Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Treue

Ein sozialpsychologischer Versuch

ex: Der Tag, No.225 vom 10.Juni 1908, Erster Teil : Illustrierte Zeitung (Berlin)

Ohne die Erscheinung, die wir Treue nennen, würde die Gesellschaft überhaupt nicht in der tatsächlich gegebenen Weise irgendeine Zeit hindurch existieren können.

Die Momente, die ihre Erhaltung tragen: Eigeninteresse der Elemente und Suggestion, Zwang und Idealismus, mechanische Gewohnheit und Pflichtgefühl, Liebe und Trägheit - würden sie vor dem Auseinanderbrechen nicht bewahren können, wenn nicht alle durch das Moment der Treue ergänzt würden.

Es ist eine Tatsache von der größten soziologischen Wichtigkeit, dass unzählige Verhältnisse in ihrer Struktur ungeändert beharren, auch wenn das Gefühl oder die praktische Veranlassung, die sie ursprünglich entstehen ließen, verschwunden sind.

Die sonst unbezweifelbare Wahrheit: Zerstören ist leichter als Aufbauen - gilt für gewisse menschliche Beziehungen nicht ohne weiteres.

Freilich fordert das Entstehen eines Verhältnisses eine bestimmte Zahl positiver und negativer Bedingungen, von denen das Ausbleiben einer einzigen sein Zustandekommen von vornherein verhindert.

Allein, ist es einmal entstanden, so wird es durch den nachträglichen Ausfall jener Bedingung, ohne die es vorher nicht erwachsen wäre, noch keineswegs immer zerstört.

Ein erotisches Verhältnis etwa, auf Grund körperlicher Schönheit entstanden, kann sehr wohl deren Schwinden und ihren Übergang in Hässlichkeit überleben.

Was man von Staaten gesagt hat: dass sie nur durch dieselben Mittel erhalten werden, durch die sie gegründet sind - ist nur eine sehr partielle Wahrheit und nichts weniger als ein durchgängiges Prinzip der Vergesellschaftung überhaupt.

Die soziologische Verknüpftheit vielmehr, woraus auch immer entstanden, bildet eine Selbsterhaltung aus, einen Eigenbestand ihrer Form, unabhängig von ihren ursprünglich verknüpfenden Motiven.

Ohne dieses Beharrungsvermögen der einmal konstituierten Vergesellschaftungen würde die Gesellschaft als ganze in jedem Augenblick zusammenbrechen oder in unausdenkbarer Weise verändert werden.

Psychologisch wird die Konservierung der Einheitsform durch vielerlei Momente getragen, intellektuelle und praktische, positive und negative.

Die Treue ist unter ihnen der gefühlsmäßige Faktor, oder auch: sie selbst in der Gestalt des Gefühls, in ihrer Projizierung auf die Ebene des Gefühls.

Den Verhältnissen, die sich zwischen Individuen anspinnen, entspricht in diesen ein auf das Verhältnis gerichtetes spezifisches Gefühl, ein Interesse, ein Impuls.

Besteht das Verhältnis nun weiter, so entsteht, in Wechselwirkung mit diesem Weiterbestand, ein besonderes Gefühl, oder auch: jene ursprünglich begründenden seelischen Zustände metamorphosieren sich - vielfach, wenn auch nicht immer - in eine eigentümliche Form, die wir Treue nennen, gleichsam in ein psychologisches Sammelbecken oder eine Gesamtheits- oder Einheitsform für die mannigfaltigsten Interessen, Affekte, Bindungsmotive; und, über alle Verschiedenheit ihres Ursprunges hinweg, nehmen sie in der Form der Treue eine gewisse Gleichmäßigkeit an, die begreiflich den Dauercharakter dieses Gefühls begünstigt.

Es ist also nicht das gemeint, was man treue Liebe, treue Anhänglichkeit usw. nennt, und was einen gewissen Modus oder zeitliche Quantität eines sonst schon bestimmten Gefühls bedeutet; sondern ich meine, dass die Treue ein eigener Seelenzustand ist, gerichtet auf den Bestand des Verhältnisses als solchen und unabhängig von den spezifischen Gefühls- oder Willensträgern seines Inhalts.

Man muss - und dies gehört zu den Voraussetzungen der Gesellschaft überhaupt - bei sehr vielen Verhältnissen und Verbindungen der Menschen untereinander darauf rechnen, dass die bloße Gewöhnung des Zusammenseins, dass das bloß tatsächlich längere Bestehen der Beziehung diesen Induktionsschluss des Gefühls mit sich bringt.

Und das erweitert den Begriff der Treue und bringt ein sehr wichtiges Moment hinzu: der äußerlich bestehende soziologische Zustand, das Zusammen, kooptiert gewissermaßen die Gefühle, welche ihm eigentlich entsprechen, obgleich sie am Anfang und in bezug auf die Begründung der Beziehung nicht vorhanden waren.

Der Prozess der Treue wird hier gewissermaßen rückläufig.

Die seelischen Motive, die eine Beziehung knüpfen, geben der geknüpften gegenüber für das spezifische Gefühl der Treue Raum oder verwandeln sich in dieses.

Ist nun aus irgendwelchen äußeren Gründen oder wenigstens solchen seelischen, die dem Sinne der Vereinigung nicht entsprechen, eine solche dennoch zustande gekommen, so erwächst ihr gegenüber eine Treue, und diese lässt die tieferen und der Vereinigung adäquaten Gefühlszustände sich entwickeln, jene wird gleichsam per subsequens matrimonium animarum legitimiert.

Die banale Weisheit, die man oft gegenüber konventionellen oder aus rein äußeren Gründen geschehenden Eheschließungen hört: die Liebe käme schon noch in der Ehe - ist tatsächlich nicht immer im Unrecht.

Hat der Bestand des Verhältnisses erst einmal sein psychologisches Korrelat in der Treue gefunden, so folgen dieser schließlich auch ihre Affekte, Herzensinteressen, inneren Bindungen, die statt ihrer sozusagen logischen Stellung am Anfang der Beziehung sich nun vielmehr als deren Endresultat herausstellen - eine Entwicklung, die freilich ohne das Mittelglied der Treue nicht eintritt.

Schon die rein innere Struktur der Treue zeigt sie als einen soziologischen Affekt.

Andere Gefühle, so sehr sie den Menschen an den Menschen binden mögen, haben dennoch etwas mehr Solipsistisches.

Auch die Liebe, die Freundschaft, der Patriotismus, das soziale Pflichtgefühl haben doch ihr Wesen zunächst in einem Affekt, welcher in dem Subjekt selbst und immanent in ihm vor sich geht und beharrt, wie es sich am stärksten vielleicht in dem Worte Philines offenbart: »Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?« Hier bleiben also die Affekte trotz ihrer unendlichen soziologischen Bedeutung zunächst Zustände des Subjektes.

Sie entstehen zwar nur durch die Einwirkung von anderen Individuen oder Gruppen; aber sie tun es auch, bevor diese Einwirkung in Wechselwirkung übergegangen ist, sie brauchen mindestens, wenn sie sich auch auf andere Wesen richten, doch nicht das Verhältnis mit diesen zu ihrer realen Voraussetzung oder Inhalt zu haben.

Dies eben ist gerade der Sinn der Treue (wenigstens der hier fragliche, obgleich sie sprachgebräuchlich auch noch andere Bedeutungen hat), sie ist das Wort für das eigentümliche Gefühl, das nicht auf unser Besitzen eines anderen, als auf ein eudämonistisches Gut des Fühlenden, auch nicht auf das Wohl des anderen, als auf einen dem Subjekt gegenüberstehenden objektiven Wert geht, sondern auf die Erhaltung der Beziehung zum anderen; sie stiftet diese Beziehung nicht und kann infolgedessen nicht, wie alle jene Affekte, vorsoziologisch sein, sondern durchströmt die gestiftete, eines ihrer Elemente an dem anderen festhaltend, als die Innenseite ihrer Selbsterhaltung.

Vielleicht hängt dieser spezifisch-soziologische Charakter der Treue damit zusammen, dass sie mehr als unsere anderen Gefühle, die über uns kommen wie Regen und Sonnenschein und ohne dass unser Wille über ihr Kommen und Gehen Herr wäre - unseren moralischen Vornahmen zugängig ist, dass ihr Versagen uns ein stärkerer Vorwurf ist, als wenn Liebe oder Sozialgefühl - jenseits ihrer bloß pflichtmäßigen Betätigungen - ausbleiben.

Diese besondere soziologische Bedeutung der Treue aber lässt sie noch eine vereinigende Rolle in einem ganz fundamentalen, die prinzipielle Form aller Vergesellschaftung tangierenden Dualismus spielen.

Es ist dieser: dass ein Verhältnis, das ein fluktuierender, fortwährend sich entwickelnder Lebensprozess ist, eine relativ stabile, äußere Form erhält; die soziologischen Formen des Miteinanderumgehens, der Einheitsbildung, der Darstellung nach außen können den Wandlungen ihrer Innerlichkeit, d. h. der auf den Andern bezüglichen Vorgänge in jedem Individuum, überhaupt nicht mit genauer Anpassung folgen, beide Schichten haben ein verschiedenes Entwicklungstempo, oder es ist auch oft das Wesen der äußeren Form, sich überhaupt nicht eigentlich zu entwickeln.

Das stärkste äußere Fixierungsmaß innerlich variabler Verhältnisse ist offenbar das rechtliche: die Eheform, die den Wandlungen des personalen Verhältnisses ganz unnachgiebig gegenübersteht; der Kontrakt zwischen zwei Sozien, der den Geschäftsgewinn zwischen ihnen halbiert, trotzdem sich bald herausstellt, dass der eine alles, der andere nichts leistet; die Zugehörigkeit zu einer städtischen oder religiösen Gemeinde, die den Individuen völlig fremd oder antipathisch wird.

Aber auch jenseits solcher ostensiblen Fälle ist es auf Schritt und Tritt bemerkbar, wie die zwischen Individuen - und auch zwischen Gruppen - sich entspinnenden Beziehungen sogleich zu einer Verfestigung ihrer Form neigen, und wie diese nun ein mehr oder weniger starres Präjudiz für den weiteren Verlauf des Verhältnisses bilden und ihrerseits gar nicht imstande sind, sich der vibrierenden Lebendigkeit, den leiseren oder stärkeren Wandlungen der konkreten Wechselbeziehung anzupassen.

Dies wiederholt übrigens nur die Diskrepanz innerhalb des Individuums.

Das innere Leben, das wir als Strömung, unaufhaltsamen Prozess, Auf und Nieder der Gedanken und Stimmungen empfinden, kristallisiert für uns selbst zu Formeln und festgelegten Richtungen, oft schon dadurch, dass wir es in Worte fassen.

Mag es auch dadurch zu konkreten, im einzelnen fühlbaren Inadäquatheiten nicht oft kommen; mag in glücklichen Fällen die feste äußere Form den Schwerpunkt oder Indifferenzpunkt darstellen, um den das Leben gleichmäßig nach der einen und nach der anderen Seite hin oszilliert - so bleibt doch der prinzipielle, formale Gegensatz zwischen dem Fließen, der wesentlichen Bewegtheit des subjektiven Seelenlebens und der Fähigkeit seiner Formen, die nicht etwa ein Ideal, einen Gegensatz gegen seine Wirklichkeit, sondern gerade dieses Leben selbst ausdrücken und gestalten.

Weil die äußeren Formen, im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben, nicht fließen, wie die innere Entwicklung selbst, sondern immer für eine gewisse Zeit fixiert bleiben, ist es ihr Schema: dass sie dieser inneren Wirklichkeit bald voraneilen, bald hinter ihr zurückbleiben.

Gerade wenn überlebte Formen durch das hinter ihnen pulsierende Leben zerbrochen werden, schwingt dieses sozusagen in ein entgegengesetztes Extrem und schafft Formen, die jenes reale Leben überholen und von ihm noch nicht ganz ausgefüllt werden - anhebend von ganz persönlichen Beziehungen, wo z. B. das Sie unter Freunden oft schon lange als eine der Wärme des Verhältnisses unangemessene Steifheit empfunden wird, das Du dann aber ebenso oft, mindestens am Anfang, als ein ganz leises Zuviel wirkt, als die Antizipation einer doch erst noch zu gewinnenden völligen Intimität; bis zu Änderungen der politischen Verfassung, die überlebte, zu unerträglichem Zwang gewordene Formen durch freiheitliche und weitere ersetzen, ohne dass doch die Wirklichkeit der politischen und wirtschaftlichen Kräfte für diese schon immer reif wäre, einen vorläufig zu weiten Rahmen an Stelle eines zu engen setzend. -

Die Treue nun, in ihrem hier auseinandergesetzten Sinne, hat gegenüber diesem Schema des sozialen Lebens die Bedeutung: dass mit ihr tatsächlich einmal die personale, fluktuierende Innerlichkeit den Charakter der fixierten, stabilen Form des Verhältnisses annimmt, dass diese soziologische, jenseits des unmittelbaren Lebens und seines subjektiven Rhythmus verharrende Festigkeit hier wirklich zum Inhalt des subjektiven, gefühlsmäßig bestimmten Lebens geworden ist.

Von den unzähligen Modifikationen, Abbiegungen, Verschlingungen der konkreten Schicksale abgesehen, ist die Treue die Brücke und Versöhnung für jenen tiefen, wesensmäßigen Dualismus, der die Lebensform der individuellen Innerlichkeit von der der Vergesellschaftung abspaltet, die doch von jener getragen wird; die Treue ist jene Verfassung der bewegten, in kontinuierlichem Flusse sich auslebenden Seele, mit der sie die Stabilität der überindividuellen Verhältnisform nun dennoch sich innerlich zu eigen macht, mit der sie einen Inhalt, dessen Form der Rhythmik oder Unrhythmik des wirklich gelebten Lebens widersprechen muss - obgleich sie selbst ihn geschaffen hat - in dieses Leben als seinen Sinn und Wert aufnimmt.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
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