Georg Simmel: Das
Ende des Streits
ex: Die
neue Rundschau, XVI. Jahrgang der freien Bühne, I. Band (= Heft 6 vom
Juni 1905), S. 746-753
In dem Miteinander der Menschen verschlingt sich untrennbar das
Füreinander mit dem Gegeneinander.
Aller Kampf ist nur die Alleinherrschaft eines antagonistischen
Moments, das auch dem Frieden nicht völlig, sondern nur bis zur
Unkenntlichkeit fehlt.
Weil wir in jedem Augenblick im Frieden und zugleich im Kampfe stehen
und das Leben sie kontinuierlich durcheinander gleiten lässt, von leisen,
gleich wieder abgebrochenen Ansätzen bis zu der scheinbaren
Unwiderruflichkeit ihrer Aufgipfelungen - so steht der Kampf noch immer
unter dem Zeichen der Beziehung, aus der er sich als ihre Verneinung
erhoben hat, so ist der Friede von dem Kampf gefärbt, den er beendet hat.
Aber nicht nur von seiner Dauer, seinem Gegenstande, seiner Heftigkeit,
sondern auch von den besondern Nuancen seines Endes.
Täusche ich mich nicht, so hat der Reichtum der Zwischenformen, mit
denen der Streit sich in den Frieden hineinbildet, - und der seelischen
Landschaft, die diese Entwicklungen umgibt - noch das Inventar nicht
gefunden, von dem die folgenden Blätter einen Überschlag geben möchten.
Es gibt wohl keine Seele, der der formale Reiz des Kampfes und der des
Friedens ganz versagt wäre und weil eben jeder von beiden in irgend einem
Maße besteht, erwächst über ihrem Reize der neue des Wechsels zwischen
beiden.
Nur welchen Rhythmus dieses Wechsels die einzelne Natur fordert,
welchen Teil seiner sie als Hebung und welchen als Senkung empfindet, ob
sie ihn mit eigner Initiative hervorruft oder von den Entwicklungen des
Schicksals erwartet - nur dies unterscheidet ihre Individualität.
Das erste Motiv der Streitbeendigung: das Friedensbedürfnis - ist
deshalb etwas viel Inhaltvolleres, als die bloße Ermüdung am Kampf, es
ist jene Rhythmik, die uns jetzt nach dem Frieden verlangen lässt, als
nach einem ganz konkreten Zustand, der keineswegs nur das Ausbleiben des
Streits bedeutet.
Nur muss man die Rhythmik nicht ganz mechanisch verstehen.
Man hat freilich gesagt, dass intime Verhältnisse, wie Liebe und
Freundschaft, gelegentlicher Zerwürfnisse bedürften, um sich an dem
Gegensatz gegen die erlittne Entzweiung erst ihres ganzen Glückes wieder
bewusst zu werden; oder um die Enge der Beziehung, die nun einmal für das
Individuum etwas Zwanghaftes, Einschließendes hat, durch eine Entfernung
zu unterbrechen, die ihren Druck unfühlbar macht.
Es werden nicht die tiefsten Verhältnisse sein, die eines solchen
Turnus bedürfen; er wird eher roheren Naturen eigen sein, die nach groben
Unterschiedsreizen verlangen und deren Augenblicksleben das Umschlagen in
die Gegensätzlichkeiten begünstigt: es ist der Typus des: Pack schlägt
sich, Pack verträgt sich - der die Entzweiung um der Erhaltung des
Verhältnisses willen fordert.
Das ganz innige und verfeinerte Verhältnis wird ohne antagonistisches
Intervall auskommen und wird seinen Gegensatzreiz an der umgebenden Welt
finden, an den Dissonanzen und Feindseligkeiten des sonstigen Daseins, die
für das Bewusstsein seines Burgfriedens den genügenden Hintergrund
liefern.
Wird hier also auch kein Streit erfordert, der sich durch einen
rhythmischen Wechsel beendete, so sei doch bemerkt, dass das Ausbleiben
von Differenzen noch nicht unmittelbar die Enge und Kraft von
Verhältnissen anzeigt.
Dass in sehr intimen, den ganzen Lebensinhalt beherrschenden oder
wenigstens berührenden Gemeinsamkeiten, wie etwa die Ehe ist, überhaupt
keine Veranlassungen zu Konflikten aufträten, ist ganz ausgeschlossen;
ihnen niemals nachzugeben, sondern ihnen schon von weitem vorzubauen, sie
von vornherein durch gegenseitige Fügsamkeit abzuschneiden, ist
keineswegs immer Sache der echtesten und tiefsten Zuneigung, kommt
vielmehr grade bei Gesinnungen vor, die zwar liebevoll, sittlich, treu
sind, denen aber die letzte, unbedingte Hingebung des Gefühls fehlt.
Das Individuum, im Bewusstsein, diese nicht aufzubringen, ist um so
ängstlicher bemüht, die Beziehung von jedem Schatten rein zu erhalten,
durch die äußerste Freundlichkeit, Selbstbeherrschung, Rücksicht den
andern für jenen Mangel zu entschädigen, besonders aber das eigne
Gewissen über die leisere oder stärkere Unwahrhaftigkeit seines
Verhaltens zu beruhigen, die auch der aufrichtigste, ja,
leidenschaftlichste Wille nicht in Wahrheit verwandeln kann - weil es sich
hier um Gefühle handelt, die dem Willen nicht zugängig sind, sondern wie
Schicksalsmächte kommen oder ausbleiben.
Die empfundene Unsicherheit in der Basis solcher Verhältnisse bewegt
uns, bei dem Wunsche, sie um jeden Preis aufrecht zu erhalten, ob zu ganz
übertriebenen Selbstlosigkeiten, zu einer gleichsam mechanischen
Sicherung ihrer durch prinzipielles Vermeiden jeder Konfliktsmöglichkeit.
Wo man der Unerschütterlichkeit und Vorbehaltlosigkeit des eignen
Gefühls gewiss ist, bedarf es dieser unbedingten Friedfertigkeit gar
nicht, man weiß, dass kein Chok bis zu dem Fundament des Verhältnisses
dringen kann, auf dem man sich immer wieder zusammenfinden wird.
Die stärkste Liebe kann am ehesten einen Stoß aushalten und die
Befürchtung der geringeren, die Folgen eines solchen gar nicht absehen zu
können, und dass man ihn deshalb unter jeder Bedingung vermeiden müsse,
kommt ihr gar nicht in den Sinn.
So lässt gerade das innerlich sicherste Verhältnis es viel eher
einmal auf einen Zwist ankommen, während manches zwar gute und
moralische, aber in geringeren Gefühlstiefen wurzelnde der Erscheinung
nach viel harmonischer und konfliktloser verläuft.
Während in tiefgegründeten Verhältnissen das Ende des Streits
dadurch erfolgt, dass ihre unablenkbare Grundströmung wieder an die
Oberfläche gelangt und die Gegenbewegungen an dieser glättet, kommen
ganz neue Nuancen auf, wo der Wegfall des Streitobjekts den Antagonismus
beendet.
Jeder Konflikt, der nicht absolut unpersönlicher Art ist, macht sich
die verfügbaren Kräfte des Individuums dienstbar, er wirkt wie ein
Kristallisationspunkt, um den herum sich diese in grösserer oder
geringerer Entfernung anordnen - die Form der Kern- und der Hilfstruppen
innerlich wiederholend - und gibt so dem ganzen Komplex der
Persönlichkeit, soweit sie kämpft, eine eigenartige Struktur.
Sobald nun der Konflikt auf eine der gewöhnlichen Arten beendet ist -
durch Sieg und Niederlage, durch Versöhnung, durch Kompromiss - bildet
diese seelische Struktur sich wieder in die des Friedenszustandes zurück,
der zentrale Punkt teilt seinen Übergang aus Erregtheit in Beruhigung den
einbezogenen Energien mit.
Statt dieses organischen, wenn auch unendlich mannigfaltig verlaufenden
Prozesses des inneren Ausklingens der Streitbewegung tritt aber oft ein
ganz irrationeller und turbulenter ein, wenn das Streitobjekt plötzlich
wegfällt, so dass die ganze Bewegung noch sozusagen ins Leere schwingt;
dies geschieht insbesondere, weil unser Gefühl konservativer ist, als
unser Verstand und so die Erregung jenes keineswegs in demselben
Augenblick zur Ruhe kommt, in dem der Verstand ihre Veranlassung als
hinfällig erkennt.
Allenthalben entsteht Verwirrung und Schädigung, wenn seelischen
Bewegungen, die um eines bestimmten Inhaltes willen entstanden sind,
dieser plötzlich geraubt wird, so dass sie sich nicht mehr naturgemäß
weiterentwickeln und ausleben können, sondern haltlos an sich selbst
zehren oder nach einem sinnlosen Ersatzobjekt greifen.
Wenn also, während der Streit im Gange ist, Zufälle oder höhere
Gewalt ihm das Ziel entführen - Nebenbuhlerschaft, deren umworbener
Gegenstand sich für einen dritten entscheidet, Streit um eine Beute, die
während dessen von einem andern geraubt wird, theoretische Kontroversen,
deren Problem eine überlegene Intelligenz plötzlich so löst, dass beide
streitende Behauptungen sich als irrig zeigen - so findet oft noch ein
leeres Weiterstreiten, eine unfruchtbare gegenseitige Anschuldigung, ein
Wiederaufleben früherer, längst begrabener Differenzen statt; dies ist
das Weiterschwingen der Streitbewegungen, die sich in irgend einer, unter
diesen Umständen ganz sinnlosen und tumultuarischen Art austoben müssen,
ehe sie zur Ruhe kommen.
Am bezeichnendsten tritt dies vielleicht in den Fällen ein, wo der
Streitgegenstand von beiden Parteien als illusorisch, des Streites nicht
wert, erkannt wird.
Hier lässt die Beschämung über den Irrtum, den keiner dem andern
eingestehen mag, den Kampf oft noch lange fortsetzen, mit einem ganz
wurzellosen und mühsamen Kraftaufwand, aber mit um so größerer
Erbitterung gegen den Gegner, der uns zu dieser Donquixoterie nötigt.
Die einfachste und radikalste Art, vom Kampf zu Frieden zu kommen, ist
der Sieg - eine ganz einzigartige Erscheinung des Lebens, von der es zwar
unzählige individuelle Gestalten und Maße gibt, die aber mit nichts
anders Benanntem, was sonst zwischen Menschen vorgehen kann, eine
Ähnlichkeit besitzt.
Von den vielen Nuancen des Sieges, durch die er den ihm folgenden
Frieden qualifiziert, erwähne ich nur denjenigen, der nicht
ausschließlich durch das Übergewicht der einen Partei, sondern,
mindestens teilweise, durch Resignation der andern herbeigeführt wird.
Dieses Kleinbeigeben, sich für besiegt Erklären oder den Sieg des
andern über sich ergehen lassen, ohne dass schon alle Widerstandskräfte
und Chancen erschöpft wären, ist ein nicht immer einfaches Phänomen.
Es kann dazu eine gewisse asketische Tendenz wirken, die Lust an der
Selbstdemütigung und dem Sichpreisgeben, nicht stark genug, um sich von
vornherein kampflos auszuliefern, aber hervortretend, sobald die Stimmung
des Besiegten die Seele zu ergreifen beginnt; oder sogar an dem Gegensatz
zu der eben noch lebendigen Kampfstimmung ihren sublimsten Reiz findend.
Zu dem gleichen Entschluss drängt ferner das Gefühl, dass es
vornehmer ist, sich zu ergeben, als sich bis zuletzt an die
unwahrscheinliche Chance einer Wendung der Dinge zu klammern; diese
Möglichkeit hinzuwerfen und um diesen Preis dem zu entgehen, dass einem
die eigne Niederlage in ihrer ganzen Unvermeidlichkeit bis ins letzte
demonstriert wird - dies hat etwas von dem großen und edlen Stil der
Menschen, die nicht nur ihrer Stärke, sondern auch ihrer Schwächen
gewiss sind, ohne sich ihrer jedes Mal erst fühlbar versichern zu
müssen.
Endlich: in dieser Freiwilligkeit des Sich-besiegt Erklärens liegt noch
ein letzter Machtbeweis des Subjekts, dieses Letzte wenigstens hat es noch
gekonnt, ja, es hat damit eigentlich dem Sieger noch etwas geschenkt.
Darum lässt sich in personalen Konflikten manchmal beobachten, dass
das Nachgeben der einen Partei, bevor die andere noch wirklich von sich
aus ihre Sache durchgesetzt hat, von dieser als eine Art Beleidigung
empfunden wird - als wäre sie eigentlich die schwächere, der man aus
irgendwelchen Gründen nachgibt, ohne es nötig zu haben.
Zu der Streitbeendigung durch den Sieg steht die durch das Kompromiss
in vollem Gegensatz.
Es ist eine der charakteristischsten Einteilungsarten der Kämpfe, ob
sie ihrem Wesen nach einem Kompromiss zugängig sind oder nicht.
Dies entscheidet sich keineswegs nur an der Frage, ob ihr Preis eine
unteilbare Einheit bildet oder zwischen den Parteien geteilt werden kann.
Gewissen Gegenständen gegenüber steht das Kompromiss durch Teilung
außer Frage: zwischen Nebenbuhlern um die Gunst einer Frau, zwischen
Reflektanten um ein und dasselbe unzerlegbare käufliche Objekt, auch bei
Kämpfen, deren Motiv Hass und Rache ist.
Dennoch sind dem Kompromiss auch Kämpfe um unzerlegbare Gegenstände
zugängig, wenn diese nämlich vertretbar sind; so dass der eigentliche
Kampfpreis zwar nur dem einen zufallen kann, dieser aber den andern für
seine Nachgiebigkeit durch einen andern Wert entschädigt.
Ob Güter in dieser Weise fungibel sind, hängt natürlich nicht von
irgend einer objektiven Gleichwertigkeit unter ihnen ab, sondern von der
Geneigtheit der Parteien, den Antagonismus durch Überlassung und
Entschädigung zu beenden.
Diese Chance bewegt sich zwischen den Fällen bloßen Eigensinns, in
denen die rationellste und reichlichste Entschädigung, für die die
Partei sonst den Kampfgegenstand gern preisgäbe, nur darum
zurückgewiesen wird, weil sie eben vom Gegner geboten wird - und den
andern, in denen die Partei zuerst durch die Individualität des
Kampfpreises angezogen scheint und ihn dann doch gutwillig der andern
überlässt, entschädigt durch ein Objekt, dessen Fähigkeit, jenes zu
ersetzen, jedem dritten oft völlig rätselhaft bleibt.
Im ganzen ist das Kompromiss, namentlich das durch die Fungibilität
bewirkte, so sehr es für uns zu der alltäglichen und
selbstverständlichen Lebenstechnik gehört, eine der größten
Erfindungen der Menschheit.
Es ist der Impuls der Naturmenschen wie des Kindes, ohne weiteres nach
jedem gefallenden Gegenstande zu greifen, gleichviel ob er sich bereits in
fremdem Besitz befindet.
Der Raub ist - neben dem Geschenk- die nächstliegende Form des
Besitzwechsels und ein solcher geht deshalb in primitiven Verhältnissen
selten ohne Kampf ab.
Dass dieser nun vermieden werden kann, indem man dem Besitzer des
ersehnten Gegenstandes einen andern, aus dem eignen Besitz, anbietet und
damit die Gesamtaufwendung schließlich doch eine geringere ist, als wenn
man den Kampf fortsetzt oder beginnt - das einzusehen ist der Anfang aller
kultivierten Wirtschaft, alles höheren Güterverkehrs.
Aller Tausch um Dinge ist ein Kompromiss - und freilich ist dies die
Armut der Dinge gegenüber dem bloß Seelischen, dass ihr Austausch immer
Weggeben und Verzicht voraussetzt, während Liebe und alle Inhalte des
Geistes getauscht werden können, ohne dass das Reicherwerden mit einem
Ärmerwerden bezahlt werden muss.
Wenn von gewissen Sozialzuständen berichtet wird, dass es zwar als
ritterlich gilt, zu rauben und um den Raub zu kämpfen, der Tausch und
Kauf aber als würdelos und gemein, so wirkt dazu der Kompromisscharakter
des Tausches, die Einräumung und Verzichtleistung, die ihn zum Gegenpol
alles Kampfes und Sieges macht.
Jeder Tausch setzt voraus, dass Wertungen und Interessen einen
objektiven Charakter angenommen haben.
Das Entscheidende ist nun nicht mehr die bloße subjektive Leidenschaft
des Begehrens, der nur der Kampf entspricht, sondern der von beiden
Interessenten anerkannte Wert des Objekts, der, sachlich ungeändert,
durch verschiedene Objekte ausdrückbar ist.
Der Verzicht auf den bewerteten Gegenstand, weil man das in ihm
enthaltene Wertquantum in anderer Form erhält, ist das in seiner
Einfachheit wahrhaft wunderbare Mittel, entgegengesetzte Interessen anders
als durch Kampf zum Austrag zu bringen - das aber sicher eine lange
historische Entwicklung forderte, weil es eine psychologische Lösung des
allgemeinen Wertgefühles von dem einzelnen Gegenstand, der zuerst mit ihm
verschmolzen ist, voraussetzt, eine Erhebung über das Befangensein in dem
unmittelbaren Begehren.
Das Kompromiss durch Vertretbarkeit - von dem der Tausch ein Sonderfall
ist - bedeutet die prinzipielle, wenngleich nur sehr partiell realisierte
Möglichkeit, den Kampf zu vermeiden oder ihm ein Ende zu setzen, bevor
die bloße Kraft der Subjekte ihn entschieden hat.
Von dem objektiven Charakter, den die Streitbeendigung durch das
Kompromiss trägt, hebt sich die Versöhnung als ein rein subjektiver
Modus ab.
Ich meine hier nicht die Versöhnung, die die Folge eines Kompromisses
oder einer sonstigen Beilegung des Streites ist, sondern die Ursache
dieser letzteren.
Die Versöhnlichkeit ist eine primäre Stimmung, die, ganz jenseits
objektiver Gründe, den Kampf ebenso zu beenden sucht, wie die Streitlust,
nicht weniger ohne sachliche Veranlassung, ihn unterhält.
In den unzählige Fällen, wo der Streit anders beendet wird, als es in
der unbarmherzigsten Konsequenz der Machtverhältnisse liegt, ist sicher
diese ganz elementare und irrationale Versöhnlichkeitstendenz im Spiele -
die etwas ganz anderes ist, als Schwäche oder Gutmütigkeit, soziale
Moral oder Nächstenliebe.
Nun gibt das »versöhnte« Verhältnis in seinem Unterschiede gegen
das nie gebrochene ein besonderes Problem auf.
Hier ist nicht von den oben berührten die Rede, deren innerer Rhythmus
überhaupt zwischen Zerwürfnis und Versöhnung pendelt; sondern von
denen, die einen wirklichen Bruch erlitten haben und nach diesem wie auf
einer neuen Basis wieder zusammengegangen sind.
Durch wenige Charakterzüge werden Verhältnisse so bezeichnet, wie
dadurch: ob sie in diesem Falle in ihrer Intensität gesteigert oder
herabgesetzt sind.
Wenigstens ist dies die Alternative für alle tieferen und sensibleren
Naturen; wo ein Verhältnis, nachdem es einen radikalen Bruch erfahren
hat, nachher in genau derselben Weise wieder auflebt als wenn nichts
geschehen wäre, kann man im allgemeinen entweder frivolere oder
grobkörnigere Sinnesart voraussetzen.
Der zuerst genannte Fall ist der am wenigsten komplizierte: dass eine
einmal geschehene Entzweiung sich nie mehr ganz überwinden lässt, auch
nicht durch den ehrlichsten Willen der Parteien, ist ohne weiteres
begreiflich; wobei durchaus kein Rest des Streitobjekts als solchen
zurückgeblieben zu sein braucht, sondern die bloße Tatsache, dass
überhaupt ein Bruch einmal da war, entscheidet.
Zu diesem Erfolg wirkt bei engen Verhältnissen, die einmal bis zu
äußerer Entzweiung gekommen sind, oft dies mit: man hat gesehen, dass
man überhaupt ohne einander auskommen kann, dass das Leben, wenn auch
vielleicht nicht sehr heiter, eben doch weiterging.
Dies setzt nicht bloß den Wert des Verhältnisses herab, sondern der
einzelne wirft sich gerade dies, nachdem die Einheit wieder hergestellt
ist, leicht als eine Art Verrat und Untreue vor, die gar nicht wieder
gutzumachen ist und die in das wieder aufwachsende Verhältnis eine
Mutlosigkeit und ein Misstrauen seiner Individuen gegen das eigene Gefühl
verwebt.
Freilich läuft hier oft eine Selbsttäuschung unter.
Die überraschende relative Leichtigkeit, mit der man manchmal das
Auseinandergehen eines nahen Verhältnisses erträgt, entstammt der
Erregung, die wir noch von der Katastrophe mitbringen.
Diese hat alle möglichen Energien in uns lebendig gemacht, deren
Schwung uns noch eine Weile weiterträgt und aufrecht hält.
Wie aber auch der Tod eines geliebten Menschen nicht in der ersten
Stunde seine ganze Furchtbarkeit entfaltet, weil erst die weiterrollende
Zeit alle die Situationen herbeibringt, in denen er sonst ein Element war,
die wir nun wie mit einem herausgerissenen Gliede zu durchleben haben und
die kein erster Augenblick zusammenfassend vorwegnehmen konnte - so löst
sich eine wertvolle Beziehung sozusagen nicht in dem ersten Moment des
Auseinandergehens, in dem vielmehr die Gründe ihrer Lösung unser
Bewusstsein beherrschen; sondern wir spüren den Verlust für alle
einzelnen Stunden erst von Fall zu Fall, und deshalb wird ihm oft erst
nach langer Zeit unser Gefühl ganz gerecht, das ihn im ersten Moment mit
einem gewissen Gleichmut zu ertragen schien.
Auch aus diesem Grunde ist die Versöhnung mancher Verhältnisse in dem
Maße tiefer und leidenschaftlicher, in dem der Bruch schon eine längere
Zeit bestanden hat.
Dass aber das Intensitätsmaß des versöhnten Verhältnisses über das
des ungebrochenen hinauswächst, hat mancherlei Ursachen.
Hauptsächlich wird dadurch ein Hintergrund geschaffen, von dem alle
Werte und alle Selbsterhaltungen der Vereinigung sich bewusster und klarer
abheben.
Dazu bringt die Diskretion, mit der man jede Berührung des Vergangenen
umgeht, eine neue Zartheit, ja, eine neue unausgesprochene Gemeinsamkeit
in das Verhältnis.
Denn allenthalben kann das gemeinsame Vermeiden eines
allzuempfindlichen Punktes eine ebenso große Intimität und
Sich-Verstehen bedeuten, wie die Ungeniertheit, die jeden Gegenstand des
individuellen Innenlebens zu einem Gegenstand der positiven Gemeinsamkeit
macht.
Und endlich entstammt die Intensität des Wunsches, das wieder
auflebende Verhältnis vor jedem Schatten zu bewahren, nicht nur den
erfahrenen Leiden des Bruches, sondern vor allem dem Bewusstsein, dass der
zweite Bruch nicht mehr geheilt werden könnte, wie es der erste konnte.
Dies würde in unzähligen Fällen und wenigstens unter sensitiven
Menschen, das ganze Verhältnis zu einer Karikatur machen.
Es kann wohl auch in dem tiefstgegründeten Verhältnis zu einem
tragischen Bruch und zu einer Versöhnung kommen; aber dies gehört zu den
Ereignissen, die so nur einmal stattfinden dürfen und deren Wiederholung
ihnen alle Würde und Ernsthaftigkeit raubt.
Denn hat einmal die erste Wiederholung stattgefunden, so spricht nichts
gegen eine zweite und dritte, die die ganzen Erschütterungen des Vorgangs
banalisieren und zu einem frivolen Spiel herabziehen würden.
Vielleicht ist dieses Gefühl, dass ein nochmaliger Bruch der
definitive wäre, ein Gefühl, zu dem es vor dem ersten kaum eine Analogie
gibt, für feinere Naturen das stärkste Band, durch das das versöhnte
Verhältnis sich von dem nie gebrochenen unterscheidet.
Grade wegen der tiefen Bedeutung, die das Maß der Versöhnlichkeit
nach dem Streit, nach einseitig oder gegenseitig zugefügten Leiden, für
die Entwicklung der Verhältnisse zwischen den Menschen hat, lässt sie
ihr negatives Extrem, die Unversöhnlichkeit, an dieser Bedeutung
teilnehmen.
Auch sie kann, wie die Versöhnlichkeit, eine formale Stimmung der
Seele sein, die freilich einer äußeren Situation zu ihrer Aktualisierung
bedarf, dann aber ganz spontan und nicht nur als Folge anderweitiger,
vermittelnder Emotionen eintritt.
Beide Tendenzen gehören zu den polaren Grundelementen, deren
Mischungen alle Verhältnisse zwischen den Menschen bestimmen.
Man hört gelegentlich aussprechen: wer nicht vergessen könnte,
könnte auch nicht vergeben, bzw. sich nicht vollständig versöhnen.
Dies würde ersichtlich die fürchterlichste Unversöhnlichkeit
bedeuten, denn es macht die Versöhnung davon abhängig, dass jede
Veranlassung zu ihrem Gegenteil aus dem Bewusstsein verschwunden ist; auch
wäre sie, wie alle auf dem Vergessen beruhenden Vorgänge, in der steten
Gefahr der Widerrufung.
Wenn die ganze Meinung einen Sinn haben soll, so läuft er in der
umgekehrten Richtung, wo die Versöhntheit als primäre Tatsache besteht,
wird sie die Ursache sein, dass der Zwist und das Leiden, das einem der
Andre bereitet hat, nicht mehr ins Bewusstsein aufsteigen.
Entsprechend besteht nun auch die eigentliche Unversöhnlichkeit
keineswegs darin, dass das Bewusstsein nicht über die vergangenen
Konflikte hinwegkommt.
Dies ist vielmehr erst eine Folgeerscheinung.
Die Unversöhnlichkeit bedeutet, dass die Seele durch den Kampf eine
Modifikation ihres Seins erlitten hat, die nicht mehr rückgängig zu
machen ist, die insofern nicht einer vernarbbaren Wunde, sondern einem
verlorenen Gliede vergleichbar ist.
Dies ist die tragischste Unversöhnlichkeit: weder ein Groll noch ein
Vorbehalt oder geheimer Trotz braucht in der Seele zurückzubleiben und
eine positive Schranke zwischen die eine und die andre zu legen; es ist
nur durch den durchgekämpften Konflikt etwas in ihr getötet worden, das
nicht wieder zu beleben ist, auch nicht durch die eigne leidenschaftliche
Bemühung darum; hier liegt ein Punkt, an dem die Ohnmacht des Willens
gegenüber dem tatsächlichen Sein des Menschen grell hervortritt - im
stärksten psychologischen Gegensatz zum »Verzeihen«, dem fast einzigen
Fall, in dem dem Willen ein unmittelbares Verfügenkönnen über das
Gefühl zugemutet wird; sonst wäre die Bitte um Verzeihung sinnlos.
Und doch kann Verzeihung und jene Unmöglichkeit innerer Versöhnung
demselben Menschen gegenüber stattfinden.
Während dies die Unversöhnlichkeitsform sehr einheitlicher und nicht
grade leicht beweglicher Naturen ist, findet sich bei innerlich stark
differenzierten eine andre: das Bild und die Nachwirkung des Konfliktes
und alles dessen, was man dem andern vorzuwerfen hatte, bleibt im
Bewusstsein bestehen und kann nicht verschmerzt werden.
Aber um dies herum wächst nun doch die unverminderte Liebe und
Anhänglichkeit, indem jene Erinnerungen und Resignationen nicht als Abzug
wirken, sondern wie organische Bestandteile in das Bild des andern
eingefügt sind, den wir nun sozusagen inklusive dieser Passiva in der
Bilanz unsres Gesamtverhältnisses zu ihm lieben - wie wir doch einen
Menschen auch mit all seinen Fehlern lieben, die wir nicht aus ihm
fortdenken können.
Die Bitternis des Kampfes, die Punkte, an denen die Persönlichkeit des
andern versagt hat, die einen dauernden Verzicht oder eine immer erneute
Irritation in das Verhältnis bringen - all dies ist unvergessen und
eigentlich unversöhnt.
Allein es ist sozusagen lokalisiert, als ein Faktor in die ganze
Beziehung auf genommen, deren zentrale Intensität darunter nicht zu
leiden braucht.
Es liegt auf der Hand, dass diese beiden Erscheinungen von
Unversöhnlichkeit, die sich von den gewöhnlich so genannten ersichtlich
unterscheiden, doch die ganze Skala auch dieser einschließen: die eine
lässt den Erfolg des Konfliktes, von dessen einzelnen Inhalten völlig
gelöst, grade in das Zentrum der Seele sinken, es gestaltet die
Persönlichkeit, soweit sie sich auf die andre bezieht, in ihrer tiefsten
Schicht um.
In der andern, umgekehrt, wird die psychologische Hinterlassenschaft
des Streites gleichsam isoliert, bleibt ein Einzelelement, das in das Bild
des andern aufgenommen werden kann, um dann von dem Gesamtverhältnis zu
ihm mitumfasst zu werden.
Zwischen jenem schlimmsten und diesem leichtesten Fall von
Unversöhnlichkeit liegt offenbar die ganze Mannigfaltigkeit der Maße,
mit denen die Unversöhnlichkeit den Frieden noch in den Schatten des
Kampfes stellt.
|