Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
presents: Georg Simmel Online

  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online Georg Simmel: Verschiedene Schriften

 

Georg Simmel: Vom Realismus in der Kunst

ex: Der Morgen. Wochenzeitschrift für deutsche Kultur, begründet und hrsg. von Werner Sombart zusammen mit Richard Strauss, Georg Brandes und Richard Muther unter Mitwirkung von Hugo von Hofmannsthal, 2. Jg., No. 31 vom 31. Juli 1908, S. 992-998 (Berlin)

Daß das Werk der bildenden Kunst seinen »Gegenstand« außer sich hat, mit dessen Formen und Farben es übereinstimmen kann, - dies hat dem Denk- und Sprachgebrauch Gelegenheit gegeben, jedes Werk dieses Gebietes vor die Frage nach seiner Naturwahrheit zu stellen und es je nach dem Maße jener Übereinstimmung als mehr oder weniger »realistisch« oder »naturalistisch« zu bezeichnen.

Gegenüber der durchgehenden und entscheidenden Charakterisierung, die man damit gewonnen zu haben meint, muß es zunächst auffallen, daß es Künste gibt, die die Frage ihrer Naturwahrheit in diesem Sinne überhaupt nicht zu erheben gestatten.

Denn wenn gerade die tiefste künstlerische Tendenz, noch jenseits aller Einzelfragen von Technik, Gegenstand, persönlicher Auffassungsweise, durch den Begriff des Realismus oder seines Gegenteils bezeichnet werden soll, so wäre es doch sehr merkwürdig, daß eine Kunst wie die Musik, die in ihrer Sprache die ganze Welt ausdrückt, oder wie die Tanzkunst, die doch zu den Künsten der Anschaulichkeit gehört, in sich keinen Raum gewährten, das Prinzip des Realismus zu bejahen oder auch nur zu verneinen.

Wir würden schwerlich gerade die wesentlichste und allgemeinste Frage der bildenden Kunst an diesen Begriff knüpfen, wenn wir mit ihm nicht, mindestens instinktiv, an ein Grundproblem aller Kunst überhaupt zu rühren meinten.

Von diesem Postulat aus dem Realismus einen zutreffenderen Inhalt zu geben, als »Übereinstimmung mit dem äußeren Objekt«, hilft uns vielleicht die große Wendung, die die Erklärung der geistigen Tatsachen und ihres Verhältnisses zu den äußeren Objekten seit Kant genommen hat.

Kant selbst exemplifiziert diese Wendung durch die Tat des Kopernikus, der, als die Drehung des Sternenheeres um den Zuschauer zu Widersprüchen führte, es umgekehrt versuchte: indem er den Zuschauer sich drehen und die Sterne in Ruhe ließe.
So seien gewisse, alle Erfahrung beherrschenden Erkenntnisse nicht aus den Objekten herzuleiten, sondern aus den Formen und Bedingungen des erkennenden Geistes, in dem sich diese Erfahrungen als seine Vorstellungen erzeugen.

Durch solche Wendung zum Subjekt scheint es möglich, auch den Begriff des Realismus in seiner tieferen Bedeutung zu erfassen.
Wenn uns die Dinge: Raumgestaltungen und Farben, Bewegungen und Schicksale, das Äußere und das Innere des Lebens, in der Form der Wirklichkeit begegnen, so knüpfen sich gewisse Eindrücke und Gefühlsfolgen an sie, deren besonderer Ton uns sagt: hier ist Wirklichkeit - ein Ton, der nicht den reinen Inhalten und Qualitäten der beeindruckenden Dinge entspringt, sondern dem Umstand, daß sie eben wirklich sind.

Mir scheint nun, daß Kunstwerke in eben dem Maße »realistisch« sind, in dem die subjektiven Eindrücke und Reaktionen überhaupt, die sie auslösen, jenen gleichen, mit denen wir auf die Wirklichkeit der Dinge antworten, wobei - was das Wesentliche und Entscheidende ist - eine äußerliche Gleichheit zwischen den Dingen und dem Kunstwerk keineswegs erforderlich ist.

Vielmehr kann das Kunstwerk den gleichen Erfolg mit ganz anderen Mitteln, mit einem ganz anderen Inhalt herbeiführen.
Es liegt nur am nächsten, diese Gleichheit der psychologischen Wirkung durch möglichst genaue Nachahmung der Dinge der wirklichen Welt zu erzielen; allein es kann auch auf andere Weise, durch Umwege und Übertragungen, durch Symbole und Analogien geschehen.

Darum kann tatsächlich auch Musik realistisch wirken, indem sie dieselben Vorstellungen und Gefühle erregt wie die Unmittelbarkeit des Lebens.

Es ist ganz irrig, einen Realismus der Musik etwa in den vorkommenden Nachahmungen natürlicher Laute oder auch in den Annäherungen an dieses Prinzip, wie die Programmmusik sie gelegentlich gesucht hat, zu erblicken.

Ganz fern von solchen Naivitäten ist die Musik imstande, erotische Erregungen, religiöse Aufschwünge, Heiterkeiten und Depressionen in spezifisch ähnlicher Weise, mit dem gleichen psychologischen Cachet hervorzurufen, wie es der Erfolg realer Erscheinungen und Erlebnisse ist.

Ein Tanz, der von erotischen Motiven getragen wird, mag Vorgänge dieses Gebietes mit der größten Unverhülltheit nachahmen - so kann es sehr wohl in einer Weise geschehen, die all dieses als bloßes Bild erscheinen läßt und alle sexuelle Erregung fernhält.

Es kann aber ein Tanz solche unmittelbare Nachahmung völlig vermeiden und dennoch durch eine bestimmte Rhythmik, durch eine Gelöstheit und Hingegebenheit der Bewegungen, durch die Imponderabilien der von ihm ausströmenden Stimmung einen erotischen Aufregungszustand im Beschauer hervorrufen, der trotz aller Freiheit von Nachahmung einer objektiven Realität, dennoch deren subjektive Wirkung enthält.

Eine solche Darbietung wird allgemein als naturalistisch oder realistisch bezeichnet werden, und unbefangene Gemüter pflegen in ähnlichen Fällen erstaunt zu sein, wenn man ihnen klarmacht, daß sie ja gar nichts »Anstößiges« gesehen haben.

Der Realismus ist ein viel weiteres Prinzip, als daß es von der äußerlichen Nachahmung der Wirklichkeitsinhalte gedeckt werden könnte.

Diese ist nur eines der Mittel, deren er sich bedienen kann, und die Beschränktheit des realistischen Dogmas in der Kunst pflegt darin zu liegen, daß dieses bloße Mittel zum Selbstzweck übersteigert wird.

Der Naturalismus großen Stiles hat seinen Reichtum und seine Bedeutung immer darin gezeigt, daß er die subjektiven Wirkungen des Natureindrucks durch andere Mittel, als der Natureindruck selbst, zu erzeugen wußte.

Ja, es scheint, als ob der Reiz und die Bedeutungsintensität des Kunstwerkes in demselben Maße stiege, in dem das von ihm unmittelbar vor Augen Gestellte eine Distanz und Selbständigkeit gegenüber dem natürlichwirklichen Objekt besitzt und dennoch den gleichen psychologischen Erfolg wie dieses zu erzeugen weiß.

Manche Porträts z. B. der großen französischen Naturalisten lassen uns die volle körperliche Atmosphäre des Modells empfinden, wir atmen sozusagen die Luft ihrer Wirklichkeit.

Dies aber ist nicht Sache der bloßen Anschaulichkeit, und kann es nicht sein.

Niemals nehmen wir an den Erscheinungen, zu deren Bildung unsere Sinne angeregt werden, ihre Wirklichkeit wahr; zu den Farben und Formen vielmehr, die die Erscheinung mit der Halluzination und der irgendwie zuwege gebrachten Vorspiegelung ununterscheidbar teilen kann, tritt der Gedanke oder das Gefühl: dies sei eben nicht nur ein Formen- und Farbenspiel, sondern es sei Wirklichkeit - als eine neue Tönung hinzu, gleichsam als ein neuer Aggregatzustand; mit der reinen Sichtbarkeit des Inhalts, wie sie auch den ganzen Stoff des Bildes ausmacht, ist dieser Wirklichkeitsakzent noch nicht gegeben, sondern erst die besonderen Kunstmittel des Realismus rufen ihn hervor, oder vielmehr nicht ihn in seiner objektiven Bedeutung (das tut die Wachsfigur und das Panorama), sondern die weiteren inneren Reaktionen, die die sichtbaren Qualitäten der Dinge dann begleiten, wenn der Wirklichkeitston auf ihnen ruht.

Man könnte sogar sagen, die Wirklichkeit als solche sei etwas Metaphysisches: die Sinne können sie uns nicht geben, sondern umgekehrt ist sie etwas, was wir den Sinnen geben, eine Beziehung des Geistes zu dem unaussprechlichen Geheimnis des Seins, keine besondere, anschauliche Eigenschaft der Dinge, sondern eine Bedeutung, die über die Summe ihrer Eigenschaften kommt.

Dies ist der tiefste Grund, weshalb die Kunst mit der Wirklichkeit als solcher nichts zu schaffen hat: weil sie Sache der Sinne ist, weil sie nur mit den anschaulichen Inhalten der Dinge rechnen und wirken kann, nicht aber mit dem, was von anderen Kategorien her ihr hinzugefügt wird, oder was sie metaphysisch durchdringt.
Nicht weil die Wirklichkeit etwas zu »Niedriges«, der Kunst Unwürdiges wäre, sondern weil sie etwas Abstraktes ist und jenseits der Oberfläche der Dinge liegt, ist sie der Kunst fremd, die vielmehr nur die Qualitäten der Wirklichkeit, nur Formen und Farben zu neuen Gebilden zusammenfügt.

Nun liegt allerdings dem Realismus, soweit er wirklich Kunst ist, das Bestreben fern, dem Bewußtsein die Wirklichkeit der Anschauungen, die er vorführt, zu suggerieren.

Aber indem er die Wirklichkeit selbst sozusagen überspringt, liegt ihm doch an dem Hervorbringen derjenigen inneren Zustände und Impulse, Gefühle und Assoziationen, die sich sekundär an das Wirklichsein der Dinge knüpfen und durch deren bloß inhaltliche Qualitäten, durch die Gestaltung ihrer bloßen Erscheinung unmittelbar nicht erzielt wird.

Der Reiz etwa irgend einer Farbigkeit in der gegebenen Welt liegt doch nicht ganz in dem rein optischen Spiele des koloristischen Eindrucks, sondern es klingt - man mag dieses Klingen unbewußt nennen oder es, nicht herauslösbar, die übrigen Reize der Erscheinung durchwachsen lassen - das Glück mit, daß die Welt es zu einem solchen Dasein gebracht hat; wir sind nicht nur von dem Inhalt solcher Erscheinungen hingerissen, sondern auch davon, daß sie wirklich ist, daß wir sie als eine Realität, gleich unserer eigenen Realität, erleben.

Dieses Gefühl also übermittelt uns das naturalistische Kunstwerk, es gibt uns nicht nur die Qualitäten der Wirklichkeit ohne die Wirklichkeit selbst, sondern auch das Glück der Wirklichkeit ohne die Wirklichkeit.

Ähnlich liegt es mit den Reizen des erotischen Gebietes.

Der unkünstlerische Naturalismus führt etwa die Details einer erotischen Szene so vor, daß er uns mitten in ihre Wirklichkeit versetzt; der feinere wird das verschmähen, er wird durch die bloße Stimmung der Farbigkeit und des Linienrhythmus alle die Reflexe aus den tieferen Schichten der Seele herausholen, die sich freilich ursprünglich nur an die Wirklichkeit des erotischen Lebens knüpfen, jetzt aber, gleichsam freischwebend, die bloße Anschaulichkeit der Gestaltung umgeben, ohne noch der Vorstellung einer substantiellen Realität zu bedürfen.
Ebenso verhält es sich mit den sympathischen oder antipathischen Reaktionen auf eine menschliche Erscheinung.

Die Züge eines Gesichtes mögen uns in ihrer formalen Beschaffenheit gefallen oder mißfallen; allein das spezifische Gefühl, das wir Sympathie oder Antipathie nennen, knüpft sich nicht an dies bloß Bildhaft-Anschauliche, sondern an das Bewußtsein, daß dieser Mensch lebt, daß er als Realität da ist und als solche auf unsere eigene Realität wirkt.

Der höhere Realismus nun mag auf die photographie oder wachsfigurenhafte Realitätsvorstellung seines Modells verzichten, auf den plumpen Effekt der »erschreckenden Wahrheit« und darauf, daß das Bild »aus dem Rahmen zu springen scheint«; aber jene Obertöne von Sympathie und Antipathie, obgleich ihrem Ursprung und Wesen nach an die Realitätsvorstellung gebunden, pflegen, nun unter Ausschaltung dieser, den Eindruck realistischer Porträts sehr entschieden zu begleiten.

Ein Porträt von Rembrandt, so scharf charakterisiert es sei, ruft selten gerade diese Effekte in erheblicher Höhe hervor; es ist, als ob es uns den gesamten Bau eines physisch-psychischen Seins so lückenlos anzuschauen zwänge, daß für jene mehr subjektiven Stimmungsreaktionen kein Raum in uns bleibt.

Dagegen empfinden wir einem Porträt von Renoir, noch mehr einem von Liebermann gegenüber sehr energisch, daß uns der dargestellte Mensch sympathisch oder unsympathisch ist - in deutlichem Unterschiede dagegen, ob wir gegen das Bild als Kunstwerk das eine oder das andere Gefühl richten.

Es ist sehr merkwürdig, daß gerade diejenige Kunsttendenz, die sich der reinsten Objektivität, der leidenschaftslosesten Sachlichkeit rühmt, derartig persönlichen Gefühlsreflexen viel eher Gelegenheit und Anregung gibt, als die scheinbar viel subjektivere Darstellungsweise Rembrandts.

Dem realistischen Kunstwerk ist es eben eigen, auch da, wo es keineswegs durch rohe Illusion mit der Wirklichkeitsform seiner Inhalte zu konkurrieren trachtet, dennoch die sekundären psychologischen Reaktionen hervorzurufen, die gerade nur aus der Wirklichkeit dieser Inhalte ihren Ursprung ziehen.

Daß die naturalistischen Künstler die Dinge abzuschreiben meinen, »wie sie wirklich sind« - während sie doch nur das hinschreiben, was die subjektiven Gefühlsfolgen ihres wirklichen Seins hervorzurufen geeignet ist -, darf an dieser Deutung nicht irremachen; wissen wir doch, daß sogar viele Künstler der souveränsten Stilisierung, der nachweislich freiesten Umbildung des Gegebenen oft überzeugt sind, ganz getreu nur der Wirklichkeit nachzugehen.

Denn auch dies wird jene Wendung erklären helfen, die das Bild des Objekts aus den Anschauungsgesetzen des Subjekts ableitet: wenn der Künstler das macht, was er sieht, so ist die tiefere Grundlage dafür, daß er von vornherein die Dinge so sieht, wie er sie machen kann.

In dem Verhältnis des Künstlers zu den Dingen sind Rezeptivität und Aktivität, die bei den anderen Menschen getrennt verlaufen, eines und dasselbe, sein Sehen ist unmittelbar produktiv: dieselbe Richtung seiner Natur, die seine Schöpfungen in einer bestimmten Weise gestaltet, hat auch seine Art des Sehens wachsen lassen.

Unter Vorbehalt also von allerhand Unvollkommenheiten und von Mischungen der künstlerischen mit der gewöhnlichen Anschauungsweise wird gerade der Künstler der stärksten Individualität und der unzweideutigsten Talentrichtung dann am treuesten dem Erscheinungsbild nachzugehen meinen, wenn er am entschiedensten seiner Individualität folgt.

So wenig also zu leugnen ist, daß der Sinn des höheren Realismus durchaus nicht in der Erregung von Wirklichkeitsvorstellungen, sondern der tieferen psychologischen Erfolge der Wirklichkeitsvorstellung liegt, obgleich er demnach in der Wahl seiner Mittel ganz frei ist und durch die mannigfaltigsten Auffassungen, Formungen, Techniken von der Tatsache Gebrauch macht, daß die gleiche psychologische Wirkung durch die verschiedensten Ursachen erreichbar ist; so wird er doch im allgemeinen das Material und die Synthesen vorziehen, die sich auch in der Form empirischer Wirklichkeit darbieten.

Es liegt am nächsten, die eigentümlichen seelischen Wirkungen, die das Sein der Dinge ausübt, durch das Bild derjenigen Gestaltungen zu erreichen, in denen ihre Realität erfahrungsgemäß auftritt.

Bei all diesem Ausschalten des unmittelbaren Wirklichkeitseindrucks, bei all dieser Sublimierung des Kunstzweckes zu den Antworten, die die tieferen Schichten der Seele auf die Tatsache des Seins geben, bleibt es unleugbar, daß das naturalistische Kunstwerk seine wirkende Bedeutung von etwas her bezieht, was nicht Kunst ist.

Die besonderen Vorstellungen, Anregungen, Gefühle, die sich an eine Erscheinung knüpfen, wenn wir sie als eine wirkliche empfinden oder wissen, stehen doch zu den Wirkungen der Kunst als Kunst in einem ganz zufälligen Verhältnis.

Die Kunst nimmt zwar die Gestalten des Seins auf, aber das Sein der Gestaltungen läßt sie draußen, sowohl in seinem unmittelbaren Empfundenwerden wie in seiner metaphysischen Bedeutung.
Wenn also der Realismus seine Wirkungen aus denjenigen aufbaut, die gerade dem Sein der Dinge, nicht aber ihrer reinen, von ihrer Wirklichkeitsform abgelösten Erscheinung entsprechen, so wird er damit der Kunst als solcher nicht weniger untreu, als er es der »idealisierenden« Kunst vorwirft.

Diesen Vorwurf erhebt er mit Recht.

Ein Kunstwerk, das seine zentrale, das Ganze bestimmende und dem Ganzen seinen Wert gebende Bedeutung in einer »Idee« jenseits seiner Erscheinung hat, in einer Idee, die ihren Sinn und Wert für sich und unabhängig von dieser Erscheinung besitzt - macht die Kunst gleichfalls einerseits zu einem bloßen Mittel, um mit ihr Gefühle und Impulse zu erzielen, die nach einem Punkte außerhalb der Kunst gravitieren; es macht andererseits die Idee zum Mittel für den Wert und Eindruck des Kunstwerkes, fügt ihm also einen sozusagen nicht selbstverdienten Reiz hinzu, in den groben Fällen etwa aus historischen Reminiszenzen, in den feineren aus idealen Werten, religiösen oder ethischen, metaphysischen oder gemütsmäßigen.

Der Realismus und dieser Idealismus gehen beide gleich weit, nur nach verschiedenen Dimensionen, über die Selbständigkeit und Geschlossenheit der Kunst als Kunst hinaus.

Die bildende Kunst hat eben durchaus keine andere Domäne als die Erscheinung, als dasjenige, was man den qualitativen Inhalt der anschaulichen Welt nennen könnte.

Das Sein der Erscheinung, das gleichsam unterhalb ihrer Oberfläche liegt, ist ebenso ein jenseits der Kunst, wie die Ideen es sind, die entsprechend oberhalb der Erscheinung liegen.
In beiden Fällen lebt sie auf Borg, ihr Ort ist weder die Realität noch die Idealität der Dinge, weder deren Sein, noch deren Zugehörigkeit zu den idealen Ordnungen der Sittlichkeit oder der Erkenntnis, der sozialen oder der religiösen Werte - sondern ein Drittes: sozusagen die Dinge selbst in der Reinheit ihrer Erscheinung, in dem Reiz und der Bedeutung dieser selbst und in völliger Unabhängigkeit von der Tatsache ihres Seins und von ihrer Einbeziehung in Reihen, für welche die Erscheinung nur eine Zufälligkeit und ein nie ganz zulänglicher Ausdruck sein kann.

Damit ist nicht etwa das bestechende Dogma gemeint: der »Gegenstand« sei für das Kunstwerk und seine Bedeutung als solches vollkommen gleichgültig, ein Kohlkopf sei ein ebenso würdiges und ebensolcher Erhabenheit der Kunst raumgebendes Objekt für sie wie eine Madonna.

Hieran ist nur dies richtig: daß die Bedeutung der Madonna als Gegenstand des Kultus für die künstlerische Darstellung allerdings ebenso gleichgültig ist wie die Bedeutung des Kohlkopfes als Nahrungsmittel. 

Wenn der Gegenstand eines Kunstwerkes außerdem in Ordnungen steht, die mit der Kunst als Kunst nichts zu tun haben, so kann sein Platz in solchen Reihen und die Bedeutung, die er von diesem Platze zu Lehen trägt, dem künstlerischen Werte seiner Darstellung nichts zu- und nichts abtun; nur durch psychologische Assoziationen, die das innerlich Unverbundene äußerlich aneinanderbringen, kann hier eine unreinliche Vermischung stattfinden.

Der Vorrang der Madonna als malerischen Vorwurfes vor dem Kohlkopf liegt tatsächlich nur darin, daß sie weitere und tiefere Möglichkeiten für die Realisierung rein malerischer Werte gibt, als dieser.

Auf das Prinzip, das diesen Unterschied begründet, führt die eigentümliche Erfahrungstatsache, daß ein Madonnenbild - zufällige Ablenkungen ausgenommen - eine um so stärkere religiöse Wirkung auslöst, ein je besseres rein malerisches Kunstwerk es ist.

Da nun der religiöse Zweck ganz außerhalb des Kunstwerkes liegt und seine Vollendung nicht bewirkt haben kann - denn er ist auch bei sehr schlechten Künstlern sehr intensiv vorhanden -, so muß das rein artistische Problem der Madonna, ohne über sein Gebiet hinauszugreifen, dennoch eine Beziehung zu ihrem religiösen Sinne einschließen.

Das aber ist nur so zu denken, daß die Erscheinung rein von sich aus diejenigen Eindruckswerte, Stimmungen, Gedankenreihen auslöst, die den anderen Ordnungen, von völlig anderen Voraussetzungen aus, einwohnen.

Wenn die seelischen Reaktionen, die das Madonnenbild durch seine malerische Vollendung erreicht, denen verwandt sind, die die religiöse Vorstellung der Madonna umgeben, so ist das für die künstlerische Frage freilich so gleichgültig, wie es für den Eindruck eines Porträts ist, daß die lebendige Wirklichkeit seines Modells einen diesem ähnlichen erzeugt.

Allein daß nun einmal die Möglichkeit und, zum Zweck der rein artistischen Vollendung, auch die Forderung gegeben ist, das Anschauungsbild der Madonna zu einer derartigen Fülle und Tiefe der seelischen Bedeutung zu entwickeln, das gibt der Madonna, als künstlerischem Objekt, eine Bedeutsamkeit und einen Reichtum malerischer Aufgaben und Effekte, wie sie eben der Kohlkopf nicht besitzt.

Daß die Gestaltung, die wir Madonna nennen, nur auf Grund ihrer religiösen Genesis und Geschichte zu diesen Ansprüchen und Wirksamkeiten ihrer Erscheinung gekommen ist, ist hierfür ganz ohne Belang.

Sie bestehen nun einmal, und bestehen als rein künstlerische.
Sie müssen prinzipiell genau geschieden werden, sowohl von den daneben bestehenden historischen Assoziationen wie von den aktuellen religiösen Empfindungen, die dem Madonnenbild noch eine weitere, nicht künstlerisch erzeugte Weihe und Eindruckskraft hinzufügen.

Daraus aber, daß innerhalb der Domäne malerischer Impressionen ein Kunstwerk Bedeutungen besitzen kann, die den religiösen, einer ganz anderen Sphäre zugehörigen analog sind; indem die künstlerische Vollendung diese aus sich hervorgehen läßt und gleichsam über sie wieder zu sich selbst zurückkehrt - wird begreiflich, daß das künstlerisch vollkommenere Madonnenbild auch dem religiös-kultlichen Zwecke besser dient als das malerisch unvollkommenere.

Daß es dies tut, gibt ihm freilich künstlerisch keinen Vorzug vor dem gemalten Kohlkopf, allein es ist wenigstens das Symbol und der Hinweis dafür, daß die Madonna, auch als Aufgebot reiner Kunstmittel, sehr viel reicheren und tieferen Kombinationen, sehr viel erschütternderen Effekten Raum gibt als der Kohlkopf.

Hier liegt die Verwechslung, die der unkünstlerische Mensch immer begehen wird: er wird die in einem Kunstwerk lebende Idee immer in ihrer Bedeutung als Idee, als dasjenige, was sie auch außerhalb des Kunstwerkes ist und wert ist, empfinden.

Indem er dies nun dem Kunstwerk gutschreibt und es so in eine ihm ganz heterogene Ordnung hinüberreichen läßt, stattet er die Madonna, bloß weil sie Madonna heißt, mit einer dem Kunstwerk fremden Würde aus und wird, nach anderer Seite hin, die Darstellung etwa einer erotischen Szene anstößig finden, bloß weil ihr Inhalt, wenn er außerhalb des Kunstwerkes, in der Sphäre der Wirklichkeit, erfahren würde, als unanständig gälte.

Ja, dies noch steigernd, erscheint ihm sogar das Aktbild als unziemlich, bei dem doch nicht einmal der Inhalt, auch als realer gedacht, unanständig ist; hier wirkt sogar schon der Gedanke, daß die Realität indiskreten Blicken preisgegeben sein könnte, und erst die Unziemlichkeit dieser Tatsache, die also nach allen Seiten hin aus dem Kunstwerk herausgerückt ist, wird in dieses als seine eigene Unziemlichkeit hineingetragen.

Tatsächlich ist es die völlig eigene Sprache des Kunstwerkes, in der es die »Idee« der Madonna ausdrückt; sie ist hier eben nur die Idee dieses Kunstwerkes, ganz gleichgültig dagegen, was diese Idee etwa bedeutet, wenn sie noch innerhalb anderer Ordnungen Existenz gewinnt.

Nur daß das Bild für die meisten Menschen nur durch die Erfüllung der Ansprüche dieser anderen Ordnung zu beweisen pflegt, daß es die ihm und nur ihm eigene Formung der Idee, die nur ihm einwohnende Forderung erfüllt hat.

Und ebenso nun verhält es sich endlich mit der Realitätsform des Bildinhaltes.

So wenig wie das, was die Bildidee noch außerhalb des Bildes ist, in dieses hineinwirken darf, so wenig darf dies das Seindes Bildinhaltes, das dieser noch außerhalb des Bildes besitzt.

Dennoch besteht auch hier in den meisten - nicht in allen - Fällen die Vorstellung zu Recht, daß die Synthesen und Wirksamkeiten, die die Bildinhalte innerhalb der Wirklichkeit finden, ein Kriterium auch für die rein artistische Vollendung ihrer Bildform ausmachen.
Es ist z. B. die Funktion des Porträts, uns von der Einheit, d. h. dem notwendigen Zusammenhang der Züge eines Gesichts zu überzeugen.

Diesen Zusammenhang besitzt freilich irgendwie schon die natürliche Gegebenheit des Gesichtes, wenngleich nicht immer in ebenso überzeugender Weise, schon weil die Realität des Menschen unzählige Assoziationen weckt und ihn in unzählige Reihen einstellt, die mit der reinen Anschauung seiner nichts zu tun haben, aber sich für den Betrachtenden fortwährend in diese Anschauung mischen.

Das Porträt abstrahiert also, insoweit es nicht in die Täuschung und Selbsttäuschung des Naturalismus verfällt, durchaus von dem Sein des Dargestellten und gestaltet allein das Anschaulich-Darstellbare an ihm, gestaltet es aber in einer Weise, die von dem vorgefundenen Sein vorgebildet ist; es ruht auf der Voraussetzung, daß die Formung, die es dem bloßen Anschauungsinhalt gibt, und zwar rein von den künstlerischen Forderungen her, denjenigen Zusammenhang und Sinn spiegelt und deutet, den diese Erscheinung in der Form und durch die Kräfte des wirklichen Seins besitzt; weshalb denn - von gewissen, durch besondere Problemstellungen und Verschiebungen bedingten Ausnahmen abgesehen - das malerisch bessere Porträt auch das im tiefsten Sinne ähnlichere sein wird.

Nur daß jenes Sein mit dem, was ihm als Sein spezifisch ist, so wenig in die Kunstwirkung hineinragen darf, wie die Idee des Bildes mit dem, was ihr als Idee an eigentümlicher Bedeutung und Wirkung zukommt.

Insofern der Realismus auf jene Seinswirkung nicht verzichtet, wird er damit der eigentlich künstlerischen Intention nicht weniger untreu als der Idealismus.

Wenn es von der realistischen Partei mit besonderer Entrüstung zurückgewiesen wird, daß die Kunst »etwas soll« - so gilt dies selbstverständlich nicht von den Forderungen und Idealen, die der Kunst selbst wesentlich sind: gewiß soll das Kunstwerk etwas, nämlich so vollkommen wie möglich sein.

Es gilt aber mit vollem Recht von den Zwecksetzungen, die man der Kunst von außerhalb ihrer aufdrängen will, moralischen oder vergnüglichen, patriotischen oder religiösen.

Wenn sich aber der Realismus gegen solche fremden Gesetzgebungen, die die Kunst zu einem bloßen Mittel herabsetzen, wehrt, so vergesse er nicht, daß er, die Wirklichkeit als Wirklichkeit durch das Kunstwerk hindurchwirken lassend -in grober Unmittelbarkeit oder mit jenen feineren, seelischsekundären Reaktionen -, den genau gleichen Fehler begeht.

Er dient der Idee »Realität« ebenso, wie jene der Idee Religion oder Versittlichung oder Vaterland.

Auch er setzt die Kunst zu einem Mittel für die Realitätswirkung herab - für eine Wirkung also, die ihren Wert nicht aus dem Kunstwerk, sondern aus Jenseits ihrer gelegenen Ordnungen und Bedeutsamkeiten bezieht.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
Andreasstr. 15 
8050 Zürich 
Tel. ++41 55 2444012