Georg Simmel: Über den Schauspieler
Aus einer Philosophie der Kunst
ex: Der Tag. Moderne
illustrierte Zeitung Nr. 166, Morgenblatt vom 4. März 1909, Illustrierter
Teil Nr. 53, S. 1-3 (Berlin)
Für jede höhere Auffassung ist die
Schauspielkunst anderes und mehr als eine »reproduzierende Kunst«; sie
ist durchaus schöpferisch, obgleich das Material, das etwa der Maler an
der Natur findet, für sie schon ein Kunstwerk, das Drama des Dichters
ist.
Und ihr Grundproblem ist: woran sie denn
noch ihre künstlerische Produktivität bewähren kann, wenn doch der
ganze, ihr undurchbrechlich vorgeschriebene Inhalt schon vollendete
Kunstform besitzt?
Was ihr unter diesen Umständen zu tun
bleibt, ist ein Doppeltes.
Die Bühnenfigur, wie sie im Buche
steht, ist kein ganzer Mensch, sondern nur der Komplex literarisch
erfassbarer Teile eines Menschen; seine Gesten und sein Blick, sein
Stimmklang und die unbeschreibliche Atmosphäre des Lebens, die jedes
Individuum umgibt, ist nicht darin.
Um dies alles zu schaffen, kann der
Schauspieler nicht das Drama, sondern er muss sein eignes Sein, seine
Instinkte, seine Erfahrungen befragen; an ihnen findet er eine noch
unbearbeitete Wirklichkeit, die er in seine Kunstleistung hineinzubilden
hat.
Sie hat er, an diesem Punkte den
bildenden Künsten analog, nach Vorder- und Hintergründen zu gliedern,
nach einer einheitlichen Idee zu formen, dem Gesetze eines Stiles zu
unterwerfen, das Zufällige und Äußerliche zum Symbol innerer
Notwendigkeiten zu machen.
Dieser Aufgabe gegenüber leistet das
vom Dichter Gegebene eigentlich nichts, als die Richtung zu zeigen, in der
sie gelöst werden soll, den allgemeinen Rahmen der Persönlichkeit,
innerhalb dessen der Schauspieler jene Kunstwerdung eines nur realen
Materials vollzieht.
Aber nicht neben, sondern an dem
gegebenen dramatischen Kunstwerk geht nun die schauspielerische Leistung
vor sich, die das eigentliche kunstphilosophische Problem stellt.
Die Antwort auf die Frage, was denn
diese Kunst über der Kunst noch zu leisten habe, geht von einem sehr
einfachen Motiv aus: der Schauspieler hat das Drama zu versinnlichen.
Der Inhalt seiner Aufgabe ist ihm in der
Form, die man »objektiven Geist« nennt, gegeben, der geistige Vorgang in
der Seele des Dichters hat mit den Worten eine besondere Art von
Objektivität angenommen, aus der heraus er sich im Leser gleichfalls als
ein rein seelisch-innerlicher Vorgang wieder entfaltet.
Als Dichtwerk ist der Inhalt des Dramas
auf die Ebene des Geistes projiziert, deren einzigartige Natur im
Schreiben und Lesen ihr sinnliches Symbol findet.
Den so vorliegenden Inhalt überträgt
der Schauspieler in die Ebene des Sichtbaren und Hörbaren oder, wenn man
will, aus der Eindimensionalität eines rein geistigen Verlaufs in die
Dreidimensionalität der Vollsinnlichkeit.
So angesehen, ist die Leistung des
Schauspielers nicht, wie vorhin, eine Hinzufügung zu der des Dichters,
sondern eine Übertragung dieser in eine neue Daseinsform.
Allein nun versinnlicht der Schauspieler
die Buchrolle nicht, wie das wirkliche Leben sie verwirklichen würde, als
Einfügung in die endlos weiterwebenden Reihen des Zeitlichen und Räumlichen,
sondern er tut es mit Rücksicht auf die Geschlossenheit der Form, auf den
Eindruck des Sichtbaren und Hörbaren, er unterwirft die zeit-räumliche
Erscheinung als solche einem Stilgesetz (das also mit dem des
dichterischen Produktes nicht zusammenfällt), arbeitet sie durch vom
Gesichtspunkt ihres Reizes, ihrer inneren Einheit, ihrer Verständlichkeit
für den Zuschauer.
Das Schauspiel ist also nicht einfach
das hör- und sichtbar gewordene Drama, in welchem Falle es, statt einer
eigenen Kunstleistung, die einfach unmittelbare Verlautbarung eines
anderen Kunstwerkes wäre.
Es ist vielmehr die Kunstform dieser
Verlautbarung, d. h. die Sinneselemente, die sie tragen, sind mit den
Reihen des gelebten Lebens nur ganz locker verknüpft und statt dessen in
sich zu einer Einheit zusammengefasst, die die Umrahmung durch die Szene
ebenso symbolisiert wie der Rahmen des Bildes dessen inselhafte Selbstgenügsamkeit.
Gegenüber der Zufälligkeit, mit der
die sinnlichen Erscheinungen der Wirklichkeit durcheinander spielen, sind
diese teleologisch geformt, abgestimmt, von der Idee des Ganzen
durchdrungen.
So offenbart sich die schau spielerische
Darstellung als eine eigene, nicht als eine sekundäre Kunstleistung, die
nur einen Wechsel der äußeren Form für das Drama bedeutete, sie trägt
einen nur durch sie realisierbaren künstlerischen Sinn, den das Drama als
Dichtwerk überhaupt gar nicht haben kann.
In diesem Begriff der Versinnlichung, so
oberflächlich er vielleicht erscheint, zentrieren dennoch die eigentlich
artistischen Probleme der Schauspielkunst.
Vor allem ist begreiflich, dass die künstlerische
Formung gerade an diesem Punkte, wo sie einzusetzen hat, am stärksten von
Ablenkungen und Versuchungen zum Außerkünstlerischen bedroht ist.
Diese Gefahren liegen darin, dass der
formgebende Gesichtspunkt, von dem aus der sinnliche Stoff einer Idee und
Einheit unterworfen wird, in der Wirkung auf den real gegenwärtigen
Zuschauer liegt.
Dies brauchte an sich noch nicht den
rein künstlerischen, von allem momentanen Effekt unabhängigen Charakter
der Leistung zu alterieren.
In diese könnte die Bedeutung für den
Zuschauer so gänzlich als ideale Normgebung hineingegangen sein, dass die
unmittelbare Beziehung zu dem zufälligen Publikum der jeweiligen Aufführung
ganz hinwegfällt.
Es würde zwar immer für ein Publikum
gespielt, aber sozusagen für ein ideelles, dessen prinzipielle
Forderungen als die inneren, sachlichen Gesetze der Kunstleistung
auftreten.
Der Schauspieler indes, dessen Leistung
seine volle sinnliche Realität enthält und dadurch schon zu Zufälligkeiten
und Stimmungsabbiegungen neigt, der in jedem Augenblick ein reales
Publikum sieht und fühlt - ist in unvergleichlichem Maße der Versuchung
ausgesetzt, jenem idealen Zuschauer, der der Brennpunkt für die Gesetze
seiner Kunst ist, den realen, vor ihm sitzenden zu substituieren und damit
aus der Sphäre der Kunst überhaupt herauszufallen.
Das ist es, was heute so viele künstlerisch
feinfühlige Menschen dem Schauspiel entfremdet, ja, es ihnen unerträglich
macht: dass der Schauspieler nur zur Hälfte zu seinem Partner, zur
anderen Hälfte zum Publikum spielt, so dass das Schauspiel als eine
Bastardierung der eigentlichen souveränen Kunst mit einer Beziehung
erscheint, die innerhalb der Wirklichkeitssphäre, zwischen Mensch und
Mensch verläuft.
Die Empfindung, die heute vielfach
auftaucht: dass einem im Theater etwas vorgelogen wird - bezieht sich in
ihrem wahren Fundament durchaus nicht auf das Verhältnis der
schauspielerischen Leistung zu der Realität des Lebens, die sie etwa
nachzuahmen vorgibt, darauf, dass einem auf der Bühne etwas tatsächlich
Unwirkliches mit den Gebärden der Wirklichkeit »vorgemacht« wird; dies
sind ganz missverständliche Deutungen jener Empfindung.
Vielmehr, wenn uns der Schauspieler
nicht »überzeugt«, so ist in der jetzt fraglichen Hinsicht nicht zu
wenig, sondern zu viel »Wirklichkeit« in seinem Spiel, d. h. zu der
lebendigen Wirklichkeit, nicht zu ihrem Bilde.
Er »überzeugt« uns, indem er rein
innerhalb des in sich geschlossenen Kunstkreises verbleibt, der seine
Wahrheit aus der Logik seiner nur ihm eigenen Gesetze, aber gar nicht
unmittelbar, sondern nur durch diese vermittelt, aus der Relation zu etwas
außerhalb Gelegenem bezieht.
Seine Gefahr ist, dass seine Leistung
sich scheinbar in der abstrakten, gegen Zuschauer oder Nichtzuschauer
gleichgültigen Welt der Kunst abspielt, während sie in Wirklichkeit von
der Beziehung des konkreten Menschen zu anderen konkreten Menschen
durchflutet und nach ihr dirigiert ist.
Nicht der Abfall von der Wirklichkeit,
sondern, etwas paradox ausgedrückt, von der Nichtwirklichkeit begründet
die Klage über die Verlogenheit des Theaters.
Es ist interessant, die Stilunterschiede
des Dramas an diesem entscheidenden Punkte zu beobachten.
Das klassische französische Schauspiel
wurde für die Hofgesellschaft aufgeführt, die gelegentlich auf der Bühne
selbst, unmittelbar neben den Schauspielern selbst Platz nahm.
Hier ist also die eklatanteste
Hinwendung zu dem lebendig anwesenden Publikum gleichsam die Expatriierung
des schauspielerischen Interesses aus der Geschlossenheit in sich selbst
in einen äußeren Normierungspunkt hinein.
Allein dafür ging dieses Drama nun auch
durch seine starre Stilisierung und Wirklichkeitsfremdheit in das
entgegengesetzte Extrem; die Konzession an die außerkünstlerische
Wirklichkeit, die der Bühnenaktion des Schauspielers zugemutet wurde,
glich sich durch die undurchbrechliche Zusammengefasstheit und die
radikale Abstraktheit des Inhaltes, den er spielte, einigermaßen aus.
Mit umgekehrtem Vorzeichen mischt der
moderne Realismus die Elemente zu dem gleichen Resultat.
Hier sucht das Drama die Vorstellung,
dass nur gespielt wird, hintanzuhalten.
Das Wirkliche in seiner möglichst
stilfreien Unmittelbarkeit soll auf der Bühne geschehen; aber dafür wird
nun für das schauspielerische Bild die völlige Geschlossenheit dem Zuhörer
gegenüber erstrebt, eine Gleichgültigkeit gegen ihn, als ob er nicht
existierte und die Ereignisse so um ihrer selbst willen und aus ihrer
inneren Notwendigkeit abrollten, wie wirkliche, die durch die Anwesenheit
eines Beobachters nicht alteriert werden.
Daher die Perhorreszierung des
schauspielerischen »Virtuosen« durch den modernen Realismus; denn der
Virtuose wendet sich unmittelbar an das aktuelle Publikum.
Daher auch die Vorliebe, insbesondere in
den Anfängen dieser Bewegung, für Vorgänge von beleidigender Krassheit;
denn diese Rücksichtslosigkeit gegen den Zuschauer dokumentierte eben das
selbstgenügsame Insichgeschlossensein der Bühnenereignisse.
Von diesen beiden Motiven her begründet
sich die Verwerfung des Monologs seitens dieses Realismus.
Einerseits zeigt die Wirklichkeit kein
Vorbild dazu.
Dies ist freilich eine etwas
kurzsichtige Begründung, denn auch zu dem realistischsten Drama wird man
so, wie es als Ganzes auf der Bühne vor sich geht, kein empirisches
Analogon finden, und es ist die eigentümliche Beschränktheit dieser
Richtung, ängstlich darauf zu halten, dass jeder einzelne Satz und jede
einzelne Bewegung, für sich allein angesehen, aus der Wirklichkeit
entlehnt sind, und dabei zu übersehen, dass das Ganze, in seiner Form und
Vortragsweise, jenseits aller Wirklichkeit steht.
Aber der andere Grund dringt tiefer.
Der Monolog verführt den Schauspieler
mehr als irgendein anderer Teil des Dramas, sich an das Publikum vor ihm
zu wenden, die abstrakte Bühnenexistenz zu durchbrechen und die Rede zu
einem Zwiegespräch mit dem zwar stummen, aber realen und wirksamen
Partner im Parkett zu machen.
Das Prinzip des Realismus, dass die Vorgänge
auf der Bühne durchaus nach ihrer eigenen Gesetzlichkeit und ohne der Rücksicht
auf den Zuschauer, einen Eingriff in diese zu gestatten, sich abspielen
sollen, wird durch den Monolog am stärksten bedroht.
Es ist ganz in diesem Sinn, wenn die
Anweisungen des Herzogs von Meiningen für seine Bühne, die durchaus auf
die artistische Geschlossenheit des Schauspiels gehen, »mit besonderem
Nachdruck« betonen, dass die Statisten »nicht ins Publikum glotzen
sollen«.
Dies also ist die künstlerische Gefahr,
die die besondere Art, oder richtiger, das besondere Maß der »
Versinnlichung«, als der Aufgabe des Schauspielers, mit sich bringt.
Die anderen Künste wenden sich an je
einen Sinn und setzen sich schon dadurch in einen abstrahierenden und eine
besondere Sphäre konstruierenden Gegensatz zu der Existenzwirklichkeit
der Dinge.
Denn diese wird uns immer nur durch eine
Mehrheit von Eindrücken - wirklichen oder möglichen - gewährleistet.
So kann ich zwar die Leinwand, auf der
das Bild gemalt ist, sehen, tasten, schmecken oder durch Aufklopfen hören;
allein das Bild als Kunstwerk ist nur für die Augen und absolut für
keinen weiteren Sinn da.
Das erleichtert den Künsten das
Innehalten einer deutlichen Distanz zur Wirklichkeit und zum Beschauer,
indem dieser, wenn das Kriterium der Wirklichkeit, die mögliche Wirkung
auf alle Sinne, fehlt, nicht so leicht veranlasst wird, es in seine realen
Lebensreihen einzubeziehen.
Der Schauspieler indes, dessen
vollsinnliche Realität das Kunstwerk nicht nur produziert, um dann, wie
der Maler oder der Dichter, von ihm hinwegzutreten und es seiner idealen
Existenz in seiner einsinnigen Welt zu überlassen, sondern der das
Kunstwerk sozusagen selbst und unmittelbar ist - der Schauspieler hat die
viel größere Aufgabe, den Zuschauer dauernd vor dem Überschreiten der
Kunstgrenze zu behüten, zu dem gerade seine spezifische Aufgabe: die
volle Versinnlichung des Kunstinhaltes, dauernd verführen möchte.
Es gibt keine Kunst, in der es so schwer
wäre, nur Kunst zu geben. |