Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Die Gesellschaft zu zweien

ex: Der Tag, No. 118 vom 5. März 1908, Erster Teil: Illustrierte Zeitung (Berlin)

Wenn die soziologische Wissenschaft den Folgen der Tatsache gilt, dass der einzelne Mensch nicht allein auf der Welt ist, sondern durch das Mitdasein anderer bestimmt wird - so darf ihr Blick sich nicht auf die großen Kollektivgebilde beschränken, die durch die Politik und die Wirtschaft, durch das Recht und die Kirche, durch die Familie und die allgemeine Kultur umschrieben sind. Sondern er muss sich auch auf jene feineren, flüchtigeren, aber in tausend Verwebungen unser Leben bestimmenden Beziehungen richten, die sich zwischen Person und Person entspinnen, oft fallen gelassene, wieder aufgenommene, wieder anders verlaufende Fäden, an denen schließlich die innere Lebendigkeit und Festigkeit unseres Daseins mit anderen haftet.

Wie ein Verhältnis daraus seinen Charakter zieht, dass es gerade nur zwei Teilnehmer einschließt, zeigen ganz alltägliche Erfahrungen: wie ganz anders ein gemeinsames Los, ein Unternehmen, ein Einverständnis, ein geteiltes Geheimnis zweier jeden der Teilnehmer bindet, als wenn auch nur drei daran teilhaben.

Vielleicht ist dies für das Geheimnis am charakteristischsten, indem die allgemeine Erfahrung zu beweisen scheint, dass dieses Minimum, mit dem das Geheimnis die Grenze des Fürsichseins überschreitet, zugleich das Maximum ist, mit dem seine Bewahrung einigermaßen gesichert ist.

Eine geheime kirchlich-politische Gesellschaft, die sich Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich und Italien bildete, hatte verschiedene Grade, derart, dass die eigentlichen Bundesgeheimnisse nur den höheren von diesen bekannt waren; besprochen aber durften sie immer nur zwischen je zwei Angehörigen jener Hochgrade werden.

Als so entscheidend also wird die Grenze der Zwei empfunden, dass sie, wo sie schon dem Wissen nach nicht eingehalten werden kann, doch dem Aussprechen nach bewahrt wird! - Den allgemeinsten Unterschied der Zweierverbindungen gegen alle mehrgliedrigen bedeutet es, dass das Verhältnis als Ganzes, als höhere Einheit aus seinen Individuen, jedem von diesen anders gegenübersteht, als Gebilde aus mehreren Teilnehmern den ihrigen.

In jenem nämlich sieht ein jedes Mitglied sich nur dem andern, aber nicht einer über ihn hinausreichenden Kollektiveinheit gegenüber.

Das Sozialgebilde ruht unmittelbar auf dem einen und auf dem andern.

Der Austritt jedes einzelnen würde das Ganze zerstören, so dass es nicht zu jener überpersönlichen Existenz desselben kommt, die der einzelne als von sich unabhängig fühlt; wogegen selbst schon in einer Vergesellschaftung von dreien bei Ausscheiden eines einzelnen noch immer eine Gruppe weiterbestehen kann.

Diese Abhängigkeit der Zweiergruppen von der reinen Individualität des einzelnen Gliedes lässt die Vorstellung ihrer Existenz in näherer und fühlbarerer Weise von der ihres Endes begleitet sein, als es bei anderen Vereinigungen der Fall ist, von denen jegliches Mitglied weiß, dass sie nach seinem Ausscheiden oder seinem Tode weiterexistieren können.

Wie nun das Leben des Individuums durch seine Vorstellung von seinem Tode in bestimmter Weise gefärbt wird, so auch das Leben der Vereinigungen.

Unter »Vorstellung« ist hier nicht nur der theoretische, bewusste Gedanke verstanden, sondern ein Teil oder eine Modifikation unseres Seins.

Der Tod steht nicht wie ein Schicksal vor uns, das in irgendeinem Augenblick eintreten wird, vorher aber nur als Idee oder Prophezeiung, als Furcht oder Hoffnung da ist, ohne in die Realität des Lebens bis zu ihm hin einzugreifen.

Sondern, dass wir sterben werden, ist eine von vornherein dem Leben einwohnende Qualität, in all unserer lebendigen Wirklichkeit ist etwas, was nachher als unser Tod nur seine letzte Phase oder Offenbarung findet: wir sind, von unserer Geburt an, solche, die sterben werden.

Und so ist es mit den Gruppen.

Jede vielgliedrige Gruppe kann ihrer Idee nach unsterblich sein, und dies gibt jedem ihrer Mitglieder als solchem, mag es im Persönlichen zum Tode stehen wie es will, ein ganz bestimmtes soziologisches Gefühl.

Dass aber eine Vereinigung von zweien zwar nicht ihrem Leben nach, aber ihrem Tode nach von jedem ihrer Elemente für sich allein abhängt - denn zu ihrem Leben bedarf sie des zweiten, zu ihrem Tode aber nur des einen -, das muss die innere Gesamtattitüde des einzelnen zu ihr, wenn auch nicht immer bewusst und nicht immer gleichmäßig, mitbestimmen.

Es muss diesen Verbindungen für das Gefühl einen Ton von Gefährdung und von Unersetzlichkeit geben, den sie zu dem eigentlichen Ort einerseits einer echten soziologischen Tragik, andererseits einer Sentimentalität und elegischen Problematik macht.

Um der gleichen Struktur willen sind eigentlich auch nur Verhältnisse zu zweien der eigentümlichen Färbung oder Entfärbung, die wir als Trivialität bezeichnen, ausgesetzt.

Denn nur, wo der Anspruch an eine Individualität der Erscheinung oder Leistung vorliegt, erzeugt deren Ausbleiben das Gefühl der Trivialität.

Es ist noch kaum hinreichend beobachtet, wie Verhältnisse, bei völlig ungeändertem Inhalt, durch die mitschwebende Vorstellung gefärbt werden, wie häufig oder wie selten gleichgeartete sind.

Es sind keineswegs nur erotische Beziehungen, die durch die Vorstellung: ein solches Erlebnis habe es überhaupt noch nicht gegeben - einen besonderen und bedeutsamen Timbre, ganz über ihren sonst angebbaren Inhalt und Wert hinaus, bekommen.

Wie es vielleicht kaum einen Gegenstand äußeren Besitzes gibt, dessen Wert - nicht nur sein wirtschaftlicher Wert - nicht von der Seltenheit oder Häufigkeit von seinesgleichen mitbestimmt würde, so ist auch vielleicht kein Verhältnis in seiner inneren Bedeutung für seine Träger von dem Faktor des Wie vielmal unabhängig; wobei dieses Wie vielmal auch die Repetitionen der gleichen Inhalte, Situationen, Erregungen innerhalb des Verhältnisses selbst bedeuten kann.

Mit der Empfindung der Trivialität begleiten wir ein gewisses Maß von Häufigkeit, von Bewusstsein der Wiederholtheit eines Lebensinhaltes, dessen Wert gerade durch ein Maß von Seltenheit bedingt ist.

Nun scheint es, als ob das Leben einer größeren gesellschaftlichen Einheit oder das Verhältnis des einzelnen zu ihr sich dieser Frage überhaupt nicht stellte, als ob hier, wo der inhaltliche Sinn der Beziehung sich über die Individualität erhebt, auch ihre Individualität im Sinne der Einzigkeit oder Seltenheit keine Rolle spielte und ihr Ausbleiben deshalb nicht als Trivialität wirkte.

Dass gerade den Verhältnissen zu zweien, der Liebe, der Ehe, der Freundschaft - oder auch solcher mehrgliedriger, die kein höheres Gebilde ergeben, wie oft die Geselligkeit - der Ton der Trivialität oft zur Verzweiflung und zum Verhängnis wird, beweist, wie sehr die soziologische Form hier an der Individualität ihrer Elemente festgehalten ist und wie sehr an sie die Forderung eines individuellen Wertes ergeht, die der mehrgliedrigen gegenüber erlischt.

Dass das soziologische Geschehen so innerhalb des persönlichen Aufeinanderangewiesenseins verbleibt, ohne zur Bildung eines die Elemente überwachsenden Ganzen aus ihnen vorzuschreiten, ist weiterhin die Basis der »Intimität«.

Diese Charakteristik von Verhältnissen scheint mir auf die zunächst individuelle Neigung zurückzugehen: dass der Mensch gern dasjenige, was ihn von anderen unterscheidet, das qualitativ Individuelle, als den Kern, Wert und Hauptsache seiner Existenz ansieht - eine keineswegs immer gerechtfertigte Voraussetzung, da an vielen umgekehrt gerade das Typische, das mit vielen Geteilte ihr Wesentliches und die Wertsubstanz ihrer Persönlichkeit ist.

Dies wiederholt sich an Vereinigungen.

Auch ihnen liegt es nahe, das ganz Spezifische ihrer Inhalte, das ihre Teilnehmer nur miteinander, aber mit niemand außerhalb dieser Gemeinschaft teilen, zum Zentrum und zur eigentlichen Erfüllung dieser Gemeinschaft werden zu lassen.

Das ist die Form der Intimität.

Wohl in jedem Verhältnis mischen sich irgendwelche Bestandteile, die seine Träger eben nur in dieses und in kein anderes hineingeben, mit solchen, die nicht gerade diesem Verhältnis eigen sind, sondern die das Individuum in gleicher oder ähnlicher Weise auch noch mit anderen Personen teilt.

Sobald nun jenes erste, die Binnenseite des Verhältnisses, als dessen Wesentliches empfunden wird, sobald seine gefühlsmäßige Struktur es auf dasjenige stellt, was jeder nur diesem einzigen anderen und niemand sonst gibt oder zeigt - so ist die eigentümliche Färbung gegeben, die man Intimität nennt.

Es ist nicht der Inhalt des Verhältnisses, auf dem diese ruht.

Zwei Verhältnisse mögen in bezug auf die Mischung der individuell-exklusiven und der auch nach anderen Seiten hin ausstrahlenden Inhalte ganz gleich stehen: intim ist nur dasjenige von ihnen, in dem die ersteren als die Träger oder als die Achse des Verhältnisses erscheinen.

Wenn umgekehrt gewisse äußere oder Stimmungslagen uns relativ fremden Menschen gegenüber zu sehr persönlichen Äußerungen und Konfessionen, wie sie sonst nur dem Nächsten vorbehalten sind, veranlassen, so fühlen wir dennoch, dass dieser »intime« Inhalt der Beziehung sie hier zu keiner intimen macht; denn unser Gesamtverhältnis zu eben diesen Menschen ruht in seiner Substanz und seinem Sinn doch nur auf seinen allgemeinen, unindividuellen Bestandteilen, und jener sonst vielleicht niemals offenbarte, ihm ausschließlich eigene Inhalt lässt das Verhältnis, weil er nicht zur Basis seiner Form wird, außerhalb der Intimität.

Dass dies das Wesen der Intimität ist, macht sie so häufig zu einer Gefahr für enge Zweierverbindungen, vielleicht am meisten für die Ehe.

Dass die Gatten die gleichgültigen »Intimitäten« des Tages, die Liebenswürdigkeiten oder Unliebenswürdigkeiten der Stunde, die allen anderen sorgfältig verborgenen Schwächen teilen - das legt es nahe, den Akzent und die Substanz des Verhältnisses gerade in dieses zwar völlig Individuelle, sachlich aber doch ganz Irrelevante zu verlegen und dasjenige, was man auch mit anderen teilt, und was vielleicht das Wichtigste der Persönlichkeiten ist, das Geistige, Großzügige, den allgemeinen Interessen Zugewandte, Objektive - als eigentlich außerhalb der Ehe liegend zu betrachten, es allmählich aus ihr herauszuschieben.

Dennoch scheint gerade die monogamische Ehe von dem hier wesentlich gewordenen soziologischen Charakter der Zweiergruppierungen: der durch das Ausbleiben der überpersönlichen Einheit gegeben ist - eine Ausnahme machen zu müssen.

Die gar nicht seltene Tatsache, dass es zwischen durchaus wertvollen Persönlichkeiten entschieden schlechte Ehen und zwischen recht mangelhaften sehr gute gibt, weist zunächst darauf hin, dass dieses Gebilde, so sehr es von jedem Teilnehmer abhängig ist, doch einen Charakter haben kann, der mit dem seines Teilnehmers zusammenfällt.

Wenn etwa jeder der Gatten an Wirrnissen, Schwierigkeiten, Unzulänglichkeiten leidet, aber diese gleichsam auf sich zu lokalisieren versteht, während er in das eheliche Verhältnis nur sein Bestes und Reinstes hineingibt und es von allen Abzügen der Person freihält - so mag dies zwar zunächst nur dem Gatten als Person gelten, aber es erhebt sich daraus doch das Gefühl, dass die Ehe etwas Überpersönliches ist, etwas an sich Wertvolles und Heiliges, das jenseits der Unheiligkeit jedes ihrer Elemente steht.

Indem sich innerhalb eines Verhältnisses der eine nur nach der dem anderen zugewandten Seite hin empfindet, sich nur mit Rücksicht auf ihn benimmt, gewinnen seine Eigenschaften, obgleich sie natürlich immer die seinigen sind, doch eine ganz andere Färbung, Stellung, Bedeutung, als wenn sie, auf das eigene Ich bezogen, sich in den Gesamtkomplex dieses verweben.

Daraufhin kann für das Bewusstsein jedes der beiden das Verhältnis zu einer Wesenheit außerhalb seiner kristallisieren, die Mehr und Besseres - unter Umständen auch Schlechteres - ist als er selbst, gegen die er Verpflichtungen hat, und von der ihm wie von einem objektiven Sein Güter und Schicksale kommen.

Es scheint, als ob die moderne Kultur, indem sie den Charakter der einzelnen Ehe immer mehr individualisiert, doch die Überindividualität, die in ihrem soziologischen Wesen liegt, ganz unberührt lässt, ja in mancher Hinsicht steigert.

Die Mehrfachheit der Ehearten, entweder zur Wahl der Kontrahenten gestellt oder auf ihre besonderen sozialen Positionen verteilt, wie sie in Halbkulturen und hohen, vergangenen Kulturen vorkommt, erscheint zunächst als eine individuellere Form, die der Differenziertheit der einzelnen Fälle besonders nachgiebig ist.

In Wirklichkeit liegt es umgekehrt: jede dieser verschiedenen Arten ist dennoch etwas durchaus Unindividuelles, sozial Vorgeformtes und ist durch ihren Ansatz von Besonderung viel enger und gewalttätiger als eine ganz allgemeine und durchgehend festgehaltene Eheform, deren abstrakteres Wesen notwendig den persönlichen Differenziertheiten größeren Spielraum gestatten muss.

Die eigentümliche Verschlingung des subjektiven und des objektiven Charakters, des Persönlichen und des Überpersönlich-Generellen, die die Ehe bietet, liegt schon in dem Fundamentalvorgang, der physiologischen Paarung, der allein allen historisch bekannten Eheformen gemeinsam ist, während vielleicht keine einzige weitere Bestimmung sich ausnahmslos an allen findet.

Dieser Vorgang wird einerseits als das Intim-Persönlichste empfunden, andererseits aber doch als das absolute Generelle, das die Persönlichkeit gerade in dem Dienst der Gattung, in der allgemein organischen Forderung der Natur untertauchen lässt.

In diesem Doppelcharakter des Aktes als des ganz Persönlichen und des ganz Überpersönlichen liegt sein psychologisches Geheimnis, und aus ihm wird verständlich, wie gerade dieser Akt die Basis des Eheverhältnisses werden konnte, die auf höherer soziologischer Stufe eben diese Doppelheit wiederholt.

Nun aber tritt gerade an der Beziehung der Ehe zur sexuellen Betätigung eine höchst eigenartige formale Komplikation auf.

So unmöglich nämlich angesichts jener historischen Heterogeneität der Ehearten eine positive Definition der Ehe sei, so kann doch bestimmt werden, welche Beziehung zwischen Mann und Weib jedenfalls noch nicht Ehe ist: die rein sexuelle.

Was auch die Ehe sein mag, sie ist immer und überall mehr als der sexuelle Verkehr; so divergent die Richtungen sein mögen, nach denen die Ehe über diesen hinausgeht - dass sie über ihn hinausgeht, macht die Ehe erst zur Ehe.

Dies ist eine soziologisch fast einzige Formung: dass derjenige Punkt, der allein allen Eheformen gemeinsam ist, zugleich gerade derjenige ist, über den sie hinausgehen müssen, um eine Ehe zu ergeben.

Nur ganz entfernte Analogien hierzu scheinen auf andern Gebieten stattzufinden: so müssen die Künstler, wie heterogene, stilistische oder auch phantastische Tendenzen sie auch verfolgen, die natürlichen Erscheinungen aufs genaueste kennen, nicht um bei ihnen zu verharren, sondern um in jenem Hinausgehen über sie ihre spezifisch künstlerische Aufgabe zu erfüllen.

Innerhalb der soziologischen Formungen aber scheint die Ehe die einzige oder mindestens die reinste dieses Typus zu sein: dass alle Fälle eines sozialen Formbegriffs nur ein einziges, wirklich allen gemeinsames Element enthalten, aber gerade daraufhin noch nicht zu Realisierungen dieses Begriffs werden, sondern dies erst, wenn sie jenem Allgemeinen etwas Weiteres, also unvermeidlich Individuelles, in Verschiedenen Verschiedenes hinzufügen.


 

Editorial:

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