Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
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Georg Simmel: Über den Unterschied der Wahrnehmungs- und der Erfahrungsurteile. Ein Deutungsversuch.1

ex: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift. herausgegeben von Dr. Hans Vaihinger, I. Bd., 1897, S. 416-425

 

Man kann diesen Unterschied als das Zentralproblem behandeln, um die Darstellung aller Grundmotive der Vernunftkritik daran anzuschliessen.

Denn mit ihm war der entscheidende Schritt über allen sensualistischen Empirismus hinaus geschehen.

Der Gedanke, dass das blosse Aufnehmen und Konstatieren der unmittelbar sinnlichen Eindrücke noch gar nicht diejenige Erfahrung ist, auf deren alleiniger Gültigkeit der Empirist besteht, eröffnete sofort den Ausblick auf die ganze Aprioritätslehre.

Andererseits aber ist kein Zweifel, dass die schematische Formulierung: durch die hinzutretende Anwendung der reinen Verstandesbegriffe würde das bisher rein subjektive Wahrnehmungsurteil zu einem objektiven Er­fahrungsurteil — den eigentlichen Erkenntnisprozess, um des­sen Klarstellung und Geltungswert es sich handelt, nur ganz äusserlich und unzulänglich beschreibt.

Was soll denn in Wirklichkeit mit der Reihe der Eindrücke, die in kontinuierlicher Sukzession durch unser Bewusstsein gleiten, geschehen, wenn sie zur Erkenntnis eines Gegenstandes werden?

Die entschiedenste und entscheidendste Stelle steht im Beweis der 2. Analogie: »Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe und welches die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, dass sie nichts weiter tue, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen und sicH einer regel zu unterwerfen; dass umgekehrt nur dadurch, dass eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse unserer Vorstellungen notwendig ist, ihnen objektive Bedeutung erteilt wird.« Die Entwicklung des subjektiven Wahrnehmungsurteils zum objektiven Erfahrungsurteil ist also gleichsam der Übergang des gleichen Vorstellungsstoffes in einen anderen, einen festeren Aggregatzustand.

Das Verhältnis der Erkenntniselemente untereinander ändert sich damit wie das von Individuen, welche bis dahin in lockeren und nicht legitimierten Beziehungen gestanden haben und nun, ohne im Inhalte dieser etwas zu ändern, sie als eine Verfassung und einen stabilen Gesellschaftsvertrag konstituieren.

Welches ist nun die »notwendige Ordnung«, die formale oder funktionelle Änderung in dem gegenseitigen Verhältnis der Vorstellungen, welche zugleich ihre Objektivität bedeutet?

Darauf antworten die Prol. § 18 u. 19: »Die objektive Gültigkeit des Erfahrungsurteils bedeutet nichts anderes, als die notwendige Allgemeingültigkeit desselben.« »Erfahrungsurteile entlehnen ihre objektive Gültigkeit nicht von der unmittelbaren Erkenntnis des Gegenstandes (denn diese ist unmöglich), sondern bloss von der Bedingung der Allgemeingültigkeit der empirischen Urteile.«

Die Objektivität des Urteils besage, dass es nicht für die momentane Wahrnehmung des Subjekts, sondern »auch für uns jederzeit und für jedermann gültig sein solle.«

Das Wahrnehmungsurteil: wenn ich den Stein trage, so fühle ich einen Druck, wird zu dem Erfahrungsurteil: der Stein ist schwer, indem ich voraussetze, dass ich jederzeit und ebenso jeder andere, wenn er einen Stein trägt, einen Druck empfinden wird.

So energisch Kant sich dagegen wehrt, dass das Erfahrungsurteil nur ein oft wiederholtes Wahrnehmungsurteil sei, so enthält jenes doch nichts anderes über dieses hinaus, als die Garantie, dass eben die Wahrnehmung sich unter den gleichen Bedingungen jederzeit wiederholen wird.

Das Beispiel aus den Prol.: »Die Sonne erwärmt den Stein« enthält mit all seiner Objektivität, Anwendung der Kategorie, Notwendigkeit usw. doch kein Atom über sein subjektives Widerspiel hinaus: ich nehme wahr, dass der Stein, wenn die Sonne ihn bescheint, warm wird - ausser der nunmehr gewonnenen Sicherheit, dass »ich jederzeit und dass jedermann« eben die gleiche Wahrnehmung machen werde.

Die ausserordentliche Schärfe, mit der Kant den Unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen, zwischen subjektiver Vorstellung und Objektivität betont, pflegt darüber hinweg zu täuschen, dass er selbst diesen Unterschied gar nicht anders expliziert, denn als einen sozusagen rein ideellen: unsre Erkenntnis bleibt sowohl was ihre Einzelinhalte wie was deren Verbindung betrifft, auf die Wahrnehmung angewiesen und alle Objektivität ist der blosse Name dafür, dass diese Wahrnehmungen ceteris paribus immer und für jeden in gleicher Weise auftreten werden - wobei indes jeder einzelne Fall auch weiterhin subjektiv bleibt.

So sehr Kant auch betont, dass der Satz: A ist die Ursache von B - etwas völlig anderes bedeute, als: B folgt zeitlich auf A - so weiss ich doch Kant philologisch nicht anzugeben, worin sich jene objektive Kausalfolge noch von der Bestimmung unterschiede, dass in jedem überhaupt je vorkommenden Falle B auf A zeitlich-wahrnehmbar folgen wird.

Weil die Differenz gegen Hume - deren eigentliche Bedeutung nachher zu erwähnen sein wird - so scharf hervorgehoben wird, verführt die Darstellung Kants leicht zu dem Glauben, er wolle der Erfahrungswahrheit noch eine Dignität über die absolute Summe der Wahrnehmungswahrheiten hinaus erteilen.

Das Entscheidende ist allein, dass jene in ihrer Bedeutung über die noch so grosse relative Summe der letzteren hinausgeht; aber mehr als der absoluten Summe derselben äquivalent sein, kann sie nicht.

Das Naturgesetz (das objektive Empeirem) hat trotz seiner absoluten, also überempirischen Gültigkeit, gar keine Bedeutung, solange die Bedingungen seines empirischen Einzelfalles nicht vorhanden sind; es genügt vielmehr vollkommen, wenn es jeden solchen, der überhaupt vorkommen mag, eindeutig bestimmt.2

 Die von Lotze entdeckte Kategorie der »Gültigkeit« eines Begriffes oder Satzes, die sich in ihrer eigentümlichen Dignität vollkommen gleichgültig gegen den einzelnen Fall der Realisierung dieses verhält, hat mit der übersingulären Bedeutung der Kantischen Erfahrungsurteile gar nichts zu tun; diese vielmehr enthalten nichts, als die absolute Allgemeinheit der Bestimmung aller überhaupt beobachtbaren singulären Fälle; weshalb Kant sie denn auch nicht als überzeitlich geltend, sondern nur als »für jede Zeit gültig« bezeichnet.

Ist dies der Geltungswert der Erfahrungsurteile, so ist weiter zu fragen, wie sich derselbe an den einzelnen Erkenntnisinhalten realisiert, d. h. wie es in Wirklichkeit dazu kommt, dass Wahrnehmungsurteile zur Würde von Erfahrungsurteilen aufsteigen.

Zu diesem Zweck stelle ich zunächst dar, was nur als die eigentliche Bedeutung der synthetischen Sätze a priori erscheint.

Die Räumlichkeit der Dinge bedeutet, dass an den Sinnesempfindungen ein Verbindungsprozess vorgenommen wird; dadurch werden sie aus subjektiven Zuständen zu Gegenständen der Anschauung.

Die Räumlichkeit ist eine Funktion, ein Prozess; wir können die drei Dimensionen »gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkt drei Linien senkrecht aufein­ander zu setzen«. (Die Hervorhebung ist kantisch).

Nur weil der Raum, kurz ausgedrückt, eine Tätigkeit des anschauenden Subjekts ist, kann die Geometrie eine Erkenntnis a priori sein: denn sie ist der wissenschaftliche Ausdruck derjenigen Regeln, nach denen jene Anschauungstätigkeit vollzogen wird.

Das liegt z. B. ganz unmissverständlich in dem Satze: »Eben dieselbe bildende Synthesis, wodurch wir in der Einbildungskraft einen Triangel konstruieren, ist mit derjenigen gänzlich einerlei, welche wir in der Apprehension einer Er­cheinung ausüben.«

Darum allein gehen die Sätze der Geometrie notwendig und allgemein für alle Gegenstände der Anschauung: weil sie die Regeln aussprechen, nach denen wir anschauen, und weil der Prozess des Anschauens eben die Objekte der Anschauung erzeugt.3

(»Die Möglichkeit der Erfahrung ist zugleich die Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung«).

»Alle mathematischen Begriffe, heisst es in der Deduktion, sind für sich nicht Erkenntnisse; ausser sofern man voraussetzt, dass es Dinge gibt, die sich nur der Form jener reinen sinnlichen Anschauung gemäss uns darstellen lassen.«

Und: »Selbst der Raum und die Zeit, so rein diese Begriffe auch von allem Empirischen sind, und so gewiss es auch ist, dass sie völlig a priori im Gemüte vorgestellt werden, würden doch ohne objektive Gültigkeit und ohne Sinn und Bedeutung sein, wenn ihr notwendiger Gebrauch an den Gegenständen der Erfahrung nicht gezeigt würde, ja ihre Vorstellung ist ein blosses Schema, das sieh immer auf die reproduktive Einbildungskraft bezieht, welche die Gegenstände der Erfahrung herbeiruft, ohne die sie keine Bedeutung haben würden; und so ist es mit allen Begriffen ohne Unterschied.«

So verhält es sich also auch mit dem Satz der Kausalität, der Substantialität, den Axiomen der Anschauung usw.

Trotz des scheinbar entgegenstehenden Ausdrucks bei Kant kann man doch in seinem Sinn sagen: sie sind gar keine Erkenntnisse, sondern nur die Regeln, nach denen Erkenntnisse erst zustande kommen; sie sind die wissenschaftlichen Formeln für die Kräfte, welche aus Wahrnehmungen »Erfahrung« herstellen, wie die geometrischen Sätze es für diejenigen Kräfte sind, die aus Empfindungen Anschauungen machen.

Es trägt zu den Zweideutigkeiten der Kantischen Lehre sehr viel bei, dass er, dem Ausdruck nach, nicht klar zwischen dem Apriori als realer, wirksamer, die Erfahrung unmittelbar gestaltender Form — und dem Apriori als dem wissenschaftlichen, abstrakten Ausdruck eben derselben unterscheidet.

Die Folge davon ist, dass das Apriori als etwas viel Selbständigeres, für sich Bedeutungsvolleres erscheint, als es nach der Konsequenz des ganzen Systems sein kann.

Der Ausdruck, dass wir die Sätze der Geometrie, des reinen Verstandes usw. a priori erkennen, verdeckt sehr leicht die Tatsache, dass wir sie doch nur als a priori erkennen.

Sie existieren, sie haben einen Sinn nur an dem Wahrnehmungsmaterial, ohne das sie so wenig bestehen können, wie eine Form ohne einen Inhalt, dessen Form sie ist.

Erst durch eine künstliche Abstraktion, die in dem Bezirk des wirklichen Erkennens gar keine Stelle findet, werden sie zu den in Satzform auszusprechenden »synthetischen Grundsätzen«, welche aber als solche so wenig die Erfahrung lenken, (d. h. so wenig a priori sind), wie etwa das Gravitationsgesetz als mathematische Formel die positive Ursache der Planetenbewegung ist.

Als wirkliches Apriori, in dem von Kant entdeckten Sinne, leben diese Grundsätze ausschliesslich in und an der Erfahrung, wie das Naturgesetz nur in den Wirklichkeiten lebt, die es beherrscht; als Inhalt der transzendentalen Logik sind sie völlig leere Abstraktionen, »blosse Schemata«, Reflexe in unserem wissenschaftlichen Bewusstsein, welches die Erkenntniswirklichkeiten in ihre Elemente zerlegt, ohne dass einem dieser Elemente ausserhalb dieser Abstraktion ein selbständiger Sinn und eine inhaltliche Bedeutung zukäme.

Die synthetischen Sätze a priori bezahlen die Unbedingtheit ihres Geltens damit, dass sie »für sich nicht Erkenntnisse sind«, sondern »ein blosses Spiel, es sei der Einbildungskraft oder des Verstandes respektive mit ihren Vorstellungen«. (Kap. Phänomena und Noumena).

Alle überhaupt für uns möglichen Erkenntnisse bewegen sich demnach zwischen zwei Grenzen: zu unterst steht das Wahrnehmungsurteil, das weder über das Objekt etwas aus­sagt noch eine über den gegebenen Fall hinausgehende Gültigkeit besitzt, sondern nur die Empfindungsinhalte in ihrer zeitlichen Ordnung konstatiert.

Zuoberst steht das synthetische Urteil a priori, das für alle Objekte notwendig und allgemein gilt, dafür aber die blosse abstrahierte Form eines Erkenntnisses der Wirklichkeit ist.

Das Erfahrungsurteil ist nun offenbar eine Zwischenstufe, ein Entwicklungsstadium zwischen diesen beiden Grenzfällen.

Und zwar erscheint mir als die notwendige Konsequenz der Kantischen Voraussetzungen, dass die Entwicklung zwischen ihnen eine kontinuierliche ist, d. h. dass es ausserordentlich viel verschiedene Grade der Gültigkeit und Objektivität der Urteile gäbe.

Das Erfahrungsurteil besitzt nicht dadurch, dass es überhaupt ein solches ist, d. h. aus dem Zusammenwirken von Wahrnehmungen und reinen Verstandeskategorien zustande gekommen ist, schon eine bestimmte und immer gleiche Dignität; es muss vielmehr un­zählige Abstufungen derselben geben, von dem Wahrneh­mungsurteil an, das noch nicht Erfahrungsurteil ist, bis zu dem synthetischen Urteil a priori, das es nicht mehr ist.

An diesem Punkte muss man sich nun klar machen, dass die Anwendung der Kategorie auf den Wahrnehmungsstoff doch nur auf Bestimmungen hin erfolgen kann, welche in dem letzteren liegen. »Reine Verstandesbegriffe sind, in Vergleichung mit sinnlichen Anschauungen, ganz ungleichartig«.

Dennoch können nur die letzteren den Grund dafür enthalten, dass in einem vorliegenden Falle gerade die eine und nicht irgendeine andere Kategorie ihre Verfestigung zum Erfah­rungsurteile vollzieht.

In der Unmittelbarkeit des sinnlich Dargebotenen liegen zwar nicht die Verstandesbegriffe selbst, aber doch die bestimmte Beziehung auf je einen derselben.

Worin diese besteht, stellt das Kapitel vom Schematismus dar. Entkleidet man dasselbe seiner scholastisch-konstruktiven Forst, so läuft es z. B. in Bezug auf die Kausalität darauf hinaus, dass hei regelmässiger, subjektiv apprehendierter Folge der sinnlichen Wahrnehmungen die Kategorie der Kau­salität, des sachlichen Erfolgens, auf sie angewendet wird.

Das blosse zeitliche Beharren einer Vorstellung gibt Anweisung auf das Anwenden des Grundsatzes der Substantialität auf dieselbe.

Die Intensität der Empfindung bewirkt, dass dem Gegenstande Realität zugesprochen wird usw.

Kurz, man kann die Lehre vom Schematismus als eine Theorie der Induktion bezeichnen, d. h. als eine Darlegung, wie durch Häufung oder sonstige quantitative Bestimmtheiten das unmittelbar und einzeln Gegebene zu allgemeingültigen, über die Einzelwahrnehmung hinausgehenden Sätzen aufwächst.

Die Induktion aber ist eine mehr oder weniger vollständige, von der grössten Geringfügigkeit des Beobachtungsmateriales an, das nur das zweifelhafteste Recht zur Verallgemeinerung bietet, bis zu dem Sicherheitsgrade, der sich von dem des mathematischen Beweises nur noch methodisch, aber nicht mehr praktisch unterscheidet.

Es muss also eine aus unendlich kleinen Übergängen bestehende Skala zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen bestehen.

Der Sicherheitsgrad des Erfahrungsurteils wird nicht von dem nur subjektiven Wahrnehmungsurteil aus mit einem Schlage, durch eine plötzliche Kristallisation erreicht; sondern vielmehr in dem Mass, in dem die Wahrnehmungstatsachen sich summieren und gruppieren, werden sie zu Erfahrungssätzen — was sie also in verschiedenen Grade sein können.

Die synthetischen Urteile a priori sind der äusserste Punkt dieser Reihe; sie bilden mit der Un­bedingtheit ihrer Gültigkeit das Ideal für die Erfahrungsurteile, das diese nie ganz erreichen können, weil sie von dem Charakter der Wahrnehmung, aus dem sie zur objektiven Er­fahrung aufsteigen, ein nicht ganz hinwegzuläuterndes Element von Subjektivität und Korrigierbarkeit zu Lehen tragen.

So bietet die Kantische Theorie eine unvergleichliche Einheit der Erkenntnis durch das innigste Aufeinander-Angewiesensein ihrer Elemente; gerade dasjenige, was aller Erkenntnis erst Inhalt und Bedeutung verschafft — die Wahrnehmung —, verhindert doch zugleich, dass sie zur unbedingten Gültigkeit und Objektivität aufsteige; und andrerseits: gerade dasjenige Erkenntniselement, das allen Wahrnehmungsinhalten erst Objektivität und übermomentane Gültigkeit verleiht, die synthetischen Sätze a priori, ist an und für sich ein leeres Schema, das, um Erkenntnis zu ermöglichen, erst sozusagen von seiner Höhe herabsteigen und sich mit der Zufälligkeit des Empfin­dungsinhaltes erfüllen muss.

Die wirkliche Erkenntnis, die, wie Kant fortwährend betont, das Produkt beider Faktoren ist, kann sie offenbar gleichsam in verschiedenen Mischungsverhältnissen enthalten, weil das einzelne Wahrnehmungsur­teil durch einen Induktionsprozess allmählig zur Dignität des Erfahrungsurteils aufsteigt und dieser Prozess offenbar auf jeder relativen Stufe Halt machen kann.

Der Zusammenhang unserer bisherigen Ausmachungen tritt hier klar hervor: die Konfigurationen, die Intensitäten und Extensitäten der blossen Wahrnehmungsinhalte können die allgemeingültigen Er­fahrungsurteile aus sich entspringen lassen (obgleich diese dann ihrem erkenntnistheoretischen Sinne nach etwas völlig Neues sind), — weil das Erfahrungsurteil selbst, wie wir sahen, keine weitere Bedeutung hat, als das Eintreten bestimmter Wahrnehmungen zu garantieren.

Wenn man hierin einen Zirkel finden will, so braucht dies nicht zurückgewiesen zu werden: er ist eben der Ausdruck jener engen Einheit, in die der Erkenntnisprozess seine Elemente zusammenführt und die es eigentlich unvermeidlich macht, die Exposition des einen der­selben auf das andere zu gründen, und so wechselseitig.

Das allmähliche, durch die Häufigkeits- und Gruppierungsverhältnisse der Wahrnehmungen vermittelte Aufsteigen der­selben zur Qualität der Erfahrung kann man sich nun auf zweierlei Weisen vorstellen.

Es wäre zunächst möglich — und diese Möglichkeit ist bis hierher vorausgesetzt worden — dass die Objektivität und notwendig-allgemeine Gültigkeit dem Inhalt des Wahrnehmungsurteils gleichsam pro rata gewährt werde, in dem Masse, in dem er den Forderungen des Schematismus genügt.

Haben wir also z. B. das Wahrnehmungsurteil: wenn ich den Stein trage, fühle ich einen Druck — so nähert sich dasselbe durch Wiederholung der Wahrnehmung unter wechselnden Umständen allmählich demjenigen Grade von Festigkeit und Sicherheit seiner steten Wiederkehr, der, wie wir sahen, dem schlechthin objektiven und allgemeingültigen Erfahrungsurteil: der Stein ist schwer— äquivalent ist.

Dieses letztere Urteil antizipiert seine genannten Qualitäten zwar, ohne sie in Wirklichkeit je ganz zu erreichen; denn als Erfah­rungsurteil hat es nur «komparative Gültigkeit«, und obgleich und weil es das Ideal der Entwicklung des Wahrnehmungsurteils darstellt, so lässt es immer die Möglichkeit bestehen, dass dem letzteren doch ein anderer, etwa bei noch feinerem Induktionsverfahren sich ergebender objektiver Sachverhalt entspräche.

Aber schon das flüchtigste Wahrnehmungsurteil bildet die erste Stufe zum Erfahrungsurteil, dessen Qualitäten es im Lauf seiner Wiederholung und Festigung nach und nach erwirbt, so dass der Übergang zu diesem nirgends durch einen Sprung, sondern gleichsam durch organisches Wachstum stattfindet.

— Die zweite Möglichkeit ist, dass die Steigerung der Wahrnehmungsurteile, die der Schematismus be­schreibt, rein innerhalb ihrer selbst vor sich ginge, ohne dass sie dadurch schon an der Qualität der Erfahrungsurteile partizipierten; und dass von einem bestimmten Punkte dieser immanenten Entwicklung an der Zusatz, der Kategorie, die Erhebung des Wahrnehmungsurteils in den Rang des objektiven Erfahrungsurteils stattfände.

Diese Auffassung scheint in der Tat die Kantische zu sein; so wenn er Prol. § 21 sagt, das Erfahrungsurteil müsse »noch über die sinnliche Anschauung und die logische Verknüpfung derselben, nachdem sie durch Vergleichung allgemein gemacht worden«, etwas hinzufügen, nämlich die Kategorie.

Dieses »durch Vergleichung Allgemeinmachen« ist die an den Wahrnehmungen stattfindende Wiederholung, Gruppierung, Festigung, die der Schematismus erfordert, und Kant scheint anzunehmen, dass nachdem diese erreicht ist, der Hinzutritt der Kategorie wie durch generatio aequivoca erfolge und das Urteil in ein Erfahrungsurteil schlechthin verwandle.

Allein auch in diesem Fall kann doch die Berechtigung und Sicherheit, mit der diese Verwandlung vor sich geht, immer nur eine relative sein, da doch die Entwicklung der Wahrnehmungsurteile jedenfalls eine gradu­elle und verschiedene ist; so dass zwar die Anwendung der Kategorie, wenn sie überhaupt geschieht, eine totale ist, die Tatsache aber, dass diese Anwendung geschieht, auf Grund einer allmählich sich entwickelnden, graduellen, sehr verschie­den fundierten Berechtigung stattfindet — während bei der ersteren Eventualität die Anwendung der Kategorie selbst die­sen Charakter der Relativität und Intensitätsverschiedenheit trägt.

Für den schliesslichen Wert des Urteils würden beide Deutungen auf dasselbe hinauskommen.

Das Wesentliche bleibt immer die allmähliche Entwicklung des Wahrnehmungsurteils zum Erfahrungsurteil, welches letztere die ihm von Kant zugesprochenen Qualitäten der Objektivität und Allgemeingültigkeit — da diese nur dem synthetischen Urteil a priori zukommen — ausschliesslich als den idealen, nie ganz erreichten Zielpunkt jener Entwicklung aufweist.

Ich sehe keine andere Möglichkeit als diese, die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Erfahrungsurteile mit der sonst »vielfach eingeschärften« Zufälligkeit derselben zu vereinigen: die Explikation dieses Widerspruchs, die Kant selbst in Prol. § 22, Anm. gibt, bedarf selbst gar sehr der Deutung.

Nur indem wir zwischen dem Erfahrungsurteil in der Reinheit seines Begriffes, in idealer Vollendung, und demjenigen unterscheiden, das in der Praxis des Erkennens vorkommt und sich jenem nur ins Unendliche nähern kann, können jene beide Werte des Erfahrungsurteils — man könnte fast sagen: seine Antinomie — widerspruchslos nebeneinander bestehen.

Achtet man nur auf den prinzipiellen Unterschied des Erfahrungsurteils gegen das Wahrnehmungsurteil, sieht man von den notwendigen Trübungen ab, die die Unvollendbarkeit der Induktionsreihen dem ersteren in jedem konkreten Falle be­reitet, so ist sein Gewissheitsmass gleich dem der synthetischen Urteile a priori.

Damit ist Unterschied und Verwandtschaft Hume gegenüber klar gegeben.

Die Mitwirkung des Apriori in der Erfahrung ist dadurch aufs schärfste bezeichnet, dass das Ideal, dem sie sich nähert, den Geltungswert des reinen Apriori hat — während die Erkenntnis, die uns wirklich zugängig ist, unterhalb desselben bleibt und über den Gültigkeitsgrad der Erfahrung im praktischen Sinne des Wortes nicht hinausgehen kann.

So kann man die Lösung, die Kant dem Erkenntnisproblem gegeben hat, dahin zusammenfassen, dass er, unter Überwindung des Sensualismus, den Empirismus als konstitutives, den Rationalismus als regulatives Prinzip des Erkennens anerkannt hat.

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1Jede Auslegung der Kantischen Hauptgedanken kann ihre Bündigkeit nur darin zeigen, dass, während man sie als Voraussetzung festhält, die Vernunftkritik in allen ihren Einzelheiten ein, relativ widerspruchsloses Bild ergibt. Die Geschichte der Kant-Interpre­tation zeigt, dass ausgewählte Zitate hier keine eindeutigen Beweise bilden. Ich habe im Folgenden Zitate nicht als Beweisgründe, son­dern nur da benutzt, wo die Kantischen Worte mir als besonders konzise Ausdrücke für gewisse Teile der interpretierenden Gedan­kenreihen erschienen.

 

2Wenn eine reine Anschauung noch vor dem Gegenstande a priori möglich ist, so kann doch auch diese selbst ihren Gegenstand, mithin die objektive Gültigkeit nur durch die empirische Anschauung bekommen, wovon sic die blosse Form ist.“

3 Dies ist der Grund, weshalb die antieuklidischen Geometrien nicht, wie Helmholtz glaubte, die Apriorität der euklidischen Axiome widerlegen. Denn diese Apriorität bedeutet in Kants Sinne ausschliesslich Apriorität für die erfahrbare Welt. Sie gelten nicht absolut allgemein und notwendig. sondern nur für empirische, d. h. empfindbare Objekte. Die antieuklidischen Geometrien haben gar keine Beziehung zu den Kantischen Apriori, weil sie nach seiner Ausdrucksweise, blosse Denkmöglichkeiten sind und niemand seine Erfahrungen in einem pseudosphärischen Raume gesammelt oder seine Empfindungen zu einem Raumgebilde zusammengeschlossen hat, in dem das Parallelenaxiom nicht gälte.

 


 

Editorial:

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