten und die Revanche
- alles dieses, im Ernste der Wirklichkeit von Zweckinhalten erfüllt, führt
im Spiel ein vom Reize dieser Funktionen selbst und allein getragenes
Leben.
Denn selbst wo das Spiel sich um einen
Geldpreis dreht, ist nicht dieser, der doch auch auf viele andere Weisen
zu erwerben wäre, das Spezifische des Spieles, sondern dessen
Attraktionen liegen für den richtigen Spieler in der Dynamik und den
Chancen jener soziologisch bedeutsamen Betätigungsformen selbst.
Das Gesellschaftsspiel hat den
tieferen Doppelsinn, dass es nicht nur in einer Gesellschaft als seinem
äußeren Träger gespielt wird, sondern dass mit ihm tatsächlich »Gesellschaft«
»gespielt« wird.
Weiterhin hat, in der Soziologie der
Geschlechter, die Erotik ihre Spielform ausgebildet: die Koketterie, die
innerhalb der Geselligkeit ihre leichteste, spielendste, aber auch
weiteste Realisierung findet.
Dreht sich die erotische Frage
zwischen den Geschlechtern um Gewähren und Versagen (deren Gegenstände
natürlich unendlich mannigfaltig und abgestuft, und keineswegs nur
radikaler oder gar nur physiologischer Natur sind), so ist es das Wesen
der weiblichen Koketterie, ein andeutendes Gewähren und ein andeutendes
Versagen wechselnd gegeneinander zu spannen, den Mann anzuziehen, ohne
es zu einer Entscheidung kommen zu lassen, ihn zurückzuweisen, ohne ihm
alle Hoffnung zu nehmen.
Die Kokette steigert ihren Reiz auf
das Höchste, indem sie dem Manne die Gewährung sozusagen ganz nahe rückt,
ohne dass es ihr schließlich damit Ernst wäre; ihr Verhalten pendelt
zwischen dem ja und dem Nein, ohne auf einem Halt zu machen.
Sie zeichnet damit gleichsam spielend
die bloße und reine Form der erotischen Entscheidungen und kann deren
polare Entgegengesetztheiten in einem ganz einheitlichen Benehmen
zusammenbringen, da der entschiedene und entscheidende Inhalt, der sie
auf einem von beiden festlegte, prinzipiell in die Koketterie nicht
eintritt.
Und diese Entlastung von aller Schwere
fester Inhalte und bleibender Realitäten gibt der Koketterie jenen
Charakter des Schwebenden, der Distanz, des Ideellen, dessentwegen man
mit einem gewissen Recht von der »Kunst« - nicht nur von den »Künsten«
- der Koketterie spricht.
Damit sie sich aber auf dem Boden der
Geselligkeit als ein so heimisches Gewächs ausbreiten könne, wie die
Erfahrung es zeigt, muss ihr von Seiten des Mannes ein ganz besonderes
Verhalten begegnen.
So lange der Mann sich dem Reize der
Koketterie versagt, oder so lange er umgekehrt ihr bloßes Opfer ist,
das von ihren Schwingungen zwischen dem halben ja und dem halben Nein
willenlos mitgeschleift wird, - so lange hat die Koketterie noch nicht
die der Geselligkeit eigentlich adäquate Gestalt.
Es fehlt ihr jene freie Wechselwirkung
und Äquivalenz der Elemente, die das Grundgesetz der Geselligkeit ist.
Diese tritt erst dann ein, wenn der
Mann nach nicht mehr als nach diesem frei schwebenden Spiele verlangt,
das nur wie ein fernes Symbol irgend welchen erotischen Definitivums
anklingt, und wenn er nicht erst aus dem Begehren oder aus der Befürchtung
eines solchen den Reiz jener Andeutungen und Präliminarien zieht.
Die Koketterie, wie sie gerade auf den
Höhen der geselligen Kultur ihre Anmut entfaltet, hat die Wirklichkeit
des erotischen Begehrens, Gewährens oder Versagens hinter sich gelassen
und ergeht sich in dem Wechselspiele der Schattenbilder dieser
Ernsthaftigkeiten.
Wo diese letzteren eintreten oder
dahinter stehen, wird das ganze Geschehen sozusagen zu einer
Privatangelegenheit der beiden Personen, die nun in der Ebene der Realität
abläuft; unter dem soziologischen Zeichen der Geselligkeit aber, in die
die eigentliche, das volle Leben in sich bindende Zentralität der
Personen überhaupt nicht eintritt, ist Koketterie das neckische oder
auch ironische Spiel, mit dem die Erotik gleichsam die reinen Schemata
ihrer Wechselwirkungen von ihrem stofflichen oder ganz individuellen
Inhalt gelöst hat.
Wie die Geselligkeit die Formen der
Gesellschaft spielt, so spielt die Koketterie die Formen der Erotik -
eine Wesensverwandtschaft, die diese eben gewissermaßen zum Element
jener prädeterminiert.
In welchem Maße die Geselligkeit so
die Abstraktion der sonst durch ihren Inhalt bedeutsamen soziologischen
Wechselwirkungsformen vollzieht und ihnen, die nun gleichsam um sich
selbst kreisen, einen Schattenkörper leiht, dies offenbart sich schließlich
an dem breitesten Träger aller menschlichen Gemeinsamkeit, am Gespräch.
Das Entscheidende ist hier als die
ganz banale Erfahrung auszudrücken: dass im Ernst des Lebens die
Menschen um eines Inhaltes willen reden, den sie mitteilen oder über
den sie sich verständigen wollen - in der Geselligkeit aber das Reden
zum Selbstzweck wird; im rein geselligen Gespräch ist sein Stoff nur
noch der unentbehrliche Träger der Reize, die der lebendige
Wechseltausch der Rede als solcher entfaltet.
Alle die Formen, mit denen dieser
Tausch sich verwirklicht: der Streit und der Appell an die von beiden
Parteien anerkannten Normen; der Friedensschluss durch Kompromiss und
das Entdecken gemeinsamer Überzeugungen; das dankbare Aufnehmen des
Neuen und das Ablenken von dem, worüber doch keine Verständigung zu
hoffen ist - alle diese Formen gesprächhafter Wechselwirkung, sonst im
Dienste unzähliger Inhalte und Zwecke des menschlichen Verkehrs, haben
hier ihre Bedeutung in sich selbst, das heißt in dem Reize des
Beziehungsspieles, das sie, bindend und lösend, siegend und
unterliegend, gebend und nehmend, zwischen den Individuen stiften; der
Doppelsinn des »Sich-Unterhaltens« tritt in seine Rechte.
Damit dieses Spiel sein Genügen an
der bloßen Form bewahre, darf der Inhalt kein Eigengewicht bekommen:
sobald die Diskussion sachlich wird, ist sie nicht mehr gesellig; sie
dreht ihre teleologische Spitze um, sobald die Eruierung einer Wahrheit
- die durchaus ihren Inhalt bilden kann - zu ihrem Zwecke wird.
Damit zerstört sie ihren Charakter
als gesellige Unterhaltung ebenso, wie wenn sie sich zu einem
ernsthaften Streite zuspitzt.
Die Form des gemeinsamen Suchens des
Richtigen, die Form des Streites mag bestehen; aber sie darf den Ernst
ihres jeweiligen Inhaltes so wenig zu ihrer Substanz werden lassen, wie
man in ein perspektivisch wirkendes Gemälde ein Stück der
dreidimensionalen Wirklichkeit seines Gegenstandes hineinfügen dürfte.
Nicht als ob der Inhalt der
gesellschaftlichen Unterhaltung gleichgültig sei: er soll durchaus
interessant, fesselnd, ja bedeutend sein - nur dass er nicht an sich den
Zweck der Unterhaltung bilde, dass diese nicht dem objektiven Resultat
gelte, das sozusagen ideell außerhalb der Unterhaltung bestünde.
Äußerlich mögen deshalb zwei
Unterhaltungen ganz gleich verlaufen, gesellig, dem inneren Sinne nach
ist nur diejenige, in der jene Inhalte, mit all ihrem Werte und Reize,
doch nur an dem funktionellen Spiele der Unterhaltung als solcher ihr
Recht, ihren Platz, ihren Zweck finden, an der Form des Redetausches mit
ihrer besonderen und eigengesetzlichen Bedeutsamkeit.
Darum gehört zum Wesen der geselligen
Unterhaltung, dass sie ihren Gegenstand leicht und rasch wechseln könne;
denn da der Gegenstand hier nur Mittel ist, kommt ihm die ganze
Austauschbarkeit und Zufälligkeit zu, die überhaupt den Mitteln gegenüber
dem feststehenden Zwecke eignet.
So also bietet, wie gesagt, die
Geselligkeit den vielleicht einzigen Fall, in dem das Reden legitimer
Selbstzweck ist.
Denn dadurch, dass es schlechthin
zweiseitig ist, ja vielleicht mit Ausnahme des »Sich-Ansehens« die
reinste und sublimierteste Zweiseitigkeitsform unter allen
soziologischen Erscheinungen überhaupt, wird es zur adäquatesten Erfüllung
einer Relation, die sozusagen nichts als Relation sein will, in der also
das, was sonst bloße Form der Wechselwirkung ist, zu deren
selbstgenugsamem Inhalt wird.
Es ergibt sich aus diesen gesamten
Zusammenhängen, dass auch das Erzählen von Geschichten, Witzen,
Anekdoten, so oft es auch ein Lückenbüßer und Armutszeugnis sein mag,
doch auch einen feinen Takt zeigen kann, in dem alle Motive der
Geselligkeit anklingen.
Denn zunächst wird damit die
Unterhaltung auf einer Basis gehalten, die jenseits aller individuellen
Intimität, jenseits jenes rein Personalen steht, das sich nicht in die
Kategorien der Geselligkeit fügen will.
Aber dennoch ist dieses Objektive
nicht um seines Inhaltes, sondern um des Geselligkeitsinteresses willen
vorgebracht; dass dieser gesagt und aufgenommen wird, ist kein
Selbstzweck, sondern ein bloßes Mittel für die Lebendigkeit, das
Sichverstehen, das Gemeinsamkeitsbewusstsein des Kreises.
Es ist damit nicht nur ein Inhalt
gegeben, an dem alle gleichmäßig teilhaben können, sondern es ist die
Gabe eines Einzelnen an die Gesamtheit, aber eine solche, hinter der der
Gebende sozusagen unsichtbar wird: die feinste gesellig erzählte
Geschichte ist die, bei der der Erzählende seine Person völlig zurücktreten
lässt; die ganz vollendete hält sich in dem glücklichen
Gleichgewichtspunkt der sozusagen geselligen Ethik, in dem sowohl das
subjektiv Individuelle, wie das objektiv Inhaltliche sich völlig in den
Dienst an der reinen Geselligkeitsform aufgelöst haben.
Es ist hiermit angedeutet, dass die
Geselligkeit die Spielform auch für die ethischen Kräfte der konkreten
Gesellschaft ist.
Die großen, diesen Kräften
gestellten Probleme: dass der einzelne sich in einen Gesamtzusammenhang
einzuordnen und für ihn zu leben habe, dass ihm aber aus diesem wieder
Werte und Erhöhungen zurückfließen müssen, dass das Leben des
Individuums ein Umweg für die Zwecke des Ganzen, das Leben des Ganzen
aber ein Umweg für die Zwecke des Individuums sei - den Ernst, ja die
vielfache Tragik dieser Forderungen überträgt die Geselligkeit in das
symbolische Spiel ihres Schattenreiches, in dem es keine Reibungen gibt,
weil Schatten sich eben nicht aneinander stoßen können.
Wenn es ferner die ethische Aufgabe
der Vergesellschaftung ist, das Sichzusammenfinden und das Sichlösen
ihrer Elemente zum genauen und aufrichtigen Ausdruck ihrer inneren,
durch die Ganzheit ihres Lebens bestimmten Relationen zu machen, so löst
sich innerhalb der Geselligkeit diese Freiheit und Adäquatheit von
ihren konkreten und inhaltlich tieferen Bedingnissen ab; wie sich in
einer »Gesellschaft« Gruppen bilden und sich spalten, wie das
Zwiegespräch in ihr sich rein nach Impuls und Gelegenheit entspinnt,
vertieft, lockert, abschließt, dies ist ein Miniaturbild des
Gesellschaftsideales, das man die Freiheit der Bindung nennen könnte.
Wenn alles Miteinander und Auseinander
das streng angemessene Phänomen innerer Wirklichkeiten sein soll, so
sind diese letzteren hier fortgefallen, und nur jene Erscheinung ist
geblieben, deren den eigenen Formgesetzen gehorsames Spiel, deren in
sich geschlossene Anmut jene Angemessenheit ästhetisch repräsentiert,
die der Ernst der Realitäten sonst von dieser Entscheidung ethisch
fordert.
Diese Gesamtdeutung der Geselligkeit
wird von gewissen historischen Entwicklungen anschaulich realisiert.
Im früheren deutschen Mittelalter
finden wir ritterliche Bruderschaften, die von befreundeten
Patrizierfamilien gebildet waren.
Die religiösen und praktischen Zwecke
dieser Einungen scheinen sich aber ziemlich früh verloren zu haben, und
im vierzehnten Jahrhundert sind die ritterlichen Interessen und
Verhaltungsweisen ihr allein übrig gebliebenes inhaltliches Spezifikum.
Bald nachher aber verschwindet auch
dieses, und es verbleiben nur noch rein gesellige Vereinigungen
aristokratischer Schichten.
Hier entwickelt sich also die
Geselligkeit offensichtlich als das Residuum einer inhaltsbestimmten
Gesellschaft - als das Residuum, das, weil der Inhalt verloren gegangen
ist, nur aus der Form und den Formen des Miteinander und Füreinander
bestehen kann.
Dass der Eigenbestand dieser Formen
nur das innere Wesen des Spieles oder, tiefergreifend, der Kunst zeigen
kann, tritt noch sichtbarer an der Hofgesellschaft des Ancien Regime
hervor.
Hier waren aus dem Wegfall der
konkreten Lebensinhalte, die der französischen Aristokratie gewissermaßen
durch das Königtum ausgesogen waren, freischwebende Formen entstanden,
zu denen das Bewusstsein dieses Standes kristallisiert war - Formen,
deren Kräfte, Bestimmtheiten, Relationen rein gesellig waren und
keineswegs etwa Symbole oder Funktionen der realen Bedeutungen und
Intensitäten der Personen und Institutionen.
Das Etikettenwesen der höfischen
Geselligkeit war zum Selbstzweck geworden, es etikettierte keinen Inhalt
mehr, sondern hatte immanente Gesetze ausgebildet, jenen der Kunst
vergleichbar, die nur aus dem Gesichtspunkt der Kunst heraus gelten und
durchaus nicht den Zweck haben, die Wirklichkeit der Modelle, der Dinge
außerhalb der Kunst, treuer und treffender in ihr nachzubilden.
Mit dieser Erscheinung erreicht die
Geselligkeit zwar ihren souveränsten, aber zugleich in die Karikatur übergehenden
Ausdruck.
Gewiss ist es ihr Wesen, aus den
realistischen Wechselbeziehungen der Menschen die Realität
auszuscheiden und nach den Formgesetzen dieser in sich bewegten, jetzt
keinen Zweck außerhalb ihrer anerkennenden Relationen ihr luftiges
Reich zu errichten.
Allein die tief strömende Quelle, aus
der dieses Reich seine Bewegtheiten speist, ist dennoch nicht in jenen
sich selbst normierenden Formen, sondern nur in der Lebendigkeit der
realen Individuen, in ihren Empfindungen und Attraktionen, in der Fülle
ihrer Impulse und Überzeugungen zu suchen.
Alle Geselligkeit ist nur ein Symbol
des Lebens, wie es sich in dem Flusse eines leicht beglückenden Spieles
zeichnet, aber eben doch ein Symbol des Lebens, dessen Bild nur so weit
verändernd, wie die hier zu ihm gewonnene Distanz es fordert; gerade
wie auch die freieste und phantastischste, von aller Wirklichkeitskopie
entfernteste Kunst sich von einem tiefen und treuen Verhältnis zur
Wirklichkeit nährt, wenn sie nicht hohl und verlogen wirken soll.
Schneidet die Geselligkeit die Fäden,
die sie mit der Lebenswirklichkeit verbinden und aus denen sie ihr
freilich ganz anders stilisiertes Gewebe spinnt, völlig ab, so wird sie
aus einem Spiele zu einer Spielerei mit leeren Formen, zu einem
unlebendigen und auf seine Unlebendigkeit stolzen Schematismus.
Aus diesem Zusammenhange wird
ersichtlich, dass die Menschen über die Oberflächlichkeit des
gesellschaftlichen Verkehrs mit Recht und mit Unrecht klagen.
Es gehört nämlich zu den
wirkungsvollsten Tatsachen der geistigen Existenz, dass, wenn wir aus
der Ganzheit des Seins irgend welche Elemente zu einem eigenen Reich
zusammenschließen, das nach eigenen Gesetzen und nicht nach denen des
Ganzen verwaltet wird, dieses Reich freilich in einer völligen Abschnürung
von dem Leben des Ganzen, bei aller inneren Vollendung, ein ausgehöhltes
und in der Luft schwebendes Wesen zeigen kann: dann aber, oft nur durch
Imponderabilien verändert, gerade in diesem Abstand von aller
unmittelbaren Realität, deren tiefstes Wesen vollständiger,
einheitlicher, sinngemäßer zeigen kann, als irgend ein Versuch, es
realistischer und ohne Distanznahme zu ergreifen.
Je nachdem diese oder jene Empfindung
vorliegt, wird das eigene und unter eigenen Normen ablaufende Leben, das
die Oberflächen der gesellschaftlichen Wechselwirkungen in der
Geselligkeit gewonnen haben, für uns eine formelhafte, bedeutungslose
Unlebendigkeit sein - oder ein symbolisches Spiel, in dessen ästhetischen
Reiz alle feinste, sublimierte Dynamik des gesellschaftlichen Daseins überhaupt
und seines Reichtums gesammelt ist.
Wir sind in der ganzen Kunst, in der
ganzen Symbolik des religiösen und kirchlichen Lebens, großenteils
sogar in den Formulierungskomplexen der Wissenschaft auf diesen Glauben,
auf dieses Gefühl angewiesen, dass die Eigengesetzlichkeiten bloßer
Erscheinungsteile, die Kombination ausgewählter Oberflächenelemente
eine Beziehung zu der Tiefe und Ganzheit der vollen Realität besitzen,
die, wenn auch oft nicht formulierbar, jene zum Träger und Vertreter
des unmittelbar wirklichen und fundamentalen Daseins macht.
Wir verstehen daraus die erlösende
und beglückende Wirkung mancher dieser, aus den bloßen Formen des
Daseins aufgebauten Reiche; denn in ihnen sind wir zwar vom Leben erlöst,
aber wir haben es doch.
Wie uns der Anblick des Meeres
innerlich befreit, nicht obgleich, sondern weil in seinem Aufrauschen,
um abzufließen, Abfließen, um wieder aufzurauschen, in dem Spielen und
Gegenspielen seiner Wellen das ganze Leben zu dem einfachsten Ausdruck
seiner Dynamik stilisiert ist, ganz frei von aller erlebbaren
Wirklichkeit und aller Schwere der Einzelschicksale, deren letzter Sinn
dennoch in dieses bloße Bild einzufließen scheint -, so offenbart etwa
die Kunst das Geheimnis des Lebens: dass wir uns nicht durch einfaches
Wegsehen von ihm erlösen, sondern gerade indem wir in dem scheinbar
ganz selbstherrlichen Spiel seiner Formen den Sinn und die Kräfte
seiner tiefsten Wirklichkeit, aber ohne diese Wirklichkeit selbst,
gestalten und erleben.
Für so viel tiefe und den Druck des
Lebens in jedem Augenblick fühlende Menschen würde die Geselligkeit
nicht dies Befreiende, erlösend Heitere enthalten können, wenn sie
wirklich nur das Sichflüchten vor diesem Leben, die bloß momentane
Aufhebung seines Ernstes wäre.
Sie mag oft genug dies nur Negative
sein, ein Konventionalismus und innerlich lebloser Austausch von
Formeln; so vielleicht vielfach im Ancien Regime, wo die dumpfe Angst
vor einer bedrohlichen Wirklichkeit die Menschen in jenes bloße
Wegsehen hineintrieb, in jene Abschnürung von den Mächten des tatsächlichen
Lebens.
Das Befreiende und Erleichternde aber,
das gerade der tiefere Mensch in der Geselligkeit findet, ist: dass das
Zusammensein und der Einwirkungstausch, in denen die ganzen Aufgaben und
die ganze Schwere des Lebens sich vollzieht, hier in gleichsam
artistischem Spiel genossen werden, in jener gleichzeitigen Sublimierung
und Verdünnung, in der die inhaltbegabten Kräfte der Wirklichkeit nur
noch wie aus der Ferne anklingen, ihre Schwere in einen Reiz verflüchtigend.
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