Georg Simmel: Rembrandt
Ein kunstphilosophischer Versuch
Leipzig: Kurt Wolff 1916. VIII, 205 S.
2. Kapitel:
Religiöse Kunst
Objektive
und subjektive Religion in der Kunst In zwei Grundformen
tritt innerhalb der menschheitlichen Geschichte religiöses Wesen
auf.
Denn indem religiöse Sachverhalte sich
bieten: der Gott und die Heilstatsachen, der Kultus und die
Kirche; indem das religiöse Individuum sich all solchem
gegenüber aufnehmend oder schöpferisch verhält, nur sein eigenes
Heil sucht oder sich selbstlos hingibt — ist eine Doppelströmung
des religiösen Wesens eingeleitet, die an dessen fast
vollkommener Spaltung münden kann.
Auf der einen Seite steht die
Objektivität der religiösen oder kirchlichen Tatsachen, eine in
sich geschlossne, nach eigenen Gesetzen gebaute Welt, in ihrem
Sinn und Wert ganz gleichgültig gegen das Individuum, das sie
nur hinnehmen, nur zu ihr aufschauen kann.
Auf der anderen Seite: die Religion
ausschliesslich in das innere Leben des Subjekts verlegt,
vielleicht richtiger: als inneres Leben des Subjekts bestehend;
jene Transzendenzen und Kulte mögen metaphysische Wirklichkeiten
sein oder nicht — alles religiös Bedeutsame liegt jetzt ganz und
gar in den Beschaffenheiten und Bewegtheiten der Einzelseele,
die von jenen vielleicht ausgelöst werden, vielleicht aber auch
ihnen erst Sinn und Leben verleihen.
Dort bedeutet das Religiöse ein
entschiedenes Gegenüber und sozusagen erst nachträgliches
Sichaufnehmen zwischen Göttlichem und Seelischem, hier ein
seelisches Leben selbst, aus einer tiefsten individuellen
Produktivität und Selbstverantwortlichkeit strömend, das
freilich in sich, als religiöses Sein, eine übersubjektive Weihe
besitzt.
Die grossartigste historische
Verwirklichung jener Objektivität der religiösen Welt ist der
Katholizismus; eine entsprechende kann für die andere
Quellenrichtung des religiösen Daseins nicht aufgewiesen werden.
Dies ist begreiflich.
Denn die Gebilde, durch die die
Religion etwas Historisches und Sichtbares wird: Dogma, Kultus,
Kirche — kommen höchstens sekundär für den in Betracht, dem
Religion in einem Erlebnis oder in einer Führung und Färbung des
Lebens überhaupt oder in einem unmittelbaren Verhältnis der
Seele zu Gott besteht, in einem Verhältnis, das als religiöses
nur in der Seele selbst sich abspielen kann.
Ersichtlich tritt diese Art der
Religiosität nicht aus dem Individuum heraus und bildet deshalb
kein geschichtliches Gesamtphänomen.
Sie wird auch keineswegs vom
Protestantismus repräsentiert. Denn auch dieser rechnet mit ganz
objektiven religiösen Tatsachen, die ihren Sitz nicht in der
religiösen Seele haben, sondern deren Objekt diese ist: mit dem
Weltregiment eines persönlichen Gottes, mit der Erlösung, die
Christus den Menschen gewonnen hat, mit Schicksalen, die der
Seele durch die sachlich-religiöse Struktur des Daseins kommen.
Würde die subjektive Religiosität
wirklich ganz rein verwirklicht (was vielleicht nie geschieht,
so wenig wie es eine bloss objektive Religion gibt; jede dieser
Formen tritt vielmehr immer in einer gewissen Mischung mit der
anderen auf) — so würde sie in dem Prozess des Lebens selbst, in
der Art, wie der religiöse Mensch in jeder Stunde lebt,
bestehen, nicht aber in irgendwelchen Inhalten, in dem Glauben
an irgendwelche Wirklichkeiten.
Diese beiden Gegenströmungen des
religiösen Lebens überhaupt haben nun zwar die christliche Kunst
nicht gerade mit parteimässiger Schärfe unter sich aufgeteilt;
allein ihre Reinheit und ihre Gemischtheit bilden eine Skala,
auf der jegliches religiöse Bild einen bestimmten Platz findet.
Die byzantinische Kunst setzt mit der völlig objektiven
Darstellung der transzendenten Welt ein. In den Mosaiken von
Ravenna werden die Personen und Symbole der christlichen
Mysterien in ihrer metakosmischen Erhabenheit hingestellt,
völlig gleichgültig gegen menschlich erlebende Subjekte, die
Menschen dieser Religiosität, den Künstler einbegriffen, haben
sich völlig entsubjektiviert, vor ihnen steht ein Götterhimmel,
ungeheure selbstgenugsame Seinsmächte, zu deren Vorstellung
individuelle Gefühle und Innenschicksale keinerlei Beziehung,
weder als Ausgangs- noch als Mündungspunkte haben.
Ihre sogenannte Unlebendigkeit bedeutet
eben, dass sie von dem Lebensprozess, als etwas Irdischem,
getrennt sind, ist deshalb kein Manko, dem eine Hinzufügung
abhelfen könnte; sie bezeichnet vielmehr, trotz der Negativität
des Ausdruckes, die äusserste Positivität dieses
religiös-künstlerischen Wesens, das sein logisches Gegenteil,
die Richtung auf individuelles Leben, ablehnen muss.
Im Trecento wird eine andere Stufe
jener Skala erreicht.
Bei Duccio, bei Orcagna und manchen
geringeren ihrer Zeitgenossen strömt in die abgeschlossene
Feierlichkeit des Heiligenbildes ein Ton lyrischer
Menschlichkeit, das Transzendente ist nicht nur und schaltet als
objektive Macht mit dem Menschen, sondern aus jenem kommt diesem
eine eigene Bewegtheit entgegen, der Ausdruck des religiösen
Lebens hat, wie zart und zurückhaltend auch noch immer, einen
Weg in die Darstellung der transzendenten Tatsachen gefunden.
Wieder verschiebt sich das Verhältnis zwischen objektiver und
subjektiver Religiosität in den Formgebungen der
Hochrenaissance.
Deren grössere Lebendigkeit und
Naturalistik lässt nämlich die Darstellung keineswegs in höherem
Grade als Äusserung einer innerlich-religiösen Dynamik
erscheinen.
Von Michelangelo, der in dieser
Hinsicht eine ganz isolierte, untypische Stellung einnimmt, sehe
ich ab.
Aber Lionardo und Signorelli, Raffael
und Fra Bartolommeo sind in ihren Heiligenbildern von einer
erstaunlichen Objektivität: sie stehen für mein Gefühl diesem
Pol der Skala näher als das Trecento es tat, so sehr dies gerade
sich ebenso durch Ungelenkheit wie durch sakrale Würde vom
Cinquecento unterscheidet.
Man hat durchaus nicht mehr den
Eindruck, dass irgendein religiöses Leben von sich aus zu diesen
Kompositionen beigetragen hat; selbst wo nicht das rein
malerische Interesse alle anderen seelischen Agentien unfühlbar
gemacht hat, geht doch die religiöse Intention ausschliesslich
auf die Darstellung eines himmlischen oder historischen Daseins,
die von dessen Zentrum, von seinem Eigenrecht her, aber nicht
von der Frömmigkeit oder der Sehnsucht oder der Hingebung einer
Seele her bestimmt ist.
Die eigentümliche Fähigkeit des
menschlichen Geistes, gewissermassen von sich selbst absehend
und aus dem ihm Gegenüberstehenden heraus zu denken oder
anzuschauen, ist auch auf dem religiösen Gebiet mächtig und hat
in der Renaissancekunst diese Macht vorbehaltlos bewährt.
Ich rechne noch Rubens dazu, dessen
Ildefonso-Altar, und zwar gerade wegen seiner vollkommenen
Weltlichkeit, die religiöse Objektivität vielleicht auf ihren
Gipfel hebt.
Die Himmelsherrin zeigt dieselbe
vornehme repräsentative Existenz wie der Fürst, der ihr huldigt,
zwischen beiden ist eigentlich nur ein gradueller Unterschied
innerhalb der gleichen, sozusagen nach unten hin isolierten
Dimension, und dass die Darstellung des Göttlichen von einer
menschlich-persönlichen Religiosität her bestimmt sein sollte,
wäre hier ebenso unpassend erschienen, wie es nach der
Anschauung der Zeit gewesen wäre, dass die Untertanen sich
unmittelbar den Kaiser wählten — so dass entsprechend der Jesuit
Oliva in seinen am päpstlichen Hof gehaltenen Predigten die
Jungfrau als »Fürstin« oder als »Kaiserin« bezeichnete.
Die absolute Erhabenheit des göttlichen
Daseins ist hier zwar vermenschlicht, aber indem dies mit dem
soziologischen Cachet der »Vornehmheit« geschieht, ist die
Ablehnung jeder innerseelischen Religiosität des Subjektes, die
sich in den künstlerischen Gestaltungen darlebe, fast in die
Form der Offensive übergegangen.
Die Frömmigkeit
An dem anderen Extrem dieser Skala
steht Rembrandt.
All seine religiösen Bilder,
Radierungen, Zeichnungen haben nur ein einziges Thema: den
religiösen Menschen.
Die Gegenstände des Glaubens macht er
nicht sichtbar, und wo er Jesus darstellt, hat er nie den
Charakter transzendenter Realität, sondern empirisch
menschlicher: den liebenden und den lehrenden, den in Gethsemane
verzweifelnden und den leidenden.
Das Dasein des Heiligen, dessen
objektive Erhabenheit der Gläubige nur hinnehmen und von ihr
angestrahlt sein kann, ist für Rembrandts Kunst verschwunden;
das Religiöse, das er in künstlerische Erscheinung ruft, ist die
Frömmigkeit, wie die Seele des Individuums sie in mancherlei
Abwandlungen erzeugt.
Mag diese Seele von jenseitigen Mächten
erregt, von dem göttlichen Dasein umfasst und bestimmt sein —
nicht dies zeigt Rembrandt, sondern den Zustand, den sie, all
dieses vorausgesetzt, nun in sich, mit ihren spezifischen
Kräften hervorbringt, einen Zustand, der ausschliesslich an
menschlichen Seelen bestehen und sich an menschlich irdischen
Leibern ausdrücken kann.
Mögen alle jenseitigen
Glaubensgegenstände existieren und innerhalb ihrer absoluten
Macht der einzelne Mensch mit seinen Zuständen ein verwehendes
Sandkorn und objektiv eine Gleichgültigkeit sein — Religion kann
immer nur in einem Verhältnis einer menschlichen Seele zu diesen
Jenseitigkeiten entstehen, und sie ist unter allen Umständen der
Anteil, den diese Seele in das Verhältnis hineingibt und in dem
es für sie besteht.
Dies ist, in theoretischem Ausdruck,
die Grundvoraussetzung von Rembrandts religiöser Kunst. Zum
ersten Mal in der Geschichte der Kunst ist diese Quellströmung
der Religion zu reiner Herrschaft gebracht: dass sie, welches
auch immer ihre Glaubensinhalte, ihre metaphysische Basis, ihre
dogmatische Substanz sei, doch als Religion ein Tun oder ein
Sosein der Menschenseele sei.
In den wenigen Blättern, wo er
Gottvater darstellt, ist dieser eigentlich unbedeutend, viel
weniger tief und interessant, als die Menschen; natürlich — denn
Gott selbst ist nicht fromm.
Nur etwa Fra Angelico könnte man
daneben nennen, dem gleichfalls der fromme Mensch als solcher
zum Darstellungsproblem wird.
Allein schliesslich ist doch auch bei
ihm der religiöse Inhalt ein Allgemeines, das über den
Individuen schwebt und erst in sie hineinwirkt, sie erleben ihn
als ein Aufgenommenes; das Dogma ist hier doch noch zu eng in
den rein seelischen Prozess des Frommseins verwebt, als dass
mehr als eine Vorahnung für das schlechthin überhistorische
Gebilde der Frömmigkeit im Rembrandtschen Ausdruck sich bieten
könnte.
Im Mittelalter überhaupt ist die
Frömmigkeit wie eine Substanz ausgegossen, die die einzelnen
Menschen durchdringt — wobei natürlich in den religiösen Genies
wie Franciscus und Eckhart die Eigenbewegung der Seele den
objektiv gewordenen religiösen Werten entgegenkommt, aber gerade
da, wo sie aus den letzten Tiefen der Subjektivität
hervorbricht, dieses Zusammentreffen manchmal in nicht
gefahrloser Weise verfehlt.
Bei den religiösen Gestalten Rembrandts
wird die Frömmigkeit jedesmal von neuem aus dem letzten Grund
jeder Seele heraus erzeugt, die Menschen sind nicht mehr in
einer objektiv frommen Welt, sondern in einer objektiv
indifferenten Welt sind sie als Subjekte fromm.
Die mittelalterliche Frömmigkeit ist
immer noch unmittelbar mit ihrem transzendenten Gegenstand
verbunden (gerade weil er in einer gewissen sinnlichen Empirie
gegeben schien); würde diesen Menschen ihr Gott genommen, so
würden sie — abgesehen von den religiösen Genies — nicht mehr
fromm sein, was bei den Rembrandtschen nicht der Fall ist.
Dagegen würden jene immer noch fromm
bleiben, auch wenn es sozusagen kein irdisches Leben mit seinen
Inhalten gäbe (was durch den Heiligen und das Klosterleben
annähernd realisiert und bewiesen wurde), wobei man sich wieder,
auf die Rembrandtschen Gestalten hindenkend, nichts Rechtes
vorstellen kann.
Diese sind vom Klosterprinzip, das die
Lebensinhalte prinzipiell annulliert, so weit wie möglich
entfernt.
Unzählige Male stellt er biblische
Szenen dar, die man mangels jedes dogmatischen, glaubensmässigen
Elementes scheinbar gar nicht für religiöse Kunst halten möchte:
die Erlebnisse des Tobias, den barmherzigen Samariter, den
verlorenen Sohn, die völlig kleinbürgerlich aufgefasste
Jugendgeschichte Jesu.
Das Religiöse ist die Beschaffenheit
dieser Menschen, die an ihnen von innen her ebenso haftet, wie
dass sie klug oder dumm, lebhaft oder indolent sind.
Mögen sie nun glauben oder tun, was sie
wollen — sie haben die Frömmigkeit als eine Bestimmung ihres
subjektiven Seins überhaupt, die gerade an ihrem inhaltlich ganz
irdischen Verhalten umso deutlicher als Eigenfärbung ihrer
Persönlichkeiten aufleuchtet.
Die Religiosität, so die Grundform des
persönlichen Lebens überhaupt, bewirkt, dass jegliche Szene
dieses Lebens der Ort eines religiösen Tones oder Wertes sein
kann, ja muss; dass keine Stelle, die einer seiner Inhalte in
den andern sachlichen Ordnungen einnimmt, zu einem Hindernis für
seine religiöse Durchdringung werden kann.
Hier haben wir das subjektive Gegenbild
des Pantheismus.
Dass in diesem das göttliche Sein
unterschiedlos und vorbehaltlos alle Dinge und ihre Bedeutung
trägt, übersetzt sich in das Verhältnis der religiösen Stimmung
zu den Dingen des persönlichen Lebens — mit nicht prinzipieller,
aber historischer Abgestuftheit und Relativierung zwischen
kosmischen Absolutheiten und seelischen Personalitäten.
Wie für Spinoza Gott die Ursache aller
Dinge ist und sie nur durch ihn begriffen werden können — aber
nicht als wäre er ein aussenstehender Werkmeister, sondern weil
von vornherein die Dinge nichts anderes sind als die
Modifikationen der göttlichen Substanz, so ist in dem
bescheidenen Lebensumkreis der Rembrandtschen Personen
Religiosität nicht etwas, was zu einer andersartigen
Selbständigkeit ihrer Handlungen und Erlebnisse noch hinzuträte,
sondern von vornherein gehen ihnen dies sub specie religionis
vor.
Und wie der pantheistische Gott weder
einzelne Eigenschaften hat, noch irgendeinen Punkt des Daseins
mehr oder weniger als einen andern tragen oder vergotten könnte,
so geht die vitale Religiosität solcher Rembrandtschen Menschen
nicht in die einzelnen Motive und Züge, in die man Religion
sonst analysieren mag, auseinander.
Und dieser innerlich einfachen Einheit
der Lebensgestimmtheit entspricht es, kein Moment des Lebens vor
dem andern auszuzeichnen; sondern dessen ganze Alltäglichkeit zu
durchleuchten, denn das Licht kommt nicht von aussen — was
Verschiedenheiten seines Auffallens unvermeidlich machte —
sondern von innen, jeden Weg gleichmässig durchflutend, der sich
überhaupt von dem Lebensfundament her in die Erscheinung hinein
bahnt.
Darum, wie diese Religion innerlich an
allen Inhalten haftet, so haftet sie äusserlich an keinem.
Auf den Eindruck von diesem Verhalten
hin aber Rembrandt einen »Mystiker« zu nennen, zeugt nicht eben
von tiefem Eindringen in die Erscheinungen, die nun einmal den
Namen der Mystik tragen.
Deren Spezifisches nämlich — also
jenseits dessen, was aus anderen Erscheinungskreisen ihr
beigemischt zu sein pflegt — ist es, dass die innere
Lebensbewegung als mit dem Göttlichen identisch empfunden wird.
Setzt man ihr Wesen in das
Geheimnisvolle, Dunkel-Tiefe, mit rationalen Begriffen nicht zu
Erschöpfende, so begeht man die populäre Verwechslung des
Mystischen mit dem Mysteriösen, das, als etwas rein Formales,
allen möglichen Innerlichkeiten und Äusserlichkeiten zukommt.
Dass das Erlebnis, aus dem eigensten
Zentrum der Seele hervorbrechend, zugleich ein Ereignis des
göttlichen Lebens ist (gewissermassen nur auseinandergezogen in
der Eckhartschen Lehre, dass Gott des Menschen so bedarf, wie
der Mensch Gottes); dass der Mystiker die Gottheit nicht, als
ein Objekt, erlebt, sondern dass er sie unmittelbar lebt und
sich dazu keineswegs zu entselbsten braucht, sondern nur zu
entindividualisieren (weil das Unterschiedliche der
Individualität etwas Fremdes und Zufälliges um den Kern des
Selbst herum ist); dass das Ich, ohne sich selbst zu verlassen,
doch unendlich viel mehr ist, als ein blosses Ich (wie es Plotin
von der Ekstase sagt, mit ihr käme nicht der Gott in den
Menschen, sondern zeigte gerade, dass er nicht zu kommen
braucht, weil er immer in ihm wäre) — das ist das logisch
freilich nicht zu bewältigende Wesen der Mystik.
Aber dieses Aufschwellen der Seele über
sich selbst liegt Rembrandt ganz fern.
So wenig wie der Gott ausserhalb des
Menschen, bestimmt der Gott innerhalb des Menschen der
Religiosität seiner Gestalten ihre unvergleichliche Färbung.
Ihre Vertiefung, ihre weihevolle Ruhe
oder ihre Erschütterung kommt nur ihrem in sich selbst
ablaufenden Leben zu, gleichviel bei welchem äusseren oder
inneren Ereignis sich all dies offenbare; gerade das
Mehrsein-als-sie-selbst, das der Mystik eignet, ist jeder dieser
Seelen fremd.
Rembrandt ist kein Mystiker. Eher könnte man zugeben, dass eine
christliche Lebensstimmung zu der Entwicklung dieser Frömmigkeit
des einfachen Daseins neigte, für die ihrem Wesen nach (ob auch
Rembrandts Bewusstsein nach, können wir nicht entscheiden) aller
dogmatische Inhalt ausser Betracht bleibt.
Es liegt auch nicht fern, an Luther zu
denken, der den Schnitt zwischen dem Heiligen und den
Alltäglichkeiten des häuslichen Lebens zu beseitigen unternahm.
»Knecht und Magd, wenn sie tun, was
ihre Herrschaft sie heisst, so dienen sie Gott, und, sofern sie
an Christum glauben, gefällt es Gott viel besser, wenn sie auch
die Stube kehren oder Schuhe aus, wischen, denn aller Mönche
Beten, Fasten, Messehalten und was sie mehr für hohe
Gottesdienste rühmen.« Dennoch liegt auch hierin noch die
dogmatische Präsumtion, auch hier ist die Frömmigkeit, obgleich
so tief in den Grund des Lebens versenkt, dass sie auch dessen
äusserste Peripherie noch erfasst, ein Mittel zur Seligkeit (ich
komme auf dieses Entscheiden gleich noch zu sprechen); es
handelt sich nicht um die Frömmigkeit, die dem Tun als solchen
einwohnt, weil der Tuende fromm ist, sondern er ist sozusagen
doch nur sekundär fromm, weil er sich in eine göttlich
verordnete, von einem bestimmten objektiven Glauben geleitete
Lebensordnung einstellt.
Dieser Unterschied ist sehr zart, aber
darum nicht weniger scharf. Diesseitigkeitswerte und
Jenseitigkeitswerte sind freilich mit dieser lutherischen Lehre
in eine neue Nähe gebracht worden.
Für das Religiös-Einzigartige aber
jener Rembrandtschen Menschen (gleichviel ob es in ihnen noch
mit Andersartigem gemischt und nicht mit ganz reiner Herrschaft
auftrete) ist die Frage des Diesseits und Jenseits überhaupt
nicht aufzuwerfen, da es ausschliesslich Sache des seelischen
Seins ist, das weder von der einen noch von der anderen Seite
her bestimmt ist; insoweit haben die Menschen dieser stillen,
familiären Bilder nicht Religion, als einen objektiven
Lebensinhalt, sondern sie sind religiös.
Gewiss ist es eine ungeheure Leistung,
die in den Tendenzen Plotins, teilweise des Christentums,
Schellings und Hegels liegt: alle die empirischen Einzelheiten,
Äusserlichkeiten, Zufälligkeiten des Lebens in die Region des
Absoluten, des Heiligen, des absoluten Sinnes heraufzuheben;
eigentlich liegt das überhaupt in der Richtung jeder kosmischen
Metaphysik — so wenig es auch irgendwo durchgeführt sein mag.
Eine Grösse anderer Art aber liegt in
der Umkehrung der Direktive: die ideelle Bedeutung, den
überempirischen Wert auf die in ihrer Ebene belassenen einzelnen
Lebensinhalte hinunterzuführen; die Dinge wurzeln weiter in der
Erde, aber eben diese Wurzelung und Wirklichkeit zeigt sich als
durchzogen von metaphysischer Feierlichkeit, von einem Sinn
reiner Vernunft durchblutet.
So war Sokrates, als er die Philosophie
»vom Himmel auf die Erde herabführte« und in den täglichen
Hantierungen der Menschen den Platz für einen vernunftmässig
normierenden Sinn ersah, so Kant, als er in der einfachen
Pflichterfüllung den metaphysischen Wert des freien Ichs
erkannte.
Die frühen Frömmigkeitsmaler: Duccio,
Orcagna, Fra Angelico folgten der ersteren Norm; das Irdische
wurde entirdischt, um am Göttlichen teilzunehmen.
Rembrandt aber liess die Erscheinung im
Zusammenhang des Irdischen ungestört, liess dieses allenthalben
Wirklichkeit bleiben, aber er zeigt die Weihe, den absoluten
Wert auf, den es durch das immanente Moment der Frömmigkeit
besitzt.
Darin also, dass Rembrandts Menschen
von sich aus fromm sind, und nicht daher, dass sie in eine
vorbestehende transzendente Ordnung eingestellt sind — darin
haben sie das Definitivum ihres seelischen Lebenswertes; so
dass, cum grano salis gesagt, die religiösen Objektivitäten, zu
denen die Frömmigkeit sonst als Mittel und Weg, Vorbereitung und
Würdigkeit, aufwärtsführte, ihrerseits nur Voraussetzungen und
Bedingungen der Frömmigkeit sind.
Nur als das Sprungbrett, von dem aus
die Subjektivität zu jenen hinaufgelangte, erschien sonst die
Frömmigkeit.
Nun ist es umgekehrt, und es
erschüttert die Bedeutung des so bestehenden religiösen Wertes
nicht, wenn diese objektiven Inhalte etwa als bloss subjektive
Gebilde angesprochen würden; mögen sie hier so und dort anders
sein, historisch bedingt, abergläubisch phantastisch — ihr
Subjektiv- sein ist jetzt gleichgültig, da sie nur Mittel oder
Ausdruck, der als Bedingung angesehen wird, sind und sich
deshalb an ihnen geltend macht, dass die gleiche Wirkung sich
aus sehr mannigfaltigen Ursachen erheben kann.
Das Objektive und Definitive bleibt die
freischwebende und eben darum in sich absolut seinssichere
Frömmigkeit der Seele. Darum zeigt sich die Drehung zwischen
Mittel-Sein und Definitiv-Sein auch nach jeder andern
Bedeutungsseite der Frömmigkeit hin.
Goethe sagte einmal: »Frömmigkeit ist
kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch die reinste Gemütsruhe
zur höchsten Kultur zu gelang gen.« Dies eben gilt für
Rembrandts religiöse Menschen nicht, diese »höchste Kultur«
würde ihnen ziemlich fern liegen.
Auch sie würde — der Ausdruck wird hier
unvermeidlich etwas schief — ihnen ein Mittel sein, da ihnen
tatsächlich die Frömmigkeit »Zweck«, der abschliessende
Wertpunkt ihres inneren Daseins ist.
Wo sonst eine Anschauungsweise
religiöse Werte in menschlicher Form darstellte, wurde entweder
der Mensch vergöttlicht oder der Gott vermenschlicht.
Von dieser Alternative tritt Rembrandt
fort, da das Religiöse in seiner Darstellung nicht die objektive
Beziehung zwischen Mensch und Gott ist, sondern dasjenige
inner-eigene Sein des Menschen, an das sich oder aus dem sich
überhaupt erst die Beziehung zu seinem Gott knüpft.
Das konkrete Dasein und das religiöse
Leben
Die Verwebung der Religiosität mit
Lebensinhalten, die an und für sich anderen Ordnungen angehören,
gibt einem Richtungsunterschied Raum, dessen Seiten sich in der
einzelnen Erscheinung vielleicht nicht mit beweisbarer
Sicherheit trennen lassen.
Dennoch wird ihre Auseinanderhaltung
die Gestimmtheit von Rembrandts religiöser Kunst verdeutlichen
helfen.
Die Frage, wie sich zu dem religiösen
Grundbestand die Einzelheiten des empirischen Lebens verhalten
und verhalten sollen, wird von der historisch-seelischen
Tatsächlichkeit keineswegs eindeutig beantwortet.
Wo eine substanzielle Objektivität des
Dogmas besteht, da hat die religiöse Durchdringung des täglichen
Verhaltens dieses noch immer in starren Formalismus geführt.
Ist die überirdische Bedeutung des
Daseins, seine Gesamtweihe, Gefühl und Metaphysik des Universums
erst einmal in die Einzelvorstellungen religiöser Dogmatik
eingegangen, so klafft zwischen diesen und den Einzelelementen
und praktischen Vornahmen des äusseren Lebensverlaufes ein
Abgrund, den offenbar kein organisches Zusammenwachsen mehr
schliessen, sondern nur eine religiös genannte Normierung dieser
Vornahmen äusserlich überbrücken kann.
Ich erinnere an die Lebensweise des
Brahminen, des streng rituellen Juden, vieler Mönchsorden.
Indem Speise und Trank, Zulässigkeit
oder Unzulässigkeit jedes Verhaltens, die Ausführung jedes
Handgriffs von Religionswegen vorgeschrieben ist, bildet
freilich der ganze Atomenhaufe unserer empirischen Handlungen
eine religiöse Kontinuität; allein unverkennbar ist die
Zufälligkeit, mit der an die jeweilige Grundüberzeugung vom
Göttlichen gerade die so und so beschaffene äussere
Lebensgestaltung angekettet ist. — Soll das spezifisch Religiöse
in uns sich in einem inneren Zusammenhang mit dem
Äusserlich-Praktischen zeigen, so fliesst zunächst schon in dem
letzteren eine Quelle religiöser Entwicklung.
Es gibt nämlich unzählige Beziehungen
zwischen Menschen, deren Gefühlsseiten, ohne den empirischen
Bezirk dieser Beziehungen zu verlassen, eine nur als religiös zu
bezeichnende Färbung haben.
In der Erotik und in der Freundschaft,
in Herrschaft und Dienst, in dem Verhältnis des Individuums zum
Stamme und zur Familie, zum Stand und Vaterland, schliesslich
zur Menschheit; dann auch in dem zum Schicksal, zum Beruf, zur
Pflicht, zu Idealen — allenthalben findet sich hier eine
Mischung von Hingebung und Eigenleben, von Demut und Erhebung,
von sinnlich warmer Nähe und scheuer Distanzierung, von
Vertrauen und Preisgegebenheit, die zum Wesensbegriff des
Religiösen gehört.
Nicht als ob all dieses darum religiöse
Fundierung oder Sanktion zu zeigen brauchte: sondern jene
Gefühlselemente sind nur solche, die die religiöse Schöpfung,
Gläubigkeit, Verhaltungsweise seelisch tragen, sobald sie sich
nicht mehr an das Substrat jener empirischen Relationen binden,
sondern sich ihren eigenen, nun jenseitigen Gegenstand schaffen:
den Gott oder die Götter.
In der ganzen Breite des empirischen
Lebens und als seine immanenten Kräfte entwickeln sich religiöse
Gefühle und Impulse, gleichviel ob sie diesen Namen tragen und
ob sie sich zu den Sonderbegriffen, Sondergebilden der
spezifischen »Religion« steigern und verselbständigen und sich
nun von diesen ihre Weihe legitimieren lassen oder nicht.
Die Lebensinhalte und ihre Verbindungen
sind hier in einem gar nicht abschätzbaren Umfang die Quellen,
die sich zu der religiösen Strömung vereinigen, diese gleicht
einem chemischen Körper, dessen eigene und neue Eigenschaften
sich in keinem der Elemente, die ihn zusammensetzen, finden.
Die Verknüpfung zwischen der Religion
und den empirischen Einzelheiten des Lebens vollzieht sich hier
von diesen her, indem Religiosität und Religion nicht von sich
aus da ist, sondern als der Charakter gewisser Binnenereignisse
des Lebens sich aus diesem erhebt.
Neben der so laufenden Gerichtetheit
jener Verknüpfung steht ihre andere funktionelle Möglichkeit:
dass eine im reinen Sinne religiöse Gestimmtheit als
Lebensgrundlage oder als Färbung der Lebensgrundlagen von
vornherein vorhanden ist, eine Dynamik, die nicht erst als
mannigfaltigste Gefühlskategorien durch das Leben verbreitet ist
und als spezifisch religiöse erst aus diesen zusammenrinnt,
sondern die sogleich nur religiös ist und von sich aus das
Innere des Lebens und seine Äusserungen durchdringt oder in sich
einzieht.
Die Verbindung zwischen dem Religiösen
und allem konkreten Tun und Geschehen wird hier von dem ersteren
her geschlagen, das religiöse Verhalten und Gebilde entsteht
nicht im Weiterwachsen und Sich-Vereinigen von Gefühlen und
Impulsen, die das vorreligiöse, an Singularitäten sich
vollziehende Dasein entwickelt, sondern nun ist es selber ein
Primäres, das eben diese Singularitäten mit Richtung und
Stimmung ausstattet.
Innerhalb der Kunst wird der erstere
Fall sich nur in Andeutungen aufzeigen lassen.
Es gibt manche Stillleben und
Landschaften, die eine Andacht zu dem dargestellten Dasein
zeigen, eine Ahnung universeller Zusammenhänge, eine
überschwengliche Seligkeit am Dasein, verknüpft mit einer Scheu
vor seinen geheimen Tiefen — welches alles nicht aus religiösem
Fundament aufzusteigen braucht, sondern entweder unmittelbar mit
religiösem Wesen identisch ist oder sich zu ihm hin entwickelt.
Die religiösen Bilder Rembrandts aber
offenbaren die andere Richtung, in der das singulär anschauliche
Dasein sich dem religiösen verknüpft.
Dieses ist nun nicht Frucht, sondern Wurzel, und dass das
Äusserliche, ja Banale der Erscheinungen religiös durchgeistet
ist, ist kein ihnen selbst entsteigender Gewinn, sondern die
sozusagen unvermeidliche Formung, die ihr apriorischer
Wesensgrund, die Frömmigkeit, ihnen erteilt.
Wie sollte nicht aus jeglichen Lebensinhalten, die von einem
religiösen Lebensprozess aufgenommen und gestaltet sind, die
Religiosität wieder herausleuchten?
Hiermit ist eigentlich ausgesprochen,
wo der Berührungspunkt von Rembrandts Porträtkunst und seiner
religiösen Kunst liegt.
Dieser Punkt liegt ziemlich tief unter
der Oberfläche der beiden Gebiete; denn auf das erste Hinsehen
scheinen sie ohne stärkere Beziehung nebeneinander zu stehen.
Nun aber zeigt sich als das Gemeinsame:
dass statt der gleichsam substanziellen, zu festen
resultathaften Einheiten geronnenen Inhalte des Lebens der
Prozess des Lebens selbst zu Wesen und Absicht der
Rembrandtschen Kunst geworden ist.
Im Fall des Porträts betraf es die
einzelnen Eigenschaften, Charakterzüge, zeitlich oder zeitlos
beharrende Erscheinungen, zu denen der Lebensprozess der
Persönlichkeit kristallisierte, und die nun Rembrandts
Menschendarstellung wie aufgelöst in den Fluktuationen eben
dieses Prozesses zeigte.
Dem entspricht im religiösen Gebiet das
Verhältnis der dogmatischen Formulierungen, der fixierten Typen,
der transzendenten Gebilde und ihrer Symbole zu dem Prozess der
Religiosität, zu dem religiösen Leben.
Dieses mag in jenen seinen
Niederschlag, seine Ausdrückbarkeit, seine geschlossene
Anschaulichkeit finden; Rembrandt aber fasst es in seinem
seelisch früheren Stadium, in oder vor dem Status nascendi jener
Inhalte — gleichviel ob es, in der historisch-psychologischen
Entwicklung, ihrer als Anregungen und Wegweisungen bereits
bedarf.
Nicht was der Mensch glaubt, nicht der
besondere Inhalt des religiösen Lebens, sondern die Besonderheit
des Lebens insoweit es religiös ist, bildet sein Problem.
Im Porträt wie im religiösen Bild ist
es das von der Seele getragene Geschehen, als reine
Funktionalität, was er — und er allein unter allen Malern in der
vollen Eindrucksstärke gerade dieses Momentes — zum Vortrag
bringt; nur dass es im Porträt die Individualität des Lebens, in
diesen Bildern dessen Religiosität ist.
Wie dort die Individualität nicht als
zeitlose Qualifiziertheit gefasst ist, sondern als die Eigenform
einer Lebensbewegtheit, die von dieser auch ideell nicht
abzutrennen ist, so ist das Religiöse hier eine Art, auf die das
Leben gelebt wird, in keiner Weise aber ein in einem
Jenseits-seines-Prozesses Darstellbares.
Daraus wird ohne weiteres verständlich,
dass die Gestalten dieser religiösen Bilder nicht in derselben
Art und in demselben Grad individuell wirken wie die Porträts.
Denn das Leben wird hier auf eine
andere der ihm immanenten Kategorien hin angesehen wie dort; das
Gemeinsame aber ist, dass hier wie dort statt der Inhalte und
Ergebnisse des Lebens sein ganz Primäres, funktionell
Bestimmendes im Mittelpunkt der künstlerischen Absicht steht.
Damit, dass in Rembrandts religiösen
Bildern einfach die Frömmigkeit als ein stetiges Sosein der
Menschen, an jeder beliebigen Einzelsituation bewährt, sich
darstellt, wird der Religion die spezifische Wärme des Lebens
gegeben, die ihr leicht entfliehen kann, wenn die Kunst sich
entweder an die verselbständigten Gegenstände dieser Frömmigkeit
oder an die besonders betonten Ereignisse und aufgegipfelten
Lagen hält, die sich in der gleichsam äusseren Berührung des
Lebens mit jenen Gegenständen ergeben.
In dieser letzteren Hinsicht ist es
belehrend, sich über die innere Struktur des — ausserhalb der
Sixtinischen Kapelle — grossartigsten religiösen Bildes der
Klassik klarzuwerden: Lionardos Abendmahl.
Das Unvergleichliche ist hier dies. Ein
gewissermassen äusseres Ereignis — das Wort: Einer unter euch
ist, der mich verraten wird — kommt zugleich über eine Anzahl
durchaus verschiedenartiger Menschen, und der dadurch ausgelöste
Affekt bringt gerade eines jeden individuelle,
charakterologische Sonderart zu höchster, unverkennlichster
Offenbarung; es ist, als wären, trotz jener Verschiedenheit, die
seelisch-körperlichen Elemente in ihnen so angeordnet, dass
diese eine Erschütterung, gleichsam widerstandslos durch sie
hindurchgehend, gerade ihre Verschiedenheiten an ihre Oberfläche
treibt.
Auf Raffaels Karton der
Schlüsselverteilung ruft ebenfalls ein Wort die Ausdrucksantwort
in jedem der Zwölf hervor.
Allein diese Antwort mündet nicht an
der Offenbarung des eigenen letzten Wesens eines jeden, sondern
macht an demjenigen Ausdruck halt, der objektiv auf die
Situation passt, allenfalls mit etwas verteilten Rollen, während
die Situation bei Lionardo nur die Gelegenheitsursache für das
Entfalten der Individualität ist.
Der Erfolg ist, dass diese im Cenacolo
viel entschiedener und differenzierter hervortritt als in
Rembrandts religiösen Bildern.
Aber es ist nun wieder die Aufgipfelung
zu diesem Moment oder auch zu statuarischer Zeitlosigkeit, in
der diese äusserste isolierende Charakterisierung der Einzelnen
gelingt.
Die Einheitsart der religiösen Bilder
Die Soziologie solcher mehrfiguriger
Bilder Rembrandts ist ein subtiles Problem.
Wo eine Anzahl von Personen in einem
Rahmen — in dessen unmittelbarem wie übertragenem Sinne —
vergemeinsamt ist, fühlen wir in der Regel eine Einheit, die
etwas Höheres und Unteilbareres ist, als die Summe ihrer
Elemente: so ist der Staat noch etwas anderes als die Summe der
Bürger, der Wille einer Gesamtheit mehr als die
zusammengerechneten Einzelwillen; und in der Kunst bilden selbst
Gruppen, die voneinander in jeder Hinsicht so verschieden sind
wie Orcagnas Paradies und Tizians Assunta, jeweils eine Einheit,
die irgendwie jenseits der individuellen Wesenheiten der
Teilnehmer steht.
Wo von den Gruppen eine sinnvoll
einheitliche geometrische Form abstrahierbar ist, ist sie das
äusserlichste Symbol dieser von den Elementen zwar gebildeten
und getragenen, aber nicht pro rata in ihnen auffindbaren
Gesamteinheit, deren unbezweifelhafte Fühlbarkeit oft schwer zu
deuten ist.
Diese im engeren Sinne soziologische
Einheitsform zeigen Rembrandts Bilder nicht.
Was wir an der Nachtwache schon
feststellten: dass ihre Einheit sich ganz unmittelbar aus den
Lebendigkeitssphären der einzelnen handelnden Personen
zusammenwebt, kein selbständig übergreifendes, die Personen nur
gleichsam als Glieder verwendendes Ganzes ist, das gilt auch für
die religiösen Bilder; obgleich hier die Einheit der religiösen
Stimmung leicht als eine Strömung erscheinen könnte, die
sozusagen jenseits dieser Gruppe entspringt und sie
zusammenhält, indem sie durch sie hindurchflutet.
Allein dies wäre kein zutreffender
Ausdruck des Sachverhaltes.
Diese Stimmung vielmehr hat ganz und
gar in dem Einzelnen ihren Ursprung, und die Einheit des Ganzen
entstammt ausschliesslich dem Zusammenwirken dieser rein
persönlichen Sphären, das sich durch deren Inhaltsgleichheit
reibungslos vollzieht. Das Ganze bleibt durchaus an die
persönlichen Elemente in ihrer Individualität gebunden, und
seine Einheit erfordert keine Herabsetzung der letzteren; dass
auch in den italienischen Renaissancebildern keine solche
fühlbar wird, liegt an der Ausgleichung der dominierenden
Einheitsform des Ganzen durch die stolze Selbstbetonung der
Persönlichkeiten. Rembrandt hält sich jenseits dieser ganzen
Polarität, er bedarf keines ausgleichenden Herab- und
Heraufsetzens der Personen, weil jede von vornherein in der
gleichen Stimmung wie jede andere lebt. Hiermit kann er den
dargestellten Augenblick viel mehr in das zeitlich fliessende
Gesamtleben der Personen hineinziehen, womit freilich jene,
durch den Zusammenschlag mit der Situation erreichte Pointierung
wegfällt. Gewonnen aber ist dadurch ein unvergleichlich
gesteigerter religiöser Charakter des Werkes. Es ist höchst
bemerkenswert, dass im Cenacolo trotz der Zusammengefasstheit
durch das eine Jesuswort, das wie eine kontinuierliche Welle
durch all diese Menschen läuft, und trotz des wunderbar
vollkommenen Rhythmus der Gesamtkomposition, jene Einheit nicht
erreicht ist, wie sie etwa in Rembrandts Emmausbildern oder in
den Radierungen der Grablegung und der Predigt Christi besteht.
Die Personen ragen dort mit der
monumental statuenhaften Aufgipfelung ihrer Individualität über
die Gesamtheit hinaus, sie sind zunächst etwas für sich und
werden erst nachträglich von jener, aus einer Quelle stammenden
Erschüttertheit erfasst.
Allein dieses Mass, oder richtiger
diese Art von Individualisierung verträgt sich nicht mit der
Versenktheit in jene religiöse Stimmung, die sich über eine
Gesamtheit ergiesst und den einzelnen zu ihrem Gefäss macht, das
sie bis zum Rande erfüllt.
Nicht als ob etwa Religiosität Grösse
und Mächtigkeit ihrer Träger an und für sich ablehnte.
Aber wie dort der auf seine Grösse und
Mächtigkeit stolze Renaissancemensch (ein Stolz, der nicht erst
im Bewusstsein, sondern unmittelbar im Sein der Person liegt)
auftritt, wie er sich in der formalen Geschlossenheit seines
Soseins gibt — das ist nun einmal etwas neben dem spezifisch
Religiösen.
Dieses wohnt viel eher dem bewegten
Leben ein, das nicht in stilisierter Selbstigkeit dasteht; das
Leben ist, als ein fliessendes, von dieser Schärfe der Umrisse
frei, und dass in Rembrandts Bildern Frömmigkeit die Art ist,
auf die das Individuum überhaupt lebt, das eben steht in
gegenseitiger Bedingtheit mit der Einheit in ihrem
Zusammengeführtsein.
Wenn ich bei dem Cenacolo von der Welle
sprach, die durch die Existenzen als deren Verbindung
hindurchläuft, so sind diese bei Rembrandt ganz in die Welle
untergetaucht, ganz aufgelöst in die Gemeinsamkeit eines Lebens;
denn schon für sich hat jeder sein jetzt entscheidendes Sein
nicht in der zu der klassisch geschlossenen Linie sich hebenden
Selbstheit, sondern in der Flutung des Lebensprozesses, die sich
widerstandsloser mit der andern mischt, demütiger, wenn man
will, und doch ihrer Religiosität sichrer, weil diese nicht ein
Zug einer sonst schon fertigen Persönlichkeit, sondern die Art
ihres Lebens selbst ist.
Individuelle Religiosität, Mystik und
Calvinismus
In diesem religiösen Individualismus
scheint sich eine in Rembrandts Umgebung gerade aufkommende
Strömung fortzusetzen.
In den Kreisen der niederländischen
»Collegianten« des 17. Jahrhunderts begegnet ein starkes
Misstrauen gegen den Wert der bestehenden Kirchen, bis zur
völligen Ablehnung des konfessionellen Typus überhaupt.
Es entsteht ein religiöser
Subjektivismus, der dem Individuum den grössten
Differenzierungsspielraum gewährt.
In diesem Fehlen des objektiven
Allgemeincharakters der religiösen Werte liegt der tiefere
Grund, aus dem Rembrandts Auffassung der religiösen
Persönlichkeit von aller statuarischen Darstellbarkeit so
gänzlich fern ist.
Die Plastik ist die unindividuellste
Kunst, sie ist — mindestens bis zu Rodin — die Kunst der
allgemeinsten Formen.
Daher wird begreiflich, dass in der
romanischen Renaissance auch die Gestalten der Malerei oft, in
gewissen Reihen sogar typisch, wie Statuen dastehen.
Der Inhaltsallgemeinheit des
Katholizismus entsprach die Formallgemeinheit der Kunst, während
die Rembrandtsche Empfindungsweise, für die das
Allgemeinheitsproblem keinen Sinn hat, der Formungsintention,
die sich zur Plastik aufgipfelt, keinen Raum geben konnte.
Es fehlt der Religiosität seiner
Gestalten der Allgemeinheitscharakter nicht nur, weil er ein
Abstraktes ist, nicht nur weil das religiöse Leben (im Gegensatz
zu den religiösen Inhalten) nur an individuellen Trägern haften
kann, sondern auch weil er ein Befehlendes, Vergewaltigendes
gegenüber dem Einzelnen ist.
Diese Rembrandtschen Menschen sind am
weitesten von aller Religiosität des »Gesetzes« entfernt, das
sich als ein allgemeines und das Individuum dominierendes, in
der Kirche niedergeschlagen hat.
Nicht nur ist das Gesetz etwas
Allgemeines, sondern das Allgemeine ist auch Gesetz.
An jenen ravennatischen Bildern der
göttlichen und heiligen Wesen ist, soweit sie überhaupt einer
Beziehung zum Menschlichen zugänglich sein mögen, gerade das
Gesetzhafte der Religion, das Magistrale der Kirche, ein
unübersehbarer Zug.
Sie verkünden das Wahre und Absolute,
das als solches das Allgemeine und das Gesetz in Einheit ist.
Eben diese Einheit ist es, der die
Rembrandtschen Gestalten ganz fern stehen, weil ihr Religiössein
nicht die Ausstrahlung eines Inhaltes ist (so wenig es einen
solchen ablehnen mag), sondern ein Lebensprozess, eine Funktion,
die sich nur innerhalb des Individuums vollziehen kann.
Höchst merkwürdig gestaltet sich dies in einigen seiner
Jesus-Darstellungen.
In mehreren Radierungen erscheint Jesus
als Knabe; dürftig, von den Umgebenden fast erdrückt, oder in
dem Berliner Bild der Samariterin: beinahe nur ein Schatten,
substanzlos, gegenüber der kräftigen, gleichsam fest in der Erde
wurzelnden Frau.
Dennoch, sieht man auch nur einen
Augenblick länger hin, so ist dieses schwache, wie schwankende
Wesen doch das einzig wirklich feste, alle die andern, starken
und substanziellen Gestalten sind ihm gegenüber unsicher und wie
entwurzelt, als hätten nicht sie, sondern nur er den Boden unter
den Füssen, auf dem der Mensch eigentlich stehen kann.
Und dies ist nicht durch einen Strahl
vom Transzendenten her erreicht, nicht dadurch, dass irgendeine
Andeutung den Heiland als einer anderen Ordnung im
objektiv-metaphysischen Sinne angehörig zeigte.
Er hat nur die stärkere, die stärkste
Religiosität, jene unbedingte Sicherheit als eine Qualität
seines menschlichen Seins, die dem Menschen nur als eine Folge
oder Seite seiner Religiosität zukommt.
Dies ist um so ergreifender, als in den
ganz frühen Bildern, in denen er sich noch nicht zu dieser
Religiosität hinempfunden hatte, Christus umgekehrt gerade als
mächtige Persönlichkeit erscheint: der grosse, schöne, magische
Mensch, der seine Umgebung äusserlich dominiert.
Wie sehr die Abbiegung von dieser Linie in jene andere von
vornherein in seinem eigensten Wesen angelegt sein musste, zeigt
sich daran, dass doch auch diese Richtung sich zu letzten
religiösen Tiefen hätte entwickeln können.
In gewissem, wenn auch etwas
modifiziertem Sinne hat Grünewald dies aufgewiesen.
In der Kreuzigung — der Colmarer wie
der Karlsruher — und der Predelle ist Christus der Gigant, über
menschliches Mass hinausragend, durch seine Grösse wie
unberührbar allem, was um ihn herum ist — und nun doch von
menschlichen Mächten gefällt, völlig widerspruchsvoll und das
unbegreiflichste Schicksal.
Hier ist nicht mehr die Rede von Seele
oder einem einzelnen seelischen Affekt.
Hier ist die Grösse der Existenz
schlechthin zur Darstellung gebracht und das Geheimnisvolle oder
Widersinnige, dass sie unterliegt, ist zwar religiös, aber
eigentlich nur insofern als die Dunkelheit dieses Geschehens so
undurchdringlich ist, dass es dadurch in den letzten Weltgrund
hinabzureichen scheint.
Diese Existenz, die sich in solchem
äusseren Grössenmass symbolisiert, und ihr Schicksal stehen so
paradox gegeneinander, dass eine Lösung von innen her gar nicht
in Frage kommt, sondern dass nur eine metaphysische Idee, ein
göttlicher Ratschluss diese ungeheure Spannung übergreifen kann
Nichts dergleichen bei Rembrandt.
In seinen tiefsten religiösen Bildern
ist die Erscheinung Jesu auf ein Mass gebracht, das sie völlig
für die Seele durchdringbar, ihr Leben und ihr Schicksal
durchaus von dieser her bestimmbar macht.
In dem Bildertypus, auf den ich
hindeutete, ist Jesus nur die gesteigertste von Rembrandts
religiösen Gestalten, deren Unterschied gegen die
nichtreligiösen ausschliesslich von ihrer individuellen
Innerlichkeit her gesetzt ist.
Diese mag von einer Gnade, von
irgendeiner aus dem Übermenschlichen fliessenden Kraft getragen
sein; allein danach fragt er nicht, er begrenzt sein Problem an
dem seelischen Sein des Menschen, das seine vielleicht
vorhandene Bedingtheit von jenseits her gänzlich in sein Leben
aufgenommen hat und sie nicht mehr als solche noch besonders
kenntlich macht.
Gerade diese Sicherheit des
Lebensfundamentes, wie sie in der von Rembrandt ausgedrückten
Religiosität liegt, enthebt deren Subjektivismus der blossen
Zufälligkeit, als wäre sie eine kommende und gehende »Stimmung«,
die das Subjekt mit sich abzumachen hätte, ohne dass sie etwas
im objektiven Sinne bedeutete.
Das ganz Grosse und Einzige vielmehr
scheint mir zu sein: dass hier das rein im Individuum
verbleibende religiöse Verhalten als ein Ewigkeitswert fühlbar
gemacht ist.
Um diese Auffassung der Religion zu
begreifen, darf die Objektivität ihrer Werte absolut nicht mehr
von einer »Lokalisierung« ausserhalb des Menschen bedingt sein.
Die religiöse Beschaffenheit des
Subjekts ist ja selbst etwas Objektives, ist ein Sein, das an
und für sich metaphysische Bedeutung hat.
Der schlechte, deklassierende Sinn des
»Subjekts« entsteht nur, wo man seinen ganzen Sinn durch einen
Gegensatz bedingt sein lässt, wo die Gewohnheit sinnlicher
gebundenen Denkens es in ein Aussereinander, Gegenüber, Gross
und Klein einstellt.
Die Erschütterungen und Ekstasen, die
in anderen Darstellungen den Menschen angesichts einer
Offenbarung, einer Erscheinung oder Botschaft vom Jenseits
überkommen, mögen subjektiv, im Sinne des Vorübergehenden und,
vom Subjekt selbst hergesehen, Zufälligen sein.
Wo aber die religiöse Tatsächlichkeit
in dem Sein des Subjekts oder vielmehr als das Sein des Subjekts
verankert ist, da ist seine Religiosität eben selbst etwas
Objektives, ein Wert, der, einmal gesetzt, das Dasein der Welt
überhaupt und zeitlos um soviel wertvoller macht.
Es mag nicht ganz leicht sein, den
Unterschied dieses religiösen Wertes gegen den mystischen zu
verstehen, den ich vorhin von Rembrandts Gestalten ablehnte.
Es bedarf dazu eines weiteren
Ausholens.
Viel durchgängiger, als es im
allgemeinen zugegeben wird, ist unser Wertbewusstsein
relativistisch bestimmt; damit meine ich hier, dass wir gewissen
letzten und absoluten Werten, sozusagen naiv, ihren
Wertcharakter von einem doch noch Höheren, Umfassenden her
erteilen oder legitimieren lassen.
Der Wert sittlichen Tuns scheint
gewiss, gerade je tiefer und reiner er gefasst wird, völlig in
sich zu ruhen und alle Bedingtheit, die ihm von ausserhalb der
sittlich wollenden Seele käme, abzulehnen.
Dennoch haben die Denker, die für die
Selbstherrlichkeit des Moralischen am unbedingtesten eintraten,
seine Würde schliesslich von der »Vernunft« hergeleitet, d. h.
aus der Zugehörigkeit des einzelnen Handelns zu einem
allgemeinen ideellen Reich von Normen und prinzipiellen
Zusammenhängen.
Noch so sehr mag, dass wir uns diesem
Reich einordnen und seinen Gesetzen gehorchen, als die Bewährung
unseres »eigentlichen Ich«, als der Sinn gerade der sittlichen
Autonomie gepriesen werden — die Wurzel des sittlichen Wertes
ist darum doch aus ihrem eigensten Selbstsein herausverlegt.
Die Handlung ist dadurch, insoweit sie
wertvoll ist, nicht ganz rein eben nur diese, sondern sie muss
sich über ihre eigenen Grenzen ausdehnen und eine Bedeutung
aufnehmen, die ihr von einem ideell vorbestehenden und gleichsam
absoluteren Ganzen kommt.
Mit der Wahrheit steht es nicht anders.
Eine Erkenntnis scheint nur dann die genaueste und sicherste zu
sein, wenn sie sich in ihren Grenzen, exakt im Einzelnen
aufzeigbar, mit denen ihres Gegenstandes deckt.
Allein gerade die tieferen Theorien des
Erkennens glauben dessen Wesen und Anspruch damit nicht
erschöpft.
Ihnen ist solche singulär festgestellte
Richtigkeit erst Wahrheit, indem sie sich in die — prinzipielle
— Ganzheit und Einheit alles Wahren überhaupt einstellt.
Das kommt nicht zu der für sich
legitimierten Einzelwahrheit noch hinzu, sondern diese besteht
im genauen Sinne überhaupt nicht als solche; ihren Wert als
Wahrheit erhält sie überhaupt nur dadurch, dass sie jenem
Gesamtzusammenhang angehört.
Die Exaktheit der Einzelfeststellung
mag für das praktische Verfahren genügen.
Aber dieses selbst findet nicht in den
so bezeichneten Grenzen seine Rechtfertigung, sondern ist von
vornherein sozusagen nur die Hülle, in die sich jene
Wahrheitstotalität gerade an dieser Stelle, zu dieser
Vereinzelung, kleidet.
In diese Form reiht sich die mystische
Religiosität ein.
Sie konzentriert zwar das religiöse
Leben durchaus nach innen, stellt es auf den letzten, am meisten
sich selbst gehörenden Punkt der Seele, aber dennoch ist diese
der Aufnahme des höchsten religiösen Wertes nur dadurch fähig,
dass sie gleichsam mehr ist als sie selber, dass sie auch der
Ort des göttlichen Lebens ist.
Das Seelische und das Göttliche ist
zwar ein unterschiedsloses Eines, aber diesem Einen kommt sein
Wert von seinem Göttlich-Sein, nicht von seinem Seele-Sein.
Trotz aller realen oder metaphysischen
Ungetrenntheit ist es im ideellen Sinne doch die Relation, die
dieses zu jenem hat, wodurch ihm sein religiöser Rang bestimmt
wird.
Hiergegen nun zeichnet sich die
religiöse Stimmung Rembrandtscher Gestalten zart und deutlich
ab.
Das Spezifische ihres religiösen Wertes
ist in ihre seelische Beschaffenheit ein- und in ihr
aufgegangen, mögen sie ausserdem zu dem objektiv Göttlichen auch
die Relation der Gläubigkeit haben.
Man kann das von aller Mystik wie auch
von allem Theismus abgehobene (wenn auch natürlich nicht in
abstrakter Isoliertheit bestehende) Element ihres religiösen
Wesens mit einer gewissen Paradoxität so bezeichnen, dass sie in
dieser Frömmigkeit leben würden, auch wenn kein Gott existierte
oder geglaubt würde.
Die Frömmigkeit hat ihren in anderen
Erscheinungen bestehenden Relationscharakter abgestreift.
Wie diese Frömmigkeit sich nicht nach
ausserhalb der Seele zu erstrecken braucht, so entlehnt sie auch
ihren religiösen Wert nicht von ausserhalb ihrer her.
Wenn auch in der Mystik die Seele den
vollen religiösen Wert in sich schliesst, so ist das doch, weil
sie unter dem Aspekt eines absoluten, überseelischen Göttlichen
steht; an den Rembrandtschen Menschen aber ist dieser Wert
überhaupt nicht einmal anders auszudrücken, als durch das reine
Selbstleben ihrer Seelen, durch ihre ganz in sich selbst ruhende
Frömmigkeit, die nicht zu stolz, sondern zu bescheiden ist, um
sich von der göttlichen Absolutheit des Daseins überhaupt her
legitimieren zu lassen.
Schwieriger vielleicht sind die Linien
durch Begriffe sichtbar zu machen, die diese Religiosität von
der calvinistischen trennen; doch ist der Versuch deshalb
erforderlich, weil gerade die allgemeine Betontheit der
individualistischen Momente im Calvinismus: der Verantwortung
der Einzelseele, der ganz personalen Erwähltheit oder
Verwerfung, der nur in der Einsamkeit der Seele empfundenen und
sie zu individueller Betätigung aufrufenden Gnadenwirkung — weil
alles dies der Rembrandtschen Empfindung vom religiösen Menschen
verwandt und sie vielleicht gestaltet zu haben scheinen kann.
Wenn ich die Grundposition Calvins (der
spätere Calvinismus hat sie teilweise verschoben) richtig deute,
so gilt gerade das Gegenteil davon.
Calvins religiöse Ideenbildung rechnet mit zwei Elementen: dem
heiligen und unbeschränkten Willen Gottes auf der einen Seite,
der objektiven Ordnung der empirischen Menschenwelt auf der
andern.
Diese enthält das Leben der Gemeinde
ebenso in sich wie den Beruf und die wirtschaftliche
Nutztätigkeit des Einzelnen.
Die grosse Synthese ist nun, dass die
Lebensverhältnisse zu derjenigen Art von Vollendung geführt
werden sollen, die von ihren eigenen, immanenten, rein
sachlichen Normen und Forderungen her vorgezeichnet wird — und
dass eben damit der Wille Gottes am besten erfüllt, die
Gottgesegnetheit unseres Tuns am deutlichsten symbolisiert wird.
Eine ganz neue Art der Lebenswertung
kommt damit auf, die nach einander entgegengesetzten Seiten von
der ursprünglich christlichen abweicht.
Während für diese die irdischen
Verfassungen das prinzipiell Gleichgültige waren, sind sie für
Calvin einerseits der Ort des Sündenstandes und in einem Masse
verdammungswürdig, für das jene erhabene Gleichgültigkeit gegen
sie gar keinen Raum gab.
Ebenso wenig aber hatte sie solchen
andrerseits für die merkwürdige Wertung der korrekten, irdisch
pflichtmässigen, materiell erfolgreichen Lebensordnung, die der
Calvinismus nun doch, wenn auch durch allerhand spekulative
Mittelglieder hindurch, ausbildete.
Gewiss war der Wert dieser objektiven
Ordnungen seiner ratio essendi nach durch den göttlichen Willen
gesetzt; aber seiner ratio cognoscendi mindestens entwickelte
sich an dem Masse des praktischen Erfolges und an Forderungen,
die das irdische Dasein nach seiner in sich geschlossenen
normativen Logik durchweben und für den empirischen Aspekt auch
dann durchweben würden, wenn es — etwas extrem ausgedrückt - gar
keinen Gott gäbe.
Der Calvinismus hat damit eine
religionsphilosophisch nicht seltene Deutung des Verhältnisses
zwischen Gott und dem naturgesetzlichen Dasein in die ethische
und soziale Problematik übertragen.
Man hat dieses Verhältnis nämlich so
bezeichnet, dass Gott, nachdem er der Welt ihre Bewegungsgesetze
einmal gegeben hätte, sozusagen von ihr zurückgetreten wäre und
sie diesen, nun ihr eigenen, nun streng ausnahmslosen Gesetzen
überlassen hätte; so dass diese Gesetze, ohne dass man auf ihren
eigentlichen Urheber zurückgriffe, rein von der irdischen Ebene
aus feststellbar und verständlich seien.
So kommen zwar die Normen der Welt, wie
sie als Welt sein soll, von Gott her, allein nun sind sie einmal
in ihre irdische Heimat eingewurzelt und scheinen aus deren
eigenen Tatsachen und Relationen herleitbar und von den
Massstäben sanktioniert, die der gleichsam von Gott besamte
Boden von selbst hergibt.
Die objektive irdische Ordnung, das
objektiv pflichtmässige und erfolgreiche Tun stehen für den
Calvinismus gewiss nicht innerhalb des absoluten Wertes, der dem
Göttlichen allein zukommt, allein sie haben — ich kann hier nur
einen äusserlich widerspruchsvollen Ausdruck gebrauchen — einen
absoluten Wert innerhalb des Relativen; einen Wert, der durchaus
an dem objektiven Dasein dieser Ordnungen, an der Bestimmung des
objektiven Weltbildes durch diese Betätigungen, diese Erfolge
haftet.
Das Gottesreich ist für den Calvinismus
der Zweck schlechthin; aber um seinetwillen wird das Irdische
behandelt, als ob es Zweck wäre.
Zwischen diesen beiden Absolutheiten spannt sich für Calvin alle
metaphysische Bedeutung.
Das Individuum als solches ist von ihr
ausgeschlossen, es ist nur die Brücke, über die hin, oder der
unentbehrliche Stoff, an dem sich gleichsam der Verkehr jener
beiden vollzieht.
Es lebt, als wertbedeutend, durchaus
nicht aus sich heraus, es hat innerhalb der Ebene der
Relativität, die ihm zugewiesen ist, nicht die absolute
Bedeutung, die in dieser vielmehr nur dem Sachwert, der
überpersönlichen Struktur des Individuellen und vor allem des
Gemeinschaftslebens zukommt.
Es ist nun einmal der grundlegende
Unterschied der Lebensauffassung: ob man Sinn und Bedeutung der
Handlungen und Verhältnisse gleichsam aus der Tiefendimension
der individuellen Wesenheit herausholt, ob deren subjektives
Leben den eigentlichen Wert des Daseins hergibt, Wurzel wie
Zentrum des Interesses bildet — oder ob all diese Akzente, dies
letzte Woher und Wohin der Werte an der Objektivität der
Zustände, an einem Überpersönlichen haftet, ohne sich in das
Eigenleben des Individuellen hineinzusenken.
Indem nun der Calvinismus seinem
entscheidenden Grundmotiv nach auf der letzteren Seite steht,
stellt sich ihm die Religiosität der Rembrandtschen Menschen
aufs entschiedenste entgegen. Noch einmal wiederholt sich hier
der auf früheren Seiten so vielfach behandelte Gegensatz
zwischen der Rembrandtschen Einstellung gegenüber den
menschlichen Werten, die sich auf das Selbst-Sein der Individuen
und ihr gleichsam um seiner selbst willen abrollendes Schicksal
richtet — und der klassisch-romanischen, der es auf das
Allgemeine, auf die begrifflich erfaßbare Formung ankommt; eine
Wiederholung der letzten metaphysischen Motivierungen, mit
entsprechenden Verschiebungen, die aber in dem Maße bezeichnend
ist, in dem der klassisch- romanische Geist doch von dem
calvinistischen getrennt ist, der sowohl nach der Seite der
Transzendenz wie nach der der irdischen Praxis, in der
einzigartigen Spannung und Einheit beider, über jenen
hinausgeht. Bei der einen liegt der metaphysische Grundton auf
der nach außen (nicht nur nach dem physischen Außen) hin
ausgewirkten, zur allgemeinen Gesetzlichkeit entwickelten Form,
bei der anderen in den objektiven Potenzen des göttlichen
Willens und der irdischen, planmäßig erfolgreichen Ordnungen und
Verhaltungsweisen. Ihr gemeinsames Widerspiel aber haben beide
an dem Selbstwert der Bestimmung des Lebens, die rein von innen
her erfolgt, aus dem Individualitätspunkt als letzter
metaphysischer Formungsquelle und Wertinstanz heraus.
Die Seelenhaftigkeit
Wie ich nun, im Gegensatz zu all diesem
wie zur Mystik, die in der Rembrandtschen Kunst lebende
religiöse Einstellung deutete: dass sie bei ihm weder als ein
Element noch als eine besondere Aufgipfelung des Lebens
erscheint, sondern als die Art des Lebens dieser Menschen
überhaupt; dass dieses subjektive religiöse Sein aber seine
Bedeutung nicht in seiner psychologischen Wirklichkeit
erschöpft, sondern selbst ein Metaphysisches ist, ein
überzeitlicher Wert, der rein von der Innerlichkeit dieser
zeitlichen Individuen getragen wird --- diese Deutung sei noch
nach einigen Seiten hin expliziert.
Erstens. Solcher Bedeutung der
religiösen Seele liegt die der Seele überhaupt zugrunde.
Wenn man Rembrandt von jeher als den
»Maler der Seele« bezeichnet hat, so geht diese etwas
sentimentale Formulierung zwar aus einem richtigen Eindruck
hervor, aber dieser entfaltet seinen ganzen Sinn doch erst an
der Aufzeigung seines Gegensatzes.
Es ist eine eigentümliche Tatsache,
dass die Philosophen, denen alles an der Totalität des
Weltbildes, an dem systematischen Erfassen seiner Einheit liegt,
fast durchgehends eine Gleichgültigkeit, auch wohl eine
Abneigung gegen Psychologie zeigen.
So vielfach auch das Motiv auftaucht,
dass wir, gerade wenn wir uns in das letzte und Tiefste des
eigenen Seelengrundes versenken, den Grund des Daseins überhaupt
oder den Punkt erreichen, wo uns Gott berührbar und zugängig
ist, so ist dies doch gerade ein Überpflanzen der Seele in das
Metaphysische, gerade ein Hinausgehen über das spezifisch
Seelenhafte, das sie ganz in sich ist.
Und so sehr man die Seele in die Welt
verschlingen und als deren Entwicklungsgipfel verstehen oder
umgekehrt die Welt in die Seele als deren Vorstellung und
Erzeugnis hineinlegen mag — gerade wo die Seele rein als Seele
lebt und empfunden wird, ist ein Sichausschliessen zwischen ihr
und der Welt da, das durch all jene Vermittelungen nicht
dementiert, sondern gerade als ein erst zu Überwindendes gezeigt
wird.
Nicht nur in Philosophien, sondern auch
in den Religionen und den Künsten ist es so: wo die Ganzheit des
Daseins in ihrer Breite oder ihrem objektiv eigenen Zentrum
erfasst, symbolisiert, dominiert werden soll, entgeht der Seele
jener Sonderakzent, der von allen Dingen der Welt gerade nur ihr
werden kann; andererseits, wo sie ihn findet, geht von ihr kein
Weg zu dem Gefühl der Beherrschung, der Vorstellung des Kosmos.
Gerade weil Rembrandt der »Maler der
Seele« ist, fehlt seinen Gestalten — dies hat oben schon ein
anderer Gegensatz begründet — jenes schwer definierbare Cachet
des Kosmischen, wie es z. B. in vielen Gestalten Hodlers
besteht, die sozusagen nicht — psychologisch — sich selbst,
sondern irgendwie ein Kosmisches ausdrücken, dessen sie selbst
wie alle anderen ein Teil sind; die Entscheidung über den
künstlerischen oder seelischen Rang der einen und der anderen
Kunst wird von dieser kategorialen Bestimmung nicht berührt.
Sogar die Buddha-Gestalten mit ihrem
Akosmismus, ihrem leidenschaftlich leidenschaftslosen Abweisen
der Welt überhaupt haben eben damit zu dem tiefsten Begriff eben
dieser Welt ein sehr entschiedenes, wenngleich negatives
Verhältnis, und darum können sie leicht im psychologischen Sinne
»seelenlos« erscheinen, während die Rembrandtsche Zentrierung
alles Interesses in der Seele es weder im Gegenstand noch in der
Vortragsweise zu solchem Verhältnis kommen lässt.
Es gibt ein Bild von Rembrandt, in dem
dies alles zu einem positiven Ausdruck gelangt: die
»Auferstehung« in München.
Im Vordergrunde taumeln die
Kriegsknechte von der gehobenen Grabplatte herunter: das ganze
sinnlose, teils gewalttätige, teils lächerliche Chaos des
Irdischen.
Darüber der Engel: in einer Flut
unirdischen Glanzes, als hätte er die Tür des Himmels hinter
sich aufgelassen, aus der ihm Glorien nachstürzen.
Und nun, ganz in der Ecke, fast nur
schattenhaft, wie aus der Ferne, hebt sich der Kopf Jesu mit
schwer erkennbarem Ausdruck; und auf einmal wissen wir: hier ist
die Seele, vor deren blassem, leidendem, noch von der
Totenstarre halb gelähmtem Leben jene Erde und jener Himmel
verbleichen und nichtig werden.
Keinerlei sinnlich-malerische oder
mystisch-religiöse Betonung liegt auf diesem Kopf, sondern das
ganz Einfache: es ist die Seele, die als Seele nicht von dieser
Welt ist — aber auch nicht von jener; jenseits des ungeheuren,
alle sonstigen Daseinsmöglichkeiten umschliessenden Gegensatzes,
in den hier Erde und Himmel gestellt sind.
Dies Bild, aus seinen dreissiger
Jahren, ist wie ein Symbol und Programm seiner späteren höchsten
Kunst; es offenbart, wie mit der Seele ein schlechthin
Unvergleichliches gegeben ist, ein Dasein und ein Wert, jedem
andern Dasein und Wert gegenüber souverän und gewissermassen
unberührbar, ein in sich wertvolles Reich des Subjektiven, dem
freilich dem irdischen und vielleicht auch dem überirdischen
Kosmos gegenüber das Einbeziehen und Einbezogenwerden abgeht.
Aber nur diese Absolutheit des Prinzips Seele kann jene
Religiosität tragen, deren metaphysischer Inhalt keine gegebene
Heilstatsache, sondern das religiöse Leben der Seele selbst ist.
Religiös-künstlerisches Schöpfertum
Zweitens. Dass die Religiosität der
Rembrandtschen Darstellungen zwar genau so am Subjekt haftet wie
dessen Leben selbst, weil sie eben nur die Art seines Lebens
ist, dass sich aber an diesen Darstellungen dennoch eine
Objektivität — wenn auch anderen Sinnes als etwa die der
calvinischen Ordnungen und Tatergebnisse —, ein Überzufälliges
und ideell Festes offenbart — das ist vielleicht noch von einer
anders orientierten Basis aus zu begreifen.
Die tiefere Kunstbetrachtung wird genau
zwischen der Darstellung des Religiösen und der religiösen
Darstellung scheiden, so viele Werke auch beides in Einheit
zeigen mögen.
Solche Scheidung, allen möglichen
Kunstinhalten gegenüber erforderlich, ist öfter im Prinzip
anerkannt, als in der tatsächlichen Betrachtung durchgeführt.
Die dichterische oder malerische
Darstellung einer stark sinnlichen Szene braucht keine sinnliche
Darstellung zu sein, sondern kann rein artistisch formalen
Wesens sein; umgekehrt kann die künstlerische Darstellung eines
in dieser Hinsicht ganz indifferenten Inhaltes etwas sinnlich
höchst Aufreizendes haben — z. B. gewisse Ornamente bei Aubrey
Beardsley; sie wirkt dann in dieser Hinsicht wie Musik, die,
jedes Vorstellungsinhaltes bar, äusserste sinnliche Erregtheit
ausdrücken und hervorrufen kann.
Die allgemeine Formel für dies
Verhalten ist, dass bestimmte Daseinsinhalte, als Wirklichkeiten
oder in der empirischen Welt erlebt, gewisse Qualitäten und
Tönungen besitzen, die ihnen nicht mehr selbstverständlich
zukommen, sobald sie in die Form der Kunst übergehen.
Aber die Kunst kann ihrerseits in ihrer
einzelnen Ausübung diese Eigenschaften besitzen oder nicht
besitzen; die Kunstform als solche kann von ihnen durchdrungen
sein, mag die Wirklichkeitsform des gleichen Inhaltes sie zeigen
oder nicht.
Nur auf die prinzipielle Erkenntnis
kommt es also an, dass es religiöse Kunstwerke gibt, deren
Gegenstand gar nicht religiös zu sein braucht, wie es, viel
anerkannterer Weise, gänzlich irreligiöse gibt, deren Gegenstand
religiös ist.
Vielleicht ist deshalb das Ergreifende
von Rembrandts biblischen Darstellungen, die in unmittelbarem
Anblick nur etwa eine kleinbürgerliche Milieuszene bieten, auch
so auszudrücken: das Darstellen selbst, die künstlerische
Funktion des Bildes, sozusagen die manuelle Führung von Nadel,
Feder, Pinsel ist religiös durchgeistet; die Dynamik des
Schaffens selbst hat den eigentümlichen Ton, den wir religiös
nennen und der im Gebiet der historischen Frömmigkeit und des
Transzendenten zu den eigentlichen »Gegenständen« der Religion
kristallisiert.
Es bedarf deshalb gar keiner religiösen
Einzelheiten auf diesen Bildern; das Ganze ist religiös, da die
apriorische Energie, die es erzeugt hat, religiös ist.
So begründet sich von der Seite des
Schöpfers her, was seine Schöpfungen zeigten: dass seine
Gestalten nichts inhaltlich Religiöses zu tun brauchen, weil ihr
Lebensprozess seinen religiösen Charakter ganz von selbst auf
jeden seiner Inhalte überträgt; diesem Verhältnis wird erst so
seine tiefste, zeugende Schicht unterbaut.
Dass die Vorwürfe dieser Bilder
biblisch sind, ist nur Anregung und Erleichterung für den Maler,
eben diese Funktion wirken zu lassen, für den Beschauer, sie zu
fühlen.
Die Art, wie sich hier die malerischen
Möglichkeiten verhalten, entspricht gewissen Tatsachen aus der
Geschichte der Vokalmusik.
Im Lied wie in der Oper ist bei manchen Komponisten Text und
Musik innerlich voneinander ganz unabhängig.
Mozart komponiert sogar den elendesten
Text, sicher, dass die selbständige Schönheit der Musik ihn
überdeckt; hier und bei anderen bilden Worte und Töne zwar eine
tatsächliche Einheit, stehen aber in ganz verschiedenen
Bedeutungsreihen.
Anders liegt es z. B. bei Bach und
später wieder besonders bei Schumann.
Hier besteht eine solche Vertiefung in
den Text, dass er, für den Eindruck, vollkommen bildsam
erscheint; das Tiefste, was er an allgemeiner Stimmung hergeben
kann, wird die Wurzel, aus der das Gesamtkunstwerk aufwächst;
indem die Musik selbst von dieser Grundstimmung des Textes
bestimmt ist, leitet sie ihm diese wieder zu: sein eigenes
Wesen, gereinigt und gestärkt durch seine Ausformung in der
Musik, umfasst und gestaltet ihn von neuem.
Jenes erste Verhältnis, übertragen auf
den religiösen Gegenstand und seine malerische Darstellung,
besteht etwa für die Hochrenaissance und für Rubens.
Welche innere Bedeutung einer Madonna
zukommt, ist für Raffael irrelevant, welche einer Kreuzabnahme,
danach fragt Rubens nicht.
Bei beiden verlässt sich die Malerei sozusagen auf sich selbst,
so dass es an ihren Eindruck nicht rührt, wenn sie den
Gegenstand in seiner Eigenbedeutung nur wie einen Fremdkörper
enthält.
Bei Rembrandt dagegen wird die Malerei
selbst von dem allgemeinen Grundmotiv des dargestellten
Vorganges, dem Religiös-Sein, getränkt, und durch das Medium des
so bestimmten artistischen Prozesses wird der Vorgang wiederum
in jenes einbezogen.
Der Gegenstand wird durch das
Kunstwerden hier so geformt und beseelt, dass er vollkommen in
dessen Charakter aufgeht, während eben dieser Charakter der
künstlerischen Funktion aus dem allgemeinsten Sinn des
Gegenstandes, seine Einzelheit weit übergreifend, genährt ist.
Die Interpretation muss hier eine naheliegende subjektivische
Irrung vermeiden.
Es ist mit alledem nicht etwa
behauptet, dass Rembrandt sozusagen als Privatperson ein
religiöser Mensch gewesen wäre und diese Stimmung seines
persönlichen Lebens auf die Erzeugnisse dieses Lebens übertragen
hätte; wie er sich in dieser Hinsicht innerlich verhalten hat,
wissen wir nicht, und die Indizien scheinen mir bei ihm mehr
gegen als für eine sehr positive Religiosität zu sprechen.
Höchstens könnte man an eine
allgemeine, sozusagen undifferenzierte Lebenstiefe glauben, in
die innere Entwicklung und äussere Schicksale ihn geführt hätten
und die das subjektive persönliche Fundament dafür ausmacht,
dass er als Maler — funktionell, als der Schöpfer dieser Bilder
— religiös ist.
Hier liegt noch einmal der Unterschied
einerseits gegen den andern Maler der Frömmigkeit.
Fra Angelico ist ganz unverkennbar
persönlich ein frommes Kindergemüt gewesen, er hat mit einer
Unmittelbarkeit, die man nicht in Hinsicht des Objektes, wohl
aber des Subjektes Naturalismus nennen kann, seine reale
Lebensstimmung in sein Werk hinein fortgesetzt, während, soweit
wir sehen können, es bei Rembrandt nicht die persönliche
Existenz, sondern der künstlerische Prozess war, die Art des
Konzipierens und Schaffens, die dem Werk die religiöse
Durchdrungenheit gab.
Darum verdankt das Werk diese auch,
andrerseits, nicht einfach der realistischen Beobachtung frommer
Persönlichkeiten.
Seine Menschen wirken, wie ich früher
ausführte, gewiss als solche, die von innen her in der
religiösen Sphäre leben; allein unter dieser unmittelbaren
Erscheinung liegt als funktionelles Apriori das, was man das
religiöse Malen — im Unterschied gegen das Malen des Religiösen
— nennen muss.
Diese religiöse Charakterisiertheit
haftet hier wirklich nur dem Malen an, sie ist dessen immanentes
Gesetz und nicht eine eigene Lebensrealität, für die das Malen
nur ein Ausdrucksmittel wäre.
Es sind ja auch nicht nur die Figuren,
an denen dies künstlerische Apriori sich im Einzelnen darstellt,
sondern die Gesamtheit des Bildes ist es: Licht und Luft, die
Komposition und das ganze Milieu haben diese an singulären
Punkten oft gar nicht aufzuweisende Stimmung des Religiösen.
Ein solcher Charakter des Ganzen kann
auch nur aus einem Ganzen kommen, d. h. aus einer allgemeinen
stilistischen Geste der Produktion, unbeschadet, dass sie nur an
einem bestimmten Problemkreis dieser Produktion sich äussert.
Der malerische oder zeichnerische
Vortrag hat den inneren Stil, die Bewegtheit, das Weihevolle,
die Mischung des Dunkeln und des Lichten, der Unaussprechbarkeit
und des naiv Selbstverständlichen —, welches alles Religiosität
heissen muss; dieser Vortrag selbst ist also religiös, er hat
nicht einfach Religion, weder als Bekenntnis einer persönlich
realen Gläubigkeit noch als Wiedergabe beobachteter Religiosität
noch als Darstellung an sich religiöser Inhalte (obgleich alles
dieses ausserdem vorliegen mag).
Mir ist kein Schöpfer religiöser
Kunstwerke bekannt, bei dem das religiöse Moment in dieser
Schicht lokalisiert wäre, so frei von aller blossen Gegebenheit,
ein Formungsgesetz des Schaffens selbst, das also »allgemein und
notwendig« in dem Geschaffenen anschaulich ist.
Das Licht, seine Individualistik und
Immanenz
Drittens. Dies also ist sowohl in
Hinsicht der Figuren wie der künstlerischen Gestaltung das
Einzigartige an Rembrandts religiösen Darstellungen: dass
Religion hier in ihrem seelisch funktionellen Sinne, als
Religiosität erfasst ist, unter Ausschaltung alles kirchlich
Traditionellen und seines jenseitigen Inhaltes — und dass dieser
primäre Subjektivismus sich durchaus als objektiver Wert zeigt,
indem er einerseits an den Gestalten ein in sich Metaphysisches,
die absolute Bedeutsamkeit der religiösen Seele, repräsentiert,
andrerseits an der Kunst selbst zum Apriori geworden ist, das
die volle Objektivität der Kunstform besitzt, den Bedingungen
des objektiven Schaffens immanent ist.
Rembrandt hat ein Mittel, diese
Konstellation über die menschliche Individualität hinaus zu
verwirklichen: das Licht.
Dieses Licht verhält sich wie der
religiöse Seinsausdruck Rembrandtscher Figuren, die die so
bezeichnete Bedeutung unmittelbar an sich tragen, und nicht
daraufhin, dass irgendein Transzendentes, ein dogmatischer
Sachverhalt an ihnen sichtbar würde.
Dieses Licht ist sozusagen als
natürliche Wirklichkeit religiös, wie jene Menschen es als
seelische Wirklichkeit sind.
Wie sie bäuerisch, beschränkt, durchaus
irdisch sind, aber ihre Religiosität in sich die metaphysische
Weihe trägt oder an und für sich eine metaphysische Tatsache
ist, so ist das Rembrandtsche Licht auf seinen religiösen
Radierungen und Bildern etwas durchaus sinnlich Irdisches, gar
nicht über sich hinaus Weisendes, aber als solches etwas
Überempirisches, es ist die metaphysische Verklärung des
anschaulichen Seins, die dieses nicht in eine höhere Ordnung
hinaufhebt, sondern fühlbar macht, dass es selbst und
unmittelbar eine höhere Ordnung ist, sobald es mit religiösen
Augen angeschaut wird.
Damit ist nicht etwa Pantheismus
gemeint, der ja überhaupt in den bildenden Künsten nur einen
schwebenden, von fernher symbolisierenden Stimmungsausdruck
finden kann — so sehr das Künstlertum als solches überhaupt in
pantheistischen Voraussetzungen wurzelt.
Der religiöse Pantheismus ist entweder
die Versöhntheit eines Dualismus, dessen Spuren nicht völlig
verwischt sind und auch nicht verwischt sein dürfen, damit die
gewonnene Einheit fühlbar bleibe; oder er ist eine, offenere
oder heimlichere, Verneinung der sinnlichen Wirklichkeit
zugunsten der alleinigen Wirklichkeit des Absoluten.
Beides liegt dem Verhalten Rembrandts
ganz fern.
Sein spezifisches Licht stammt zwar
weder von der Sonne noch aus einer künstlichen Quelle, sondern
aus der künstlerischen Phantasie, aber es hat auf deren Boden
völlig den Charakter seelisch-sinnlicher Anschauung, und seine
Weihe und dass es nicht von dieser Welt ist, ist eine Qualität,
die es durchaus als Erscheinung dieser Welt, sozusagen als
künstlerische Erfahrung besitzt.
Man möchte hier eine Analogie mit historischen Wirklichkeiten
erkennen.
Sieht man das niederländische Volk an,
wie es sich auf den Bauern- und Bürgerbildern darstellt:
sinnenfroh, fest in der Erde wurzelnd, gutem Essen und Trinken
von Herzen ergeben, so ist es eines der erschütterndsten
Schauspiele, dass gerade diese Menschen für ideale Besitze, für
ihre politische Freiheit und ihr religiöses Heil rückhaltlos den
Tod und Schlimmeres als den Tod auf sich nahmen.
Und fast erscheint dieses in vielen der
Rembrandtschen religiösen Bilder und Radierungen symbolisiert:
einfache Gestalten, ohne jede subjektive Phantastik, irdisch
derb — und in sich schon jener immanenten Religiosität teilhaft,
werden sie jetzt noch einmal vom Licht umgriffen, um eine
Totalität zu tragen, die den gleichen Charakter der rein inneren
Verklärtheit offenbart, des Irdischen, das ein Überirdisches
ist, ohne über sich selbst hinauszugreifen.
Bilder wie die »Ruhe auf der Flucht« im
Haager Museum oder die Grisaille des »Barmherzigen Samariters«
in Berlin sind schlechthin einzige Erscheinungen in der
Geschichte des malerischen Ausdrucks.
Wie die Musik des grossen Komponisten
allen einzelnen und begrifflichen Inhalt des Liedtextes
übergreift, und eben damit doch dessen letzten Sinn in absoluter
Einheit und Reinheit ausspricht — so ist hier jede Besonderheit
der fast unkenntlichen Figuren, jede Spezifikation des Vorgangs
völlig in die Dramatik des Hellen und des Dunkeln aufgelöst, mit
der die allgemeinste, metaphysische und innere Deutung des
Ereignisses uns als Vision erschüttert.
Dies Licht ist die religiöse Weihe, das
Zeichen des Von-Gott-Seins in der Atmosphäre, in der räumlichen
Welt um uns herum, deren nur innerlich eigene Qualität damit
ausgedrückt ist.
Man kann das Problem nicht abweisen,
wie sich die Betonung dieses höchst allgemeinen Elementes wohl
zu der individualistischen Gerichtetheit der Rembrandtschen
Kunst verhalte.
Ich führte vorhin schon aus, dass die
religiösen Figuren nicht die einsame Einzigkeit des Porträts
zeigten.
So wenig ihr religiöser Charakter von
ihrem Leben getrennt, vielmehr nur dessen Modus ist, so ist es
unleugbar selbst so eine angebbare Eigenschaft und als solche
etwas Allgemeineres, Vielen gleichmässig Anhaftendes; die
Einzigkeit der Porträtgestalten beruhte gerade in der
Nicht-Angebbarkeit irgendeines einzelnen Charakterzuges — denn
sowie ein solcher zu bezeichnen ist, besteht er ideell
ausserhalb seines Trägers und ist nicht dessen alleinigem
Besitze vorbehalten.
Jene Lockerung des
Individualitätsprinzips — mehr als Lockerung ist es nicht —
setzt sich in der Bedeutung und Betonung des Lichtes fort.
Die Individualität scheint zwar mit dem Licht in ein
Allgemeines, Weltmässiges aufgelöst, aber die Welt dieses
Lichtes ist zunächst die Welt der Seele.
Es ist als hätte die Seelenhaftigkeit
die Form der Individualität verlassen und wäre in diese tiefe
wogende Dynamik von Licht und Schatten aufgegangen.
Das ist nicht vom Subjekt her zu
verstehen, als bedeutete es den Ausdruck für eine »Stimmung« des
Schöpfers oder des Beschauers; dies lyrische Moment liegt fern.
Auch ist die seelische Bedeutung dieses
Lichtes nicht etwa eine »symbolische«.
Für einige seiner landschaftlichen
Bilder und Radierungen mag das gelten; da soll es gewisse
differenzierte Affekte oder Ideen vorstellen und ist dadurch
eigentlich mehr allegorisch als symbolisch.
In jenen Darstellungen aber ist es
unmittelbar religiöse Atmosphäre, religiöse Weltfärbung.
Es symbolisiert nichts, während in
anderen Gemälden etwa der vom geöffneten Himmel herunter-
zuckende Strahl oder das vom Christkind ausgehende Leuchten
Symbole sind.
Nur die Worte, in die man die
künstlerische Tatsache notdürftig fassen mag, können nicht
anders als symbolisch sein.
Es ist also, als ob das Licht in sich
selbst lebendig wäre, als ob Kampf und Frieden, Gegensatz und
Verwandtschaft, Leidenschaft und Sanftmut dieses Kräftespiel von
Licht und Dunkelheit unmittelbar trügen, nicht als ein Dahinter-
Stehendes, das sich in diesem Spiel erst ausdrückte, sondern wie
wir in der Statik und Dynamik unserer einzelnen Vorstellungen
und Affekte einen tieferen Rhythmus des seelischen Lebens
überhaupt wahrzunehmen meinen; dieser aber ist nicht der
Drahtzieher oder das »Ding an sich« jener Phänomene, sondern
ihre Kraft, ihre Lebendigkeit selbst und nur in dem
reflektierenden Ausdruck von ihnen geschieden.
Die immer auffallende »Wärme« des
Rembrandtschen Lichtes ist mit dieser Lebendigkeit identisch;
das Licht z. B. auf Correggios Heiliger Nacht hat dagegen etwas
Mechanisches, es entspricht Newtons Vorstellung vom Licht, die
Rembrandts dagegen der Goethes.
Das Licht hat hier die intensive Tiefe,
die Rhythmik der Gegensätze, das Fliessende und Vibrierende, das
wir sonst nur als die prinzipiellen Formen des seelischen Lebens
kennen.
Damit aber ist, ein so allgemeines
Weltelement das Licht sonst auch sein mag, ihm eine
gewissermassen individualistische Wendung gegeben.
Ich habe öfters hervorgehoben, dass
jene eigentümliche Dimension des Empfindens, Anschauens,
Bildens, die wir das Kosmische nennen, nicht der Ort Rembrandt-
scher Kunst sei, und dass man eben dies in Rembrandts
Lichtbehandlung hat sehen wollen, halte ich für eine
Missdeutung.
Es ist das Wesen des Kosmischen in
seinem weitesten Sinne, auch über das Seelenprinzip
hinüberzugreifen, ja dieses Überschreiten auch noch der
seelischen Unendlichkeit, des weitesten und tiefsten aller
benennbaren Weltelemente, bezeichnet erst seine eigentliche und
volle Bedeutung.
Von diesem absolut Weltmässigen scheint
mir Rembrandts Licht nicht Zeugnis abzulegen, wie allerdings
etwa Correggios Domkuppel in Parma oder wie in anderer Formung
der Goldglanz mancher Trecento-Bilder es tut.
Auch in der Verwendung des Lichtes, das
an sich weit über alle menschliche Individualisierung
hinausreicht, bleibt Rembradt immer in den Grenzen des
seelischen Sinnes, der seelischen Dynamik.
Wie die Seele seiner Porträtgestalten,
so ist ihm auch das Licht ein in sich, in seiner eigenen
innerlichen Bedeutung zentrierendes Sein.
Es wendet sich nicht hinaus zu einer
ihm kontinuierlich verknüpften oder von ihm repräsentierten Welt
des Lichts, wie es aus Bildern von van Gogh aufleuchtet und in
geringerem Masse aus manchen modernen französischen
Impressionistenbildern.
Gerade gegenüber den Bildern und
Radierungen, die, auf gegenständliche Formen fast verzichtend,
ausschliesslich aus Licht und Schatten und ihren Relationen
bestehen, möchte ich den Eindruck so schildern: dass man das
Licht nicht als einen Teil der Lichtwelt überhaupt empfindet,
sondern eben ausschliesslich als das Licht dieses Vorganges, ein
einmaliges, gerade nur an dieser Stelle lebendiges.
Das hängt wohl mit dem vorhin Betonten
zusammen, dass das spezifische Rembrandtsche Licht nicht von der
Sonne oder von einer künstlichen Lichtquelle realistisch
hergeleitet ist, sondern ein Erzeugnis seiner individuellen
künstlerischen Phantasie ist.
Deshalb besitzt es sozusagen keine
Brücken zur Welt ausserhalb seiner, sondern entfaltet und
begrenzt sich ausschliesslich innerhalb seines Rahmens.
Und gerade so verhält es sich mit der
Negation des Lichts.
Die Finsternis auf einigen seiner
Radierungen gehört nicht zu der Nacht des Weltteils, man spürt
nicht, dass Nacht rings um die Bildszene herum und diese deshalb
dunkel ist.
Während sonst eine Erscheinung gegeben
ist, die an sich ebenso im Hellen wie im Dunkeln stehen könnte,
nur jetzt eben, weil überhaupt Nacht ist, verdunkelt wird, ist
die Finsternis der Rembrandtschen Nachtstücke eine immanente
Qualität des Bildinhaltes selbst; weil sie sich nur in ihm,
durch ihn erzeugt, kann sie gar nicht über seine Grenzen hinaus-
dunkeln, so wenig das Rembrandtsche Licht, weil es in und mit
dem Bilde geboren ist, aus ihm herausquellen kann, um — wie in
Manetschen und Liebermannschen Bildern — gleichsam in
Rückprojektion als Empfängnis aus einer umgebenden Lichtwelt zu
erscheinen.
Gewiss ist das Licht, mit dem, statt
mit der Linie der Gegenstände, gemalt wird, etwas Allgemeines;
aber nicht das Allgemeine, das dieses Bild mit andern Bildern
oder Dingen teilt, sondern das Allgemeine seiner selbst, es ist
die Aufhebung der Einzelheiten durch die einfachste, reinste
Ausdrucksmöglichkeit des Bild-Sinnes, aber nicht die Aufhebung
seiner Eigenheit, seines in sich beschlossenen Für-sich-Seins.
Man hat den Barockstil, als den
spezifisch »malerischen«, im Gegensatz zum linearen Stil auch
damit charakterisiert, dass dieser den Wertakzent auf die
Grenzen der Dinge lege, in jenem aber die Erscheinung ins
Unbegrenzte hinüberspiele.
So scheint es auch bei Rembrandt zu
liegen.
Auch er löst die begrenzende Linie auf,
und an die Stelle ihrer Eigenrichtung setzt er ein flirrendes,
nach allen Richtungen schwingendes und vibrierendes Leben.
Aber sein Unvergleichliches ist, dass
die so angedeuteten Unendlichkeiten dem Bilde immanent sind,
dass er sie, die von sich selbst her alle Festigkeiten auflösen,
in das Innere des Bildes zurückgeknüpft hat.
Es ist eine neue Festigkeit, an Stelle
der unmittelbaren, an den Elementen haftenden: als oder durch
absolute geistige Beherrschung der Gelöstheiten der Elemente.
Bei manchen nachklassischen Malern
führt das Verschwimmende, Grenzenlösende, Untastbare der
Erscheinungen irgendwie aus dem Bilde heraus, wenn auch nicht im
direkten Sinne eines räumlichen Heraustretens; wie aber
Rembrandt das Licht im Bilde festhält und seine Unendlichkeit
ausschliesslich für dessen Innerlichkeit ausnutzt, indem es nur
in ihm zu entspringen, nicht aber von irgendeinem andern Punkt
hingeleitet zu sein scheint, so bannt er auch alles Sich-
Verlaufende, den Umriss Überspringende seiner Gegenstände streng
in den Bezirk des Bildes, leitet es, von jeder seiner Richtungen
und Bedeutungen her, der geschlossenen Individualität dieses
Bezirkes zu.
Mit alledem gewinnt das Licht,
metaphysisch gesprochen, bei ihm dieselbe Beseeltheitsform, die
die Porträts zeigen.
Was in diesen als Seele fühlbar ist,
ist nicht ein Teil oder ein Wellenschlag einer mystischen
Beseeltheit des Alls, wie es aus Gestalten der
alt-ostasiatischen Kunst heraus fühlbar ist; es ist auch nicht
die Erscheinung oder Vertretung des allgemeinsten
Menschenschicksals in der ganzen Weite und Tiefe der Tragik, die
mit dem Wesen des Menschen überhaupt geboren ist, wie es die
Gestalten Michelangelos zeigen; sondern es ist die Seele, die in
den Grenzen dieser Persönlichkeit und ihres Schicksals zu
entspringen und sich auszuleben scheint.
Nur dass diese Individualisiertheit
sich in ihrer allgemeinsten Form darstellt, insofern keine
Einzelheit eines angebbaren Inhaltes in die Sichtbarkeit tritt,
sondern nur das sozusagen Funktionelle der Seele in ihrem
reinsten innersten Leben, ihrer Beschaffenheit und
schicksalsmässigen Bestimmtheit.
So also ist das Rembrandtsche Licht
durchaus auf den Raum und Vorgang des jeweiligen Bildes
beschränkt, aber es bedeutet (mindestens in den eigentlich nur
aus Licht und Schatten, bei fast unerkennbaren Einzelheiten,
bestehenden Kompositionen) die Hebung des Bildnisses über jedes
Dies und Das hinaus in sein eigenes Allgemeinstes, in den
höchstmöglichen Ausdruck seines reinen, sublimierten Wesens.
Es ersetzt gleichsam die äussere
Allgemeinheit durch die innere, es zeigt, wie ich schon sagte,
nicht die Einheit des Bildes mit irgend etwas ausserhalb seiner,
sondern die letzte und einfachste Einheit des Bildes selbst.
Dies ist der Zusammenhang, durch den
hin das Rembrandtsche Licht jene einzigartige Beseeltheit
erwirbt.
Denn wie es von allem empirisch
Gegebenen nur die Seele ist, die alles Mannigfaltigste in oder
aus der Einheit ihres eigensten Lebens aufgehen lässt, so muss
das Rembrandtsche Licht, um in die individuell abgeschlossene
Einheit seines Lebens und Webens den ganzen Reichtum und die
Schwingungsweite eines oft vielfigurigen religiösen Vorganges zu
sammeln, eben diese sonst nur der Seele vorbehaltene Kraft
besitzen: ein sachlich Mannigfaltiges in ein einheitlich
Allgemeines zu formen, den Gegensatz von Individualität und
Allgemeinheit von der ersteren her zu lösen.
Es erläutert diese Beziehungen, dass
das Licht, wo es jene sozusagen abstraktere Allgemeinheit hat,
sich überhaupt der Ganzheit des jeweiligen Bildes, seinem
innerlichen und künstlerischen Sinne nicht so eng verbindet wie
bei Rembrandt.
In dem grössten Teil der Barockmalerei
tritt dies am entschiedensten hervor.
Hier ist das Licht eigentlich nur ein
zu der schon vorbestehenden Bildganzheit noch hinzugeborgtes
Element, das gewisse, in jener schon angelegte Werte und
Akzente, z. B. die Umrisse der Gestalten, klarer und vielleicht
reizvoller zu machen hat.
Wird bei den grossen Malern des
kosmischen Lichts durch dessen Bestand jenseits des Bildes eine
geheimnisvolle Expansion der Schauung und Stimmung bewirkt, so
wird bei dem mittleren Barockmaler an dieser Ausserhalb-
Existenz des Lichts nur um so deutlicher die gleichsam
mechanische Zusammengesetztheit des Bildes aus einander
wurzelfremden Elementen empfunden.
Aber selbst bei Meistern der Farbe,
ausser bei Rembrandt, wirkt mindestens das Helldunkel als ein
gleichsam funktionelles Mittel, um die substanzielle Farbe zu
nuancieren, ihr Kräfte und Betonungen zu geben.
Es steht aber durch seinen Charakter
als Mittel irgendwie nicht ganz in der gleichen Schicht mit den
eigentlich konstitutiven Farbwerten des Bildes.
Dieses ideelle Ausserhalb besteht für
das Rembrandtsche Licht nicht.
Es ist eben eine Lebendigkeit dieses
einzelnen Bildes selbst, in derjenigen Einheit mit dessen
sonstigen Elementen, die es nur in der Form der Individualität
gibt; weshalb denn auch begreiflich die Farben innerhalb seines
Helldunkels nicht zu der Reinheit und sozusagen partikularen
Schönheit kommen, die die grössere, nicht von der
Individualitätsform aufgehobene Gesondertheit der Bildelemente
ihnen erlauben kann.
Diese Individualität des Bildganzen
muss, wie auf die Beziehung zu der umbestehenden Welt, auch auf
die Sonderbetonung der Bildteile verzichten, weil nur so die
Einheit entsteht, die auch von innen undurchbrechlich ist.
Wie sehr das Rembrandtsche Licht diese
trägt, wird gerade durch den Vergleich mit Caravaggio deutlich.
Denn indem dieser Licht und Dunkelheit
aufs stärkste benutzt, aber im wesentlichen um die einzelnen
Bildelemente herauszuheben, entsteht doch nur ein schneidender
Kontrast in gegenseitiger Begrenzung von Hell und Dunkel.
Rembrandt dagegen, auf
Partialakzentuierungen zugunsten der Individualität des Ganzen
verzichtend, lässt es zu solcher Parteiung nicht kommen.
Licht und Schatten sind ihm nicht, wie
Caravaggio sie wegen der Individualisierung innerhalb des Bildes
fast darzustellen scheint, feindliche Potenzen, sondern weil ihm
nur das Ganze Individualität ist, sind sie ihm wie Geschwister,
deren Wesensarten und Betätigungsbezirke sanft gleitend
ineinander übergehen und die Gemeinsamkeit ihrer Herkunft — eben
die alle Einzelheiten durchdringende Einheit des Bildes selbst —
nie vergessen.
Wenn dieses Licht als rein innerlich
mit der Bildindividualität solidarisches, deshalb weder kosmisch
noch transzendent noch symbolisch sein kann, so lehnt es auch
noch das letzte Hinausgreifen über eben diese Immanenz ab: die
Beziehung zur äusseren Lichtrealität, zur Objektivität der
Modellszene.
Wie wir früher festgestellt haben, dass
die Beseeltheit der Rembrandtschen Porträtgestalten nicht
dadurch gewonnen ist, dass sie den Beschauer auf die
Lebensrealität des Modells hinweisen, wie vielmehr in diesen,
sich in sich selbst absolut genügenden Kunstwerken das Physische
der Erscheinung mit der Beseeltheit identisch ist, so führt uns
auch das Rembrandtsche Licht nicht auf ein solches hin, das eine
entsprechende Realszene erleuchtet.
Auch hier ist die Forderung an das
reine Kunstwerk erfüllt, seine Wirkung aus sich selbst zu
beziehen, und soviel von der Welt es auch in sich eingezogen
hat, damit nicht wieder eine Brücke in die Welt hinaus zu
schlagen, um sich aus ihr zu ergänzen.
Selbst ein so phantastisches Licht wie
in Correggios Nacht erscheint als Reproduktion des Lichts, das
zu dem ganzen von dem Bild wiedergegebenen Realvorgang gehört,
sogar in der Beschränkung, dass es nicht einmal den Raum
erleuchtet, sondern nur die Oberfläche der Akteure.
Erst bei Rembrandt ist das Licht nur in
dem Bilde selbst entsprungen, nur auf das malerisch Sichtbare
bezogen, ohne dass man, durch dieses gleichsam hindurchsehend,
einen entsprechenden Vorgang in der realen Welt zu imaginieren
veranlasst würde.
Ja, dieses Immanente der Rembrandtschen
Kunst und dass es schlechthin in der Sphäre seiner
schöpferischen Beseeltheit verbleibt, das ist gerade dieser
Irrealität des Lichts zuzuschreiben.
Das wirkliche Licht, gleichmässig über
Gerechte und Ungerechte scheinend, das Abstehendste verbindend,
überall in seiner Quelleinheit empfunden, dem Unvergleichbarsten
doch eine Gleichmässigkeit an Helligkeit und Schatten verleihend
— dieses Licht setzt jedes Geschehende am ehesten mit all dem,
was ausserhalb seiner geschieht, in Beziehung, es ist insofern
für das Einzelne ein im höchsten Masse realisierendes Element,
verneint am stärksten die Abgeschlossenheit der Dinge in sich.
Denn Wirklichkeit kommt den einzelnen
Inhalten nur in dem Zusammenhang oder als der Zusammenhang mit
der Welttotalität zu, es ist ein Relationsbegriff wie die
Schwere, die das einzelne irdische Ding nur in der
Wechselwirkung mit der Ganzheit des Erdkörpers gewinnt.
Die Herstellung dieses Zusammenhanges,
d. h. der Realität, ist, wie gesagt, eine der wesentlichen
Funktionen des empirischen Lichts.
Rembrandts Licht lehnt diese Funktion
ab, durch die das Licht auf andern Bildern sich sozusagen über
den Rahmen des Bildinhaltes hinausbegibt und damit diesen Inhalt
selbst in die Realität ausserhalb des Bildes einstellt.
Dieser Hinweis auf das reale Modell
fällt bei ihm fort, weil sein Licht nur das Licht dieses Bildes
ist; dadurch ist das Bild mehr als irgend sonst der Realität
enthoben, selbstgenugsam aus einer anderen Wurzel als der der
Weltwirklichkeit gewachsen.
Nur die lichtlosen Bilder des Trecento
haben aus demselben, nur negativ gewendeten Grund diese
Unwirklichkeit.
Zwischenerörterung: Was sehen
wir am Kunstwerk?
Angesichts der überwältigenden
Tatsächlichkeit des natürlichen Lichtes ist das hier berührte
Verhältnis des künstlerischen zu ihm vielleicht die
tiefstgegründete Gelegenheit, in das Realismusproblem an seiner
ganz entscheidenden Stelle einzutreten.
Dass die auf das Licht gestellten
Szenen bei Rembrandt in Hinsicht des Lichts mit sich
abschliessen, dass jede gleichsam ein sich selbst mit Licht
speisender Kosmos ist, dies gerade entfernt sie am weitesten von
dem Realismus, der im Kunstwerk die Spiegelung eines Stückes
Wirklichkeit sieht; denn in jedem Stück Wirklichkeit ist das
Licht ein Fragment oder Abkömmling des auch ausserhalb seiner
flutenden kosmischen Lichtes überhaupt.
Gerade mit diesem Realismus ist die
Theorie, dass die Kunst ein »Schein« ist, auf engste verwandt.
Der Schein ist der Schein von Etwas,
und zwar ein solcher, der das Etwas repräsentiert, der die
Illusion von dessen Realität ebenso erweckt, wie die
Wirklichkeit die wahre Vorstellung eben dieser.
Der Akzent, den die Scheintheorie
auf die Irrealität des Kunstwerkes legt, ist selbst nur ein
Schein: ihr gemäss wäre das Entscheidende für die Kunst, dass
sie durch eine scheinhafte Darstellung eben dieselbe Anschauung
psychologisch erzeugt, die sonst von der Realität ausgeht.
Ich habe dies oben für das Porträt
in Gegenhaltung gegen die Photographie und dann wieder für die
Bewegung im Bilde abgewiesen.
Allein der Bezirk der Frage geht
über diese Einzelfälle weit hinaus, denn sie lautet in ihrer
allgemeinen Fassung: was sehen wir eigentlich an einem Bilde,
das irgendetwas »darstellt«? — und hier stehen wir recht
eigentlich im Zentrum der kunstphilosophischen Probleme.
Auf einer berühmten Radierung seiner
Mutter (angeblich von 1628) hat Rembrandt einen Pelzkragen
angebracht, der ein wahres Wunder der Radierkunst ist: mit ein
paar Dutzend minimaler, scheinbar regellos hingesetzter
Strichelchen ist die einzigartige Stofflichkeit des Pelzwerks
schlechthin überzeugend gegeben.
Eine ganz kleine seiner
Handzeichnungen stellt einen ländlichen, auf ein Gehölz
zuführenden Weg dar.
Hier ist die Streckung des
eingezäunten Weges, die Entfernung bis zu dem Wäldchen, die
Unermesslichkeit des Luftraumes darüber mit unbegreiflich
wenigen Strichen zur Anschauung gebracht, die Landschaft steht
in völliger Festigkeit und Unzweideutigkeit da.
Was liegt nun in diesen (natürlich
beliebig ausgewählten) Fällen vor? Sehe ich mit dem inneren Auge
einen wirklichen Pelzkragen und eine wirkliche Landschaft, etwa
so, wie die Erinnerung mir solche Bilder, nachdem ich sie in
empirischer Wirklichkeit erblickt habe, wieder vergegenwärtigt?
Das Ziel des Kunstwerkes wäre dann eine von ihm irgendwie
hervorgerufene innere Schauung von Wirklichkeit, und mit deren
Erreichung wäre es selbst, in seiner Unmittelbarkeit, so
belanglos wie die Brücke es ist, sobald sie ihre Funktion,
überschritten zu werden, ausgeübt hat; so wäre tatsächlich das
Kunstwerk ein »Schein«, erst von einer ihm jenseitigen
Wirklichkeit Sinn, Wert, Substanz erhaltend, weil eine äussere
Formgleichheit es mit dieser verbindet und ihm gewissermassen
das Recht zur seelischen Reproduktion der Wirklichkeit gibt.
Ich stelle nun hier — wie früher bei
einem spezielleren Anlass — schlechtweg in Abrede, dass man beim
Anblick jener Blätter sich einen »wirklichen« Pelzkragen oder
Landweg »vorstellt«.
Wie sollte denn diese wirkliche
Landschaft aussehen? Hat sie, wie es einer solchen doch
mindestens zukommt, grüne Vegetation und blauen Himmel? Ich
kann, während ich die schwarz-weisse Zeichnung betrachte,
absolut nichts dieser Art in meinem Bewusstsein finden; neben
die Striche, die ich sinnlich sehe und zur Einheit
zusammenfasse, stellt mir meine Phantasie nichts, was die
Ausdehnung und Mannigfaltigkeit, die Farben und die Bewegtheit
einer empirischen Landschaft hätte.
Auch wüsste ich nicht, mit welchem
Material das geschehen sollte; denn ich kenne keine genau
gleiche Landschaft, so dass die Zeichnung den Dienst der
Photographie einer solchen Szenerie leistete, und die
Zusammenfügung aus einzelnen verstreuten Erinnerungsstücken ist
eine Hypothese, die auch nur zu diskutieren ganz unsinnig wäre.
Es kommt also das Objekt nicht
einmal seelisch zustande, von dem die Zeichnung der blosse
»Schein« wäre.
Einen seltsamen Widerspruch begeht
die Ästhetik, wenn sie im Kunstwerk ein Geschenk an uns, über
unseren Wirklichkeitsbesitz hinaus, erblickt und zugleich
voraussetzt, dass wir es von uns aus zur vollen
Wirklichkeitsvorstellung ergänzen.
Unmöglich kann das Schlagwort:
Zeichnen ist Weglassen — die künstlerische Sprache als eine Art
Telegrammstil erscheinen lassen, dessen Zusammengedrängtheiten
wir ohne weiteres mit der Vollständigkeit des normalen Satzes
ausstatten.
Tatsächlich sehen wir an jenen
Zeichnungen genau das, was auf dem Papier steht, und borgen ihm
nicht, mit einer phantasiemässigen Bedeutung des »Sehens, noch
ein substanzielles Plus aus einer anderen Ordnung der Dinge
hinzu.
Und wenn jenes tatsächliche Sehen
doch einen anderen Gegenstand hat oder bildet, als eine Summe
nebeneinanderstehender Striche, so ist dieses Andere oder dieses
Mehr etwas dem unmittelbar Gesehenen Immanentes, eine bestimmte
Art, das Dastehende zu sehen, eine funktionelle Beziehung von
dessen Bestandstücken untereinander, niemals aber ein
substanzielles Geschenk von Gnaden des Gedächtnisses.
Wir sagen, dass wir hier einen Pelz,
dort eine Landschaft »sehen« — und sicherlich ist dies mehr als
eine sachlich unbegründete Ausdrucksübertragung.
Ebenso zweifellos freilich können
wir das nur auf Grund eines herangebrachten Wissens um diese
Gegenstände — eines Wissens, das nun doch, wie im Widerspruch
gegen das bisher Behauptete, aus anderweitig gemachten
Wirklichkeitserfahrungen stammen muss.
Diesen beiden, scheinbar einander
entgegengesetzten Bedingungen also muss die Beantwortung der
Frage: was sehen wir eigentlich am Kunstwerk? genugtun: sie muss
einerseits das Kunstwerk als selbstgenugsames, keiner erborgten
Ergänzung bedürftiges bestehen lassen, andrerseits aber
begreiflich machen, wieso es zu dem, was wir in ihm zu »sehen«
behaupten, doch nur durch Erfahrungen kommt, die aus der
kunstfremden Sphäre der Wirklichkeit genommen sind.
Angesichts dieses Problems mache man
sich klar, was wir denn an dem »realen« Gegenstande sehen.
Sicherlich nicht das, was wir z. B.
mit dem vollständigen Begriff eines Pelzkragens meinen.
Im blossen Sehen haben wir vielmehr
einen farbigen Eindruck, der rein optisch und, bei Verzicht auf
alle Tasterfahrungen, nicht dreidimensional-substanziell ist.
Und dass er sich gegen die Umgebung
als ein bestimmtes, in sich zusammenhängendes Etwas abhebt, ist
auch nicht mit dem Hinsehen allein gegeben.
Denn dieses zeigt nur das
mannigfaltig gefärbte, in wechselndem Relief aufgebaute, dabei
aber doch in sich kontinuierliche Oberflächenbild des ganzen
jeweiligen Gesichtsfeldes.
Der Pelzkragen, als eine für sich
sinnvolle, von einem einheitlichen Begriff zusammengehaltene und
ihn erfüllende Wesenheit, ist das Ergebnis von Herauslösungen
und Synthesen, die von Berührungsgefühlen, Hantierungen,
praktischen Zwecken, verstandesmässigen Einordnungen, kurz von
einer grossen Menge seelischer Faktoren ausser den optischen
getragen werden.
Wir sehen gar nicht, dass dies ein
Pelzkragen ist, sondern wir haben einen optischen Eindruck, den
wir auf Grund von Momenten ganz anderer Herkunft als Pelzkragen
erfahren oder bezeichnen.
Und nur wenn man unter dem
»wirklichen« Pelzkragen jenen ganzen Komplex optischer und
taktiler, substanzhafter, praktischer Momente versteht, kann man
überhaupt den gezeichneten als einen »Schein« bezeichnen.
Denn dann mag man ihm zutrauen,
diese Gesamtvorstellung ebenso erwecken zu wollen, wie das
tatsächlich dieser zugehörige Bild es tat; und dies müsste
freilich Illusion heissen, weil nur an jenes andere
Anschauungsbild, aber nicht an dieses, die Verbindungen sich
ansetzen, die es in die Sphäre der Realität tragen.
Innerhalb dieser Verbindungen und
dieser Sphäre hat das optische Bild eine bestimmte Form.
Sobald aber durch deren Anblick die
Produktivität des Künstlers angeregt ist, geht aus ihr ein
Gebilde hervor, für dessen Form diese Produktivität allein
verantwortlich ist.
Immerhin besitzt aus diesem
Zusammenhang heraus diese Form mit jener eine Verwandtschaft,
aber dies verhindert die innere Autonomie, die Eigenbestimmtheit
des Wachstums der ersteren so wenig, wie ein Liebesgedicht darum
weniger ein Erzeugnis der schlechthin selbständigen
künstlerischen Keimkraft ist, weil es durch ein reales
Liebeserlebnis ausgelöst ist und dessen Inhalt in seiner nun
eigenen Form ausspricht, die mit der Form seines Erlebtwerdens
in der Wirklichkeitssphäre gar nichts zu tun hat.
Die künstlerische Vision und
Ausgestaltung des Gebildes, das in jenen dreidimensionalen und
praktischen Zusammenhängen ein »wirklicher« Pelzkragen ist, geht
nach Ursprung, Form und Sinn genau so autochthon auf den
künstlerischen Geist und seine schöpferischen Kategorien zurück,
wie der dreidimensionale Pelzkragen auf all diejenigen
genetischen und korrelativen Momente, auf die hin wir ihn einen
»wirklichen« nennen.
Die Frage, welche Bedeutung der
Inhalt oder Gegenstand des Kunstwerks für das Kunstwerk als
solches hat, fordert, wie ich glaube, eine Antwort, die durch
diese Festsetzung fundiert und verdeutlicht wird.
Dass die Theorie des Part pour l'art
jede Bedeutung des Gegenstandes schlechthin in Abrede stellte —
so dass der gemalte Kohlkopf und die gemalte Madonna als
Kunstwerke a priori völlig gleichwertig seien —, war eine
durchaus begreifliche Reaktion gegen eine Kunst, die sich zum
Organ von anekdotischen, geschichtlichen, sentimentalen
Mitteilungen machte oder die erhabenen und tiefen »Ideen« eine
Bedeutsamkeit und einen Wert entlieh, um ein Bild damit
auszuputzen.
Wenn dem gegenüber das Schlagwort
vom Kohlkopf und der Madonna aufkam, so war das Gerechtfertigte
daran jedenfalls das Negative: es sei Unehrlichkeit und
Verschiefung, dem Kunstwerk einen Reiz und eine Bedeutung
zuzuschanzen, die aus anderen Wertprovinzen einfach
herübergenommen, nicht durch Bearbeitung seines eigenen Bodens
selbstverdient ist.
Es ist derselbe unrechtmässige
Erwerb, wie wenn ein schlechter Dramatiker durch die Einführung
grosser historischer Persönlichkeiten seinem Stück ein Interesse
sichert, das die Zuschauer schon aus ihren anderweitig
erworbenen Geschichtskenntnissen heraus ins Theater mitbringen.
Der Satz, dass der Gegenstand des
Kunstwerks gleichgültig sei, hat den legitimen Sinn, dass
Bedeutungen und Werte, die der Gegenstand innerhalb anderer,
nicht-künstlerischer Ordnungen besitzt, dem künstlerischen Wert
des Werkes nichts hinzutun dürfen und deshalb für ihn
gleichgültig sind.
Dass die Madonna in der kirchlichen
Sphäre ein Gegenstand der Anbetung ist, geht das Kunstwerk als
solches so wenig an, wie dass der Kohlkopf in der Sphäre der
Praxis ein Gegenstand der Ernährung ist (wobei vorbehalten
bleibt, dass die religiöse Empfindung jenseits ihrer
psychologischen oder kirchlichen Realisierung zum Inhalt einer
rein künstlerischen Gestaltung gewählt werden kann).
Diese Gleichgültigkeit des
Gegenstandes, die seinen ausserhalb der Kunst gelegenen Sinn für
diese betrifft, wird nun aber völlig unrichtig als eine
Gleichgültigkeit gedeutet, die dem Gegenstand als reinem Inhalt
des Kunstwerks zukommt, in der grenzsicheren Immanenz seiner
künstlerischen Verwertung. Ihn auch in diesem Sinne für
indifferent zu erklären, ist eine wirkliche Zerreissung der
Einheit des Kunstwerks, die für kein in sie eingeschlossenes
Element Gleichgültigkeit zulässt.
Es wäre doch auch sehr merkwürdig,
wenn, während z. B. der Stoff des Dramas oder des Epos ein
glücklich oder ein unglücklich gewählter, ein grosser oder ein
unbedeutender (rein seiner künstlerischen Dignität nach) sein
kann, für die bildende Kunst diese Wertigkeit des Stoffes
einfach versagen sollte.
Diese scheinbar rein artistische
Behauptung geht in Wirklichkeit auf eine naturalistische
Undifferenziertheit zurück: man scheidet die Bedeutungen, die
einen Gegenstand in der Kategorie der Realität bekleiden, nicht
reinlich von den Funktionen, die er, zum Kunstwerk gebildet,
ausübt, und lehnt die letzteren ab, weil man das Hineinspielen
der ersteren zulässt oder fürchtet.
Die Madonna ist freilich nicht
deshalb ein »würdigeren, Darstellungsgegenstand, weil sie
angebetet, der Kohlkopf aber nur verspeist wird, sondern weil
ihre Darstellung mehr Gelegenheit zur Entfaltung rein
künstlerischer Qualitäten gibt.
Würde etwa jemand die umgekehrte
artistische Wertkonsequenz für diese Objekte behaupten und
beweisen können, so wäre eben der Kohlkopf der würdigere
Bildinhalt.
Dies scheint mir eine ganz klare
Entscheidung, sobald man die Grundvoraussetzung annimmt, dass
Wirklichkeit und Kunst zwei koordinierte Formungsmöglichkeiten
für den identischen Inhalt sind.
Die resultierenden Gebilde gehen
einander nichts an, die Wertordnungen innerhalb der einen
Kategorie fallen mit der der anderen gelegentlich zusammen,
gelegentlich auseinander, und es ist deshalb ebenso schief,
Bedeutungen und Gestaltungen eines Inhalts, insofern er wirklich
ist, auf sein Bild als künstlerisch geformtes zu übertragen, wie
es wäre, die Beziehungen und Werte des letzteren zu Besitztümern
oder zu Kriterien seiner Wirklichkeit zu machen.
Diese wesenhafte Äquivalenz oder
Parallelität des realen und des künstlerischen Gebildes leidet
natürlich nicht darunter, dass für die Einzelherstellung des
letzteren die Anschauung des ersteren empirisch- psychologische
Bedingung ist und jener vorangehen muss.
Es verhält sich damit ungefähr wie
mit den Figuren der geometrischen Wissenschaft.
Der mathematische Kreis als solcher
hat mit den runden Dingen in der realen Welt nicht das Geringste
zu tun, er gehört einer fundamental und völlig anderen Ordnung
an und ist in der empirisch- physischen überhaupt nicht
herzustellen.
Dennoch würde, wenn nicht in der
letzteren irgendwie runde Dinge zu beobachten wären,
wahrscheinlich niemand auf die Idee des mathematischen Kreises
gekommen sein.
Dies gilt gleichmässig für den
Schöpfer wie für den Beschauer Dieser würde den Strichkomplex
nicht begreifen — wie jener ihn nicht schaffen —, wenn er
niemals einen wirklichen Pelzkragen gesehen hätte.
Allein solche sozusagen technische
Unentbehrlichkeit dieser Vermittlung stiftet zwischen ihr und
der durch sie erreichten Wesenskategorie nicht die geringste
notwendige Verbindung: das Sprungbrett ist doch nicht das
Sprungziel, das freilich ohne jenes nicht zu gewinnen ist.
Hier liegt der tiefste Irrtum des
Historismus und Psychologismus, der sich in der naturalistischen
Kunsttheorie wiederholt.
Alle diese geistigen Richtungen, auf
die mannigfaltigsten Inhalte bezogen, zeigen eine formale
Verwandtschaft darin, dass sie ein erreichtes Resultat, ein
zustandegekommenes Sein oder Werk, eine verwirklichte Kategorie
in ihrer eigenen Qualität und Wesenheit an die Qualitäten und
Wesenheiten binden, die den Bedingungen und realisierenden
Vermittelungen jener Erreichtheiten eigen sind.
Dass es im Objektiven Inhalte oder
Kategorien oder Welten gäbe, die nicht auseinander ableitbar
sind, dass es im Subjektiven ein eigentlich schöpferisches Tun
gäbe — das ist es, wogegen sich der letzte Sinn jener Theorien
richtet.
Für sie soll ein Sein oder ein Sinn,
ein Wert oder eine Gestaltung durchaus nichts anderes sein, als
was die Stationen, die das Werden durchgemacht hat, uns zu
erkennen geben.
Sie empfinden nicht, dass in jedem
organischen und seelischen Werden ein zentraler, autonomer Trieb
lebendig ist, mit dem die jedem Stadium vorangehenden
Bedingungen und Ursachen gewissermassen nur kooperieren; nicht
von ihnen, sondern von jener inneren Entwicklung geht die
eigentliche Zielbestimmung aus, und die letzteren aus einzelnen
angebbaren Bedingungen zu konstruieren — eine Kultur aus den
wirtschaftlichen Umständen, eine Idee aus Erfahrungen, ein
Kunstwerk aus Natureindrücken — ist nicht sinnvoller, als die
ausgebildete Körpergestalt aus den Nahrungsmitteln zu
entwickeln, ohne die sie freilich nicht zustande gekommen wäre.
Der Weg, auf dem wir zu den Gebilden
der nicht-physischen Kategorien gelangen, hat mit dem Wesen des
Zieles, das wir auf ihm gewinnen, so wenig zu tun, wie der Weg
auf einen Berg mit der Aussicht von seinem Gipfel.
Der Pelzkragen auf der
Rembrandtschen Radierung ist nicht, wie eine Photographie es
wäre, ein Oberflächenbild von demjenigen, den seine Mutter
wirklich trug, sondern ist ein ebenso selbständiges, ebenso
gleichsam aus eigener Wurzel gewachsenes Gebilde wie dieser,
kein »Schein« einer Wirklichkeit, vielmehr der künstlerischen
Welt und deren eigenen Kräften und Gesetzen angehörig und
deshalb der Alternative: Wirklichkeit oder Schein — durchaus
enthoben.
Der Schein gehört noch der
Wirklichkeit zu, wie der Schatten noch der Körperwelt, denn er
ist nur durch sie; beide stehen, wenn auch gewissermassen mit
entgegengesetzten Vorzeichen, innerhalb derselben Ebene.
Die Kunst aber lebt in einer
anderen, mit jener sich nicht berührenden — gleichviel, ob der
Künstler ebenso wie der Beschauer, um in sie zu gelangen, durch
jene hindurchgehen muss.
In dem Geschaffenen, das
schliesslich in unabhängiger Objektivität dasteht, sind die
psychologischen Vorstadien und Bedingungen seines
Geschaffenwerdens überwunden.
Weil die Kunst von dem tiefsten
Punkt her, aus dem heraus sie überhaupt Kunst ist, mit
Wirklichkeit nichts zu tun hat, die Frage nach ihrem Verhältnis
zu dieser also prinzipiell falsch gestellt ist, wird die
Gegensätzlichkeit in den Beantwortungen dieser Frage
verständlich: gegenüber einer in sich widerspruchsvollen Frage
kann das Ja ebenso wie das Nein wohl bis zur Widerlegung des
Gegners, aber nicht bis zu positivem Beweise seiner selbst
vordringen.
Die Scheidung aber zwischen
naturalistischer oder stilisierender (idealisierender,
dekorativer, phantasiemässiger) Kunst hat mit der hier
behandelten: zwischen den Auffassungen der Kunst als
Wirklichkeitsschein, Wirklichkeitsentnahme und als selbständigen
Gebildes, schlechthin primärer Kategorie, von vornherein nichts
gemein.
Denn jene Frage betrifft nur die
besonderen Gestaltungen innerhalb der Kunst, die unsere aber das
Wesen der Kunst als ganzer; jene geht auf die morphologische
Beziehung zwischen dem schliesslich dastehenden Produkt und der
den gleichen Inhalt tragenden Wirklichkeit, diese aber auf die
Voraussetzung aller künstlerischen Erscheinungen überhaupt. — Es
liegt nahe, hier an das Grundmotiv der Platonischen Ideenlehre
zu denken: das einzelne anschauliche Ding erschöpfe sein Wesen
nicht in seiner einmaligen Realität, die Wirklichkeit sei
sozusagen nicht ausreichend, um den Sinn der Dinge zu erzeugen
und verständlich zu machen.
Empirische Wirklichkeit sei vielmehr nur die flüchtige Form, in
die sich die »Idee«, der wahre Gehalt, der wesentliche Sinn der
Dinge kleidet.
Nun mögen wir die metaphysischen
Spekulationen Platos über die Ideen: dass ihnen eine
substanzielle, ja die »eigentliche« Wirklichkeit zukäme, dass
sie ein innerlich logisch zusammenhängendes Reich bilden — ohne
weiteres ablehnen.
Ihre tiefere Bedeutung, dass die
Dinge einen von ihrer Wirklichkeit unabhängigen Sinn oder Inhalt
haben, bleibt darum doch bestehen.
Aber nun hätte Plato noch einen
Schritt weitergehen können, zu der Erkenntnis, dass die
empirische Wirklichkeit nicht die einzige Form ist, in der jener
Sinn oder Inhalt der Dinge sich uns darstellt, dass er vielmehr
auch in der Form der Kunst besteht.
Der wirkliche Pelzkragen und der
radierte Pelzkragen sind eine und dieselbe Wesenheit, auf zwei
voneinander essenziell verschiedene und unabhängige Arten
ausgedrückt.
Kann man sich von der metaphysischen
Belastetheit des Wortes freimachen, so ist es ganz legitim, zu
sagen, dass die Idee des Pelzkragens von der Wirklichkeit und
von der Kunst wie von zwei Sprachen ausgesprochen wird.
Dass die erstere nun gleichsam
unsere Muttersprache ist, dass wir die Seinsinhalte oder Ideen
aus dieser, in der sie uns zuerst begegnen, in jene übersetzen
müssen — diese seelisch-zeitliche Notwendigkeit ändert doch
nichts an der Selbständigkeit und Fundamentalität jeder der
beiden Sprachen; ändert nichts daran, dass jede den gleichen
Inhalt mit ihren Vokabeln und nach ihrer Grammatik ausdrückt und
diese Form nicht von der andern borgt — trotz jener
psychologischen Anordnung, die angesichts der sachlichen
Parallelität beider im letzten Grunde zufällig ist.
Diese letztere ist das eigentliche
Fundament, auf dem die paradoxe Theorie möglich wurde, dass
nicht die Kunst die Natur nachbildet, sondern umgekehrt die
Natur die Kunst.
Das heisst, innerhalb jeder Epoche
sähen die Menschen die Natur so, wie ihre Künstler es sie
lehren.
Wir erlebten unsere realen
Schicksale in der Art und mit den Gefühlsreaktionen, die unsere
Dichter uns vorempfunden hätten, wir erblickten im Anschaulichen
die Farben und Formen, die unsere jeweiligen Maler uns
suggerierten, und wären gegen andere innere Formungen der
Anschauung völlig blind, usw. Ganz annehmbar oder nicht,
jedenfalls ist diese Umkehrung des zeitlichen Verhältnisses
zwischen Naturanschauung und Kunst ein zutreffendes Symbol
dafür, dass keine Richtung dieses Verhältnisses innerlich
notwendig ist, da jedes seiner Elemente für sich die autonome
Aussprache eines ideellen Inhaltes ist, der uns freilich nur in
der Form irgendeiner solchen Aussprache zugängig wird.
Nicht in einem unmittelbaren
Verhältnis zur Wirklichkeit erhebt sich die Kunst, nicht als
eine Übertragung ihres Oberflächenscheines auf die Leinwand,
sondern beide sind nur durch die Identität jenes Inhaltes
verbunden, der an sich weder Natur noch Kunst ist.
Darum treffen auch all die Ausdrücke
für das Wesen der Kunst: sie sei Überwindung, Erlösung,
Distanzierung, bewusste Selbsttäuschung — nicht ihr innereigenes
Wesen.
Denn dieses wäre so noch immer auf
ihre Beziehung zum Wirklichen reduziert, auch wenn sie eine
negative ist.
Tatsächlich aber dient ihr diese
Beziehung nur zum Gewinn des Inhalts, den sie, wenn sie ihn erst
einmal der Wirklichkeitsform entrissen hat, zu einem ebenso
wurzelhaft selbständigen Gebilde formt, wie jene es tut.
Dass sie dann zu Erlösungen von der
Wirklichkeit dient, ist etwas ebenso Sekundäres, wie dass ihre
psychologische Genesis des Hinsehens auf die Wirklichkeit
bedarf.
Damit ist nun endlich die Frage
beantwortet: was sehen wir eigentlich in dem Kunstwerk, das eine
gegebene Wirklichkeit darstellt? Es hat sich gezeigt, dass
dieser letztere Ausdruck überhaupt nicht das wesenhafte,
resultathafte Verhalten der Kunst bezeichnet, dass er vielmehr
die psychologische Vorbedingtheit der Kunst, den für Schöpfer
und Beschauer notwendigen Weg durch die Wirklichkeitsform der
Inhalte hindurch für etwas Endgültiges ausgibt; infolge wovon
dann nichts übrig bleibt, als das Kunstwerk für einen blossen,
von der Wirklichkeit abgeschöpften und sie psychologisch
vertretenden Schein zu erklären.
Die künstlerische Anschauung ist
nicht dem Sachgehalt nach, sondern nur der psychologischen
Bewusstseinsfolge nach ein Abgeleitetes, und sobald sie,
produktiv und rezeptiv, gelungen ist, hat sie diese Bedingung
ihres Werdens hinter sich gelassen.
Neben den geistigen Energien, die
die empirisch-reale Anschauung formen, stehen, in unabhängiger
Äquivalenz, diejenigen, die das künstlerische Bild schaffen —
dahingestellt, ob tiefere seelische oder metaphysische Schichten
sie gemeinsam unterbauen.
Ihr Inhalt ist, wo wir ihn mit dem
gleichen Begriff bezeichnen, der identische, ohne dass er in der
einen »wirklich«, in der andern nur abgespiegelt wäre und ohne
dass er in transzendenter Selbständigkeit, wie die Platonischen
Ideen im ύπεϱουϱανιος
τοπος
zu bestehen brauchte.
Was wir Wirklichkeit nennen, ist
auch nur eine Kategorie, in die ein Inhalt geformt wird, so ein
völlig einheitliches Gebilde ergebend.
Auch die Kunst ist nichts anderes,
und wenn wir den Rembrandtschen Pelzkragen sehen, so sehen wir
tatsächlich nur diese Striche, die nicht einen anderswo
gegebenen und sich assoziativ vor- schiebenden Pelzkragen
»darstellen«, sondern genau so ein Pelzkragen »sind«, wie die
einzelnen Haare des von Rembrandts Mutter getragenen zusammen
ein Pelzkragen »sind«.
Nur muss man an dieses »Sein« nicht
gleich seine praktisch-reale Bedeutung binden, sondern es in
seinem reinen Sinne fassen, in dem die Sprache es auch von der
Radierung gebraucht: dies ist ein Pelzkragen, oder: ist eine
Landschaft.
Hat man erst einmal die Verwechslung
der Vorbedingungen und Durchgangsstadien des Schaffens und
Aufnehmens mit dessen sachlichem und definitivem Sinn und Inhalt
durchschaut, so ist es keine Paradoxe mehr, dass wir im
Kunstwerk das absolut Andere und das absolut Selbewie in der
Wirklichkeit erblicken.
Es kann die Wirklichkeit gar nicht
in sich hineinnehmen, weil es ja schon die völlig geschlossene,
nach ihren eigenen Gesetzen völlig selbstgenugsame, jede andere
deshalb prinzipiell von sich ausschliessende Anschauung eben
desselben Inhalts ist, der als »Wirklichkeit« eine nicht mehr
und nicht weniger selbstgenugsame Anschauung geworden ist.
Die dogmatischen Inhalte
Wenden wir uns mit der zuvor gewonnenen
Gesamtdeutung des Rembrandtschen Lichts zu seinem Sinn innerhalb
der religiösen Kunst als solcher zurück, so ist mit ihr das
Entscheidendste an Ablehnung alles dogmatischen Inhaltes
vollzogen.
Darum wüsste ich in der ganzen Kunst,
mindestens bis zur Schwelle der modernsten, keine Bilder, die so
wenig in den Kult hineingehörten, sich so wenig zu
Kirchenbildern eigneten.
Solange der biblische Vorgang immerhin
noch der eigentliche Gegenstand der Darstellung ist, mögen seine
personalen Träger ihre kirchlich traditionale Bedeutung ganz in
die autonome des subjektiven Religiös-Seins aufheben — das
Ganze, die Szene überhaupt bleibt noch die in der objektiv
heiligen Überlieferung gegebene.
Aber auch dies fällt jetzt fort, wo das
Licht nicht mehr da ist, um jene Szene zu beleuchten, sondern
umgekehrt nur das Licht in seiner selbstgenugsamen Dynamik,
Tiefe, Gegensätzlichkeit der Gegenstand der Darstellung ist, zu
dem der menschlich biblische Vorgang sozusagen die
Gelegenheitsursache ist.
Wie sich an den Individuen das
ausdrückt, was über alle dogmatischen Daten hinwegreicht oder
auch sie begründet: die Frömmigkeit schlechthin, die seelische
Existenz in ihrer religiösen Bedeutung überhaupt — so ist nun
der Vorgang als ganzer, sein Historisches, kirchlich Fixiertes
auf das Allgemeinste, auf das Licht reduziert, die
Gesamtstimmung gleichsam einer übersingulären Seele offenbarend,
deren Religiosität dieses Stück Welt durchflutet, eine
Religiosität ersichtlich, deren Aufschwünge und Vertiefungen,
Schauer und Seligkeiten diesen wie jeden anderen konfessionellen
Inhalt übergreifen, weil sie einen jeden als das schlechthin
Allgemeine seines Wesens unterbauen.
Dies alles darf nicht so verstanden
werden, als hätte Rembrandt die eigentliche und einzige
religiöse Malerei geschaffen; im Gegenteil, das ganz Einzige
dieser Kunst tritt erst an ihrem Gegensatz und seinem Rechte
hervor: an der objektiv religiösen Kunst, an derjenigen, deren
Voraussetzung das Bestehen religiöser Tatsachen und Werte
ausserhalb der individuellen Seele ist.
Ich habe diesen Gegensatz zuvor
skizziert und es erübrigt nur noch, einige Grenzen zu
bezeichnen, die die Religiosität eben der individuellen Seele
und ihr Ausdruck dadurch findet, dass sie auf sich selbst
beschränkt ist, dass ihr religiöses Leben sich rein innerlich
und ohne angedeutete Beziehung auf seine Transzendenz vollzieht.
Es handelt sich nicht nur darum, dass
die Kunst einer objektiven Religion die heiligen Wesen und
Ereignisse in ihrem für sich bedeutsamen, von ihren zufälligen
seelischen Reflexen gelösten Dasein darstellt; sondern gerade um
diejenigen subjektiven Vorgänge in der gläubigen Seele, die
durch die Betonung jener überweltlichen Welt, jener objektiven
Heilstatsachen in ihr ausgelöst werden.
Natürlich sind auch die Menschen der
Rembrandtschen Religiosität vom Überirdischen als Ahnung,
Gewissheit, Erschütterung erfüllt; allein die ihnen
gegenüberstehende Existenz des Transzendenten ist für sie nicht
das Primäre, sozusagen nicht das Substanzielle ihres religiösen
Verhaltens, entscheidend bleibt immer der Strom, der aus der
Seele selbst hervorbricht, ihr innerlich eigenes Sein als ihr
religiöses Fatum.
Aber eben darum hat der Bezirk auch der
seelischen Erlebnisse in Rembrandts religiösen Darstellungen
unverkennbare Lücken.
Es fehlt zunächst ein wesentliches
Motiv des Christentums: die Hoffnung — ein Affekt, der freilich
nur als positives Bezogensein auf ein Jenseitiges,
Überseelisches in der Seele auflebt.
Während über allen Figuren des Trecento
das Paradies Dantes schwebt, während in den exzentrischen
Bewegtheiten des Barock der Mensch sich förmlich in den Himmel
hinauf- reisst, ist bei Rembrandt weder Hoffnung noch
Hoffnungslosigkeit, seine Gestalten stehen jenseits dieser
Kategorie, die Seele hat sich aus den Überschwenglichkeiten von
Himmel und Hölle auf das zurückgezogen, was im unmittelbareren
Sinne als diese ihr Besitz ist.
Auch die religiösen Erfahrungen des
Erlösungsbedürfnisses und der Gnade sind diesen Gestalten nicht
gegeben.
Mögen die so bezeichneten seelischen
Zuständlichkeiten sich auch aus den innerseelischen Kräften
erzeugen, so gewinnen sie ihr spezifisches Wesen erst mit dem
bewussten Hinsehen auf etwas ausserhalb der Seele, wovon sie als
ganze abhängig sei.
Hier offenbart sich eine ganz weit
ausgreifende Form des menschlichen Verhaltens.
Wir mögen psychologisch davon überzeugt
sein, dass es für uns nur immanentes Bewusstsein gibt, dass
unsere Lebensinhalte nur Modifikationen des Selbstbewusstseins
sind; und metaphysisch, dass alle unsere Erfahrungen und
Wertgewinne nur auf dem Wege der Seele zu sich selbst liegen,
dass sie nichts finden kann als was von vornherein ihr Eigentum
war; so führt doch diese innere Entwicklung unzählige Male über
Äusseres, und sie kann nun ihr Ziel und ihren gesteigertsten
Wertpunkt — zugegeben selbst, dass diese ausschliesslich in ihr
selbst liegen —, überhaupt nicht direkt, sondern nur auf dem
Umwege über etwas gewinnen, was sie als ein ihr Äusseres
anerkennt.
Dies wird damit zusammenhängen, dass es
überhaupt das Wesen des Lebens ist, sozusagen über sich selbst
hinauszugehen, jeden Moment über sich hinweggreifen zu lassen —
in dem Selbsterhaltungstriebe, im Zeugen, im Vorstellen, im
Willen.
Dieses Über-sich-selbst-Weiterdrängen,
Sich-aus-sich-selbst-Heraussetzen wird gewissermassen
rückläufig; nachdem es den Weg über die äussere und ideelle
Objektivität gewonnen hat, kehrt das Leben in sich selbst
zurück, mit Besitztümern und Reaktionen, die zwar nur ihm
gelten, die es aber nur mit diesem Hindurchgehn durch das Andere
erreichen oder erzeugen konnte.
Angenommen, mit alledem kreiste die
Seele doch in sich selbst, so wäre das Schwingen über sich
selbst hinaus, das Schaffen des Andern, des Gegenüber, auf das
die Seele erst reagiert — das wäre eben die Art ihres inneren
Lebens.
Nun gibt es gewiss Vollendungen der
Seele, die ganz und gar in ihren Grenzen beschlossen bleiben,
Werte des Seins, des Fühlens, des Sichentwickelns, des Ringens;
und in der Atmosphäre und Intention solcher Werte hält sich die
Religiosität, die Rembrandt ausdrückt.
Nimmt man aber selbst an, dass es sich
in aller Religion in Wirklichkeit nur um dieses Innerliche, um
eine Art des Selbstlebens der Seele handle, und dass alle
ausserseelische Objektivität in ihr nur Mythos, nur Spiegelung,
Hypostasierung, oder was sonst sei — so ist unleugbar, dass
gewisse rein innerliche Erlebnisse eben nur zustande kommen, wo
jene Atmosphäre der Immanenz durchbrochen wird und die Seele,
mit einem zentrifugalen Akzent, auf objektive Gebilde hin und in
der Form des Umweges über sie lebt.
Nur so ist »Glaube« da — obgleich die »Gläubigkeit« ein rein
innerseelisches Verhalten sein mag.
Nur so können Hoffnung und
Verworfensein, Erlösung und Gnade jeweils den religiösen
Ausdruck beherrschen, gleichviel ob das Gegenüber, das all
dieses bedingt, von einem andern als dem religiösen Standpunkt,
z. B. von dem intellektuellen aus, als ein Gebilde der Seele
selbst erscheint.
Darum fehlt dieser Religiosität das
Moment der Gefahr.
All die furchtbaren Ungewissheiten, das
Preisgegebensein, das Tasten ins Dunkle gibt es hier nicht,
nicht die Gefährdung durch die absolute, vom Jenseits her
kommende Forderung, die Michelangelos Leben zerriss und, in wie
vielen Umsetzungen immer, auch in das Leben seiner Gestalten
sich fortsetzte.
Damit soll den Rembrandtschen kein
philiströses Sicherheitsgefühl imputiert werden.
Vielmehr, sie stehen ganz jenseits der
Alternative von Gefährdung und Rettung, weil dies beides, nebst
allen Erscheinungen der dadurch festgelegten Reihe, erst mit der
Verlegung des religiösen Lebensakzentes auf den objektiven
religiösen Gehalt auftritt.
Wenn dieser Akzent auf dem subjektiven
religiösen Prozess ruht, mag dieser in sich noch so metaphysisch
und ewigkeitswertig sein; sobald aber die Religiosität ihrem
tiefsten Sinne nach eben nicht in der Form des Gegenüber von
Subjekt und Objekt verläuft, fehlt die Voraussetzung für jene
Affekte.
Darum ist, dass sie sich nicht in der
Rembrandtschen Kunst finden, nicht einfach ein Manko, sondern
die notwendige und bestätigende Folge ihres Wesens, das sich
polar und mit einzigartiger Entschiedenheit und Grösse den
Kunsttypen der objektiven Religion entgegensetzt.
->
Zum Abschluss |