Georg Simmel:
Der Brief
Aus einer Soziologie des Geheimnisses
ex:
Österreichische
Rundschau, hrsg. von Alfred Frhr. von Berger, Karl Glossy, Leopold Frhr.
von Chlumecky und Felix Frhr. von Oppenheimer, 15. Jg., Heft 5 vom 1. Juni
1908, S.334-336 (Wien)
Die Schriftlichkeit hat ein
aller Geheimhaltung entgegengesetztes Wesen.
Vor dem allgemeinen
Gebrauch der Schrift musste jede noch so einfache rechtliche Transaktion
vor Zeugen abgeschlossen werden.
Die schriftliche Form
ersetzt dies, indem sie eine, zwar nur potentielle, aber dafür
unbegrenzte »Öffentlichkeit« einschließt; sie bedeutet, dass nicht nur
die Zeugen, sondern überhaupt ein jeder wissen kann, dass dies Geschäft
abgeschlossen ist.
Unserem Bewusstsein steht
hierbei die eigentümliche Form zur Verfügung, die man als »objektiven
Geist« bezeichnen kann: Naturgesetz und sittliche Imperative, Begriffe
und künstlerische Gestaltungen, die für jeden, der sie ergreifen kann
und will, gleichsam bereitliegen, in ihrer zeitlosen Gültigkeit aber
davon unabhängig, ob, wann, von wem dieses Ergreifen geschieht.
Von dieser unermesslich
bedeutsamen Kategorie ist die Schriftlichkeit ein Symbol oder ein
sinnlicher Träger.
Der geistige Inhalt, einmal
niedergeschrieben, hat damit eine objektive Form erhalten, eine
prinzipielle Zeitlosigkeit seines Da-Seins, einer Unbeschränktheit von
Reproduktionen im subjektiven Bewusstsein zugängig, ohne aber seine
Bedeutung oder Gültigkeit, da sie nun fixiert ist, von dem Kommen oder
Ausbleiben der seelischen Realisierung durch Individuen abhängig zu
machen.
So besitzt das Geschriebene
eine objektive Existenz, die auf jede Garantie des Geheimbleibens
verzichtet.
Aber diese Ungeschütztheit
gegen jede beliebige Kenntnisnahme lässt vielleicht die Indiskretion
gegen den Brief als etwas ganz besonders Unedles empfinden, so dass für
feinere Gefühlsweisen gerade die Wehrlosigkeit des Briefes zu einer
Schutzwehr seines Geheimbleibens wird.
An diesem Punkte strömen
die eigentümlichen Gegensätze zusammen, die überhaupt den Brief als
soziologisches Phänomen tragen.
Die Form der brieflichen Äußerung
bedeutet eine Objektivierung ihres Inhalts, die hier eine besondere
Synthese einerseits mit dem Bestimmtsein für ein einzelnes Individuum
bildet, anderseits mit dem Korrelate dieses: der Personalität und
Subjektivität, mit der sich der Briefschreiber, im Unterschiede vom
Schriftsteller, gibt.
Und gerade in der letzteren
Hinsicht ist der Brief als Verkehrsform etwas ganz Einzigartiges.
Bei unmittelbarer Gegenwärtigkeit
gibt jeder Teilnehmer des Verkehrs dem anderen mehr, als den bloßen
Inhalt seiner Worte; indem man sein Gegenüber sieht, in die mit Worten
gar nicht auszudrückende Stimmungssphäre desselben eintaucht, die
tausend Nuancen im Rhythmus und in der Betonung seiner Äußerungen fühlt,
erfährt der logische oder der gewollte Inhalt seiner Worte eine
Bereicherung und Modifikation, für die der Brief nur äußerst dürftige
Analogien bietet; und auch diese werden im ganzen nur aus Erinnerungen des
persönlichen Verkehrs erwachsen.
Es ist der Vorzug oder
Nachteil des Briefes, prinzipiell nur den reinen Sachgehalt unseres
momentanen Vorstellungslebens zu geben und das zu verschweigen, was man
nicht sagen kann oder will.
Und nun ist das
Charakteristische, dass der Brief, wenn er sich nicht etwa nur durch seine
Ungedrucktheit von einer Abhandlung unterscheidet, dennoch etwas ganz
Subjektives, Augenblickliches, nur Persönliches ist, und zwar keineswegs
nur, wenn es sich um lyrische Expektorationen, sondern auch wenn es sich
um durchaus konkrete Mitteilungen handelt.
Diese Objektivierung des
Subjektiven, diese Entkleidung des letzteren von allem, was man gerade
jetzt von der Sache und von sich selbst nicht offenbaren will, ist nur in
Zeiten hoher Kultur möglich, wo man die psychologische Technik
hinreichend beherrscht, um den momentanen Stimmungen und Gedanken, die
auch nur als momentane, der aktuellen Anforderung und Situation
entsprechende, gedacht und aufgenommen werden, dennoch Dauerform zu
verleihen.
Wo eine innere Produktion
den Charakter des »Werkes« hat, ist diese Dauerform durchaus adäquat;
im Brief aber liegt ein Widerspruch zwischen dem Charakter des Inhalts und
dem der Form, den zu produzieren, zu ertragen und auszunutzen es einer
beherrschenden Objektivität und Differenziertheit bedarf.
Diese Synthese findet ihre
weitere Analogie in der Mischung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, die
der schriftlichen Äußerung, zuhöchst dem Briefe, eigen ist.
Es handelt sich nicht
einfach um das Mehr oder Weniger, das der eine von sich dem anderen zu
erkennen gibt, sondern darum, dass das Gegebene für den Empfänger mehr
oder weniger deutlich ist und dass dem Mangel an Deutlichkeit, wie zum
Ausgleich, eine proportionale Mehrheit möglicher Deutungen entspricht.
Sicher gibt es kein irgend
dauernderes Verhältnis zwischen Menschen, in dem nicht die wechselnden Maße
der Deutlichkeit und der Deutbarkeit der Äußerungen eine wesentliche
Rolle spielen.
Die schriftliche Äußerung
erscheint zunächst als die sichere, als die einzige, von der sich »kein
Jota rauben lässt«.
Allein diese Prärogative
des Geschriebenen ist die bloße Folge eines Mangels: dass ihr die
Begleiterscheinungen des Stimmklanges und der Akzentuierung, der Gebärde
und der Miene fehlen, die für das gesprochene Wort ebenso eine Quelle der
Verundeutlichung wie der Verdeutlichung sind.
Tatsächlich aber pflegt
sich der Empfangende nicht mit dem rein logischen Wortsinn zu begnügen,
den der Brief freilich unzweideutiger als die Rede überliefert, ja, unzählige
Male kann er dies gar nicht, weil, um auch nur den logischen Sinn zu
begreifen, es mehr als des logischen Sinnes bedarf.
Darum ist der Brief, trotz
oder richtiger wegen seiner Deutlichkeit, viel mehr als die Rede der Ort
der Missverständnisse und der »Deutungen«.
Entsprechend dem
Kulturniveau, auf dem überhaupt eine auf schriftlichen Verkehr gestellte
Beziehung möglich ist, sind deren Bestimmungen in scharfer
Differenziertheit auseinandergetreten: was an menschlichen Äußerungen
ihrem Wesen nach deutlich ist, ist am Brief deutlicher als an der Rede,
das, was an ihnen prinzipiell vieldeutig ist, ist dafür am Brief
vieldeutiger als an der Rede.
Drückt man dies mit den
Begriffen der Freiheit und der Gebundenheit aus, die der Empfangende gegenüber
der Äußerung besitzt: so ist sein Verständnis in bezug auf ihren
logischen Sinn durch den Brief gebundener, in bezug auf ihren tieferen und
persönlichen Sinn aber freier als gegenüber der Rede.
Man kann sagen, dass die
Rede durch alles das, was sie an Sichtbarem, aber nicht Hörbarem und an
Imponderabilien des Sprechers selbst umgibt, sein Geheimnis offenbart, der
Brief es aber verschweigt.
Der Brief ist deshalb
deutlicher, wo es auf das Geheimnis des anderen nicht ankommt,
undeutlicher und vieldeutiger aber, wo dies der Fall ist.
Unter dem Geheimnis des
anderen verstehe ich seine logisch nicht ausdrückbaren Stimmungen und
Seinsqualitäten, auf die wir doch unzählige Male zurückgreifen, selbst
um die eigentliche Bedeutung ganz konkreter Äußerungen zu verstehen.
Bei der Rede sind diese
Deutungshülfen mit dem Inhalt so verschmolzen, dass sich eine völlige
Einheit des Verständnisses ergibt; vielleicht ist dies der entscheidenste
Fall der allgemeinen Tatsache, dass der Mensch das, was er wirklich sieht,
hört, erfährt, und das, was seine Interpretation durch Zusetzen,
Abziehen, Umformen daraus macht, überhaupt nicht auseinander zuhalten
imstande ist.
Es gehört zu den geistigen
Erfolgen des schriftlichen Verkehrs, dass er aus dieser naiven
Einheitlichkeit eines ihrer Elemente - eben den bloßen Sachgehalt der Äußerung
- herausdifferenziert und dadurch die Vielheit dieser prinzipiell
geschiedenen Faktoren veranschaulicht, die unser scheinbar so einfaches
gegenseitiges »Verstehen« ausmachen. |