Georg Simmel: Rembrandt
Ein kunstphilosophischer Versuch
Leipzig: Kurt Wolff 1916. VIII, 205 S.
1. Kapitel:
Der Ausdruck des Seelischen
Die Kontinuität des Lebens
und die Ausdrucksbewegung Die
praktischen Notwendigkeiten und die Arbeitsteilung unserer
aufnehmenden und wirkenden Kräfte lassen uns selten das Leben in
seiner Einheit und Ganzheit, sondern vielmehr seine einzelnen
Inhalte, Schicksale, Zuspitzungen empfinden— Stücke und Teile,
aus denen das Ganze sich zusammensetzt.
Dies ist darauf gegründet, dass unser
Leben die Form eines mit wechselnden Inhalten ablaufenden
Prozesses hat, die Inhalte aber, ausser dass sie in der
Lebensreihe stehen, auch noch in allerhand andere: logische,
technische, ideale Reihen eingeordnet werden können.
Ein angeschauter Gegenstand z. B. ist
nicht nur ein Akt des Vorstellens, sondern er steht in einem
System physikalischer Erkenntnis, ein Willensentschluss ist
nicht nur ein inneres Tun, sondern er stellt einen bestimmten
Grad in der Reihe objektiver sittlicher Werte dar, eine Ehe ist
nicht nur das Erlebnis der beiden Subjekte, sondern ein Element
einer historisch-sozialen Verfassung.
Indem die gesondert betonten
Inhaltlichkeiten nun aber doch wiederum als »das Leben« gelten,
scheint dieses eine Aneinanderreihung ihrer zu sein und als
hätten sie seinen Charakter und seine Dynamik pro rata unter
sich aufgeteilt.
Dieser Begriff des Lebens als der Summe
aller nacheinander auftretenden Augenblicke ist indes an dem
kontinuierlichen Fluss des realen Lebens gar nicht zu
vollziehen, setzt vielmehr an dessen Stelle die Addition jener,
nach Sachbegriffen bezeichenbaren Inhalte, der Inhalte also,
insofern sie gerade nicht als Leben, sondern als irgendwie
festgewordene ideelle oder dingliche Gebilde gelten.
Nun glaube ich aber noch an eine andere
mögliche Betrachtungsweise des Lebens, die das Ganze und die
Teile nicht derart voneinander sondert, für die überhaupt die
Kategorie von Ganzem und Teil auf das Leben nicht anwendbar ist;
sondern dieses ist ein einheitlicher Verlauf, dessen Wesen es
ist, als lauter qualitativ oder inhaltlich unterscheidbare
Momente dazusein.
Jene erste Vorstellungsart gravitiert
zu dem »reinen Ich« oder zu der »Seele«, die gewissermassen
etwas für sich sind, jenseits der in ihnen auftauchenden, nach
Sachbegriffen ausdrückbaren Inhalte.
Mir aber scheint der ganze Mensch, das
Absolute von Seele und Ich, in jedem jeweiligen Erlebnis
enthalten zu sein; denn die in ihm geschehende Produktion
wechselnder Inhalte ist die Art, auf die das Leben lebt, und es
behält sich nicht eine irgend abtrennbare »Reinheit« und
Fürsichsein jenseits seiner Pulsschläge vor.
In einem ähnlichen Gedankengange, der
den »Charakter« des Menschen und seine einzelnen Handlungen
betrifft, sagt Goethe einmal: »Die Quelle kann nur gedacht
werden, insofern sie fliesst«.
Es handelt sich um Überwindung des
Gegensatzes von Vielheit und Einheit, der Alternative: dass die
Einheit von Mannigfaltigkeiten entweder jenseits ihrer liegt,
als ein Höheres und Abstraktes — oder, in dem Gebiet der
Mannigfaltigkeiten verbleibend, sich aus diesen, Stück für
Stück, zusammensetzt.
Mit keiner dieser Formeln aber ist das
Leben auszudrücken.
Denn es ist eine absolute Kontinuität,
in der es zusammensetzende Stücke oder Teile nicht gibt, die
vielmehr in sich Einheit ist, aber eine solche, die in jedem
Augenblick sich als ganze in einer andern Form äussert.
Dies ist nicht weiter zu deduzieren,
weil das Leben, das hiermit irgendwie zu formulieren versucht
wird, eine fundamentale, unkonstruierbare Tatsache ist.
Jeder Augenblick des Lebens ist das
ganze Leben, dessen stetiger Fluss — dies eben ist seine
unvergleichliche Form — seine Wirklichkeit nur an der Wellenhöhe
hat, zu der er sich jeweilig hebt; jeder jetzige Moment ist
durch den ganzen vorherigen Lebenslauf bestimmt, ist der Erfolg
aller vorangegangenen Momente, und schon deshalb ist jede
jetzige Lebensgegenwart die Form, in der das ganze Leben des
Subjekts wirklich ist.
Sucht man für die Rembrandtsche Lösung
seiner Bewegungsprobleme, grösseren wie geringeren Umfanges,
einen theoretischen Ausdruck, so steht sie völlig im Zeichen
dieser Auffassung des Lebens.
Während in der klassischen und der in
engerem Sinne stilisierenden Kunst die Darstellung einer
Bewegung durch eine Art Abstraktion geschieht, dadurch, dass der
Anblick eines bestimmten Momentes dem bis zu ihm hin und unter
ihm fortströmenden Leben entrissen wird und zu einer
selbstgenugsamen Form kristallisiert — scheint bei Rembrandt der
dargestellte Moment den ganzen, bis zu ihm sich hinlebenden
Impuls zu enthalten, er erzählt die Geschichte dieser
Lebensströmung.
Er ist nicht ein zeitlich fixierter
Teil einer physisch-psychischen Bewegtheit, jenseits dessen, zu
künstlerischer Formung herausgehobenen Fürsichseins noch das
Ganze eben dieser Bewegtheit, dieses innerlich abrollenden
Ereignisses, stünde; sondern er macht anschaulich, wie der eine
dargestellte Augenblick der Bewegung wirklich die ganze Bewegung
ist oder vielmehr überhaupt Bewegung und nicht ein verfestigtes
So und So ist.
Es ist die Umkehrung des »fruchtbaren
Momentes«.
Während dieser die Bewegung von ihrem
Jetzt her für die Phantasie in die Zukunft führt, sammelt der
Rembrandtsche ihre Vergangenheit in dieses Jetzt: nicht sowohl
ein fruchtbarer, als ein erntender Moment.
Wie es das Wesen des Lebens ist, in
jedem Augenblick ganz da zu sein, weil seine Ganzheit nicht die
mechanische Summierung von singulären Augenblicken, sondern ein
kontinuierliches und kontinuierlich formwechselndes Strömen ist
— so ist es das Wesen der Rembrandtschen Ausdrucksbewegung, das
ganze Nacheinander ihrer Momente in der Einmaligkeit eines
einzelnen fühlen zu lassen, ihre Zerspaltung in dieses
Nacheinander getrennter Momente zu überwinden.
Wie diese Bewegungen bei der Mehrzahl
der Maler dastehen, scheint es, als hätte der Künstler in der
Phantasie oder am Modell gesehen, wie die bestimmte Bewegung
aussieht, und hätte nach diesem fertigen, zu der Vollendung
seiner Oberfläche gelangten Phänomen das Bild, realistisch oder
nicht, gestaltet.
Bei Rembrandt aber scheint der
Bewegungsimpuls, wie er von seinem Wurzelpunkt her mit
seelischer Bedeutung geladen oder von ihr geführt ist, zugrunde
zu liegen, und aus diesem Keim, dieser gesammelten Potentialität
des Ganzen und seines Sinnes entwickelt sich die Zeichnung Teil
für Teil, wie sich entsprechend auch die Bewegung in der
Wirklichkeit entfaltet.
Der Ausgangspunkt oder das Fundament
der Darstellung ist bei ihm nicht das gleichsam von aussen
gesehene Bild des Momentes, indem die Bewegung auf ihrem
darzustellenden Höhepunkt, einem in sich abgeschlossenen
Querschnitt durch ihren zeitlichen Verlauf, angelangt ist;
sondern es ist von vornherein die wie in eine Einheit
zusammengefasste Dynamik des ganzen Aktes in ihm.
Das Ganze des expressiven Sinnes, den die Bewegung hat, liegt
deshalb schon in dem allerersten Strich; mit der Schauung oder
dem Gefühl, das das Äusserliche der Bewegung als eines und
dasselbe enthält, ist dieser Strich schon angefüllt.
Daher wird es begreiflich, dass
Gestalten seiner Handzeichnungen und der skizzenhaft-linearen
Radierungen— hier noch deutlicher als auf den Gemälden — von
denen nur ein Minimum von Strichen, man möchte sagen: fast gar
nichts auf dem Papier steht, dennoch eine absolut unzweideutige
Haltung und Bewegung und eben damit die seelische
Zuständlichkeit und Intention aus deren ganzer Tiefe mit voller
Überzeugungskraft vortragen.
Wo die Bewegung auf das Definitivum
ihrer Darstellung hin gesehen ist, in der Ausgedehntheit ihres
Erscheinungsmomentes, da bedarf es, damit sie zu ihrem
vollständigen Ausdrucke komme, prinzipiell einer Vollständigkeit
der Erscheinung.
Hier aber ist es, als wenn ein Mensch
einen tiefsten Affekt, der ihn ganz durchschüttert, aussprechen
will: er braucht gar nicht den ganzen Satz zu sagen, der den
Inhalt seiner Bewegtheit logisch ausbreitet, da doch schon am
ersten Worte der Stimmklang alles offenbart.
Natürlich ist damit kein
vermittlungsloser Unterschied gegen alle anderen Künstler
gemeint.
Es handelt sich um die Differenz von
Prinzipien, die als Prinzipien freilich polar entgegengesetzt
sind, zwischen denen aber die empirischen Erscheinungen eine
Stufenreihe grösseren oder geringeren Teilhabens an beiden
darstellen.
Das ist umso ersichtlicher, als die
Ausdrucksbewegungen bei dem jüngeren Rembrandt selbst von der
blossen Aussensicht ausgehen.
Wie sich z. B. — um jetzt nur bei den
Bildern zu bleiben — in dem Raub der Europa von 1632 oder dem
wenig späteren Mene Tekel, oder dem Ungläubigen Thomas die
Gestalten bewegen, das ist ausschliesslich das fixierte Phänomen
eines Bewegungsmomentes.
Dann setzt, etwa mit der Berliner
Täuferpredigt, die von innen her innervierte, in der letzten
seelischen Schicht vorbereitete Bewegung ein, die, mit allerhand
Schwankungen noch in den vierziger, ja fünfziger Jahren,
schliesslich seinen Bildern einen mit nichts anderem
vergleichlichen Charakter gibt.
Seine künstlerische Vision enthält
nicht einfach die Sichtbarkeit der Geste in ihrem
Darstellungsmoment, ihr Sinn und ihre Intensität entsteht
sozusagen nicht erst in der Ebene der Anschauung, sondern lenkt
und füllt schon den ersten Strich, der also die Totalität des
innerlich-äusserlichen Vorgangs (in seiner eigentümlich
künstlerischen Ungeschiedenheit) vollgültig offenbart.
Wie es nun als die tiefere Formel des
Lebens erschien, dass seine Totalität nichts ausserhalb seiner
einzelnen Augenblicke ist, sondern dass es in jedem dieser ganz
da ist, weil es eben ausschliesslich in der Bewegung durch all
diese Entgegengesetztheiten hindurch besteht — so offenbart die
bewegte Gestalt bei Rembrandt, dass es sozusagen in dem
Sichdarleben und Sich-darbieten eines inneren Schicksals keinen
Teil gibt, dass vielmehr jedes, von irgendeinem Gesichtspunkt
der Anschaulichkeit herausgesonderte Stück das Ganze dieses
innern und sich ausdrückenden Schicksals ist.
Dass er jedes Teilchen der bewegten
Gestalt als ihre Ganzheit darzustellen vermag, das ist der
ebenso unmittelbare wie symbolische Ausdruck davon, dass jeder
der kontinuierlich verbundenen Augenblicke des bewegten Lebens
das ganze, in dieser bestimmten Gestalt Person-gewordene Leben
ist.
Sein und Werden im Porträt
Dieselbe Formel, die über das
Verhältnis zwischen dem dargestellten Bewegungsmoment und dem
ganzen, sich ausdrückenden Innenereignis herrscht, bestimmt
Rembrandts Gestaltung des Porträts als solchen.
Die letzte und allgemeinste Intention des italienischen Porträts
ist in die Wertmetaphysik des klassischen Griechentums
eingeordnet: Sinn und Wert der Dinge liegt im Sein, in ihrer
festumschriebenen Wesenheit, wie ihr zeitloser Begriff sie
ausdrückt; das flutende Werden, der historische Wechsel der
Formen, die Entwicklungen ohne definitiven Vollendungspunkt —
das widerstrebte der plastischen, auf die Selbstgenugsamkeit des
Formungswertes gehenden Sinnesart der Griechen.
Und auf so geschlossenes Sein, auf die zeitlos qualitative
Wesenheit des Individuums geht das Renaissanceporträt.
Die Wesenszüge der Person sind wie nebeneinander in fester
Geformtheit ausgebreitet; und obgleich selbstverständlich
Schicksale und innere Entwicklung zu der dargebotenen
Erscheinung geführt haben, so sind doch für deren Eindruck diese
Momente des Werdens ausgeschaltet, wie die Stationen einer
Rechnung da nicht in Frage kommen, wo nur nach ihrem Resultat
gefragt wird.
Das klassische Porträt hält uns in dem Augenblicke seiner
Gegenwart fest, aber dieser ist nicht ein Punkt in einer Reihe
des Kommens und Gehens, sondern er bezeichnet die jenseits einer
solchen Reihe
stehende zeitlose Idee, die überhistorische Form der seelisch-
körperlichen Existenz.
Dies entspricht einerseits dem Begriffsrealismus, der sowohl das
Nebeneinander der Existenzen wie das Nacheinander der Existenz
in ein einmaliges Gebilde, das übereinzeln und doch real ist,
zusammenzieht, andererseits unserer Vorstellung von der
äusserlich-natürlichen Wirklichkeit.
Denn so sehr in dieser jede Erscheinung durch die vorhergehende
streng kausal bestimmt ist, so ist doch das Vergangene völlig
und sozusagen selbstlos in seine Wirkung aufgegangen, es ist als
Vergangenes verschwunden und gleichgültig geworden, schon weil
andere Ursachenkombinationen prinzipiell zu dem gleichen Effekt
führen konnten.
In dieser Analogie, teils mit Metaphysischem, teils mit
Physischem, stellt sich die Renaissance das Problem des
Porträts.
Anders aber ist die Formung des Seelischen als solchen.
In seinem Verlaufe ist die Ursache nicht in ihre Wirkung
aufgelöst und in ihrer besonderen Bestimmtheit irrelevant
geworden, sondern in der Gesamtentwicklung der Seele empfinden
wir jede Gegenwart als gerade nur durch diese bestimmte
Vergangenheit möglich (obgleich einzelne, künstlich isolierte
Partialverläufe jene physische Analogie zeigen mögen).
Das Vergangene ist hier nicht nur Ursache des Späteren, sondern
seine Inhalte legen sich als Erinnerungen oder als dynamische
Realitäten, deren Wirkungen aber von gar keiner andern Ursache
ausgehen könnten, Schicht um Schicht übereinander, und damit
wird — so paradox der Ausdruck ist — das Nacheinander zur
wesentlichen Form jedes Gegenwartstatbestandes der seelischen
Ganzheit.
Wo also die Seele nach ihrer wirklichen Eigenart die Gestaltung
bestimmt, kommt es nicht zu deren Zusammenziehung auf jene Art
von anschaulicher Abstraktion, in der alle Bestimmtheiten sich
in einem Ein-für-alle-Mal, in zeitloser Wesenhaftigkeit bieten.
An den Rembrandtschen Porträt-Physiognomien empfinden wir sehr
deutlich, dass ein Lebenslauf, Schicksal an Schicksal fügend,
dieses Gegenwartsbild erzeugt, es versetzt uns gewissermassen
auf eine Höhe, von der der Weg bis zu ihr hinauf überschaubar
ist — so wenig irgendein Inhalt dieser Vergangenheit
naturalistisch anzugeben wäre, wie sonst wohl Porträts mit
psychologischer Tendenz es nahelegen wollen.
Dies wäre ein anekdotisches oder literarisches Interesse
jenseits der reinen Kunstlinie.
Wunderbarerweise trägt Rembrandt in die feste Einmaligkeit des
Anblicks das ganze bewegte Leben ein, das zu ihr geführt hat,
die sozusagen formale Rhythmik, Gestimmtheit, Schicksalstönung
des vitalen Prozesses.
Es handelt sich nicht — wie man Rembrandt manchmal zu deuten
suchte — um gemalte Psychologie.
Denn alle Psychologie ergreift einzelne, ihrem Gehalt nach
begrifflich ausdrückbare Elemente oder Seiten der inneren
Geschehensganzheit.
Ein sozusagen logisch fassbares Element wird von der Kunst, wo
Psychologie sie beherrscht, als Vertreter dieser Ganzheit
vorgetragen.
Die psychologische Gerichtetheit bewirkt immer eine
Singularisierung und damit eine gewisse Verfestigung, die sich
der in jedem Augenblick vorhandenen, aber kontinuierlich
fliessenden Ganzheit des Lebens enthebt.
Die Darstellung des Menschen bei Rembrandt ist im äussersten
Masse beseelt, aber nicht psychologisch — ein Unterschied,
dessen Tiefe leicht unbemerkt bleibt, wenn man sich nicht des
Lebens als jederzeitiger Totalität und stetigen Formwechsels in
seinem Gegensatz zu jeder herausgesonderten, für sich logisch
fixierbaren Einzelqualität bewusst wird.
Denn nur diese Lebensdynamik, nicht aber ihr mit einzelnen
Begriffen anzugebender Inhalt oder Charakterzug ist der Bildner
unserer Züge.
Und wie Rembrandt in die einzelne Ausdrucksbewegung die Einheit
ihrer Geschichte, von der blossen Potentialität des ersten
Impulses an, mit Eins zur Darstellung und Empfindung gebracht
hat, so hat er — gleichsam »mit grossen Buchstaben geschrieben«
— die ganze persönliche Entwicklungslinie so in das Jetzt der
Anschauung gebannt, dass sie in einer eigentümlich intuitiven
Weise, trotz und mit ihrer Nacheinander-Form, in diesem Jetzt
unmittelbar gegeben und aus ihm ablesbar ist.
Rembrandt hat so der Lebensbewegtheit einen bis dahin unerhörten
künstlerischen Ausdruck gewonnen, freilich einen, der nicht
Methode oder Stil werden kann, sondern an die persönliche
Genialität gebunden bleibt.
Gewiss fehlt es dem Florentiner und Venezianischen Porträt nicht
an Leben und Seele.
Allein es ist eine allgemeine Formgebung da, die die Elemente
der Unmittelbarkeit ihres Erlebtwerdens und damit der Ordnung
des Nacheinander entreisst: die Form hat eine Geschlossenheit in
sich, der sich von der seelischen Bewegtheit nur deren Resultate
als Material zur Verfügung stellen.
Jener typisierende Stil braucht hier keine inhaltliche
Ähnlichkeit der Individuen zu bewirken (obgleich freilich in der
Sienesischen und teilweise in der Umbrischen Kunst die Menschen
alle sich auch irgendwie ähnlich sehen), aber er bewirkt eine
besondere Art von »Allgemeinheit«, nämlich die Darstellung des
ideellen Individuums, das durch die Abstraktion aus all seinen
einzelnen Lebensmomenten zustandekommt.
Bei Rembrandt bedeutet die Allgemeinheit des individuellen
Menschen die Akkumulation eben dieser, gewissermassen ihre
historische Ordnung bewahrenden Momente.
Dieser ganz problematische Ausdruck begibt sich in die Nähe der
Addition einzelner Momente, die ja als Lebensausdruck gerade
verneint wird.
Er gilt nur, insofern man solche Zerlegung als eine
psychologisch-technische Hergebrachtheit einmal annehmen und sie
gewissermassen nachträglich wieder zur Lebenstotalität formen
will.
Mit dieser Akkumulation oder als sie enthalten Rembrandts
Porträts die Bewegtheit des seelischen Lebens, während das
klassische Porträt nicht nur zeitlos im Sinne der Kunst
überhaupt ist, d. h. unabhängig von der Einstellung zwischen ein
Vorher und ein Nachher der Weltzeit, sondern in sich selbst, in
der Ordnung seiner Momente, eine immanente Zeitlosigkeit
besitzt.
Daher sind die reichsten und ergreifendsten Porträts Rembrandts
die von alten Leuten, weil an ihnen ein Maximum gelebten Lebens
zur Überschau gelangt; in Porträts von Jugendlichen hat er
dasselbe nur mit einigen Titusbildern durch eine Drehung der
Dimension erreicht, indem hier gewissermassen das zukünftige
Leben mit seinen Entwicklungen und Schicksalen ebenso
akkumuliert und als Gegenwart des zukünftigen Nacheinander
erschaubar wird, wie dort die bereits abgelaufene Zeitfolge.
Die Reihen der Porträts
und der Handzeichnungen
Und nun greift die Kontinuität der
fliessenden Lebensganzheit, die sich im einzelnen Porträt
sammelt, über dieses hin und drückt sich, real und symbolisch,
in Rembrandts offenbarer Neigung aus, einen und denselben
Menschen auf mehrfachen Lebensstufen malerisch zu erfassen.
Es wiederholt sich damit, in weiterem Bezirke, das Grundgefühl,
dass das Leben sozusagen nicht in einem Gestaltungsmoment zu
verfestigen ist; in der Reihe der Bilder einer Person, d. h. in
der Tatsache, dass es eine Reihe ist, legt sich auseinander, was
das einzelne Bild in der Form der Intensität zeigt.
Hier ist vor allem an die Reihe seiner Selbstporträts zu denken
und wie gerade sie, als Reihe, sich in Gegensatz zu der
klassischen Menschenauffassung setzt.
Tizian und Andrea del Sarto und ebenso Puvis de Chavannes und
Böcklin haben je einige wenige Selbstporträts hinterlassen, in
denen sie ihr unveränderliches Wesen ein für allemal
niederzulegen dachten.
Wie aber bei Rembrandt in jeden als Bild erfassten Augenblick
das ganze Leben einströmt, so strömt es auch weiter, bis zu dem
nächsten Bild hin, sie lösen sich gleichsam in ein
ununterbrochenes Leben auf, in dem sie kaum Haltepunkte
bezeichnen: es ist nie, es wird immer.
Ich weiss sehr wohl, dass man die ausserordentliche Zahl dieser
Selbstporträts und seiner Familienbildnisse aus rein malerischen
Problemstellungen ableiten will.
Alle Argumente dafür als wahr angenommen, scheint mir diese
Isolierung des »rein malerischen« Interesses angesichts der aus
jedem Porträt her- ausglühenden Leidenschaft der
Menschendarstellung etwas völlig Künstliches und eine ganz
irreale Abstraktion zu sein - begreiflich nur aus einer Zeit,
deren an sich höchst gerechtfertigte Reaktion auf eine
anekdotische und irgendwelche kunstfremde 4deen« übermittelnde
Kunst schliesslich den Sinn für die Einheit des Kunstwerkes
schwer geschädigt hat.
Die schlechthin einzige Kraft und Tiefe, mit der diese Bildnisse
jeweils den ganzen Menschen hinstellen, wäre ein gar zu
merkwürdiger Zufall, wenn Rembrandt wirklich nur das gewollt
hätte, was für die abstrakt artistische Auffassung heute das
»rein Malerische« heisst.
Jedenfalls, wie die Bilder dastehen erscheint als ihr
»malerisches« Problem einfach die Darstellung einer menschlichen
Lebensganzheit, aber wirklich als malerisches, nicht als
psychologisches oder metaphysisches oder anekdotisches Problem.
Wie das aber schon im einzelnen Bilde ausserhalb der
kristallinischen Schranken der Klassik geschah, so wurde es
expliziert oder dehnte sich gleichsam zu der Vielheit der
Porträts des gleichen Modells, an der er sich gar nicht genugtun
konnte.
Durch jede dieser Reihen, richtiger: als sie, vibriert je ein
Leben, das in seiner Einheitlichkeit immer neu, in seiner
Neuheit immer eines ist.
Es wäre ein falscher Ausdruck, dass die Bestandteile dieser
Reihen sich jeweils »ergänzen«, denn ein jeder ist schon - in
Ungeschiedenheit - ein künstlerisches und ein Lebensganzes, weil
dies eben das Geheimnis des Lebens ist: dass es in jedem
Augenblick das ganze Leben und doch jeder Augenblick von jedem
andern unverwechselbar verschieden ist.
Darum wird die Offenbarung seiner Lebensauffassung, für die ihm
freilich diese theoretische Formulierung wohl sehr ferngelegen
hätte, von der künstlerischen Tatsache dieser Reihen, zunächst
seiner Selbstporträts, erst vollendet.
Und noch einmal endlich und in ganz anderer Wendung
versinnbildlicht sich dieses Wissen um das Leben, das nicht in
Begriffen, sondern in Schöpfungen spricht, an der Reihe seiner
Handzeichnungen.
So sehr die Ausdrucksbewegungen seiner Gemälde und Radierungen
die Übermomentaneität des Lebens zeigen, so sind sie als ganze
doch geschlossene in sich ruhende Gebilde, die das schöpferische
Leben aus diesem selbst heraus und in feste Grenzen, in die
Objektivität und Inselhaftigkeit, des fertigen Kunstwerks
gesetzt hat.
Die Handzeichnungen aber sind nur wie Stationen, durch die
dieses Leben ohne Aufenthalt hindurchgeht, sie sind wie die
einzelnen Vollzüge seines Verlaufes, statt dass es sich an
ihnen, wie schliesslich doch an den Gemälden, irgendwie staute.
Sie haben in ihrer Gesamtheit — viele Ausnahmen vorbehalten —
einen andern Charakter als die Handzeichnungen anderer Meister.
Diese sind entweder bildmässiger Art; ihre Intention, zu Ende
gelangt oder nicht, ist das für sich stehende, von einem
ideellen Rahmen umgrenzte Kunstgebilde; oder sie sind Skizzen
oder Studien, Bruchstücke oder Versuche, wobei ihr Sinn auf
Zusammenhängen technischer oder vorbereitender Art ruht.
Rembrandts Zeichnungen entziehen sich dieser Alternative.
Sie haben etwas eigentümlich Unabgeschlossenes, als setzte sich
eine unmittelbar an die andere an, wie ein Atemzug an den
andern, und doch hat keine das Über-sich-Hinausweisende der
Skizze — sie hat das Zusammen von Ganzsein und Weiterfliessen,
das jedem Aktus unserer Lebendigkeit und nur ihm eigen ist.
Man kann wohl sagen, dass erst Rembrandts Handzeichnungen in
ihrer Ganzheit das fundamentale lebendige Wesen seiner Kunst
erschliessen, das sich in seinen Gemälden und ihren
Ausdrucksbewegungen in je eine einzelne Objektivierung
zusammengezogen hat.
Verschlossenheit und Offenheit
der Porträtgestalt
Vielleicht klärt sich jetzt noch ein
eigentümlicher Unterschied gegen das Renaissanceporträt auf.
Ich sagte von diesem, dass es seinen Charakter gleichsam zeitlos
ausbreite, in einer Abstraktion, die die vitale Bewegtheit
seines Gewordenseins ausschalte und nur seine reinen Inhalte in
sich aufnehme.
Obgleich das so Aufgenommene sich innerhalb dieses Stiles mit
der grössten Deutlichkeit darstellt, so bestimmt damit das
Cachet des Geheimnisvollen oder Rätselhaften der Persönlichkeit
ihren Eindruck eher in höherem als in geringerem Grade.
Denn es ist in unserm innerlich-äusserlichen Sein etwas Dunkles
und Verhangenes, das eine Verständlichkeit, soweit sie überhaupt
dafür in Frage kommt, nur von dem Lebensprozess seines Werdens
aus gewinnt.
Indem das klassische Porträt oberhalb der Ebene, in der dieser
verläuft, zu einer höchst geschlossenen Einheit von Stil und
Eindruck gelangt, bekommt die dargestellte Persönlichkeit jenes
eigentümlich Verschlossene, das an so vielen
Renaissancebildnissen auffällt.
Zweierlei ist hieran höchst merkwürdig.
Einmal, dass ein Zug, der doch nur den künstlerischen Stil
charakterisiert, ein Formungsprinzip, das nur die Darstellung
als solche leitet -- sich in eine Qualität des dargestellten
Subjektes fortsetzt.
Die Renaissancestilisierung, in deren Gesichtswinkel das Modell
nach der Zeitlosigkeit seiner reinen Form eintritt, verschliesst
in einem gewissen Sinn und Mass das Verständnis dieses Modells
nach seinem zeitlich entwickelten Leben; und während sonst jedes
reifere Kunstbetrachten den Charakter der Darstellung und den
Charakter des Dargestellten durchaus getrennt hält (die
Darstellung des Sinnlichen oder des Banalen braucht keine
sinnliche oder banale Darstellung zu sein), scheint sich hier
Charakter oder Wirkung des Stiles als solchen unvermeidlich auf
die persönliche Wirklichkeit des Objekts zu projizieren.
Dass hier der Mensch in einer Schicht seiner Erscheinung
ergriffen wird, die uns einer bestimmten Intuition seines Lebens
fernstellt — dies wirkt als eine Verschlossenheit dieses
Menschen, die ihm, als Subjekte jenseits der Kunst, zukäme!
Und nicht weniger merkwürdig ist es, dass gerade die mit diesem
Stil gewonnene Deutlichkeit und gewissermassen rationalistische
Bestimmtheit der Darstellung ihre Inhalte in solche
Rätselhaftigkeit und Undurchdringlichkeit rückt! Dies öffnet
einen tiefen Blick in die Divergenz zwischen der
zeitlos-logischen Verbindung von Inhalten (auch wenn es sich,
wie hier, um die Logik der Anschaulichkeit handelt) und ihrer
vitalen, im Zeitstrom sich vollziehenden Verbindung; es zeigt,
wie sehr die begriffene Einheit der ersteren noch immer die
letztere als ein Geheimnis bestehen lässt.
Die Wirkung von Rembrandts Bildnissen ist gerade
entgegengesetzt.
Von so tiefem Leben durchschüttert, in so lang laufende
Schicksalsfäden versponnen seine Figuren uns oft erscheinen —
keine hat jenes eigentümlich Rätselhafte, wie die Mona Lisa oder
Botticellis Giuliano Medici, wie Giorgiones Jünglingsköpfe in
Berlin und Budapest oder Tizians Junger Engländer im Pitti.
Mit solchen verglichen ist Rembrandts Auffassungs- und
Vortragsweise zwar unvergleichlich vibrierend, in das Dämmernde
und sozusagen Unendliche sich verlaufend, der logischen
Durchsichtigkeit entbehrend; aber mit alledem ist der
dargestellte Mensch für uns sehr viel aufgeschlossener, bis auf
den Grund durchleuchtet, ein verständlich vertrautes Wesen.
Und das wird keineswegs daran liegen, dass Rembrandts Modelle
unkompliziertere, gradlinigere Menschen waren als jene
differenzierten und mit allen Kulturfinessen geladenen
Renaissance-Italiener.
Sondern vielmehr daran, dass Rembrandts verschlungenere, an
Elementen reichere, scheinbar ungeklärtere Auffassung des
Menschen die seelische Reihe von Entwicklungen und Schicksalen,
die die aktuelle Erscheinung aufgeformt haben, in dieser fühlbar
und dadurch sie selbst nachfühlbar und von innen her
verständlich gemacht hat.
In der klaren Harmonik und Ausbalanciertheit des
Renaissanceporträts tragen gleichsam die Elemente sich
gegenseitig, die geistdurchdrungene Körperlichkeit wird nach den
Gesetzen aktueller Anschaulichkeit geformt; im Rembrandt-Porträt
werden die erscheinenden Elemente, ausser ihrer unmittelbaren
Relation zueinander, gleichsam von einem dahintergelegenen Punkt
her geformt, im sinnlichen Erfassen ihrer wohnen wir der Dynamik
des Lebens und Schicksals bei, die sie ausgehämmert hat.
Was nach den Kategorien der Intellektualität ganz
widerspruchsvoll und mit ihnen nur höchst unvollkommen
ausdrückbar ist, ist hier künstlerisch gekonnt: in ein rein
anschauliches Gebilde, ohne jede literarische oder
ausserkünstlerische Assoziation, ist sein lebendiges
Gewordensein hineingeformt, die Darstellung des aktuell
Anschaulichen hat die Zeitlichkeit eines langen Lebensverlaufes,
nach seiner Gewalt und Rhythmik, in sich aufgenommen, ohne dass
das Nacheinander am Nebeneinander oder dieses an jenem
zerbrochen wäre.
Es wird das Freischwebende, Sich-selbst-Tragende jener andern
Gebilde durch die Schichtung der Vergangenheiten ersetzt, mit
diesen letzteren, die sich irgendwie in ein Dunkel verlieren,
ist das Gegenwärtige durch die Lebensströmung in wirksame
Berührung gebracht.
— Die ganze Kunst des italienischen Seicento ist, bei aller
expressiven Leidenschaftlichkeit, durchaus von der Tendenz auf
rationalistische Klarheit geleitet.
Jede Gestalt soll völlig unzweideutig verraten, was in ihr
vorgeht, jeder Affekt bis aufs letzte genau anschaulich
hingestellt werden, die Bewegungen und Stellungen werden bis zum
Unmöglichen hin gesteigert, um dem Beschauer ja keinen Zweifel
über das zu lassen, was die Personen empfinden.
Die Descartessche »Deutlichkeit« wird gesucht.
Eine tiefe seelische Schamlosigkeit liegt darin — auch wenn der
Gegenstand, als Realität gedacht, das Gebiet der Scham nicht
berührt.
Man muss sich diesen Zug der höchst kultivierten, auf gute Form
und Repräsentation erpichten, vielfach preziösen Gesellschaft
Italiens vor Augen halten, um die reine Seelenhaftigkeit des
literarisch wenig gebildeten Müllersohnes zu würdigen, der
während seiner höchsten Leistungsperiode in einer elenden Kneipe
kampierte, ein Bauernmädchen zur Geliebten hatte und jenen
dekorativen Italienern als Barbar erschienen wäre; und der im
Ausdruck alles Seelischen die höchste Zartheit, Zurückhaltung
und Verschleiertheit zeigte, die die ungesuchten Züge der Seele
sind, wenn sie wirklich rein als Seele wirkt.*
*Gerade in bezug auf diesen Charakter
seiner Ausdrucksbetonung ist es höchst lehrreich, dass in
gewissen gefälschten Handzeichnungen Affekte von
ausserordentlicher, ja krasser Deutlichkeit vorgetragen sind.
Der Fälscher glaubte offenbar, durch diese Vehemenz des
Ausdrucks seinem Blatt die Rembrandtsche Seelenhaftigkeit
möglichst nachdrücklich und überzeugend zu imprägnieren. Aber
gerade dadurch hat er sich verraten: die aufdringliche Offenheit
der seelischen Aussprache macht gerade die Keuschheit und die
unzerreissbaren Hüllen Rembrandtscher Affektäusserungen um so
unverkennlicher; so dass schon die allzudeutliche Psychologie
dieser Blätter ihre Verwerfung rechtfertigen würde.
Gewiss, das 17. Jahrhundert hatte auf
seine Weise die Seele neu entdeckt; mit schärferem Bewusstsein
als es vorher bestand, wie Descartes im Cogito, ergo sum.
Aber zu ihrer Aussprache besass der Barock nur mechanistische
Mittel, die, um ihr Ziel zu erreichen, sich ins Masslose
steigerten, ohne es doch greifen zu können, da es von vornherein
in einer anderen Ebene lag.
Es ist aber das Wesen des Lebens, dass sein eigentliches
Verständnis ausbleibt, solange man es nur seinen, gleichsam
unter sich bleibenden Klarheiten abverlangt, und dass es für den
beschauenden Blick nur hell wird, wenn seine Klarheiten sich aus
seinen Dunkelheiten, die auch Dunkelheiten bleiben, entwickeln —
ein Verhältnis, das sich, sogar noch allgemeiner, in das
theoretische Gebiet fortsetzt: gewissen letzten Tatsachen und
Problemen gegenüber ist die Bemühung nach logisch-begrifflicher
Klarheit ihrer Darstellung und Lösung bisher immer aus einer
fundamentalen Unklarheit entsprungen, die sich in eine nicht
geringere der scheinbaren Resultate fortgesetzt hat.
Oder anders ausgedrückt: das Sein, so viel plastischer,
formsicherer, unproblematischer als das Werden es erscheint, ist
schliesslich dennoch rätselhaft und verschlossen, während das
Werden, dem All jenes mangelt, dennoch erst uns eigentlich
nachfühlbar ist und jedes Stadium des Seins uns innerlich
assimiliert und begreiflich macht — vielleicht, weil auch das
Begreifen ein Leben ist und nur das Lebendige eigentlich vom
Leben begriffen werden kann.
Jenes Rätselhafte, bis zur Unheimlichkeit gesteigert, das dem
klassischen Porträt oft eignet, geht vielleicht darauf zurück,
dass es ein der zeitlichen Lebendigkeit enthobenes Sein
darstellt; das Rembrandtsche Porträt scheint uns seine Rätsel
selbst zu deuten, weil es dem immer nur werdenden, dem
Zeitschicksal unterworfenen Leben enttaucht, dem es doch oder
das ihm doch verhaftet bleibt.
Der Zirkel in der Darstellung des
Menschen
Hier scheint freilich ein Zirkel
unvermeidlich. Es liegt die Darstellung einer aktuellen
Erscheinung vor, in der, wenn ich es richtig deute, ihre
seelische Geschichte gleichsam abgelagert und ihr von innen her
gelebtes Werden noch immer anschaulich ist und die dadurch eine
besondere Art von Verstanden- werden gewinnt.
Aber diese zeitliche und vielgliedrige Geschichte ist doch nur
aus dem unzeitlichen, einmaligen Anblick herauszufühlen! Nennen
wir diesen einmal kurz die »Gegenwart« der Darstellung, so soll
diese Gegenwart uns durch die Vergangenheit gedeutet werden,
diese Vergangenheit aber ist nur aus jener allein gegebenen
Gegenwart heraus zu deuten! Diese ganze Interpretationsform:
dass die Erscheinung aus dem heraus verstanden werden soll, was
doch seinerseits erst aus der Erscheinung heraus verstanden
werden kann, scheint die Darstellung des Menschen allenthalben
zu beherrschen.
Denn diese Darstellung ist eine sinnlich-räumliche, eine blosse
Ordnung von Farbigkeiten, die einen Sinn für uns nur dadurch
bekommen, dass sie ein — allgemeines oder individualisiertes —
Seelisches ausdrücken.
Dieses Seelische aber zu wissen, haben wir gar keinen anderen
Beweisgrund und keinen anderen Hinweis als eben jene gegebene
körperliche Anschaulichkeit.
Der Zirkel indes scheint nicht unlösbar; denn er ruht nur auf
der keineswegs indiskutabeln Voraussetzung, dass uns das
Seelische einer menschlichen Erscheinung auf eine ganz getrennte
und andere Art als das Körperliche zugängig werde, dass wir
dieses unmittelbar sehen, jenes aber nur mittelbar erschliessen.
Möglicherweise aber ist dies eine künstliche Trennung; und wie
der Mensch als Subjekt eine ungespaltene Einheit ist, ein Leben
schlechthin, das das sogenannte Körperliche und das sogenannte
Geistige in einheitlichem Prozess hervortreibt und formt — so
hat er als Betrachtender eine dementsprechende Fähigkeit: den
andern Menschen mit einer einheitlichen Funktion wahrzunehmen,
in der sinnliches und geistiges Wahrnehmen so wenig durch einen
inneren Teilstrich getrennt sind, wie eben das Körperliche und
das Seelische als Lebenstatsachen es sind.
Der Dualismus des Sinnlich-Körperlichen und des Geistigen ist
bei Shakespeare genau so aufgehoben wie bei Rembrandt.
Die Liebe von Romeo und Julia wegen ihrer blitzartigen
Entstehung eine bloss sinnliche, nur durch die körperliche
Schönheit hervorgerufene und nur auf sie gerichtete zu nennen,
ist ein empörendes Unverständnis.
Der ganze Mensch liebt den ganzen Menschen; und wo immer solche
Liebe geschieht, ist sie etwas schlechthin Irrationales, und ihr
Wunder wird um nichts kleiner oder durchsichtiger, wenn die
Individuen sich vorher fünf Jahre lang in ihrem ganzen geistigen
Wesen kennen gelernt haben.
Das sinnliche Begehren ist nicht die Ursache, sondern eine der
nach der Peripherie zu gelegenen Darlebungen des zentralen
Liebesereignisses.
Wie hier der eine des anderen Körper und Seele in
Ungeschiedenheit aufnimmt, so nimmt er ihn auch mit dem eigenen
Körper und der eigenen Seele in derer beider Ungeschiedenheit
auf, Objekt und Subjekt der Liebe wirken je als vollkommene
Einheit.
Es ist überhaupt unsinnig, von Körper und Seele wie von Teilen
zu sprechen, die den Menschen zusammensetzen.
Hat man sie erst einmal dualistisch auseinandergerissen, so ist
es freilich schwer oder unmöglich, sie wieder zusammenzubringen.
Solange wir bestimmen, dass wir nur Physisches »wahrnehmen«
können, ist es definitorisch richtig, aber auch eine petitio
principii, dass wir das Geistige erst »erschliessen« müssen.
Vielleicht aber haben wir, wie eine Totalexistenz, so auch eine
Totalwahrnehmung, die nur die Reflexion aus irgendwelchen
Gründen zerlegt — vielleicht weil sie sich nicht nach allen
Dimensionen mit gleicher Sicherheit erstreckt und das
»Seelische« nicht ebenso unzweideutig bestimmen kann, wie das
»Körperliche«; aber dies schliesst jene Einheit so wenig aus,
wie das optische Sehen darum weniger eine einheitliche Funktion
ist, weil der Punkt des schärfsten Sehens und die Ränder des
Blickfeldes sehr verschiedene Deutlichkeit haben.
Was wir Selbstbewusstsein oder inneren Sinn nennen, ist doch
auch nicht ein Neben- oder Nacheinander unserer wahrgenommenen
einzelnen Lebenselemente, sondern ein Wissen von der Einheit
aller dieser oder unserer Person — gleichviel, in welchem
Augenblicke unserer Lebensgeschichte es auftaucht und so wenig
wir das hier als »Einheit« Bezeichnete näher definieren können.
Diese Funktion, deren Träger man den Totalsinn nennen mag — ohne
freilich dessen Organ schon aufweisen zu können — und die sich
ganz unzweideutig der eigenen Person gegenüber bewährt, findet
vielleicht ihr Objekt auch an anderen Personen; die formale
Wahrnehmungseinheit eines solchen Sinnes könnte sich ebenso mit
fremden Ichs wie mit dem eigenen Ich erfüllen.
Manches spricht für dieses Verhalten.
Man ist seit lange darauf aufmerksam geworden, wie vieles in
dem, was wir unmittelbar zu »sehen« glauben, tatsächlich gar
nicht gesehen, sondern, wie man zu sagen pflegt, »erschlossen«
wird.
Bei genauerer Analyse schmilzt das innerhalb des Gesamteindrucks
tatsächlich rein sinnlich Aufgenommene immer mehr zusammen, es
geht in jenes, uns auf andere Weise Zugängige kontinuierlich
über, so dass in dem als Einheit angeschauten Ding die Scheidung
zwischen dem unmittelbar und dem mittelbar Erfassten ganz
problematisch und künstlich erscheint.
Vielleicht liegt schon die Kantische Erkenntnis, dass auch der
empirische Gegenstand uns nur durch Verstandesfunktionen, am Sinnesmaterial vollzogen, zustande kommt, in diese Richtung; ist
es richtig, dass Anschauungen ohne Begriffe blind, Begriffe ohne
Anschauungen leer sind, so ist durch deren Synthese eine Einheit
zustande gebracht, von der es immerhin zweifelhaft ist, ob sie
nicht einer ursprünglich einheitlichen Funktion entspricht,
deren Trennung in Begriff und Anschauung gar nicht in ihrer
eigenen Struktur vorgezeichnet ist.
Dieses Motiv führt, mit einer vielleicht gar nicht so sehr
wesentlichen Modifikation, dahin weiter, dass auch das Bild des
körperlichen und das des seelischen Menschen durch eine
fundamental einheitliche Funktion gewonnen wird, die man nur
nachträglich, durch gewissermassen von aussen herangebrachte
Gesichtspunkte, in Anschauung und psychologische Konstruktion
zerlegt.
Innerhalb der Plastik dürften die Gestalten Michelangelos das am
eindringlichsten machen.
Hier erscheint die körperliche Gestaltung objektiv, vom Schöpfer
her, derart von der seelischen Stimmung durchdrungen, dass ein
einziger, innerlich ganz untrennbarer Akt des Beschauers beides
aufnimmt: körperliche Geformtheit und seelische Bedeutung sind
hier nur zwei Worte für einen und denselben Tatbestand des
Seins, der viel zu einheitlich ist, als dass seine Aufnahme sich
erst aus einer bloss sehenden und einer bloss deutenden Funktion
zusammensetzen sollte.
Der Zirkel, dass das Seelische aus dem Körperlichen, das
Körperliche aber aus dem Seelischen begriffen werden muss, ist
Folge und Beweis der Einheit der Erscheinung.
Denn sobald ein an sich einheitliches Sein in eine Zweiheit von
Elementen zerlegt ist, scheint sich unvermeidlich das eine auf
das andere und das andere auf das eine aufzubauen.
Der Zirkel ist nicht fehlerhaft, sondern bedeutet einfach die
Tatsache jener Einheit; dass er von unserer Betrachtung
fortwährend begangen wird, das eben bezeugt das Wesen des
beseelten Leibes.
Freilich tritt in den Komplikationen und Zersetzungen des
empirischen Lebens der Zirkel nicht in seiner absoluten
Relativität, in gleichschwebendem Zugleich auf, sondern wie
auseinandergetrieben, mit wechselndem Übergewicht dieses oder
jenes Elementes, den Schein ihres gesonderten Funktionierens
nahelegend.
Aber vielleicht gehört es gerade zum Wesen der Kunst, die
Einheit in ihr wirksames Recht treten zu lassen; gerade die
Kunst gestaltet die menschliche Erscheinung so, dass die
Zweiheit des physischen und des seelischen Auffassens, der
Wahrnehmung und der Deutung, in die das unzulängliche Verhältnis
des Betrachters zum Betrachteten oft die Betrachtung zerdehnt —
dass diese verschwindet.
Darum hebt sich jener Zirkel noch klarer für das Porträt, als
für jede andere Objektivierung des Menschen auf: er drückt hier
auch noch die Einheit der formenden Wahrnehmung aus, die der
Einheit des Seins entspricht.
Diese Einheit wird subjektiv fortwährend erlebt.
Es ist aber doch das typische Ereignis, dass eine solche Einheit
in dem Augenblick, in dem sie durch unsere geistigen Kategorien
objektiviert — d. h. dem Erleben als solchem enthoben — wird, in
heterogen erscheinende Elemente zerfällt.
Dasselbe Erkennen, dieselbe Praxis indes, durch die dies
geschieht, setzt sofort mit ihren Bemühungen ein, das Getrennte
wieder zu vereinigen.
Für beide ist dies, absolut genommen, ein im Unendlichen
liegendes Ziel.
Nur der Kunst, deren Objektivierungen ja überhaupt die nächsten
Beziehungen zu der subjektiven Unmittelbarkeit des Erlebens
wahren, scheinen relativ ungebrochene Spiegelungen jener Einheit
zu gelingen — nicht eine Wiedervereinigung, eine Synthese, bei
der die Nähte doch nie verwachsen, sondern ein Abglanz der
ursprünglichen Ungetrenntheit, die vor-synthetisch, weil
vor-analytisch ist.
Die italienischen Kunsttheoretiker des 17. Jahrhunderts zwar
legten den Wertakzent des Porträts ganz auf seine Psychologie;
die »espressione« erschien offenbar allgemein als die
Hauptsache.
Ich möchte glauben, dass Rembrandt dies ganz abgelehnt hätte,
dass er einfach den Menschen, wie er aussah — genauer: seine
Vision dieses Aussehens — malen wollte; nur dass ihm eben,
innerhalb seiner Künstlerschaft, das »Aussehen« noch nicht in
Körperliches und Seelisches auseinandergegangen war.
Es ist interessant, dass zu derselben Zeit gerade in Holland die
Seele und die Körperlichkeit innerhalb der philosophischen
Theorie so dualistisch und radikal auseinandergetrieben wurden,
dass zur Ermöglichung ihres Zusammengehens Religion und
Metaphysik ihre letzten Auskünfte hergeben mussten.
Arnold Geulinx rief angesichts der absoluten gegenseitigen
Einflusslosigkeit von Körper und Seele den persönlichen Gott
herbei, der bei Gelegenheit eines körperlichen Geschehens die
entsprechende Empfindung, gelegentlich eines Willensaktes die
entsprechende leibliche Bewegung bewirke! Spinoza macht beides
noch viel unverflechtbarer, indem das Seelische für sich und das
Körperliche für sich schon das ganze Dasein, jedes in seiner
besonderen Sprache, ausdrückt, so dass für eines sozusagen
nirgendwo ein Platz im andern ist; die empirische Harmonie
zwischen beiden ist nur dadurch möglich, dass das eben in ihnen
oder als sie sich ausdrückende Sein ein absolut einheitliches,
keiner Differenzierung fähiges ist.
Der Kunst aber ist die Einheit nicht etwas Gedankliches hinter
den Elementen, sondern deren unmittelbare Anschaulichkeit
selbst.
Diese Einheit ist bei Rembrandt nicht mit der stürmenden Dynamik
geladen, wie bei Michelangelo: hier hat sie ihre höchste
Eindruckskraft dadurch erreicht, dass sie unmittelbar vor dem
Bruch zu stehen scheint.
Sie hat bei Rembrandt mehr den Charakter einer ruhigen
Selbstverständlichkeit. Unleugbar aber erscheint mir jedenfalls,
dass Rembrandt, auf dem Höhepunkt der malerischen Darstellung,
weder den Körper durch die Seele, noch die Seele durch den
Körper deutet.
In der Kunst, in der man überhaupt nicht von »Mitteln«, ausser
im rein technischen Sinne und für die Stadien vor der Vollendung
des einzelnen Werkes reden sollte, würde dies eine Herabsetzung
besagen.
Der Künstler mag sich überlegen, mit welchem Mittel er einen
bestimmten Effekt erreiche; in dem fertigen Kunstwerk und seinem
umerlegten, nicht hinter seine unmittelbare Ganzheit
zurückgehenden Eindruck besteht keine Scheidung und Gliederung
nach der intellektuell-praktischen Kategorie von Mittel und
Zweck, es gilt der Schopenhauersche Satz: »Die Kunst ist überall
am Ziele.« Auch die naheliegende Lösung: jedes Element im
Kunstwerk sei für jedes andere zugleich Mittel und Zweck — geht
schon von seiner wesentlichen Einheit ab und auf eine gewisse
Selbständigkeit der Elemente zurück, die sie ja gerade an die
schliessliche Totalität des Kunstwerks abgegeben haben.
Gewiss ist diese teleologische Verbindung der Elemente tiefer
und lebendiger als die mechanistische, die sich an das blosse
Nebeneinander der Elemente hält, an die Bedeutung des einzelnen
als solche (natürlich cum grano salis zu verstehen).
Allein im letzten Grunde liegen beide doch in derselben Ebene,
beide sind äusserlichere oder innerlichere Verbindungen getrennt
gedachter Teile und treffen nicht die jenseits aller Teilung
liegende Einheit, als die das Kunstwerk in seinem reinen und
fertigen Wesen sich darstellt.
Vielleicht verhalten sich beide Auffassungsprinzipien dem
Problem des Lebens gegenüber nicht anders, vielleicht ist auch
das Lebewesen als solches eine Einheit, die unsere Betrachtung
in Teile zerfällt und dann auf mechanische oder teleologische
Art wieder zusammenschweissen möchte — während keine solche, von
den Teilen ausgehende Methode die primäre Ungetrenntheit des
Gebildes zu erreichen vermag.
So kann also jedenfalls das Kunstwerk nicht nach der Synthese
seiner Teile, als wären sie Zweck und Mittel, aufgefasst werden
— schon weil es als vollendetes keine »Teile« in demjenigen
selbständigen Sinne besitzt, der solche Synthese ermöglichte.
Darum fasst das Porträt, mindestens in der von Rembrandt
erreichten Vollkommenheit, Körper und Seele nicht in einer
»Wechselwirkung« auf, in der eines das Mittel zur Darstellung
oder Deutung des andern wäre, sondern erfasst die Totalität des
Menschen, die nicht die Synthese von Körper und Seele, sondern
ihre Ungetrenntheit bedeutet.
Die Beseeltheit des Porträts
Nun aber meldet sich von neuem die
kunstphilosophische Schwierigkeit, mit der wir begannen.
Was ich von der Einheit des Körperlichen und Seelischen im
Rembrandtschen Porträt, von der bloss reflexionshaften
Nachträglichkeit der Zerspaltung in diese Parteien sagte, gilt
genau genommen zunächst nur von der lebendigen Wirklichkeit des
Menschen.
Deren Erscheinung ist nicht nur ein so und so geformtes und
gefärbtes Stück Materie, sondern eine Totalexistenz, die der
Beschauer — gleichviel ob aus bisher uns dunkeln Kräften heraus
— wirklich als solche, als physisch-psychische Ungeschiedenheit,
vorstellen mochte.
Das Bildnis aber scheint uns der hieraus abstrahierten blossen
Körperlichkeit gegenüberzustellen, denn es enthält nicht das
Leben und die Seele des Modells, sondern, objektiv feststellbar,
dessen physische Formen und Farben.
Es entsteht also das Problem, wieso man auch ihm unmittelbar die
ganze innere Persönlichkeit entlesen kann.
Die Erklärung: wir kennten aus Erfahrungen die Zugehörigkeit
einer bestimmten Seele zu einem bestimmten Leibe, so dass das
Bild des letzteren assoziativ das der ersteren im Beschauer
reproduziere, ist gar nicht diskutabel.
Wenn uns das seelische Bild des Ephraim Bonus oder des Jan Six
mit sicherer Deutlichkeit (wenngleich nicht in begrifflicher
Ausdrückbarkeit) entgegenleuchtet, so ist es eine ganz und gar
unsinnige Vermutung, Erfahrung hätte uns gelehrt, dass Menschen
dieses bestimmten, hier malerisch fixierten Aussehens
durchgehends eine so und so bestimmte Seelenverfassung besässen.
Weder habe ich je Personen gesehen, die dem Bonus oder dem Six
zum Verwechseln ähnlich sahen, noch wäre es erträglich, die
überzeugende Korrelation zwischen Erscheinung und Innerlichkeit
etwa aus verstreuten Erfahrungen über einzelne Bestandstücke
solcher Persönlichkeiten zusammenzuleimen.
Dass man die Beseeltheit des Porträts aus der Psychologie
empirischer Assoziationen erklärt, ist der roheste Versuch
innerhalb der vielfach bestehenden Tendenz: die innere Wirkung,
die tatsächliche Bedeutung für den Beschauer, nicht in dem
Kunstwerk, wie es unmittelbar innerhalb seiner Grenzen dasteht,
zu suchen, sondern es nur als Brücke und Hinweis auf etwas
gleichsam hinter ihm Liegendes gelten zu lassen, auf eine im
Beschauer zustande gebrachte Vorstellung, die noch anderes
enthält, ja vielleicht überhaupt etwas anderes ist, als die auf
sich selbst beschränkte, mit dem Rahmen abschliessende Schauung
eben dieses Kunstwerks.
Ist das Kunstwerk nur ein »Symbol«, ein Mittel, uns etwas
vorstellen zu lassen, was seine gegebene Anschaulichkeit nicht
vorstellt? Ersichtlich gehört das Beseeltheitsproblem dieser
allgemeinen Frage zu, die spätere Seiten prinzipiell behandeln
sollen.
Wenn es richtig ist, dass das Porträt, selber ein physisches
Gebilde, nur die physische Form des Porträtierten aufzunehmen
vermag; wenn aber nur die lebendige Wirklichkeit des Menschen
seine Beseeltheit mit dieser Form in Einheit darbietet; wenn
dennoch das Porträt uns die volle Vorstellung dieser Beseeltheit
weckt — so müsse eben diese Vorstellung aus einer Quelle
fliessen, die anderswo als in dem Bilde selbst entspringt, wenn
sie uns auch durch dieses zugeleitet wird!
Dieser Schluss entspricht, wie ich glaube, traditionellen
Begriffen, aber nicht dem Sachverhalt.
Vielmehr scheint mir hier der tiefste Richtungsgegensatz
zwischen Photographie und Kunstwerk sich aufzutun.
An der Photographie soll der Beschauer nicht haltmachen, sie
erfüllt ihre Obliegenheit um so besser, je mehr sie uns an ihr
Original »erinnert«, sich selbst ausschaltet, so dass wir
innerlich ihr Modell zu sehen glauben*.
*Sehr belehrend ist hier die
psychologische Tatsache, dass wir manchen Porträts gegenüber von
»erschreckender Ähnlichkeit« sprechen, niemals aber angesichts
einer Photographie.
Jenes kann eintreten, wenn und weil ein Porträt uns vor die
unmittelbare und sozusagen unwiderstehliche Wirklichkeit des
Modells stellt.
Wir fühlen aber immer ein Grauen (Goethe sagt in diesem Fall:
eine »Apprehension«), wenn eine bestimmte Ordnung der Dinge von
einer, aus einer ganz andern Ordnung eindringenden Erscheinung
durchbrochen wird.
Die Wirklichkeit des Lebendigen und die Ideellität des
Kunstwerks bezeichnen eben zwei getrennte Welten, und ein Stück
aus jener, das uns plötzlich innerhalb dieser entgegentritt, ist
wie ein Gespenst, nur gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen.
Vor der Photographie kann uns solcher Schreck nicht fassen, weil
sie nicht der ideellen Ordnung der Kunst zugehört, sondern von
vorn herein gar nichts anderes will, als uns psychologisch einen
Realitätseindruck zuführen.
Da sie tatsächlich nur das Körperliche
reproduziert, so wäre sie sinnlos oder unerträglich, wenn sie
uns nicht diesen psychologischen Weg, über sich selbst hinaus
bis zu der vollen Wirklichkeit ihres Originals leitete.
Die grössten Porträts Rembrandts dagegen — die freilich wohl nur
die Pole einer Reihe von Mischerscheinungen beider Prinzipien
sind — treten uns nur als Äusserungen seiner Vision entgegen,
das betrachtende Auge bleibt an die Erscheinung, wie sie
dasteht, gebannt und überträgt sie nicht in die Kategorie der
Wirklichkeit.
Damit ist nicht jener Solipsismus eines gewissen Artistentums
gemeint, dem die menschliche Form auf der Leinwand nur eine
Anordnung von Farbflecken, ein Sammelpunkt optischer Reize, ein
besonders kompliziertes Ornament ist; alles Seelische und
Übersinnliche, das seinen Gestalten einwohnt, bleibt zu Recht
bestehen.
Aber es ist gleichgültig, ob es von dem Menschen jenseits dieser
Vision gilt oder nicht gilt, es gilt, als von seinem
Definitivum, von dem Menschen innerhalb dieser Vision selbst.
Tatsächlich ist hier also erreicht, was begrifflich unmöglich
erschien: der Eindruck des nur materiellen Bildnisses, das nur
Körperhaftes nachbildet, kann nicht anders ausgedrückt werden,
als dass Leben und Seele unmittelbar — und nicht erst in
Rückdatierung zu deren realem Bestande am Modell — mit ihm
gegeben sind, an ihm empfunden werden.
Dieser Eindruck müsste in seiner Tatsächlichkeit auch dann
anerkannt werden, wenn er uns logisch widerspruchsvoll und
psychologisch nicht analysierbar wäre.
Und wirklich sehe ich mich zu einer genauen Auflösung des
Problems nicht imstande.
Jene Erklärung aus psychologischer Assoziation versagt
vollkommen.
Nicht weniger die Analogie mit der Photographie, die vermöge
ihrer äusserlichen Treue allerdings über sich hinaus zum
Wirklichkeitsbilde ihres Originals führt, damit aber die Sphäre
der Kunst zugunsten der Realität verlässt.
Das Prinzip der Kunst verlangt ja gerade, — zugegeben selbst,
dass man sich seiner Reinheit immer nur annähern könne — dass
das Werk Inhalt, Reiz, Deutung in sich allein finde, aus sich
allein heraus darbiete.
Mag es aus der Wirklichkeitswelt in sich hineingenommen haben,
was es wolle: ist dies einmal geschehen, ist dieser Stoff erst
einmal Kunst geworden, dann kann diese Form nicht wieder zur
Brücke werden, auf der wir zur Wirklichkeit zurückkehren.
Wenn nun das Porträt, Physisches physisch darstellend, jene
seelische Lebendigkeit — der Wirkung auf den Beschauer nach —
ausstrahlt, die nicht dem physischen Phänomen des Modells,
sondern nur seiner vollen Wirklichkeit zuzukommen scheint, so
hat dieser Erfolg seine Grundvoraussetzung vielleicht darin,
dass die Gestalt nicht, wie die Photographie, der Erscheinung
unmittelbar entnommen ist, sondern ihrerseits die Schöpfung
einer Seele ist.
Der alte Satz, dass die Seele sich ihren Körper baut, mag
problematisch sein, da der reale »Bau« des Organismus Sache des
einheitlichen Lebens ist, an dem erst die nachträgliche
Reflexion Körper und Seele als selbständig wirksame Parteien
sondert.
Die Körperlichkeit des Porträts aber, insoweit es Kunst ist,
wird tatsächlich von einer Seele aufgebaut.
Dies zur Deutung der Seelenhaftigkeit des Porträts zu verwenden,
indem die Beseelung der malerischen Erscheinung von ihrem
Schöpfer her in Parallele zu der Beseelung der realen
Erscheinung gesetzt wird — das ist auf den ersten Blick freilich
die ungeheuerlichste Paradoxe.
Denn die künstlerische Seele schafft zwar das Gebilde als ihr
objektives Erzeugnis, allein sie ist doch nicht dessen
subjektive Seele, die ihm zukäme, wie die lebendige Seele ihrem
eigenen lebendigen Leib.
Und da das Porträt eines Menschen uns dessen Seele, aber nicht
die eines andern vergegenwärtigt, so scheint das Problem, wie
dies gerade möglich ist, durch den Hinweis auf das Schöpfertum —
das freilich das einer Seele, aber nicht der Seele des Modells
ist — überhaupt nicht berührt zu werden.
Genauer angesehen aber ist dieses Paradox, ja widersinnig
Scheinende eine allgemein anerkannte und fortwährend
verwirklichte Möglichkeit, deren unzweideutigste Ausgestaltung
wohl der Schauspieler ist.
Dieser findet die Rolle als ein Objektives vor, einen — im
geistigen Sinne — äusserlichen Komplex von Worten,
Zuständlichkeiten, Handlungen.
Und aus den Kräften heraus, die allein in seiner Seele wohnen,
erfüllt er dieses ihm äussere und fremde Gebilde mit einem Leben
und einer Beseeltheit, die ganz und gar diesem, ihm objektiv
gegebenen Komplex entsprechen, er stattet ihn mit der der
dichterischen Gestalt eigenen Seele aus, die doch nirgends her
als aus einer eigenen Seele, d. h. als seine eigene, zustande
kommen kann.
Hier besteht eine letzte Tatsache, an der man nicht um ihrer
Unerklärtheit willen vorbeidenken sollte.
Wir können »aus der Seele eines andern heraus« denken, reden,
handeln; d. h. Gebilde schaffen, wie sie nur durch eine Seele
möglich, gleichsam deren Körper sind — aber was jetzt eine Seele
zu dieser Schöpfung liefert, ist sozusagen nur die Dynamik, aber
nicht mehr das Ich, das sie selbst als ihr eigentliches,
qualitativ personales empfindet.
Tatsächlich kann die Seele so einen Leib bauen, der zwar als
reale Produktion aus ihr kommt, als Beschaffenheit und
Verkündigung aber der einer anderen Seele ist.
Möglicherweise ist dies nur Verstärkung und Wachstum der
fundamentalen Tatsache, dass das Subjekt in seinem Bewusstsein,
das doch immer sein eigenes bleibt, dessen sämtliche Inhalte man
als »Modifikationen des Selbstbewusstseins« bezeichnen konnte,
überhaupt ein Du vorstellt, ein Nicht-Ich, das für sich ein Ich
ist.
Dies Du ist dem Ich nicht ein nur äusserlich Aufgenommenes, wie
Bäume und Wolken, ist ihm innerlich näher als irgend solches,
das nur seelischer Inhalt, aber nicht selbst Seele ist, und
zugleich ferner, weil das Du nicht ganz einfach als »meine
Vorstellung« angesprochen werden kann, sondern als ein wirklich
Für-sich-Seiendes gedacht werden muss.
Kurz, das Du ist eine wahrscheinlich ganz primäre, nicht weiter
zurückführbare, nur unmittelbar zu erlebende Kategorie.
Die so geschehende Transformierung des Ich setzt sich dann
wahrscheinlich in die Aktionen fort, als deren Subjekt ein Du
gilt: wo wir einen Gedanken oder eine Ausdrucksart einem andern
nicht äusserlich nachmachen, sondern ihn aus einer inneren
Spontaneität erzeugen, die, für uns selbst und Dritte, in die
jenes andern umgesetzt scheint; wo der Historiker zwischen den
überlieferten äusseren Handlungen einer Persönlichkeit seelische
Verbindungen schlägt, die er aus seiner eigenen Seele
herausholen muss, obgleich er als Subjekt sie niemals erlebt hat
und sie seinem Wesen vielleicht völlig heterogen sind; wo der
Dramatiker seine Geschöpfe von Wesenszügen gestaltet, von
Impulsen bewegt werden lässt, die erst im Augenblick dieser
Schöpfung selbst in ihm entstehen, aber sozusagen nicht in ihm
verweilen, sondern sogleich in jenen Gestalten, als jene
Gestalten dastehen.
In allen Erscheinungen dieser Art — am meisten fällt wohl, wie
erwähnt, die des Schauspielers ins Auge — ist je ein objektives
Gebilde von einer ihm immanenten Seele getragen oder geformt und
ist deren Ausdruck, während tatsächlich die ihm transzendente
Seele des Schöpfers die tragende, formende, Ausdruck gebende
ist.
Sieht man in dieser ganzen Reihe ein durchgehendes Urphänomen,
dessen metaphysische Tiefe nicht zu durchleuchten sein mag, so
ist die »Beseeltheit« des Porträts, des bildnerischen Werkes
überhaupt, die ersichtlich in diese Reihe gehört, zwar nicht
verständlicher als irgendeines von deren Elementen, aber auch
nicht unverständlicher.
Gibt man aber diese Erscheinungen zu, was man ja wohl muss, so
ist die Beseeltheit des körperlichen Bildes auf der Leinwand
jedenfalls keine einsame, aus unseren Erfahrungsgewohnheiten
herausfallende Paradoxe mehr.
Sie stammt nun tatsächlich daher, dass eine Seele das Bild
geschaffen hat; und dass diese eine andere ist, als die in dem
Bild selbst investierte und objektiv aus ihm sprechende, kann
nicht gut ein Widerspruch, der diese Deutung aufhübe, sein, da
sich der gleiche Typus an unzähligen, täglich erlebten
Beispielen realisiert.
Der subjektivische Realismus
und das Selbstporträt
Das mit dieser Erkenntnis Gewonnene
ist: dass wir, um die Beseeltheit des Porträts nur überhaupt als
möglich zu denken, nicht aus dem Kunstwerk herauszugehen
brauchen.
Hält man daran fest, dass Beseeltheit ausschliesslich an der
Realität von Subjekten haftet, so kann man sie nur gleichsam
jenseits und diesseits des Kunstwerks selbst suchen: entweder an
dem lebenden Modell, für dessen Repräsentation im Beschauer das
Bild nur als Überleitung und Symbol dient, oder in dem Künstler
selbst, der sein Persönliches nur in diese verschiedenen
Formen wie in seine Hüllen kleidet. Aber die Expatriierung der
Seele aus dem Kunstwerk selbst widerspricht einfach dem erlebten
Eindruck der grossen Porträts, und mindestens denkbar wurde
dieser Eindruck, als wir uns erinnerten, dass die schöpferische
Seele überhaupt sich in Gebilden selbständigen Charakters,
eigener Formung und Logik objektiviert, die von Charakter,
Formung und Logik der sie schaffenden Persönlichkeit in einem
gar nicht abzugrenzenden Masse unabhängig sind.
Dies ist vielleicht, wie gesagt, nicht durch weitere
Zurückführung zu erklären, da es vielmehr als primäre Funktion
menschlicher Seelenhaftigkeit, erst seinerseits den
Erklärungsgrund unmittelbarer Phänomene abgibt.
Es bezeichnet so aber nur einen Vollendungspunkt in der
Geschlossenheit und Immanenz des Kunstwerks, den dieses
vielleicht in seiner Realität nie absolut erreichen kann;
irgendwie haften an ihm, gewissermassen als dem irdisch
bedingten, jene beiden Verführungen aus seiner freien
Selbstgenugsamkeit heraus: die Hinleitung zu dem realen Modell"
und die Bestimmung durch das subjektivisch Personale seines
Schöpfers.*
* Hiermit ist durchaus nicht der
künstlerische Naturalismus gemeint oder involviert.
Die Entscheidung für oder gegen diesen hat vielmehr zu der
Frage, ob das Kunstwerk seinen Sinn an seiner reinen Immanenz
oder als Mittel zur Vorstellung der Modellwirklichkeit besitze,
ein ganz variables Verhältnis.
Denn einerseits kann die rein artistische Absicht, die die
Bedeutung des Werkes innerhalb der vier Rahmenseiten
abschliessen lässt, dem realistischen Vortrag, der genauesten
Reproduktion der Wirklichkeit zugeschworen sein: damit erst hält
sie die innere Vollendung auch des absolut selbstgenugsamen
Kunstwerks für erreicht.
Andrerseits braucht der Künstler, der vermittels seines Werkes
zu der Anschauung des Modells hinführen will, die wahre
Vorstellung von diesem keineswegs nur durch realistische
Auffassung zu erreichen meinen.
Er kann vielmehr dessen wertvollstes oder im tieferen Sinne
richtigstes Bild grade durch Stilisierung oder Verschönerung,
vielleicht sogar durch Übertreiben und Karikieren herstellen
wollen.
Beides sind ersichtlich Entgleisungen des reinen Kunstwollens in
die blosse Realität hinein, die eine ihr Extrem in der
Photographie findend, die andere in der Unbeherrschtheit oder
der Befangenheit, die den Künstler immer nur sein eigenes
beschränktes Ich aussprechen lässt.
In der Schauspielkunst, die für dieses Problem überhaupt die
entschiedenste Analogie bot, lassen zwei entsprechende Extreme
das reine Kunstgebilde in die Realität verlaufen.
Auf der einen Seite steht der Imitator, dessen Leistung einen
jenseits der Kunstsphäre gelegenen Wirklichkeitsvorgang
vortäuscht; der Vorgang soll für den Beschauer in der Kategorie
der Realität stehen, und die Bühne ist nur das Mittel, ihn in
diese zu rücken.
Das Gegenstück dazu ist der subjektivische Schauspieler, der in
allen Rollen »sich selbst spielt«: er kann jene Metempsychose
seines Ich in ein ihm qualitativ unverbundenes Subjekt — die den
Gegensatz von Ich und Nicht-Ich in der begrifflich schwer
analysierbaren Einheit des Kunstwerks überwindet — nicht
vollziehen.
Das Kunstwerk ist immer eine Objektivierung des Subjekts und
bekommt dadurch seinen Platz jenseits der Realität, die am
Objekt für sich oder am Subjekt für sich haftet.
Sobald es nun die Reinheit dieser Jenseitsstellung aufgibt, sei
es um bloss ein Objekt darzustellen, sei es um bloss das Subjekt
auszusprechen, so gleitet es in eben diesem Mass aus seiner
spezifischen Kategorie in die der Realität.
Dennoch wird, wie ich schon sagte, die Sicherung gegen beides
nie eine absolute.
Und gerade dem Porträt gegenüber wäre es eine bürokratische
Engherzigkeit, bloss um der Reinlichkeit des Begriffes Kunst
willen die Bedeutung gewisser Werke herabzusetzen, in denen die
eine oder die andere jener Intentionen auf die Wirklichkeit hin
oder von der Wirklichkeit her sich vernehmbar macht.
Ist ein Grosses und Wesentliches erreicht, so ist es eine ganz
nebensächliche Frage, ob wir es unter diesen oder jenen Begriff
einreihen können, und unmöglich dürfen wir von einem solchen aus
dem Künstler, weil dieser Titel ihn verpflichte, vorschreiben,
was er »soll«.
So hat man gerade bei Goya — doppelt merkwürdig, da er doch der
Künstler der autonomsten, rücksichtslos sich selbst und die Welt
umwühlenden Phantasie ist — den Eindruck, als sollten seine
Porträts nur gleichsam Wegweiser auf den wirklichen Menschen hin
sein.
Es gehört zu der Unheimlichkeit vieler Bilder von Goya — nicht
nur der Porträts, sondern auch ganz phantastischer Szenen — dass
man sich durch sie wie durch einen Zauberspiegel hindurch vor
die Realität der Menschen und Vorgänge gestellt sieht.
Der Realismus der Subjektivität dagegen ist unter den grossen
Porträtisten schwerlich aufzuweisen.
In einem gewissen, freilich sehr modifizierten Sinne möchte ich
hier, so paradox es aussieht, an den objektivsten der Maler, an
Velasquez denken.
Ich habe die — natürlich unerweisliche — Vorstellung, dass das
Lebensgefühl von Velasquez das einer ausserordentlichen, streng
zusammengehaltenen Kraft war, dass er vor allem eine
energetische Natur war, in Abhebung ebenso von seinen einzelnen
Begabtheiten wie von qualitativen Färbungen, die das Grundgefühl
anderer Naturen bestimmen.
Diese Kraft hatte freilich nicht den Sinn des Titanentums, wie
bei Michelangelo, der eine Welt auf seine Schultern nahm,
gleichviel ob er er unter ihr zusammenbrach, noch den des
Muskelathletentums, wie bei Rubens, sondern sie ging nach der
Seite der Intensität, in einer unablenkbaren, jeder Aufgabe
gewachsenen Entwicklung.
Dass das Persönlichkeitsbild des Velasquez neben dem seiner
Pairs, neben Raffael und Tizian, Dürer und Holbein, Rembrandt
und Hals eine gewisse Farblosigkeit — wenn auch nicht etwa
Unbestimmtheit oder Unbedeutsamkeit — zeigt, geht wohl darauf
zurück, dass seine persönliche, subjektive Wesenheit mehr auf
einer unerschöpflichen Lebensdynamik als auf einer sehr
individuellen Färbung dieser Dynamik basierte.
Nun hat er dies freilich nicht in seine Porträtgestalten
übertragen — wie Greuze etwa eine süsslich eitle Sentimentalität
seiner Natur ohne weiteres zum Charakter seiner Modelle machte,
vielleicht das unzweideutigste Beispiel des hier fraglichen
Subjektivismus der Porträtmalerei.
Allein ich habe doch den Eindruck, dass Velasquez jede seiner
Porträtgestalten vor die Frage nach ihrer Lebenskraft gestellt
hätte, als ob seinem Instinkt dies ihr konstanter Generalnenner
gewesen wäre, dessen genau bestimmtes Mass er an einer jeden,
bei all ihrer sonstigen Individualisiertheit, fühlbar macht.
Die mächtige, unnachgiebige Lebenskraft des Grafen Olivarez und
des Juan de Mateos, die dekadente Schwäche Philipps IV. und
seiner Brüder, die innen hohle, aufgeblasene Kräftigkeit des
Narren Pablillos, die verbissene Dynamik der Hofzwerge, die
fragwürdige Vitalität der königlichen Kinder — jeder einzelne
steht gleichsam an einer genau bestimmten und von dem Beschauer
sicher empfundenen Stelle einer Skala von Kraft schlechthin.
Ist diese Deutung richtig, so hätten wir an Velasquez ein, wenn
auch sehr eigenartig gestaltetes Beispiel des subjektivischen
Realismus der Porträtkunst, für den der subjektive reale Faktor
der künstlerischen Persönlichkeit die Gestaltung bestimmt.
Obgleich nun weder dieser Subjektivismus noch jener
Objektivismus, der eine Vorstellung vom real lebenden Subjekt
durch das Bild hervorrufen will, irgendwo absolut ausgeschaltet
sind, so zeigen doch jedenfalls Rembrandts Porträts den
weitesten Abstand von diesen beiden Formen des Realismus.
Nur etwa Tizian und Tintoretto sind ihm in dieser Hinsicht zu
vergleichen.
Dennoch ist die Überwindung der beiden Realismen bei ihm etwas
Prägnanteres, die Einheit der künstlerischen Objektivierung des
Subjekts ist sozusagen bemerkenswerter, weil sie sich aus einer
entschiedeneren Spannung der Gegensätze erhebt.
Rembrandts Künstlertum erscheint einerseits persönlicher,
subjektiver, als es in den stilisierenden Absichten selbst der
venezianischen Künstler unterkommen könnte; und viel mehr als
diesen wird ihm, andrerseits, die Individualität des Modells,
die Schicht von dessen innerstem, spezifischem Leben zum
Problem.
Beide Versuchungen also hätten für ihn besonders stark sein
können: das Modell nur als Material oder als Einkleidung für die
unmittelbare Gestimmtheit und Impulsivität seiner starken
subjektiven Wirklichkeit zu benutzen — und, wiederum, das voll
ergriffene Leben des Modells auch unmittelbar zur Wirkung zu
bringen, an Stelle der künstlerischen Vision den
Wirklichkeitseindruck sprechen zu lassen.
Wenn die Objektivierung des Subjekts die Formel ist, die auf das
Jenseits dieser zwei Abirrungen hinweist, so offenbart sich
demgegenüber ein ganz besonderes Verhalten des Selbstporträts.
Denn da die äussere Wirklichkeit des lebendigen Modells und die
von innen diktierende Wirklichkeit des Künstlers hier als
Einheit im Bewusstsein sind, so begegnen sich zwar jene beiden
Versuchungen, aber sie heben sich leicht auch gegenseitig auf.
Für das Hineingestalten der schöpferischen Seele in das fremde
individuelle Äussere, als wäre sie dessen Inneres — diesen
spezifisch künstlerischen, jenen beiden Realismen sich von
selbst enthebenden Prozess — ist das Selbstporträt die Schule
und gewissermassen das Prototyp, in dem die Gegensätze noch
nicht auseinandergetreten sind.
Tatsächlich konnte Rembrandt sich durch das Selbstporträt am
leichtesten immer wieder auf das hin orientieren, was ein
Wesentliches, vielleicht das Wesentliche seiner Porträtkunst
war.
Wenn diese ganze Erörterung der Schwierigkeit galt: wie denn das
nur körperhafte Bildphänomen die Beseeltheit fühlbar machen
könne, die sich nur in der lebendigen Wirklichkeit mit jener
eint; wenn das Geschaffensein jenes Phänomens durch eine sich
darein infundierende Seele einen Ausweg bot und die
Heterogenität der schaffenden und der darzustellenden
Persönlichkeit ihn insoweit nicht versperrte, als die Umsetzung
der eigenen in eine fremde Individualität sich als ein ganz
allgemeines und ein spezifisch künstlerisches Können des
menschlichen Geistes zeigte — so offenbart dies die besondere
Funktion des Rembrandtschen Selbstporträts.
Es ist nicht etwas Vereinzeltes und gewissermassen Zufälliges,
wie bei andern Malern, sondern begleitet seine ganze Laufbahn,
vielfach deren Höhepunkte bezeichnend.
Hieran, wo die Einheit des Innern mit dem Äusseren unmittelbares
Erlebnis war, übte er sich dauernd in der Darstellung dieser
Einheit, für die er eine mit keinem andern Maler vergleichliche
Fähigkeit mitbrachte.
Indem er diese eigene Einheit immer neu in künstlerische Formen
objektivierte, gewann er gleichsam die allgemeine Formel solcher
Einheit überhaupt in immer vollerem Masse; sein Künstlertum als
solches hob ihn — und hier am naheliegendsten — gleichmässig
über die Realität seines Subjekts wie seines Modells.
Damit war das, was sein Porträt darstellte, nicht mehr eine aus
einem Gesamtleben heraus abstrahierte Körperlichkeit, sondern
seine Vision war von vornherein dies Gesamtleben, in der Einheit
oder als die Einheit all seiner Elemente.
Die künstlerische Zeugung
Mit dieser, zum Problem des
Selbstporträts aufgegipfelten Erörterung komme ich in die Nähe
einer tiefsten, aber noch in keiner Weise geklärten Form des
künstlerischen Schaffens.
Jedes Kunstwerk hat irgendeine Ausdehnung im Raum oder in der
Zeit, in der seine Teile — gefärbte oder geformte
Materienstücke, Worte, Bewegungen, Töne — sich aneinander- und
zu einer Einheit reihen.
Diese Einheit muss irgendwie von vornherein da sein und die
Schöpfung bestimmen, da sonst nicht begreiflich wäre, woraufhin
der Künstler die einzelnen Materialien als zueinander passende,
eine Ganzheit bildende, zusammenbekommen sollte.
Es war vielleicht das Gefühl hierfür, das die Ästhetik so
vielfach das Wesen des Kunstwerks in seine »Idee« setzen liess.
Dies war nun freilich der typische Irrtum, der den aus der
Erscheinung zu abstrahierenden Allgemeinbegriff, wie durch eine
Achsendrehung, vor die Erscheinung, als ihre Ursache oder ihren
realen Träger setzt.
Dass dem Künstler eine »Idee« vorschwebt, die er dann in
detaillierter oder individueller Form »verwirklicht«, ist ein
klassizistischer Rationalismus, der mit dem tatsächlichen
künstlerischen Schaffen um so weniger zu tun hat, als diese Idee
kaum etwas anderes, als eine überflüssige Verdoppelung des
Kunstwerks ist, durch die es, eigentlich unverändert, in die
Ebene der — wenn auch nicht theoretischen, sondern vielleicht
intuitiven — Begrifflichkeit übertragen wird.
Der hierin, wie gesagt, immerhin merkbare Instinkt: dass die
Ausgedehntheit des fertigen Kunstwerkes nicht das Primäre ist,
dass das Bewusstsein diese Vielheit von Einzelnem nicht mit
einem Schlage, in einem schöpferischen Augenblick erzeugen kann,
dass also, damit solche zusammengehaltene Vielheit entstehen
könne, ein Einfaches-Einheitliches zuvor da sein müsse — dieser
Instinkt hat sich in der Theorie von der »Idee«, die der
Künstler ausführe, nur eine täuschende Befriedigung verschafft.
Sie sucht die Lösung gewissermassen von oben, von dem irgendwie
schon Gestalteten her, während sie, wie mir scheint, von unten
her, von dem, mit der dastehenden Gestalt verglichen, ganz
Formlosen und Dunkeln aus gesucht werden muss.
Ich bin überzeugt, dass die ganze extensive Gestaltung jeglichen
Kunstwerks von einem seelischen Keim ausgeht, der, wenn nur das
Extensive Gestaltung ermöglicht, gestaltlos ist — so paradox es
zunächst scheinen muss, dass z. B. ein nur aus farbigen
Ausgedehntheiten bestehendes Gemälde die zureichende Ursache
seines Werdens in einem inneren Gebilde habe, in dem nichts von
Ausdehnung zu finden ist, das noch keinerlei morphologische
Ähnlichkeit mit dem besitzt, was schliesslich aus ihm entsteht.
Man muss sich zunächst von dem Vorurteil befreien, dass eine
solche Ähnlichkeit zwischen Ursache und Wirkung bestehen müsse —
einem Vorurteil, das allenthalben sein Unheil anrichtet und von
dem auch die Lehre von der Idee als dem genetischen Ausgangspunkt des Kunstschaffens mitbestimmt ist.
Im übrigen muss man sich zum Ausdruck des hier Gemeinten mit dem
Gleichnis des Keimes und seiner Reifung zu dem fertigen
Lebewesen behelfen — das eben nur ein Gleichnis ist, obgleich
kühnere Spekulation sich vielleicht bis zu einer realen
Gesetzmässigkeit, die beiden Erscheinungen gemeinsam sei,
vertiefen könnte.
Der Keim oder Samen enthält doch auch nicht das Lebewesen im
Kleinen, sondern hat zu diesem ein rein funktionelles
Verhältnis, indem er ausschliesslich die auf dieses bestimmte
hin gerichteten potenziellen Energien enthält.
Eine Melodie ist nicht ein Nacheinander von Tönen, sondern eine
eigentümliche Einheit, die in dieser zeitlichen Vielfachheit als
solcher nicht aufzuweisen ist, aber sie dennoch bestimmt.
Diese Einheit muss in irgendeiner Form in dem Schöpfer der
Melodie vorhanden sein, bevor und damit sie sich in jenem
Nacheinander der einzelnen Töne entfalte, wie das Keimbläschen
in das Nebeneinander der Glieder des zur Welt kommenden Tieres.
Dass die Melodie dem Komponisten »mit einem Male« (also in der
Unausgedehntheit des Zeitmomentes) einfällt, ist ein leicht
missverständlicher Ausdruck.
Wie sie als fertige dasteht, eine unvermeidlich
zeitverbrauchende Folge einzelner Töne, kann sie ihren
allerersten Ursprung gar nicht in jener reinen, expansionslosen
Momentaneität gehabt haben.
Wird aber eine solche für eben diesen Ursprung erfordert — denn
nur sie entspricht der Einheit, von der die zeitliche Folge der
Töne erst bestimmt wird — so bleibt nur die Annahme, dass der
eigentliche Konzeptionsakt diese Tonfolge noch nicht enthält;
dass der Inhalt dieses Aktes ein seelisches Gebilde ist, dessen
Einheit kein Vielfaches, Ausgedehntes actu umschliesst, wohl
aber dessen Potenzialität ist und es wie in organischem Wachstum
aus sich entfaltet.
Dieses Gebilde tritt nicht in die Erscheinung, sondern bleibt,
wie man sagt, unbewusst, denn sein Hervortreten bedeutet ja
gerade, dass es nun auseinandergelegt ist, dass es den
Reifezustand vielheitlicher Gliederung erreicht hat.
Vielleicht ist die Anwendung der gleichen Hypothese auf die
bildende Kunst jetzt weniger wunderlich, als auf den ersten
Blick.
Vergleicht man ein minderwertiges Porträt, insbesondere eines
von dilettantischem Charakter, das doch von der Ähnlichkeit mit
seinem Modell überzeugt, mit einem Meisterporträt, etwa dem Jan
Six oder der Judenbraut, so hat man von dem ersteren den
Eindruck, der Maler habe von dem Modell jeweils Zug für Zug, wie
er ihn einzeln erschaute, in dem gleichen Nacheinander auf die
Leinwand übertragen.
Bei Rembrandt aber ist es, als habe er die Erscheinung des
Menschen auf eine schlechthin einheitliche, transphänomenale
Wesensintuition zurückgeführt und diese nun den in ihr
gesammelten Triebkräften überlassen, aus denen sich, in freiem
organischem Wachstum, die Extensität der Formen entfaltete.
Dies scheint mir das eigentliche Schöpfertum in der Porträtkunst
zu sein: dass für den Künstler die Beschauung des Modells nur
Empfängnis, Befruchtung ist und dass er die Erscheinung noch
einmal zeugt, dass sie noch einmal auf dem Boden und unter den
eigentümlichen Kategorien des Künstlertums wächst, als
Entwicklung jenes seelischen Gebildes, das ich dem Keimbläschen
verglich.
Ist gerade diese Produktionsform die bei Rembrandt
entscheidende, so erklärt sich auch aus ihr das Ausbleiben der
Detaillierung, das Hinweggehen über das Kleine und Einzelne der
Erscheinung zugunsten ihrer breiten, wesenhaft entscheidenden
Züge.
Denn es ist begreiflich, dass dieser im tief Unbewussten
entstandene, mit rein seelisch-künstlerischen Triebkräften
weiterwachsende Keim nicht zu so viel Einzelheiten und
zugespitzten Besonderheiten dringt, wie das physische Wachstum
eines Organismus; es enthält — was keiner weiteren Begründung
bedarf — nicht die gleichgrosse Zahl potenzieller Elemente wie
der Keim des letzteren.
Alle diese werden in das Bild nur eingehen, wo die Realität
unmittelbar in dieses übertragen wird, ohne erst in jene dunkle,
vor-extensive seelische Zuständlichkeit eingegangen und,
sozusagen, aus deren Spontaneität wieder auf- und
auseinandergewachsen zu sein.
Natürlich wird es meistens auf Zusammenwirksamkeiten beider
Produktionsformen herauskommen, bei gewissen Porträts scheinen
sie mir in ihrer Zweiheit besonders herausfühlbar, z. B. bei Jan
van Eyck, vielleicht noch in einigen Dürerschen.
Bei Rembrandt aber entscheidet vor allem jene Neubildung von
innen her, das »Stirb und werde« der Erscheinung, zwischen
welchen beiden die Einsenkung in jenen in sich einheitlichen
Befruchtungsmoment liegt, unenthüllbar wie die Entstehung eines
Lebens selbst.
Aber es wird aus dieser Voraussetzung auch begreiflich, wenn
Besteller der Rembrandtschen Porträts über »Unähnlichkeit«
klagten.
Denn obgleich das Weiterwachsen des aus einem peripherielosen
Zentrum bestehenden Keimes — der nun gleichsam des Hinsehens auf
das Modell nicht mehr bedurfte, weil das Wachsen eben nur die
Selbstentwicklung schon gesammelter Energien war — naturgemäss
in der Richtung der aufgenommenen extensiven Eindrücke erfolgte,
so versagt doch die Komplikation und das Eigenleben dieser
seelischen Evolution die eigentliche Gewähr dafür.
Der Prozess bringt es mit sich, dass er das tiefste Wesen der
dargestellten Person vielleicht reiner und echter entfalten
kann, als die physisch- organische Entwicklung mit ihren
hemmenden Zufällen und entstellenden Abbiegungen es vermag.
Der zuvor behandelte Satz, dass »die Seele sich ihren Leib
baut«, ist hier in eine höhere Potenz erhoben: nicht die Seele
für sich, sondern die Wesenseinheit, von der Körper und Seele
nur eine nachträglich-abstrakte Zerlegung ist, bildet den Inhalt
jener primär schöpferischen, noch nicht »gestalteten«
Keimbildung, die dann, allein den Gesetzen der in ihr
zusammengeführten Energien folgsam, die physische Porträtgestalt
hervortreibt.
Auch dieser Vorgang hat natürlich Grade seiner Zulänglichkeit,
Grade des Zusammengehens zwischen der Modellpersönlichkeit und
den Auffassungs- und Gestaltungskräften des Künstlers.
Aber sowohl in dem angedeuteten Fall, in dem jener Keim nur die
seelisch- künstlerische Form der letzten Wahrheit dieser
Persönlichkeit und mit seiner unabgelenkten inneren Logik das
physische Bild entwickelt; wie in dem andern, wenn die
Subjektivität des Künstlers jenen Ausgangspunkt irgendwie
inkongruent macht, so bedeutsam selbst dann das Endergebnis sein
möge — in beiden ist die unmittelbare, von Physis zu Physis
gehende »Ähnlichkeit« gefährdet.
Dass eben diese Unmittelbarkeit des Verhältnisses zwischen der
Wirklichkeit und dem Kunstwerk immer gründlicher verneint werde,
scheint mir jetzt eine der wesentlichen Obliegenheiten der
Kunsttheorie.
Es muss durchaus erkannt werden, dass die Kunst ein schlechthin
selbständiges Gebilde ist, und als Formung der Weltinhalte nicht
auf Borg von deren anderer Formung lebt, die wir Wirklichkeit
nennen.
Nicht die mindeste Gegeninstanz ist es, dass alle grossen
Künstler rastlos die natürliche Wirklichkeit studiert haben.
Denn wenn das Kunstwerk, wie ich vermute, aus einem seelischen
Keim hervorgeht, der dessen schliesslich anschauliche Extensität
gar nicht enthält, sondern von dem diese eine völlig allotrope
Entwicklungsfolge darstellt — so ist damit nach keiner Richtung
hin präjudiziert, welche Bedingungen und Anregungen denn die
künstlerische Seele braucht, damit jener Keim in ihr entstehe.
Gerade in je tieferen, autonomer schöpferischen Schichten der
Persönlichkeit dies geschieht, um so reicher und genauer wird
der dieser zugeführte Stoff sein müssen, damit der Keim
überhaupt mit Inhalten, wie sie auch in der Form der
Wirklichkeit bestehen, geladen werde.
Darum wird der individuellste, aus der grössten Tiefe heraus
schaffende Künstler der intensivsten Befruchtung durch die
Weltinhalte bedürfen (die ihm freilich in keiner andern Form,
als in der Wirklichkeit gegeben sind, und die er, funktionell
von dieser Form ganz unabhängig, als künstlerische Neuschöpfung
gebiert); der geringere Künstler, aus oberflächlicheren
Schichten heraus schaffend, die sich nicht bis zu jenem
unausgedehnten Keim konzentriert haben, die einfallenden Bilder
deshalb sozusagen unmittelbarer in ihrer Extensität festhaltend,
bedarf keiner so grossen Fülle und Mächtigkeit des Materials.
Er ist nicht der schlechtere Künstler, weil er keine so
gründlichen Naturstudien treibt, sondern umgekehrt, weil er das
mindere Talent ist und deshalb mit direkterer
Oberflächenübertragung, statt aus spontaner Keimkraft heraus
arbeitet, bedarf er von vornherein keiner so ausgedehnten und so
gründlich assimilierten Stoffmasse, bedarf keiner so grossen
stoffhaften »Reservearmee« (um den hier sinngemäss übertragenen
Ausdruck von Marx zu brauchen) für seine Produktion.
Der Begriff der Individualität, auf den die ganze bisherige
Erörterung schon hinlenkt, und den die spätere in reiner, für
Rembrandt allentscheidender Bedeutung darlegen wird — muss schon
für das jetzige Problem eine seiner Funktionen hergeben.
Dem ganzen theoretischen und moralischen Gezänk zwischen dem
Körperlichen und dem Seelischen oder den Sinnen und dem Geist,
wird der Kampfplatz entzogen, sobald der Mensch Wesen und Sinn
seiner Existenz darin sieht, dass er Individuum ist.
Denn fasst man diesen Begriff in seiner reinen Bedeutung: als
das Unteilbare — so muss er ersichtlich die gemeinsame Substanz
oder Basis jener auseinanderliegenden oder -strebenden Parteien
sein.
Sinnliches und Geistiges mögen als abstrakte Begriffe nichts
miteinander zu tun haben; sobald sie aber lebendig werden, d. h.
sich an einem Individuum verwirklichen, so sind sie eben dies
individuell bestimmte Sinnliche und dies individuell bestimmte
Geistige, haben also an der Tatsache dieser individuellen
Bestimmtheit ihr unzertrennlich Gemeinsames.
Die Individualität ist entweder die Wurzel oder der höhere
Begriff, den die Fremdheit oder Gegensätzlichkeit von Seele und
Leib nicht berührt, weil er der einen wie dem andern jeweils
seine singuläre Färbung gibt.
Dass das Individuelle der Körperlichkeit und das Individuelle
der Seele sich nicht als identisches Phänomen herausstellen und
bezeichnen lässt, mag der intellektuellen Begrifflichkeit
Bedenken machen, dem Leben und der Kunst aber jedenfalls nicht;
denn unmittelbar weiss man, dass das Individuum keine
mechanische Zusammensetzung aus einem Körper und einer ihm
innerlich heterogenen Seele ist (eine ganz sinnlose und
unvollziehbare Vorstellung), sondern dass, obgleich sie als
Körper überhaupt und Seele überhaupt einander fremd sein mögen,
das konkrete Individuum doch eine Einheit ist.
Es kann also nur die Individualität, die allein zu jener
generellen Fremdheit hinzutritt, sie übergreifen, und,
begrifflich fassbar oder nicht, die Einheit der Elemente tragen.
Es ist wohl eine durchgehende Erfahrung, dass je tiefer wir die
Individualität eines Menschen erfassen, sein Äusseres und sein
Inneres um so unscheidbarer für uns zusammengehen, um so weniger
auseinandergedacht werden können.
Die Abwendung der Rembrandtschen Kunst von dem »Allgemeinen« in
den menschlichen Erscheinungen, ihre maximale Herausarbeitung
des Individuellen erscheint also gleichfalls als einer der
inneren Wege, auf denen sich seine Überwindung des
seelisch-körperlichen Dualismus vollzieht, oder richtiger, die
beschreitend es einer eigentlichen Überwindung seiner von
vornherein nicht bedarf.
Die Lebensvergangenheit im Bilde
Gelingt es diesem Motiv, auch die
spezifische Leistung Rembrandts, die Sichtbarmachung des
Vergangenen in dem Gegenwartsbilde des Menschen, zu
durchleuchten? Wir sahen: nach den Kantischen Voraussetzungen
kommt die einfachste räumliche Gegenstandsanschauung schon durch
Zusammenwirken der sinnlichen und der intellektuellen Funktion
zustande, obgleich für die unmittelbare Bewusstseinsrealität der
Gegenstand ganz sinnlich-einheitlich gegeben ist.
Die späteren Untersuchungen haben dies mehr ins Empirische
erweitert, indem sie die ergänzende Verwebung des bloss
Erschlossenen, nicht Wahrgenommenen und selbst nicht
Wahrnehmbaren in das scheinbar rein sinnliche Bild der Dinge
zeigten.
Es wurde der gleiche Aspekt nur gleichsam von der andern Seite
genommen, wenn ich nun umgekehrt vermutete, dass die
Doppelfunktion physischer Anschauung und seelischer Deutung
gegenüber dem Menschen in Wirklichkeit und Kunst nur eine
einzige ist: indem man das sinnliche Sehen vergeistigt, darf man
das geistige Sehen versinnlichen; nur wegen gradueller
Unterschiede und akzidenteller Verschiebungen erscheint es als
paradox, dass wir die seelische Bedeutung einer Leiblichkeit in
demselben Akt »sehen«, wie diese letztere.
Dies aber selbst zugegeben, muss es noch viel paradoxer sein,
wenn jetzt nicht nur das aktuelle seelische Sein, sondern die
Vergangenheit, die sich zu diesem und seinem leiblichen Phänomen
hinentwickelt hat, mit dem momentanen Anblick dieser
Körperlichkeit gegeben sein soll.
Dennoch, der berührte Zirkel: dass wir die »Gegenwart« der
Erscheinung aus ihrer Vergangenheit verstehen, diese
Vergangenheit aber doch nur jener allein dargebotenen Gegenwart
entnehmen können, scheint mir nur unter dieser Bedingung lösbar,
ja verständlich.
Was überwunden werden muss, ist die nächstliegende platte
Vorstellung: es sei ein Sinnlich-Gegenwärtiges gegeben, aus dem
durch ein intellektuelles Verfahren die seelische Vergangenheit
rekonstruiert, bzw. in das diese hineinprojiziert wird.
Tatsächlich hat die Kunst spezifische (in Rembrandts
Altersporträts nur besonders offenbar werdende) Mittel zur
Verfügung, sich von dieser rationalistischen Notwendigkeit zu
befreien.
Freilich darf es nicht so gedacht werden — wozu vielleicht ein
früherer vorläufiger Ausdruck verführen könnte —, als ob eine
fixierte Ordnung einzelner Szenen oder Akte des Lebens, jeder
für sich begrenzt und von andern durch einen jetzt als leer
geltenden Zeitraum getrennt, von seinem jetzigen Phänomen her
sichtbar würde.
Sondern die ganze kontinuierliche Strömung des Lebens wird es,
weil sie sich in dieses absatzlos ergiesst.
Vielleicht ist überhaupt dem Menschengebilde gegenüber die
mathematisierende Vorstellung, dass wir jeweils einen im
zeitlichen und physikalischen Sinne absolut aktuellen Zustand
seiner erblicken, nicht zutreffend.
Dass es in der Objektivität wissenschaftlicher Abstraktion nur
punktuelle Gegenwart ist, mag sein und bleibe dahingestellt; als
wirkliches Anschauungserlebnis ist uns das Phänomen eines
Menschen ein den Moment irgendwie übergreifendes Ganzes, etwas
jenseits des Gegensatzes von Gegenwart und Vergangenheit
(vielleicht sogar von Zukunft) Stehendes.
Wenn wir innerhalb des historischen Erkennens schon lange
wissen, dass wir die Gegenwart nur aus der Vergangenheit
begreifen, die Vergangenheit aber nur aus der erfahrenen
Gegenwart heraus deuten können — so weist auch dieser Zirkel,
dessen Elemente freilich von geringer begrifflicher Schärfe
sind, auf eine Einheit des Verstehens hin, die durch unser
unvermeidlich analytisches Verfahren in jene sich wechselwirkend
tragenden Parteien zerlegt wird.
Es ist bemerkenswert, wie die scharfe, antivitale Momentaneität
des Bildes gelegentlich auch bei Rembrandt vorkommt; so zeigt z.
B. Josephs Blutiger Rock (beim Earl of Derby) eine krasse
Beschränktheit des ganzen Vorstellungskomplexes auf den
schlechthin unausgedehnten — und eben deshalb wie erstarrt
wirkenden — Moment.
Aber dieses und vielleicht noch wenige verwandte Bilder fallen
nun auch aus dem Wesen und der Einzigartigkeit der
Rembrandtschen Kunst ganz heraus.
Wo diese sich rein auswirkt — besonders in den späten Porträts —
kommt grade jene spezifische Lebenscharakteristik, für die es
die Isolierung eines Momentes nicht gibt, zu ihrem
unzweideutigen Rechte.
Es kommt nicht darauf an, dass wir physikalisch ein in
einmaliger Qualität gegebenes, unveränderliches Farbengebilde
vor uns haben; die Frage ist ausschliesslich, was es für uns, in
uns, als unsere aktive Schauung bedeutet.
Und wie für diese schon die Gespaltenheit zwischen der
Körperlichkeit, als dem sinnlich Wahrgenommenen, und der Seele,
als dem intellektuell Dazukonstruierten, fortfiel, so nun
weiterhin die entsprechende zwischen Gegenwart und
Vergangenheit.
Die Rembrandtsche Menschendarstellung lässt uns jeweils eine
Totalität des Lebens erschauen, trotzdem diese begrifflich und
als äusserliche Realität in das Nacheinander von Vergangenheit
und Gegenwart geformt ist.
Wir sehen eben den ganzen Menschen und nicht einen Augenblick
seiner, von dem wir dann erst auf frühere Augenblicke schlössen;
denn das Leben ist unmittelbar gar nichts anderes, als die
Gegenwart werdende Vergangenheit, und wo wir das Leben wirklich
sehen, lässt uns ein blosses Vorurteil behaupten, dass man nur
den starren Punkt der Gegenwart sehe.
Ob wir dieses Sehen des totalen Lebens erst allmählich erwerben,
ob ihm gewisse Erfahrungen und Schlüsse psychologisch
vorangegangen sind, ob es etwa immer unvollkommen, bloss
annähernd bleibt, das ist prinzipiell ganz gleichgültig.
Es war die entsprechende Wendung des Denkens, mit der Kant die
scheinbare Notwendigkeit abwies, auf den Gegenstand der äusseren
Wahrnehmung erst zu schliessen.
Da uns nur unsere Vorstellungen, also rein innerhalb unser
selbst ablaufende Geschehnisse, gegeben sind, so schien es, als
könnten wir auf die Aussenwelt, die uns nie unmittelbar zugängig
ist, eben nur schliessen: von der Wirkung in uns auf die Ursache
ausser uns.
Demgegenüber zeigte Kant, dass auch die Aussenwelt
ausschliesslich als unsere Vorstellung für uns bestände, dass
deshalb zwischen ihr und der angeblich an sich selbst sicheren
Innenwelt insoweit gar kein prinzipieller Unterschied herrscht,
und jene mit ihrem Vorgestelltwerden ebenso sicher und ohne dass
es eines Schlusses bedürfe, gegeben sei.
Es schien mir nun zunächst annehmbar, dass es sich mit der
Erkenntnis von Körper und Seele des andern Menschen, die den
gleichen, nur umgekehrt laufenden Schluss zu erfordern scheint,
analog verhält.
Hier ist uns angeblich gerade die Anschauung des Körpers
unmittelbar gegeben, und auf die mit ihm verbundene Seele
müssten wir erst »schliessen«.
Vielleicht aber entstammt diese Scheidung nicht weniger als die
von Kant kritisierte, einem rationalistischen Vorurteil;
vielleicht nehmen wir den Menschen unmittelbar als eine Einheit
wahr, in der Körper und Seele erkenntnistheoretisch äquivalent
sind — mag auch empirisch die Erkenntnis der letzteren
unsicherer, zweideutiger, lückenhafter sein.
Und nicht anders mit dem entsprechenden Schluss: wenn nun auch
schon die körperlich-seelische Existent eines Menschen uns in
einem prinzipiell unteilbaren Akt gegeben sei, so könne dieser
jedenfalls nur die Gegenwärtigkeit eines Momentes enthalten,
während das Vergangene, als nicht mehr vorhanden, uns nur durch
einen auf das Gegenwärtige aufgebauten Schluss — von der Wirkung
auf die Ursache zugängig wäre.
Allein vielleicht verhält sich doch in dieser Hinsicht die
Vergangenheit nicht anders zur Gegenwart, als die von uns
vorgestellte Seele des Andern zu seinem Körper, oder als in dem
Kantischen Fall die äussere Existenz der Dinge zu der
Innerlichkeit des Vorstellens.
Die »Gegenwart« eines Lebens ist überhaupt mit der Isoliertheit
und Präzision ihres mathematischen Begriffes gar nicht
festzustellen.
Dass wir das Leben in seinem Hinübergreifen über jeden Zeitpunkt
und Querschnitt tatsächlich sehen, mag sich dadurch vermitteln,
dass der Sehvorgang ja selbst ein Lebensvorgang ist.
Man bedenkt diese Selbstverständlichkeit oft nicht hinreichend,
weil wir den Inhalt dieses Vorgangs als feste »Bilder« denken
und, diese gewissermassen zurückverlegend, das Sehen als eine
Abfolge eben solcher, jeweilig in sich geschlossener Bilder
vorstellen.
Das Sehen aber hat, als Vorgang des Lebens, an dessen
allgemeinem Charakter teil: dass dafür die Scheidung von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht so gilt, wie die
grammatikalisch-logische Schärfe zu fordern scheint.
Erst nachträgliche Grenzstriche bringen diese Alternative an die
kontinuierliche Lebensströmung heran.
Begründung und Ausführung dieses Lebensbegriffes gehören an
einen andern Ort.
Er sollte hier nur andeuten, dass das die Augenblicklichkeit
überschreitende Sehen des Lebens auch von der Seite des Sehenden
her kein Wunder zu sein braucht.
Legt man jenen Begriff des Lebens zugrunde, so ist es wohl
begreiflich, dass seine beiden Manifestationen: als Gesehenes
und als Sehendes — die gleiche Freiheit von der bloss rationalen
Fesselung an den Moment besitzen.
Wo wir Leben wahrnehmen und nicht einen erstarrten Querschnitt,
der nur einen Inhalt, aber nicht die Funktion des Lebens als
solchen bietet, nehmen wir stets ein Werden wahr (sonst könnte
es nicht Leben sein), nur wo die eigentümliche Fähigkeit in
Funktion tritt: das Jetzt in der Kontinuität eines zu ihm sich
streckenden Ablaufs anzuschauen, haben wir wirklich Leben
gesehen.
Wie weit freilich wir in diese Reihe hineinschauen, ein wie
grosses Stück von dem, was wir Vergangenheit nennen, als Einheit
überblickt wird, ist ganz problematisch und wechselnd.
Es ist die Kunst Rembrandts, solches Nacheinander, das, diese
Form bewahrend, dennoch in uns eine Schauung ist, in eine gar
nicht bestimmbare Weite verlaufen, oder genauer: aus ihr
herkommen zu lassen.
Nur darf man der Verleitung des Nacheinander- Begriffs nicht
nachgeben: als ob einzelne, inhaltlich bestimmte Stationen
gleichsam hintereinander aufgebaut wären.
Denn damit wäre ja die Zeitlichkeit nur eine äusserliche
Anordnungsform festumschriebener Sachgehalte des Lebens, während
es sich hier gerade um eine Werdensströmung handelt, in der die
für sich seiende, bloss inhaltliche Bedeutung der einzelnen
Momente (die für andere Kategorisierung unbestritten ist)
schlechthin aufgelöst ist, darum handelt, dass jedes Gebilde als
ein in der flutenden Rhythmik von Leben, Schicksal, Entwicklung,
gewordenes oder werdendes erschaut wird: es ist sozusagen nicht
diese jetzt erreichte Form, die Rembrandt vorträgt, sondern das
gerade bis zu diesem Augenblick gelebte, von ihm her gesehene
Gesamtleben.
Kant, dessen geistige Direktive auf die Geformtheiten der
Seinsinhalte, auf Logizität und Überindividualität geht und
damit einen Gegenpol der Rembrandtschen bezeichnet, äussert
einmal einen spekulativen Gedanken, der mit dieser Deutung des
Schauens der Lebendigkeit dennoch irgendwie verwandt ist.
Er spricht von dem Prozesse der Vervollkommnung, der nicht nur,
wegen der Unzulänglichkeit unserer empirischen Sittlichkeit, die
Unsterblichkeit fordert, sondern in dieser selbst sich für
unsere Begriffe als ein endloser darstelle; dennoch mache er uns
vor dem Auge Gottes der — transzendenten — Glückseligkeit
würdig.
Denn »der Unendliche, dem die Zeitbedingung Nichts ist, sieht in
dieser für uns endlosen Reihe das Ganze der Angemessenheit mit
dem moralischen Gesetze, und die Heiligkeit — — ist in einer
einzigen intellektuellen Anschauung des Daseins vernünftiger
Wesen ganz anzutreffen.« Die Art der Anschauung, die Kant hier
voraussetzt, ist freilich eine überzeitliche und intellektuelle;
aber sie übt ihre einheitliche, alles mannigfaltig Ausgedehnte
überwindende Kraft an demselben Objekt wie die sinnlich
künstlerische Anschauung Rembrandts: an dem zeitlichen, durch
eine unendliche kontinuierliche Vielheit sich erstreckenden
Leben.
Wie das göttliche Auge, um eine Menschenseele als vollendete zu
erblicken, nicht darauf wartet, dass ein fester Zustand
restloser Vollkommenheit in einem bestimmten Zeitpunkt erreicht
werde und nun beharre, wie vielmehr der ab schlusslose Prozess
einer aufwärtssteigenden Existenz ihm d einheitliche Bild
bietet, das für eine Menschenseele Vollkornmenheit heissen kann:
so erscheint bei Rembrandt, in seiner tiefsten Porträts, das
Wesen dieser Menschen in einer Einheit‘ die nicht an einem
endlich erreichten Entwicklungspunkt eintrifft, sondern die
Ganzheit einer stetigen Entwicklung zusammenfasst.
Und diese Zusammenfassung ist nicht die eines abstrahierenden
Begriffes, sondern die einer spezifischen Schauung, für die
Begriffe so wenig adäquat sind, wie sie es für die von Kant
vorausgesetzte göttliche Schauung einer ins Unendliche
hinlebenden Seele sind.
Denn wie die Scheidung zwischen dem seelisch-subjektiven
Vorstellen und dem ihm äusserlich entsprechenden Objekt erst
eine nachträgliche Abstraktion ist, während ursprünglich das
einheitliche, inhaltsbestimmte, noch nicht in Subjektivität und
Objektivität differenzierte Bild vorhanden ist — ähnlich ist
überhaupt, wo wir Leben wahrnehmen, die absolute Scheidung eines
hart isolierten Jetzt gegen ein ausgedehntes Vergangenes Sache
einer intellektuellen Reflexion; in Wirklichkeit nehmen wir
zunächst und unmittelbar eine zeitlich erstreckte, gar nicht in
Momente auseinanderfallende Einheit wahr.
Und wie diese Schauung hinsichtlich ihres Objekts weder sein
punktuelles Jetzt noch seine ausgedehnte Vergangenheit, sondern
die fliessende Einheit beider ist, so ist sie in Hinsicht des
Subjekts weder isolierte Sinnlichkeit noch isolierte
Verstandeskonstruktion, sondern eine ganz einheitliche Funktion,
die erst von andern Gesichtspunkten her in jene beiden
differenziert wird.
Damit erst ist das Bewegungsproblem, von dem ich zuerst sprach,
in die richtige Reihe gestellt.
Es besteht zunächst jeder »dargestellten Bewegung« gegenüber die
Frage, wieso der eine, starre, zeitlich unausgedehnte Moment,
den das Bild bietet, eine zeitlich erstreckte Bewegung
anschaulich machen kann.
Dem geringen Künstler gelingt dies auch nicht, sondern die Figur
erscheint in ihrer Attitüde wie festgefroren, und dasselbe ist
auch bei der Momentaufnahme der Fall.
Denn wo wirklich, von aussen her, das absolut momentane Phänomen
reproduziert ist, da gilt der Zenonische Beweis für die
Unmöglichkeit des fliegenden Pfeiles: da der Pfeil in jedem
gegebenen Augenblick in irgendeinem Ort ist, so ruht er, wie
kurze Zeit auch immer, in diesem; da er also in einem beliebigen
Augenblick ruht, so ruht er immer und kann sich überhaupt nicht
bewegen.
Der Trugschluss liegt hier darin, dass der Pfeil überhaupt an
irgendeiner Stelle ruhen solle.
Er tut das nur in der künstlichen und mechanischen Abstraktion
des schlechten Künstlers und des Momentphotographen, in
Wirklichkeit aber geht er durch jede Stelle hindurch und hält
sich keine noch so kurze Zeit in ihr auf, d.h. die Bewegung ist
eine besondere Art des Verhaltens, die nicht aus einzelnen
Aufenthaltsmomenten zusammenzusetzen ist.
Die wirkliche Bewegung eines Körpers zeigt ihn uns nicht in
einzelnen Lagen, sondern in stetigem Hindurchgehen durch
räumliche Bestimmtheiten, die, wenn er sich eben nicht bewegte,
jeweils »Lagen« wären.
Es ist also eine prinzipiell andere Art des Schauens, als sie
von dem sozusagen mechanisch-atomistischen Standpunkt, für den
es nur Momente und Gegenwärtigkeiten »gibt«, begriffen werden
kann.
Man hat vom Barock gesagt, dass er — besonders in der
Architektur, aber mit sinngemässer Übertragung auch in den
andern bildenden Künsten — an die Stelle des steinmässig
Kristallinischen, wie es das Formideal der Renaissance gewesen
sei, das Organische eingeführt habe, ein Schwellen und Sich-
Einziehen, ein Wogen und Vibrieren der Stoffe.
Es ist ganz richtig, der Barock setzt für die stabile, abstrakte
Form das Lebendige ein; aber doch nur die mechanischen
Bewegtheiten eben dieses Lebendigen.
Es ist die Zeit, in der die mechanistische Psychologie aufkam,
auch in Spinoza, dem Widersacher Rembrandts.
Gewiss wird die künstlerische Erscheinung jetzt durch seelische
Innervationen bestimmt, gleichgültig gegen die Eigengesetze der
Form und der Materie als solcher.
Allein diese Innervationen laufen in den Charakter mechanischer
Bewegung aus, in Schweben und Fallen, Pressen und Reissen,
Dehnen und Schwingen — ganz anders als das wirklich und ganz
Seelische der Bewegung bei Rembrandt.
Daher auch das Schauspielerische barocker Gestalten, das
innerlich nicht Glaubwürdige.
Es erscheint mir deshalb überhaupt sehr bezeichnend, dass
schlechte Historien- oder Genrebilder oft aussehen, als ob sie
nicht ihren Gegenstand unmittelbar darstellten, sondern so, wie
wenn er als »lebendes Bild« gestellt würde; d. h. der
künstlerisch wesentliche Sinn eines Lebensvorganges soll sich in
einem Moment erschöpfen, in dem die dem Vorgange wesentliche
Zeitlichkeit aussetzt: er wird nicht in eine Überzeitlichkeit
gestellt, sondern einfach in eine Unzeitlichkeit, nicht in eine
andere Ordnung, sondern überhaupt in keine.
Es ist wie wenn ein schlechter Schauspieler auf die »dankbaren«
Momente hin spielt, zwischen denen die wirkliche,
kontinuierliche Aktion gewissermassen ausfällt, während der
künstlerische Schauspieler diese zerstückelnden Pointierungen
vermeidet und seine Darstellung in einer Stetigkeit hält, die
eben in jedem Moment prinzipiell seine Ganzheit erblicken lässt.
Zu solchem Schauen der zeitlichen Totalität veranlasst uns die
Bewegtheitsattitüde des vollkommenen Kunstwerkes.
Freilich kann auch diese, wenn man jener äusserlichen
Betrachtungsweise folgt, keine Bewegung zeigen, sondern nur
einen starren Moment; allein der unleugbare Eindrucksunterschied
gegen die entsprechende Haltung im schlechten Kunstwerk beweist,
dass hier doch noch etwas anderes und mehr vorliegen muss.
Nur glaube man nicht, dass es sieh um Phantasievorstellungen
bestimmter vorhergehender und bestimmter nachfolgender Zustände
handle; dieser Glaube hätte wiederum die mechanistisch
singularisierende Voraussetzung, und die Lebensbewegung wäre
wiederum in einzelne, innerlichst unverbundene Inhaltsphänomene
zerteilt.
Die Darstellung der Bewegtheit
Was bewegt sich denn überhaupt im
Bilde? Da sich die gemalte Figur selbst doch nicht bewegt wie im
Kinematographen, so kann es natürlich nur heissen, dass die
Phantasie des Beschauers angeregt wird, sich die Bewegung zu und
von dem dargestellten Moment zu ergänzen.
Aber gerade gegen dieses scheinbar Selbstverständliche habe ich
Bedenken.
Prüfe ich mich genau, was mir denn innerlich beim Anblick des
fliegenden Gottschöpfers in der Sixtina oder der zurücksinkenden
Maria auf Grünewalds Kreuzigung bewusst wird, so finde ich nicht
das geringste von Stadien vor und nach dem dargestellten Moment.
Dies wäre auch ganz unmöglich, denn wie eine Gestalt von
Michelangelo in einer andern als der von ihm selbst gezeigten
Haltung aussehen würde, kann der Beschauer S. nicht
konstruieren.
Es wäre dann eine S.sche Gestalt, aber nicht mehr eine
michelangeleske, es wäre also gar nicht ein Bewegungsmoment eben
der Gestalt, um die es sich handelt.
Vielmehr, in einer Art, die sich von der Wahrnehmung einer
realen Bewegung wohl nur nach Intensität und Komprimiertheit
unterscheidet, ist die malerische Geste unmittelbar mit
Bewegtheit geladen.
Es ist ihr, so paradox es klingt, immanent und nicht erst durch
ein Vorher und Nachher ihr supponiert, dass sie eine
Bewegungsgeste ist: Bewegtheit ist eine Qualität gewisser
Anschauungen.
Mag also Bewegung ihrem logisch- physischen Sinne nach eine
Ausdehnung in der Zeit beanspruchen, mag andererseits unser
Anschauen, gleichfalls nach seinem logischen Sinne, der sich
freilich gleich als irrealer zeigen wird, sich gerade in jeweils
unausgedehnten Momenten vollziehen — so würde sich auch dieser
Widerspruch lösen, wenn die Bewegtheit auch dem einmaligen Bilde
des Objekts einwohnen kann, wie Farbe, Ausdehnung und wie
überhaupt seine Eigenschaften; nur dass diese Eigenschaft nicht
so unmittelbar an der Oberfläche liegt wie andere, nicht so
sinnlich einfach, greifbar und aufzeigbar ist.
Der Künstler aber bringt sie auf ihren Höhepunkt, indem er sie
an ein tatsächlich unbewegtes Bild zu binden weiss.
Und erst wenn wir uns klarmachen, dass wir auch der Wirklichkeit
gegenüber nicht die von der Momentphotographie festgehaltene
Attitude »sehen«, sondern Bewegung als Kontinuität, was dadurch
ermöglicht ist, dass, wie angedeutet, unser subjektives Leben
selbst eine Lebenskontinuität ist und nicht ein Kompositum aus
einzelnen Momenten, das ja überhaupt kein Prozess und keine
Aktivität wäre — so begreifen wir, dass das Kunstwerk viel mehr
»Wahrheit« darbieten kann, als die Momentphotographie.
Wir brauchen in diesem Falle gar nicht an die sogenannte »höher*
Wahrheit« zu appellieren, die das Kunstwerk gegenüber der
mechanischen Reproduktion beanspruche; ganz unmittelbar vielmehr
und im ganz realistischen Sinne ist das Bild, dessen Eindruck
durch irgendwelche Mittel eine kontinuierliche Bewegung in sich
gesammelt hat, der Wirklichkeit (die hier doch nur die bewusste
Wahrnehmung der Wirklichkeit bedeutet) näher als die
Momentphotographie.
Auch wird durch diese Gesammeltheit in einem Anschauungspunkt
die Bewegung überhaupt erst zu einem ästhetischen Wert.
Bedeutete sie innere halb des Kunstwerks wirklich nichts
anderes, als dass zu dem dargestellten Moment noch ein oder
mehrere vorhergehende und nachfolgende durch Assoziation und
Phantasie hinzutreten, so sehe ich nicht, welchen ästhetisch
qualitativen Wert dieses blosse Mehr an Momenten zubringen
sollte.
Meines Erachtens verhält es sich hiermit ebenso wie mit der
Bedeutung der dritten Dimension in der Malerei, deren
Fühlbarmachung an dem dargestellten Körper als künstlerischer
Wert gilt.
Die dritte Dimension als Wirklichkeit ist schlechthin nur das
Tastbare: empfänden wir nicht bei der Berührung der Körper einen
Widerstand, so hätten wir eine nur zweidimensionale Welt.
Die dritte Dimension wohnt in der Welt eines anderen Sinnes als
die farbige Fläche des Bildes.
Wird nun durch allerhand psychologisch wirksame Mittel zu dieser
die dritte Dimension assoziativ hinzuentlehnt, so ist dies eine
bloss numerische Vermehrung über das schon vorhandene Quantum
von Dimensionen hinaus, ein Anhängsel an das Gegebene, das nur
in der seelischen Reproduktion des Beschauers entsteht und an
dem ich einen Wert als künstlerisches, von dem schöpferischen
Geist selbst geformtes Element nicht erkennen kann.
Soll die Fühlbarkeit der dritten Dimension einen solchen haben,
so muss sie eine immanente Qualität des unmittelbar sichtbaren
Kunstwerks selbst sein.
In einer Umsetzung, deren Wege noch nicht näher beschreiblich
sind, wird die Tastbarkeit, in der die dritte Dimension als
Realität allein besteht, zu einer neuen qualitativen Note des
rein optischen Bildes, auf das der Leistungsbezirk des Malers ja
doch beschränkt ist; durch die blosse, irgendwie erreichte
Assoziation der dritten Dimension — bei der diese immer noch
ihre Realitätsbedeutung behielte, — wird dieses Bild, als
künstlerisches, gar nicht bereichert, sondern es erhielte nur
ein Darlehen aus einer anderen Schicht, das sich ihm organisch,
in seiner eigenen, nicht verbinden kann.
Im Gegensatz zu den Täuschungskunststücken des Panoramas ist,
was wir die Dreidimensionalität der Körper im malerischen
Kunstwerk nennen, eine jetzt dem Augeneindruck zugekommene
Bestimmtheit, eine Bereicherung und Deutung, Intensivierung und
Reizerhöhtheit des Anschaulichen als solchen.
Das zu diesem in Hinsicht des Raumes »Hinzugefügte« verhält sich
also genau so wie das in Hinsicht der Zeit.
Was sich assoziativ, von ausserhalb des unmittelbar Angeschauten
her, diesem anzugliedern schien: die Bewegungsstadien vorher und
nachher, die dritte Dimension hinter der Fläche, enthüllt sich
als eine besondere Qualifizierung dessen, worin das Kunstwerk
wirklich besteht, des in Zeit und Raum sich rein in sich
abschliessenden Anschaulichen.
Solche Qualifizierung des unmittelbar Sichtbaren bringt, wie
gesagt, der Künstler zu ihrer grössten Höhe und Reinheit.
Sie ist, obgleich zeitlos eindrucksmässig, nur mit Zeitbegriffen
zu bezeichnen: wir empfinden den Augenblick der Bewegung als den
Erfolg der Vergangenheit und die Potentialität des Zukünftigen;
eine gleichsam an einem inneren Punkt gesammelte Kraft setzt
sich in die Bewegung um.
Je reiner und stärker aber die Bewegung erfasst ist, desto
weniger bedarf es für den Beschauer der intellektuellen und
phantasiemässigen Assoziationen, sondern ihre Bestimmtheiten
liegen unmittelbar innerhalb der Anschauung, nicht ausserhalb
ihrer.
Ich untersuche hier also nicht, in welcher eigentümlichen
Umsetzung und Ideellität der Künstler diesen seelischen Impuls
innerlich nachbildet, der mit der Anschaulichkeit zu
künstlerischer Einheit verbunden ist, in dem die Körperbewegung
noch gesammelt ist und der sie aus sich entfaltet.
Bei Rembrandt jedenfalls muss dies mit einer unerhörten Stärke
und Richtungssicherheit geschehen sein; so dass der Augenblick,
in dem die Geste (und, als Summe der Gesten, die »Haltung«) des
Menschen gefasst ist, wirklich die ganze Bewegung ist.
Er macht anschaulich, dass diese ihrem inneren, impulsiven Sinne
nach eine Einheit ist, so dass, wenn man einen einzelnen Moment
ihrer erfasst, dieser ihre Ganzheit darstellt: ihr schon
Vergangenes als seine Ursache und Zuleitung, ihr Künftiges als
seine Wirkung und noch gespannte Energie.
Ich sagte früher, dass ein Leben in jedem seiner Augenblicke
dies ganze Leben ist: weil Leben nichts anderes als die
kontinuierliche Entwicklung durch inhaltliche
Entgegengesetztheiten hindurch ist, weil es nicht aus Stücken
zusammengesetzt ist und seine Totalität deshalb nicht ausserhalb
des einzelnen Momentes besteht.
Dies ist nun auch als das Wesen der einzelnen Bewegung
aufgezeigt und macht deutlich, wieso jene Minima von Strichen,
mit denen manche von Rembrandts Zeichnungen und Radierungen eine
Bewegtheit andeuten, deren Ausdruckssinn vollgültig darstellen.
Ist die Bewegung wirklich in ihrer ganzen Kraft, Richtung,
undurchkreuzten Einheit innerlich erfasst und künstlerisch
durchlebt, so ist der geringste Teil ihrer Erscheinung eben
schon die ganze, denn jeder Punkt enthält ihr bereits
Abgelaufenes, weil es ihn bestimmte, und ihr noch
Bevorstehendes, weil er es bestimmt — und diese beiden
zeitlichen Determinationen sind in der einen, einmaligen
Sichtbarkeit dieses Striches gesammelt, oder vielmehr: sie sind
dieser Strich.
Aus eben dem Wesen des Lebens heraus, um dessentwillen der fest
dastehende Strich als Bewegung anschaulich wird, ist in der
fixierten Physiognomie der vollkommensten Rembrandtschen
Porträts die Geschichte der Persönlichkeit sichtbar, sozusagen
in einem Akt, als qualitative Bestimmtheit dieses einen
Anblicks.
Ich deutete vorhin den Unterschied gegen das Renaissanceporträt
so, dass in ihm das Sein des Menschen, von Rembrandt aber sein
Gewordensein gesucht wird; dort die Form, zu der es das Leben
jeweils abschliessend gebracht hat und die deshalb in zeitloser
Selbstgenugsamkeit geschaut werden kann, hier das Leben selbst,
vom Künstler in dem Augenblick gefasst, in dem es seine
Strömung, die Vergangenheit stetig in Gegenwart umsetzend, zu
unmittelbarer Anschauung bringt; wodurch leicht klar wird, dass
die Renaissancekunst, obgleich dem Leben gegenüber eine hohe
Abstraktion, doch viel reiner optisch-sinnlich aufzunehmen ist,
während die Rembrandtsche mehr den ganzen Menschen als
Beschauer, das ganze Leben in seiner Funktion als wahrnehmendes
voraussetzt.
Jene vitale Analogie nun der einzelnen Bewegung mit der
Porträtphysiognomie legt auch für die Genesis der letzteren
einen analogen Ausdruck nahe.
Das Entscheidende war dort, dass nicht das äussere Phänomen
eines Bewegungsmomentes, sondern die innere, gesammelte Dynamik
der Ausgangspunkt ist, dass die Darstellung sich, der realen
Bewegung entsprechend, aber in künstlerisch-ideeller Umsetzung,
aus dem seelischen Impuls entfaltet, der in unenträtselter Weise
die Energie und Richtung der Körperaktion potenziell zu
enthalten und aus sich zu entlassen scheint.
So nun scheint — zugegeben, dass aller Ausdruck hier nur
symbolisch ist — in jedem der grossen Rembrandt-Porträts
jeweilig ein Leben, mit dem die gesammelte Potentialität seiner
Quelle sich in ein Werden verwirklicht, zu der sichtbaren
Erscheinung hingeführt zu haben. Dies ist von innen her
entwickelt.
Die Einheit der Komposition
Die Differenz streckt sich über die
Einzelgestalt in die Struktur der Bilder als ganzer überhaupt
hinein.
Die Einheit des wohlkomponierten Renaissancebildes liegt
ausserhalb des Bildinhaltes selbst, sie ist als abstrakte Form
zu denken: Pyramide, Gruppensymmetrie, Kontrapost an und mit den
Einzelfiguren — Formen, deren an und für sich selbständige
Bedeutung auch mit anderem Inhalt erfüllt werden könnte.
Abgesehen aber von dieser, in einem ideellen Ausserhalb
gelegenen Form hat das Bild oft eine sehr geringe Einheit,
sondern besteht in einem Nebeneinander von Teilen, die dadurch,
dass sie alle gleichmässig ausgeführt sind, ganz des organischen
Verhältnisses entbehren.
Dieser Satz gilt natürlich nur in sehr abgestuftem Masse für
italienische Kunst überhaupt.
Bei Giotto ist keine innere Fremdheit zwischen der
kompositionellen Form und dem eigenen Leben der Gestalten
fühlbar, einmal, weil die letzteren überhaupt nicht stark
individualisiert sind und keine Existenz beanspruchen, die über
die Funktion ihrer bildmässigen Gegebenheit hinausginge; und
dann, weil die Form hier noch keine geometrische, sondern eine
architektonische ist.
Das geometrische Schema der späteren Kompositionen hat eine
Abstraktheit, deren Leere und hart selbständiger Sinn durch
keine noch so geistreiche und im Einzelnen lebendige Erfüllung
ganz zu überwinden ist.
Architektonisch aber wird man eine Formgebung nennen können, die
zwar nicht aus einer individuellen Lebendigkeit, wohl aber aus
der materialen Extensität und dynamischen Intensität ihrer
Erfüllungen unmittelbar hervorgeht und mit diesen identisch ist.
Das architektonische Prinzip steht jenseits des Gegensatzes von
Schematik und Leben.
Die Gruppen Giottos erwachsen als Gruppen nicht aus der
individuellen Lebendigkeit der Gestalten, wie bei Rembrandt,
ebenso wenig aber als Ausfüllungen eines in eigener
geometrischer Bedeutung vorbestehenden Schemas; sondern es ist
wie ein Bauwerk, in dem kein Teil ein einzigartiges Leben hat,
ein jeder aber doch eine eigentümliche Masse, Form und Kraft
einsetzt und dadurch unmittelbar die mit nichts vergleichliche
architektonische Einheit entstehen lässt.
Wenn man mit Recht hervorgehoben hat, dass erst bei Giotto der
Erdboden wirklich tragende Kraft für die auf ihm stehenden
Figuren zeigt, so ist dies eben auch nur eine Seite des
architektonischen Charakters seiner Visionen.
In Raffaels Madonnen bestimmt zwar wesentlich das geometrische
Motiv die Komposition, allein sie sind von solcher malerischen
Mächtigkeit, dass — sozusagen wenigstens nachträglich — das
Eigenleben der Gestalten sich ohne inneren Widerspruch und ohne
Zufälligkeit dieser Form anschmiegt.
In der Madonna von Castelfranco dagegen ist der dreieckige
Aufbau zweifellos etwas mechanisch und ohne rechte Beziehung zu
der lyrischen Gesamtstimmung des Bildes; es ist aber
interessant, wie sehr eben diese Stimmung und die vertiefte
Schönheit der Gestalten über die Unbehilflichkeit der
geometrischen Form Herr wird, so dass der Gesamteindruck für
Viele den der entsprechenden Raffaelschen Werke übertrifft,
obgleich bei diesen der geometrische Schematismus und sein
lebendiger Inhalt eine viel natürlichere, harmonischere Einheit
bilden.
Erst bei den minderen Meistern tritt ganz fühlbar hervor, dass
das Schema und seine Erfüllung mit lebenden Wesen von ganz
inkohärenten seelischen Grundstrebungen geführt und
auseinandergeführt werden.
Zu leugnen aber ist nicht, dass der im romanischen Wesen
gelegene rationalistische Trieb nach klar überschaulicher, in
sich geschlossener Aussenform solche Schemata fördert, die durch
die Selbständigkeit ihres Sinnes dem Inhalt gegenüber leer und
mechanisierend wirken.
Auch die Dichtkunst scheint mir dies zu bestätigen, insofern die
spezifisch romanische Versform doch wohl das Sonett ist.
Hier liegt jene anschauliche Geschlossenheit vor, die keine
Fortsetzung gestattet und deshalb einerseits
zeitlos-unhistorischen Charakter hat, so dass man im Sonett
nichts »erzählen« kann; andererseits den Weg ins Unendliche
verschliesst, der der Reichtum, vielleicht auch die Verführung
der nordischen Völker ist.
(In Dantes Versform mit ihrer prinzipiellen Unabschliessbarkeit
symbolisiert sich, was an gotischem Geiste in ihm ist.) Das
Sonett gleicht dem klassischen Ornament mit seinen in sich
zurücklaufenden Formen, gegenüber dem nordischen, das sich ins
Unendliche fortsetzen will.
Diese gleichsam tendenziöse, unbarmherzig betonte Vollendetheit
der Form begünstigt es, dass das Sonett die am meisten zur
äusserlichen Spielerei verführende, am leichtesten leer und
formalistisch wirkende Versart ist — wo nicht, genau wie bei dem
geometrischen Schema der bildenden Kunst, eine singuläre
Genialität dieser Gefahren Herr wird.
Bei Rembrandt nun erwächst die Gesamtform des mehrfigurigen
Bildes aus dem Leben der einzelnen Figuren, d. h. daraus, dass
das Leben der einzelnen, ausschliesslich von ihrem eigenen
Zentrum aus bestimmt, gewissermassen über sie hinausströmt und
dem der anderen begegnet, zu gegenseitiger Beeinflussung und
Stärkung, Modifikation und Vermählung.
Eine übergreifende Gesamtform, die man als für sich vorstellbare
und bedeutsame dem Ganzen entnehmen oder als ein Schema
vorzeichnen könnte, wie an geometrisch komponierten Bildern,
besteht hier nicht.
Dies vielleicht trägt den unerhörten Eindruck der Nachtwache:
dass die Einheit des Bildes sozusagen nichts für sich ist, nicht
herauszuabstrahieren, nicht in einer Form jenseits ihrer
Erfüllungen beruhend, sondern ihr Wesen und ihre Kraft ist
nichts anderes als die unmittelbare Verwebung der Vitalitäten,
die aus jedem Individuum herausbrechen.
Es ginge schon zu weit über diese Unmittelbarkeit hinaus,
konstruierte schon eine zu abstrakte Einheit, wollte man von
einem Gesamtleben sprechen, das dies Bild trüge; das Leben
bleibt vielmehr in jede einzelne Figur versenkt, und indem es
von einer jeden zu der andern hinstrahlt, gibt es sein Zentrum
nicht an eine darübergelegene Einheit ab.
Nur der ganze umfassende Raum kann bei dieser Konstellation wie
von Lebenswellen durchflutet sein, und wenn man das Magische
dieses Bildes irgendwie — mit unvermeidlich subjektiver Symbolik
— zu bezeichnen wagen will, so möchte man sagen: der Raum selbst
scheint hier in lebendige Bewegung geraten zu sein, nicht nur
die Erscheinungen im Raum.
Denn die Totaleinheit des Bildes, die man als eine unerhört
lebendige fühlt, ist nicht zu einer für sich gültigen, in Lösung
von ihren Inhalten vorstellbaren Form gleichsam zugespitzt,
sondern sie besteht in der Summe der Figuren, die aber dennoch
nicht auseinanderfallen, sondern, wie angedeutet, mit ihren
intensiven Lebendigkeiten sozusagen Adhäsion aneinander
besitzen; so dass tatsächlich nur das ihnen gemeinsame Medium,
der Raum, durch die sich in ihm organisierenden Lebenssphären
wie eine grosse lebenerfüllte und dadurch selbst lebendig
gewordene Einheit erscheint.
Darin liegt ein äusserster Gegensatz zu allem Raumempfinden der
italienischen Renaissance, in der Malerei wie in der Baukunst.
Hier ist der Raum die festgezimmerte Bühne, die den bewegten
Menschen den unbewegten Gegenhalt bietet.
Der Romane verlangt, übrigens nicht erst in der Renaissance, die
klare Überblickbarkeit des Raumes, seine ruhende Geformtheit,
die sich zwar, wie gesagt, mit der Bewegtheit der Menschen in
ihm, aber nicht mit seiner eigenen verträgt.
Im stärksten Masse, das wie bis zu einer Art Substanzialisierung
des Raumes geht, scheinen mir dies gerade einige gotische
Kirchen Sienas zu zeigen.
In S. Francesco und S. Domenico hat man den Eindruck, dass der
Innenraum nicht einfach ein durch die Mauern abgegrenzter Teil
des Raumes überhaupt wäre, sondern ein körperhaftes Gebilde,
eine Substanz von selbstgegebener Gestalt; als ob, wenn man die Mauern niederrisse, dieser feste, durch sich selbst abgegrenzte
Raumkubus unberührt weiter dastehen würde.
Im äussersten Gegensatz dazu erscheint der Raum der nordischen
Gotik selbst bewegt, indem jeder Schritt den Gesamtanblick
wandelt, wie das vorschreitende Leben seine Szenen wechselt; der
Raum hat hier keine in sich selbst gefestete Formung, sondern
scheint sich nur immer von neuem zu öffnen.
Darum ist innerhalb italienischer Kirchen das Verhältnis der
Menschen zum blossen Raum ein anderes als in einer
nordisch-gotischen.
Die Ungeniertheit, mit der sich in jenen das Volksleben
abspielt, steht sicher in Zusammenhang damit, dass die
Baulichkeit hier als ein objektiver Boden empfunden wird, dessen
stabiler Geformtheit man dies alles zumuten kann.
Der Raum einer gotischen Kirche bei uns ist sozusagen in viel
labilerem, störbarerem Gleichgewicht, es ist als hätte er eine
Eigenbewegtheit, der man sich nur einfügen darf, ohne sie durch
Bewegungen, die externen Ordnungen angehören, zu irritieren.
Ganz anders freilich, aber dennoch dieser Konfiguration
irgendwie verwandt, schien mir das Raumgeheimnis der Nachtwache
zu formulieren.
Hier hat der Raum weder die feste Gefugtheit des
Renaissanceraumes, die in den Kirchen nur am deutlichsten
wirksam wird, noch das vibrierende, variierende Selbstleben, wie
in der Gotik, sondern ist an sich ganz indifferent, aber
immerhin so bewegungsfähig, dass er von den in ihm flutenden
Lebensströmungen gleichsam mitgerissen wird.
Die Macht dieser Lebendigkeiten ist gross genug, um ihn aus
seiner Ruhe aufzurütteln und dadurch eine ganz einzige Einheit
der Gesamtbewegung zu erzwingen. —
Man muss sich nur klarmachen, dass derjenige Wert eines Bildes,
den wir als seine Einheit bezeichnen, auf viel mannigfaltigere
Weise herstellbar ist, als unsere an der Klassik geschulte
Denkweise es im allgemeinen anerkennt.
Dieser gewohnte Begriff heftet sich durchaus an die Form, die
ihren Erfüllungen gegenüber irgendwie selbständig in sich selbst
zurückläuft und dadurch gewissermassen einen einheitlichen
Begriff darstellt.
Diese Art von Einheit ist aber ersichtlich nicht an organische
Erfüllungen gebunden, sondern kann sich mit dem gleichen Erfolge
formaler Geschlossenheit auch an unlebendigen Inhalten
verwirklichen.
Im Unterschiede davon aber gibt es eine Einheitlichkeit, die
unmittelbar ihren Erfüllungen verhaftet ist, die gerade nur an
diesem Stoff bestehen kann und zwar, weil sie nur aus ihm
erstehen kann.
Dies ist die Einheit ausschliesslich des organischen Wesens.
Die Einheit eines solchen lässt sich gar nicht als eine Form
denken, die mit einem irgendwie qualitativ anderen Gehalt
auszufüllen wäre.
Und aus einer Mehrheit solcher Wesen kann ein Gebilde zustande
kommen, das wiederum einheitlich ist, weil es seine im vitalen
Sinne einheitlichen Bestandteile in Verwebung und Verwachsung
zeigt; denn es ist das Wesen des Lebens, über sich
hinauszugreifen, hinauszustrahlen, ohne seine Einheit zu
verlieren, sich gleichsam mit einer Sphäre über seine primäre
Greifbarkeit hinaus zu umgeben, seine Einheit bleibt immer an
seinen Mittelpunkt gebunden, indem sie mit der Sphäre anderer
wechselwirkt, sich durchdringt, verschmilzt.
In der deutschen Sinnesart liegt von vornherein eine andere
Möglichkeit, Einheit zu empfinden, als in der klassischen.
Dürers Melancholie, Holbeins Kaufmann Gyse, viele holländische
Stillleben zeigen ein Nebeneinander von einzelnen Dingen, das
vom Standpunkt der klassischen Kunst aus zufällig und
zusammenhanglos erscheint.
Aber obgleich es den Schöpfern selbst sicher nicht so erschien,
so ist doch von da aus die Sehnsucht solcher germanischer
Geister nach der klassischen Form begreiflich.
Denn das Unorganische gewinnt anschauliche Einheit nur in
geometrisch abstrakten Formen, es kann nicht durch Wachstum von
innen her zu sinnvoller, d. h. einheitlicher Gestaltung
gelangen, es entbehrt jener bewegten Sphäre, durch die ein
Lebendiges mit dem andern zusammenfliessen kann.
Jener frühere Mangel an äusserer Zusammengefasstheit in der
deutschen Kunst war also allerdings ein Widerspruch, die
eigentümliche, nicht-klassische Einheit, zu der diese Kunst
hinstrebte, war an unorganischem Material nicht zu gewinnen.
Deshalb empfinden wir — falls mein Eindruck nicht täuscht —
Bilder dieser Kategorie als viel weniger zerrissen und zufällig,
sobald sie ganz oder fast ausschliesslich menschliche Figuren
enthalten.
In sehr merkwürdiger Nuancierung zeigen dies die Bilder des
älteren Brueghel, insbesondere die relativ grossfigurigen.
Ihrem abstrakten Schema nach möchte man sie für so bunt und
uneinheitlich wie möglich halten.
In ihrer konkreten Ganzheit aber wirken sie keineswegs so.
Ein höchst mächtiges elementares Leben scheint sie zu
durchfluten, das freilich ganz undifferenziert ist, in dem
einzelnen Bilde gar keine individuelle Färbung annimmt und über
dieses einzelne hinausreicht; so dass es sozusagen gleichgültig
ist, welches Stück dieses — in sich ganz gleichmässigen, als
ganzen aber durchaus charakteristischen — Lebens gerade dieses
oder jenes Bild herausschneidet.
Die Einheit in ihm ist also nicht als eine geschlossene formale
Korrelation der Teile ablesbar, sondern entstammt — oder fällt
zusammen mit — der Ungespaltenheit jenes allgemeinen Lebens, das
in jedem seiner grossen oder kleinen Ausschnitte dasselbe und
eines ist.
Ersichtlich hat diese vitale Einheit mit der klassischen
Komposition nicht das Geringste zu tun, sondern kann mit einer
absoluten Unbekümmertheit um diese zusammenbestehen.
In jeder einzelnen dieser Figuren, so eigenartig ihre Handlung
und Haltung sei, ist dieses starke, charakteristisch
rhythmisierte Leben in gleicher Art, ja in gleichem Masse
fühlbar und bringt jede beliebige Zahl und Anordnung ihrer zur
Einheit zusammen.
Allein dies ist, wie gesagt, nur unter der Bedingung der
Undifferenziertheit der individuellen Gestalten gewonnen.
Die höhere Stufe, auf der die individualisierten Lebendigkeiten
rein als solche zur Einheit zusammengehen, ohne dazu der
klassisch geometrisierenden formalen Struktur zu bedürfen, hat
erst Rembrandt erreicht, am deutlichsten in der Nachtwache.
Hiermit erst hat das Streben zu jener spezifischen Einheit sich
selbst verstanden.
Die Nachtwache ist eines der rätselhaftesten Bildet Wie diese
wirr und planlos, und, nach den hergebrachten Begriffen, formlos
nebeneinander und durcheinanderlaufenden Konfigurationen die
Einheit des Ganzen ergeben können, ohne die der ungeheure
Eindruck dieses Ganzen gar nicht möglich wäre — das ist nach
eben jenen Begriffen nicht zu erklären.
Aber indem die Nachtwache so und so viele Lebendigkeiten und nur
sie zum Bildinhalt macht und dem Geheimnis ihrer rein vitalen
Wechselwirkungen anschauliche Sprache gibt, hat sie jenes alte
germanische Drängen zu einer Einheit, die nicht geschlossen
formmässig, nicht für sich darstellbar, sondern nur an ihren
Trägern zu realisieren ist, zum ersten mal in der Geschichte der
Kunst rein befriedigt.
Die Einheit ist hier, wo sie zugleich ganz tief und ganz labil
ist, auf eine viel gewagtere Weise gewonnen, als im klassischen
Kunstwerk, bei dem sie durch den eigenen vorbestehenden Sinn der
Form eine gewisse Garantie für das Nichtauseinanderfallen-können
und das Verstandenwerdenmüssen in sich trägt.
Es besteht hier eine tiefe Beziehung zu dem Prinzip der
Individualität: dass sie dasjenige Gebilde ist, dessen Form
absolut mit seiner Wirklichkeit verbunden ist, nicht unter der
Voraussetzung oder zum Gewinn eines selbständigen Sinnes aus
dieser Wirklichkeit herauszuabstrahieren ist.
Deutlichkeit und Detaillierung
Für den hiermit aufgebrachten
Formbegriff ist nun ein früher schon berührtes Moment von der
allergrössten Wichtigkeit: die Abstufung der Deutlichkeitsgrade
im Rembrandtschen Gemälde.
Die Herrschaft der klassischen Form, mit ihrem Streben nach
geometrisch-übersichtlicher Einfachheit, hat eben deshalb ein
solches nach dem linearen Prinzip, und selbst der Kolorismus der
venezianischen Kunst kann dies nicht verleugnen.
Freilich hat die Farbe, die den Rembrandtschen
Deutlichkeitsunterschieden ihr eigentliches Feld eröffnet, schon
an und für sich zu dem Formprinzip in seiner wesentlich linearen
und plastischen Bedeutung ein tiefes Gegensatzverhältnis.
Stellt sich in der Form gewissermassen die abstrakte Idee der
Erscheinung dar, so steht die Farbe sowohl diesseits wie
jenseits dieser: sie ist sinnlicher und ist metaphysischer, ihre
Wirkung ist einerseits unmittelbarer, andererseits tiefer und
geheimnisvoller.
Ist die Form etwa als die Logik der Erscheinung zu bezeichnen,
so bedeutet die Farbe eher deren psychologischen und
metaphysischen Charakter — auch hier diese beiden, untereinander
durchaus geschiedenen Intentionen in ihrer gemeinsamen
Gegensätzlichkeit gegen das logische Prinzip erweisend; die
vorwiegend logisch interessierten Denker verhalten sich deshalb
häufig gleichmässig ablehnend gegen die psychologische wie gegen
die metaphysische Sinnesart, und dies scheint mir der tiefere
Zusammenhang zu sein, aus dem heraus Kant in seinem ästhetischen
Wertsystem die Farbe eigentlich ganz zugunsten der Form ablehnt.
Macht man sich nun klar, dass die Farbe im Unterschied gegen die
Linie — gerade wie an ihrer Stelle Psychologie und Metaphysik,
im Unterschied gegen die Logik — der Ort der Graduierungen, des
Stärker und Schwächer, der Valeurs mit ihren unendlichen
quantitativen Möglichkeiten ist, so ist weiterhin ersichtlich,
dass mit dem Vorherrschen der Form und ihrer geometrischen
Intendierung die gleichmässige Durchführung aller Bildteile
gegeben ist.
In dem geometrischen Gebilde ist alles gleich berechtigt; es mag
in ihm Hilfslinien geben, die zum Wiederverschwinden bestimmt
sind, aber diese gehen nicht das Gebilde selbst, sondern die
mathematische Beweisabsicht an.
Die geometrisierende Tendenz und die scharfe Deutlichkeit alles
Vorgeführten sind nur zwei Ausdrücke für dieselbe
rationalistische Gesinnung.
Im tieferen Sinne entscheidend aber ist noch nicht diese
Deutlichkeit, sondern vielmehr die Gleichmässigkeit der
Ausführung, wobei die Malweise ebenso gut vibrierend, farbig,
grenzübergreifend sein kann, wie streng linear oder kleinlich
auspinselnd.
Diese Gleichmässigkeit ist nicht nur das Gegenteil des
wirklichen Seherlebnisses, sie ist, viel weiter gefasst,
überhaupt unorganischen, mechanischen Wesens.
Wo das Bild der Dinge vom Leben aufgenommen und in seiner
Wiedergabe von diesem getränkt ist, da ist auch
Ungleichmässigkeit der Durchführung gegeben, Vorder-und
Hintergrund nicht nur im räumlichen, sondern auch in einem
qualitativen Sinne.
Denn Leben ist Rangierung, betonte Hauptsache und
vernachlässigte Nebensache, Mittelpunktsetzung und Abstufung zur
Peripherie — eine innere Form gleichsam, die dem zuvor
behaupteten allzeitigen Ganzsein des Lebensverlaufes nicht
widerspricht, weil sie in einer andern Schicht liegt.
Insofern hat, wenn man will, das Leben der Welt gegenüber etwas
Ungerechtes; aber alle Genialität lässt sich so ausdrücken, dass
sie uns die Überzeugung gibt, mit dieser, unmittelbar vom
Subjekt und nicht vom Objekt abhängigen Akzentverteilung dennoch
eine tiefere Gerechtigkeit auch dem Objekt gegenüber realisiert
zu haben — nicht freilich in seiner scharf abschneidenden
Isolierung, auch vielleicht nicht in der rein kosmischen
Betrachtung, die den Elementen keine Bedeutungsunterschiede
lässt.
Wohl aber wird durch diese Unterschiede das Verhältnis zwischen
dem Subjekt und dem Objekt, das doch auch eine objektive
Tatsache ist, allein angemessen ausgedrückt.
Goethe spricht einmal von »gewissen Phänomenen der Menschheit«
(nämlich »Formen des lebendigen Daseins und Handelns einzelner
Wesen«), die »irrtümlich nach aussen, wahrhaft nach innen
seien«.
In der Abgestuftheit des Daseinsbildes, die seiner lebendigen
Auffassung, im Gegensatz zu der künstlichen Gleichsetzung der
mechanistischen eigen ist, liegt etwas Ähnliches vor.
Hier ist die Struktur dieses Bildes, von aussen gesehen,
ungleichmässig, von innen her einheitlich.
Denn so ist das Leben selbst; sieht man es nach seinen
Phänomenen, Resultaten, Ausladungen an, die das Individuum als
seine Existenzinhalte gleichsam nach aussen hin deponiert, so
ist es ungleichmässig und zufällig, diskontinuierlich und
ungerecht; von innen her gesehen aber ist all dieses, mindestens
seiner Idee nach, die kontinuierliche, notwendige, angemessene
Entwicklung eines einheitlichen Keimes.
Die Mannigfaltigkeit und Abstufung der Deutlichkeiten aber dient
eben der eigentümlichen Form, die nur dem jeweiligen Gebilde
zukommt.
Jedes Bild Rembrandts, ja vielleicht jedes, an dem wir
spezifisch germanisches Leben empfinden, hat nur seine Form, in
die kein anderer Inhalt eingesetzt werden könnte.
Das Bild als ganzes ist Individualität, d. h. Formung eines
Stoffes, die gerade nur an diesem Stoff existieren kann.
Das Wesen der Individualität ist, dass die Form nicht von ihrem
Inhalte abstrahiert werden und dann noch einen Sinn behalten
könnte.
Wir werden freilich nachher sehen, dass das Prinzip des Lebens
und das der Form gemäss einer tieferen Bedeutung in einer
gewissen gegenseitigen Ausschliessung stehen.
In der jetzt fraglichen aber kann man sagen, dass das
menschliche Individuum, wirklich als reine Individualität
gefasst, die unwiederholbare Form ist; und entsprechend das
mehrfigurige Bild, das Rembrandt, in zuvor nie gekannter Art,
aus den Individuen zusammenwebte, ohne über sie hinweg zu einer
»höheren Einheit« oder abstrakten Form zu greifen — und doch,
besonders durch die Graduierung der Deutlichkeiten, dem Ganzen
den Hauch eines Lebens einflössend.
Allerdings widerspricht dies jenem Begriff der Form, durch den
sie ein Allgemeines, unendlich oft und an beliebigem Stoff
Wiederholbares bedeutet.
Man hat Rembrandt »Mangel an Form« vorgeworfen, weil man ganz
unbefangen Form = allgemeiner Form gesetzt hat — der gleiche
Irrtum, wie wenn man im Moralischen das Gesetz mit allgemeinem
Gesetz identifiziert, nicht bedenkend, dass einer individuellen
Wirklichkeit vielleicht auch ein individuelles Gesetz
entsprechen mag, ein Ideal, das eben nur für diese Existenz in
ihrer Ganzheit und Besonderheit gilt.
Die Form, wie Rembrandt sie herausarbeitet, entspricht gerade
nur dem Leben dieses Individuums, sie lebt und stirbt mit ihm,
in einer Solidarität, die ihr keine darüber hinausreichende,
allgemeine, andere Spezialisierungen vertragende Gültigkeit
gestattet.
Endlich verschlingt sich das Problem der Individualisierung und
das der Deutlichkeit der Darstellung an einem Punkte, von dem
aus ein Widerspruch gegen hergebrachte Vorstellungsweisen
aufsteigt.
Man ist im Ganzen gewöhnt, für Darstellungen jeder Art das
Zusammengehen von Detaillierung und Individualisierung
anzunehmen.
In dem Mass, in dem über die Genauigkeit im einzelnen
hinweggegangen wird und die Darstellung, statt sich in das
letzterreichbare Detail zu versenken, sich an den Gesamteindruck
hält, an die Zusammenfassung zum Grossen und Ganzen — in eben
diesem Masse scheint sie sich nicht auf die Individualisiertheit
des Objekts, sondern auf ein Allgemeines, mit andern Geteiltes
zu richten.
Nach der herkömmlichen Struktur unserer Begriffe enthält der
sogenannte »allgemeine Eindruck« einer Erscheinung dasjenige,
was ihr mit andern gemeinsam ist und was erst durch Hinzufügung
spezieller und immer speziellerer Bestimmungen die
Individualität der Erscheinung bis zur Einzigkeit und
Unverwechselbarkeit hin vortreten lässt.
Aber eine andere Einstellung scheint mir sehr wohl möglich, die
die unbefangene Ineinssetzung von Detailliertheit und
Individualisiertheit aufhebt.
In sehr vielen Erscheinungen mindestens ist gerade das
Spezielle, Minutiösere, die grosse allgemeine Überschau in das
Detail der unmittelbaren Wirklichkeit Überführende — gerade dies
ist das Allgemeine, einer grossen Zahl von Erscheinungen
Gemeinsame; gerade nur indem man über dies alles zugunsten der
nicht in Einzelheiten zerlegten Einheit der Erscheinung
wegsieht, erfasst man deren individuellste Wesenheit und
Einzigkeit.
Die monographische Darstellung grosser geistiger
Persönlichkeiten bietet, mit einer gewissen Verschiebung, eine
Analogie.
Was man als das »Persönliche« an ihnen zu bezeichnen pflegt: die
Umstände des äusseren Lebens, die soziale Stellung, Verheiratetheit oder Ehelosigkeit, Reichtum oder Armut — gerade
das ist das Nicht-Persönliche am Menschen; gerade diese
Differenzierungen des Persönlichkeitsganzen teilt er ja mit
unzähligen andern.
Das Geistige dagegen, seine objektive Leistung, das über alle
diese Vereinzelungen Hinweggehende, bezeichnet man zwar nicht
als ein logisch Allgemeines, aber immerhin ist es insofern ein
Allgemeines, als Unzählige daran teilhaben können, als es sich
in den Besitz des Menschheitsganzen einstellt.
Gerade dies indes muss man als das eigentlich Persönliche
ansehen.
Das für die Menschheit oder die Kultur Allgemeinste ist für den
Schöpfer sein Persönlichstes, gerade dies markiert die
Einzigkeit dieser Individualität; die unvergleichliche
Individualität Schopenhauers liegt doch nicht in seinen
»persönlichen« Verhältnissen: dass er in Danzig geboren wurde,
ein unliebenswürdiger Junggeselle war, mit seiner Familie
zerfiel und in Frankfurt starb; denn jeder dieser Züge ist nur
typisch.
Seine Individualität, das Persönlich-Einzige an Schopenhauer ist
vielmehr »die Welt als Wille und Vorstellung« — sein geistiges
Sein und Tun, das gerade als um so individueller hervortritt, je
mehr man nicht nur von jenen Spezialbestimmungen seiner
Existenz, sondern auch innerhalb der geistigen Ebene von dem
Detail der Leistung absieht.
Gerade deren Einzelheiten und Besonderheiten mögen hier und da
an andere Schöpfer erinnern, ihr Allgemeinstes, einheitlich
Durchgehendes, ist schlechthin mit Schopenhauer und nur mit ihm
synonym.
Und so wird es wohl allenthalben sein: was als der allgemeinste,
alles Detail übergreifende Eindruck einer Persönlichkeit an uns
gelangt, ist ihre eigentliche Individualität; je mehr wir in
ihre Details eingehen, um so mehr kommen wir auf Züge, die wir
auch an andern treffen; vielleicht nicht durchgehend, aber in
weiter Erstreckung schliessen Detaillierung und
Individualisierung sich gegenseitig aus.
Wenn diese Begriffsdifferenzierung befremdend wirkt, so liegt
das an unserer mechanistischen Gewöhnung.
Im Äusseren und Unlebendigen freilich gewinnt eine Erscheinung
Besonderheit und relative Einzigkeit in dem Masse, in dem immer
mehr Einzelbestimmungen an ihr hervortreten.
Denn in eben diesem Mass wird die Wiederholung der gleichen
Kombination unwahrscheinlicher; hier wird tatsächlich die
Individualisiertheit einer Vorstellung durch Detaillierung
innerhalb ihres Inhalts erreicht; und dies geschieht auch an
seelischen Objekten, insoweit wir sie in psychologischer
Äusserlichkeit, also nach mechanistischer Art betrachten: dann
wächst auch hier das Mass der Besonderheit proportional de Zahl
angebbarer Einzelheiten — obgleich ersichtlich die sichere
Erreichung einer wirklichen Individualität auf diese Weise eine
nie zu vollendende Aufgabe wäre.
Wird aber eine seelische Existenz von innen erfasst, nicht als
eine Summe von Einzelqualitäten, sondern als eine Lebendigkeit,
deren Einheit jenes ganze Detail erzeugt oder bestimmt oder
deren Zerlegung dieses ist, so ist solche Existenz von
vornherein als volle Individualität da.
Je mehr jedes einzelne in ihr nun seine Einzelheit verlöscht,
mit je weniger selbständigen Grenzen eines sich gegen das andere
abhebt, desto fühlbarer wird jenes individuelle Leben, von dem
irgendein Element in ein anderes Leben zu versetzen ein
sinnloser Gedanke ist — was keineswegs der Fall ist, solange
Details in ihrer scharfen Umrissenheit das Ganze zusammensetzen.
Dies gilt nicht nur für das isolierte menschliche Wesen, sondern
für das Gesamtgebilde, in dessen Zusammenhang jenes mit der
Landschaft, mit Luft und Licht, mit dem Gewoge von Farben und
Formen verschmilzt, sei es, dass die Figur sich aus all diesem
als Höhepunkt entwickelt, sei es, dass all dieses gleichsam ihr
erweiterter Leib ist.
Die Individualität des Gebildes als Ganzen, seine dadurch
entstehende Einzigkeit, dass jedes Teilchen nur in bezug auf
gerade dieses Zentrum Existenz und Sinn hat — diese wird
jedenfalls durch das Fehlen genauer Detaillierung begünstigt;
denn eine solche lässt den Teilen einen Sonderbestand, der ihre
Einstellung in einen andern Zusammenhang prinzipiell ermöglicht
und sie der Einzigkeit ihrer jetzigen Bedeutung enthebt.
Dies scheint mir die tiefere Verknüpfung zu sein, durch die das
oft so Grenzverwischende, Vibrierende, Verundeutlichende in
Rembrandts Malweise zu einem Träger seiner
Individualisierungstendenz werden kann.
Das Leben und die Form
Diese Individualisierung aber, wie ich
sie hier als das von innen her entwickelte und erfasste Leben zu
deuten suchte, gibt der »Form« einen andern Sinn oder eine
andere Art »Notwendigkeit« als in der klassischen Kunst.
Fast wie eine bewusste Opposition gegen deren Prinzip wirkt
schon Rembrandts Vorliebe für zerlumpte Erscheinungen, für die
Proletarier, deren Kleider durch die Zufälligkeiten ihres
elenden Loses in formal ganz sinnlose Fetzen zerfasert scheinen;
man vergleiche damit die wenigen entsprechenden Gestalten der
italienischen Bilder, bei denen noch jeder ausgefranste Lumpen
einem prinzipiellen Formgedanken untersteht.
Für die klassische Kunst bedeutet Form, dass die Elemente der
Erscheinung sich mit einer unter ihnen geltenden Logik
gegenseitig bedingen, dass die Geformtheit des einen die des
andern unmittelbar fordert.
Bei Rembrandt besagt sie, dass ein von einem Quellpunkt her
strömendes Leben gerade diese Form als sein Ergebnis oder als
den klarsten Anschauungsmoment seiner in der Form des Werdens
seienden Ganzheit hervorgetrieben hat.
Es ist, als ob — in der symbolischen Repräsentation, in der der
Künstler sein Objekt in sich nachrealisiert — Rembrandt den
Gesamtlebensimpuls einer Persönlichkeit wie in einem Punkt
gesammelt empfände und ihn, durch alle seine Szenen und
Schicksale hin, bis zu seiner gegebenen Erscheinung entwickelte;
so dass, ganz entsprechend den einzelnen Bewegungen, dieser
scheinbar einzelne Augenblick als ein von einem weiten Anfang
her gewordener und der sein Werden in sich gesammelt hat, vor
uns steht.
Was wir gerade nur als Prinzip aussprechen, aber in der
undurchsichtig verworrenen Erfahrungswirklichkeit nur sehr
unvollkommen und zufällig erschauen können: dass jeder
Augenblick des Lebens das ganze Leben ist — oder genauer: das
Leben ganz ist —, das offenbart hier der künstlerische Ausdruck
in Reinheit und Unzweideutigkeit.
Wenn jedes Rembrandtsche Gesicht den Bestimmungsgrund seiner
aktuellen Form in seiner ganzen Geschichte hat, so sind zwar
deren einzelne Inhalte aus ihm nicht ablesbar; sondern nur dies
kommt zu anschaulicher Überzeugung, dass von dem Beginn und der
Potentialität dieses Daseins her ein Strom des Werdens bis zu
dieser Aktualität geführt und sie bestimmt hat; wie sie da ist,
ist sie eine durch die innerliche Dynamik und Logik des Lebens
gewordene.
Dass die aktuelle Erscheinung rein als solche (unabhängig von
dem, was im historisch-biographischen Sinne vor ihr im
transzendentalen und seelischen Sinne hinter ihr, im
physiologischen Sinne in ihr ist) ein Formgesetz haben könnte,
das ihrer selbstgenugsamen Anschaulichkeit zukäme — das eben ist
für Rembrandt das Fremde. Etwas dem Kontrapost Ähnliches findet
sich, von Zufälligkeiten abgesehen, bei ihm nicht*. Es wird
alles von innen heraus bestimmt, und das Wunder ist, dass dies
eine malerisch wertvollste Erscheinung ergibt; gerade wie es
auch ein spezifisches Wunder der Kunst ist, dass die grössten
unter den Kunstwerken, die umgekehrt von der reinen Erscheinung
aus zu deren rein artistischer Durchbildung streben,/ damit
zugleich den Ausdruck aller seelischen und nicht unmittelbar
anschaulichen Werte gewinnen.
Aber es erklärt doch; weshalb manche Nur-Maler Rembrandts Mittel
und Wirkung nicht begreifen können und wollen.
* Ausgenommen von diesem echten
Charakter seiner Kunst sind einige italienisierende Werke, von
denen das durch seinen Publikumserfolg merkwürdigste das
Hundertguldenblatt ist. Bedeutung und Wert der Rembrandtschen
Radierungen ist keineswegs leicht zu erfassen; zur Schätzung des
Hundertguldenblattes ist den meisten der Weg dadurch gebahnt,
dass es sich der klassischen Form nähert; an die der europäische
Kunstsinn als an seine Dominante und erziehende Potenz angepasst
ist. Lange nicht hinreichend ist auf diesen Charakter des
Blattes aufmerksam gemacht worden. Hier ist der geometrisch
klare Aufbau, hier ist der »schöne« Faltenwurf der Gewänder
(besonders deutlich an der knieenden Frau), hier ist die
repräsentative, immer ein wenig an das »lebende Bild« erinnernde
Haltung der Figuren, hier die Deutlichkeit dieses einen,
begrifflich ausdrückbaren Lebensmomentes eines jeden, gewonnen
um den Preis, dass die dunkle flutende Ganzheit des Lebens auf
ihn reduziert ist. Etwas von der Tragödie des deutschen Geistes,
die sein Verhältnis zum Klassisch-Romanischen immer und immer
wieder erzeugt, liegt darin, dass das geschätzteste
Rembrandtblatt eben dieses ist, in dem gerade der Rembrandtsche
Geist am wenigsten rein auftritt.
Hier ist nun noch einmal der Gegensatz
zwischen dem Renaissanceporträt und dem Rembrandtschen von den
letzten Kategorien der Weltauffassung her zu formulieren. Die beiden Begriffe, zwischen deren Deutung und Wertung das
Dasein sich auf Schritt und Tritt zu entscheiden hat, sind: das
Leben und die Form. Das Leben, seinem Prinzip nach, ist dem Prinzip der Form ganz
heterogen. Sagt man selbst, es bestände in einem fortwährenden Wandel,
Zerbrechen und Neuschaffen von Formen, so ist auch dies schon
leicht missverständlich. Denn es scheint vorauszusetzen, dass irgendwie, ideell oder
real, feste Formen bestehen, deren jeder nur, indem das Leben
sie zeugt oder offenbart, ein äusserst kurzer zeitlicher Bestand
gegönnt ist. Dann aber würde das, was wir eigentlich Leben nennen, ja nur in
der Bewegtheit bestehen, die sich zwischen die eine und die
nächste Form schiebt, würde nur während des Intervalls, das jene
in diese überführt, existieren; denn die Formen selbst können
sich, als irgendwie stabile, innerhalb des Lebens, das absolut
kontinuierliche Bewegung ist, nicht unterbringen. Macht man mit diesem letzteren Begriff Ernst, so kann es zu der
Gefestetheit, ohne die der Begriff der Form nicht denkbar ist,
prinzipiell nicht kommen. Nennt man das, was die innere, rastlose Dynamik des Lebendigen
äusserlich erzeugt, seine Form, so mag das unvermeidlich sein,
aber man bringt damit doch einen Begriff heran, der einer andern
Ordnung zugehört. Denn Form bedeutet, dass das Phänomen, das der Lebensprozess von
innen her an die Oberfläche oder als seine Oberfläche
hervortreibt, von dem Prozess selbst abgelöst wird; es gewinnt
die Festigkeit einer ideellen Existenz, indem seine Elemente von
einer neuen Gesetzlichkeit des Anschaulichen rein als solchen
(wenn auch des vom Leben gespeisten Anschaulichen) aus
vereinheitlicht, als voneinander abhängig erkannt werden. Die Form kann sich nicht ändern; denn Sich-ändern bedeutet, dass
ein Subjekt vorhanden sei, das in dem Wandel seiner
Erscheinungen selber beharrt, bedeutet, dass eine Erscheinung
und eine andere, mag diese mit jener noch etwas oder gar nichts
als Erscheinung gemeinsam haben, durch die Identität einer in
beiden wirkenden, beide hervortreibenden Kraft verbunden sei. Darum kann nur das Lebendige sich ändern. Denn wie für seinen
Bau die logische gegenseitige Ausschliessung von Einheit und
Vielheit nicht gilt, sondern die Vielheit der Organe als in sich
untrennbare Einheit funktioniert, so ist auch die Vielheit der
»Formen«, die ein Lebendiges im Zeitverlauf darbietet, der von
innen erzeugte Wandel eines einheitlichen Wesens. Die Form aber, zu gesondertem So-Sein herausgelöst, ist fertig,
eine irgendwie andere ist nicht die frühere, die »sich geändert«
hätte (wenn der Sprachgebrauch dies behauptet, so legt er ihr
ein Inneres, Lebendiges unter), sondern steht zusammenhangslos
neben ihr und nur in einem synthetisch funktionierenden Geiste
als eine etwa vergleichbare neben ihr. Durch ihr verschiedenes Verhältnis zurzeit und zur Kraft sind
Form und Leben absolut getrennt. Die Form ist zeitlos, weil sie nur in dem Gegeneinanderstehen
und Sich-aufeinander-Beziehen von Anschauungsinhalten besteht,
und sie ist kraftlos, weil sie als Form gar keine Wirkung üben
kann; nur innerhalb des darunter weiterströmenden Lebens und
seines Kausalprozesses setzt sich auch dieses Stadium in weitere
Bewirktheiten fort, aber es ist mit dem Oberflächenphänomen,
sobald man es ihm an dieser Stelle entnommen hat, gewissermassen
in einer Sackgasse angekommen, oder auch, seine Strömung hat die
jeweilige Form an das Ufer geworfen, zu schlechthin
entwicklungsloser, ein für allemal seiender Phänomenalität, die
der Beschauer abschöpft; die Strömung selbst entwickelt sich in
kontinuierlichen Kraftwirkungen weitet; gleichsam ohne sich um
das Bild zu kümmern, das sie irgendwo dem von aussen her
aufnehmenden Blick bietet. Dem nun entspricht, wenngleich natürlich in zahllosen
Abstufungen, der prinzipielle Unterschied der beiden
Möglichkeiten des Porträts. Das Problem des klassischen Porträts ist die Form. Das heisst, nachdem das Leben es einmal zu einem bestimmten
Phänomen gebracht hat, gewinnt dieses für den Künstler eine
ideelle Eigenexistenz, die er nach Normen der linearen,
koloristischen, räumlichen Deutlichkeit, Schönheit und
Charakteristik vorträgt. Er abstrahiert das Phänomen aus dem Lebensprozess, der es
erzeugte, und damit werden nur die seiner Gestaltung immanenten
Gesetzlichkeiten für sie gültig — ungefähr wie die abstrakten
Begriffe logische Beziehungen untereinander aufweisen, die ganz
von denjenigen unterschieden sind, durch die die ihnen
zugrundeliegenden Einzeldinge real verknüpft sind. Auf die »Beseeltheit« des Porträts ist damit natürlich nicht
verzichtet, denn der seelische Ausdruck, in dem Sinne, in dem
ich ihn früher in Hinsicht des Renaissanceporträts besprach, ist
eine unmittelbare Qualität des leiblichen Phänomens selbst; aber
auch das seelische Wesen ist innerhalb dieses Stiles nicht ein
Lebensprozess in zeitlicher Entwicklung, sondern ein
resultathaftes So-Sein, ein zeitloses, durch die Dimension des
Körperphänomens miterstrecktes Definitivum.
— Die Form dagegen, die das Rembrandt-Porträt darbietet,
erscheint nicht von dem Prinzip der Form selbst, nicht von den
ideellen Beziehungsnormen bestimmt, die die Teile des Phänomens
sich untereinander begrenzen und balancieren lassen, sondern das
von innen treibende Leben, das jener Stil hinter dem Phänomen
verschwinden lässt, ist hier in dem Augenblick erlauscht, in dem
es in seine Oberfläche hineinwächst, diese trägt sich nicht,
gleichsam freischwebend, vermöge der Gesetze ihrer zeitlosen
Anschaulichkeit, sondern durch die Dynamik von Werden und
Schicksal, deren vergangenheitsgetragene Gegenwart eben dieses
Phänomen bedeutet. In der Klassik scheint das Leben nur den Zweck zu haben, dass es
die Form hervorbringe, dann aber von ihr zurückzutreten und sie
ihrem selbstseligen Spiel zu überlassen; bei Rembrandt umgekehrt
ist die Form nur der jeweilige Moment des Lebens, in diesem
liegt der nie zurücktretende Einheitspunkt ihrer Bestimmungen,
sie ist nur die — recht verstandene — zufällige Art, in der sein
Wesen, d. h. sein Werden, sich nach aussen kehrt. Wie in aller grossen Kunst handelt es sich in der Klassik wie
bei Rembrandt am letzten Ende um die Einheit von Leben und Form,
um den künstlerischen Gewinn dessen also, was dem blossen Denken
ungewinnbar scheint. Aber die Klassik sucht von der Form her das Leben, Rembrandt vom
Leben her die Form. Damit, dass wir die Substanz einmal auf ihr Leben hin, ein
anderes Mal auf ihre Form hin ansehen, sind dennoch ihre in der
Kunst wirksamen Grundkategorien nicht erschöpft. Allenthalben wirkt die Schwere mit, und zwar zunächst in der
Haftung an dem Material der dreidimensionalen Kunstwerke. Den absoluten Schweren von Stein, Metall, Holz, Keramik, den
Schwereverhältnissen der einzelnen Teile, den Gegenkräften, die
die Schwere auffangen oder verteilen — entsprechen auf die rein
optischen Eindrücke des Gegenstandes hin ganz spezifische innere
Empfindungen. Ob es sich dabei um blosse Assoziationen, sonst erworbene
Erfahrungen von Heben, Schieben, Gedrücktwerden handelt, oder ob
andere, mehr unmittelbare, noch nicht herausanalysierte
Reaktionsweisen dabei im Spiele sind, bleibe jetzt ununtersucht. Diese Schwereempfindungen fügen sich wieder, auf gleichfalls
unbekannte Weise, der optischen Vorstellung ein und werden damit
zu Elementen des ästhetisch bildhaften Eindrucks. Sie sind aber der Art nach auch dem zweidimensionalen Kunstwerk
eigen: nicht nur dem Abbild des als objektive Wirklichkeit
schweren Gegenstandes fühlen wir Schwere an und lassen das so
Gefühlte die rein künstlerische Wirkung mitbestimmen; sondern
ganz unabhängig von irgendeinem Urbild und seiner Schwere,
wirken Linienführungen, Flächen, Farben, sogar in rein
dekorativer Verwendung, mit bestimmten Massen und Verhältnissen
von Schwere. Hiermit ist freilich ein innerhalb der Kunst bedeutsames Moment
gegeben, das jenseits des Lebensprinzips wie des Formprinzips —
in dessen gewöhnlichem Sinne — liegt, da es sich an die
undifferenzierte Substanz knüpft. Ganz genau zugesehen indes aber ist doch die Schwere in dieser
Bedeutung unter die formalen Momente einzureihen. Denn durch ein Mehr oder Weniger, durch die diesbezügliche
Relation der einzelnen Teile, durch das Spiel zwischen dem
Lastenden und dem Tragenden gewinnt die Schwere ästhetische
Bedeutung; schliesslich ist doch auch die Schwere eine
Einzelqualität der Materie, freilich ihre allgemeinste, mit
ihrer Ausgedehntheit am unmittelbarsten verbundene. In künstlerischer Hinsicht steht sie deshalb neben der Farbe,
der räumlichen Form, der Oberflächenbeschaffenheit als ein
diesen koordiniertes Element, als eine Einzelbestimmtheit, aber
noch nicht als das Letzte, schlechthin jenseits alles Einzelnen
Liegende, was von der im Kunstwerk fühlbaren Materie ausgesagt
werden kann. Dies ist vielmehr die Substanzialität überhaupt, das schlechthin
in keine Qualität, keine Relation, keine Differenz, keine
Formung eingegangene einfache Sein des Stoffes, dasjenige, was
aller Bewegtheit und Schwere, Formung und Lebendigkeit zugrunde
liegt.
Ich lasse hier, wo es sich nur um die Explikation gefühlsmässig
ästhetischer Tatsachen handelt, die Kritik dieses Begriffes
dahingestellt, die die Physik und die Erkenntnistheorie üben. Mögen diese auch die »Substanz« völlig in Relationen und
Schwingungen auflösen. Aber diese Zerlegung greift die Schicht der hier gemeinten, mit
einem ganz spezifischen Gefühl wirksamen Substanz nicht an. Alle Plastik im weitesten Sinne geht darauf, dieses dunkel
Substanzielle des Daseins durch Formung zu überwinden. Denn deren Gegensatz ist nicht die sinnlose Form des
Gipsklumpens oder des unbearbeiteten Marmorstücks, aus der dann
die sinnvolle entwickelt wird; sondern jenes absolut Formfremde,
niemals Anschauliche, das mit jeder Gestaltung aufgehoben wird. Vergleicht man etwa die Olympiaskulpturen mit denen des
Parthenon, so empfindet man an den ersteren, wie sie sich
sozusagen eben erst aus jenem Urgrund, jener nicht weiter
beschreiblichen Substanzialität alles Daseins herausheben; noch
fühlbar besteht diese in ihnen, und nur an der Oberfläche hat
sie die Form hergegeben, deren Differenzierung und Bewegtheit
von dem Kern, dem eigentlich und einheitlich Seinshaften des
Gebildes nur durch eine ideelle Linie geschieden ist. Dagegen in den Parthenonskulpturen ist dieses von der Formung
ganz und gar ergriffen und durchdrungen, die geheimnisvolle
Einheit der Substanz überhaupt ist hier unfühlbar, weil sie
völlig in die jeweilige, besondere Gestaltung eingegangen ist. Man möchte die Kunst von Olympia mit den vorsokratischen
Philosophen, die des Parthenon mit Plato vergleichen. Soviel vollkommener, durchgeformter, geist- und
persönlichkeit-gewordener die athenischen Kulturgebilde der
Blütezeit sind, als alle jene anderen, künstlerischen und
denkerischen, so scheinen die letzteren doch unmittelbarer aus
dem Grunde der Dinge aufgestiegen und ihm ohne Grenzstrich
verhaftet zu sein. Die athenischen Werke aber schweben wie erlöst im hellen Reiche
des Geistes, bis in ihren innersten Kern hinein ganz Leben, ganz
Form geworden. Besonders wieder modifiziert sich die Rolle dieser Substanz in
der schweren Massivität der Gestalten Giottos. In der fast ungegliederten Kompaktheit, mit der z. B. die Mönche
in dem Florentiner Erscheinungsbilde dasitzen oder die betenden
Freier in Padua knien, die ganze körperliche Existenz von dem
gleichsam porenlosen, unflüssigen Gewande repräsentiert — in
ihnen ist nicht nur die Schwere, sondern gerade eine nicht
weiter beschreibliche Substanzialität, eine Nachdrücklichkeit
des Körper-Seins überhaupt der entscheidende Eindruck. Aber sie ist nicht wie bei den Olympiaskulpturen oder manchen
altägyptischen etwas hinter der Oberfläche Fühlbares, durch die
Form, von der es überwachsen ist, nicht Erlöstes. Entsprechend vielmehr dem italienischen Wesen, das immer nach
der Oberfläche zu drängt, wirkt selbst dieses Undifferenzierte,
dies blosse Dasein körperhafter Masse noch als Form. Man hat diese Wirkung so zu deuten gesucht, dass unter den
schweren, einfachen Gewandflächen der lebendige,
durchgegliederte Leib spürbar wäre. Ich kann dies nicht nachfühlen. Die im realistischen und logischen Sinne natürlich bestehende
Zweiheit von Gewand und Leib ist hier von der künstlerischen
Vision eigentümlich überwunden, indem Giotto auf das beiden
Gemeinsame, das bloss Substanzielle des tastbaren Daseins
zurückging, so dass gerade hieran diese Existenzen das
Wesentliche ihrer Sichtbarkeit gewannen. Ich kann tatsächlich weder etwas hinter diesen Gewändern spüren,
noch sind sie, wie bei minderen Künstlern, hohle
Garderobenstücke, die den dazu erforderten Leib vermissen
liessen. Giotto hat sich über dien Alternative dadurch erhoben, dass er
jene Substanz des Körperlichen überhaupt aus ihrem Dunkel
jenseits von Form und Leben hob und Fühlbarkeit und Sichtbarkeit
seiner Gestalten unmittelbar an ihr gewann, also sie
gewissermassen zur Form machte. Leben und Form also, die metaphysischen Parteien, die sonst das
Wesen der gegebenen Gebilde unter sich aufteilen, erscheinen als
gemeinsam gegensätzlich zu jenem freilich kaum benennbaren
Grundbegriff oder Grundstoff des Seins. Denn wie ich vorhin sagte, dass die Plastik, rein als Wille zur
anschaulichen Formung verstanden, auf Überwindung dieser
undifferenzierten Substantialität ginge, so scheint auch das
Leben nach der gleichen Tendenz hin deutbar. Während das dunkle substanzielle Sein schlechthin in sich ruht,
ist das Leben dasjenige, was in jedem Augenblick über sich
hinaus will, über sich hinaus greift; indem es die Substanz mit
sich durchdringt, setzt es sie in eine innere Bewegung, der
gegenüber der Mechanismus nur ein Hin- und Herschieben ist, das
ihr inneres Wesen unberührt lässt. Dass das Leben fortwährend unorganische Materie in den
organischen Prozess hineinreisst, ist nur eine Seite, ein
Phänomen oder ein Symbol der tieferen metaphysischen Richtung
des Lebens überhaupt, mit der es das Eigenwesen seiner Substanz
in sich oder durch sich auflöst. Es ist höchst merkwürdig und bedeutet wohl eine der
letztmöglichen Verbegrifflichungen des Daseins, dass dessen
grosse, sinngebende Kategorien, das Leben und die Form, von
einer vor aller Bezeichnung gelegenen Substanz getragen werden,
die fortwährend in jenen aufgeht, fortwährend sozusagen im Leben
und in der Form verschwindet, aber dennoch irgendwie hinter
ihnen fühlbar ist. Das Mass, in dem dies der Fall ist, gehört zu den entscheidenden
differenziellen Eindrucksfaktoren der lebendigen Wesen und der
Kunstwerke. Auf viele Weisen schon ist es als zum Wesen der Organismen
gehörig ausgesprochen worden, dass gleichsam kein Lebendiges
ganz lebendig ist, dass in jedem noch etwas Dunkles, von der
Lebensbewegtheit noch nicht völlig Besiegtes und Durchsetztes
besteht, gleichviel wie man es benenne. Wenn man aber von Stufen des Lebens spricht; wenn wir in
gewissen Erscheinungen eine vollständigere, in sich (nicht nur
nach aussen) stärkere Lebendigkeit zu sehen meinen als in
andern; wenn dies entschiedenere Leben zugleich als eine
entschiedenere Individualisiertheit auftritt — so bedeutet dies
alles ein entsprechendes Zurückweichen jenes unbezeichenbaren
Etwas, das in das Leben erst allmählich eingeht und das, als
dieses immer verschwindende aber niemals verschwundene, ein
Immer-Gleiches, schlechthin Einheitliches, also von
Individualisiertheit nicht Berührtes ist. Ob in der Gotik die Auflösung der Materie durch das Aufsteigen
bis ins Verschwimmende, Verschwindende geschieht oder durch die
Verlegung der die Schwere tragenden und sie dadurch fühlbar
machenden Elemente an das Äussere der Kirche, oder durch das
Durchbrechen des Steines in Zierraten, die ihn als gewichtlose,
unstarre Spitze erscheinen lassen; ob durch die Knickung der
Körper, die deren natürliche Struktur zu verneinen scheint, oder
durch die unrealistische Grösse des Kopfes als des
Ausdrucksträgers, an dem der ganze Leib oft nur wie ein haltlos
dürftiges Bündelchen hängt — es ist immer dasselbe Prinzip: der
Stoff soll nicht sein. Aber nicht so, dass nun statt seiner, wie es Plato wollte, die
Form sein soll, sondern das Drängen, Sich-Heben, Sich-Flüchten
der Seele. Dennoch— das Leben ist nicht der Sinn der Gotik. Dazu ist zu
wenig Oszillierung, Polarität, Hebung und Senkung in ihr.
Ihr Wesen liegt in einer geraden Gerichtetheit der Seele ins
Transzendente, die deren Leben hinter sich gelassen hat oder für
die es nur der an sich irrelevante Träger ist. Gerade hier zeigt sich, dass die Gotik in ihrer reinsten und
echtesten Typik, der französischen — ihre spätere deutsche
Weiterbildung biegt dies um -- keineswegs so antirationalen
Charakters ist wie ihr sonstiger Gegensatz zu Klassik und
italienischem Romanismus oft glauben gemacht hat. Ein Streben nach Klarheit und mathematisierender Genauigkeit
liegt in dieser Linearkunst, die freilich als solche schon einen
Kampf gegen das Dreidimensionale der Materie bedeutet — eine
eigentümlich rationalistische Mystik. Indem diese Kunst — im Unterschied gegen andern Linearismus —
die Schlankheit und die unendliche Verlängerbarkeit der Linie
betonte, gewann die mittelalterliche Vorstellung von der Seele
gewiss an ihr ein treffendstes Symbol, aber in dem Vertikalismus
und der Eindimensionalität, denen dieser Stil zustrebte, kam das
Leben, mit seinem Sich-Auseinanderfalten, seiner Vielheit in der
Einheit, seinen unberechenbaren Ausstrahlungen nicht unter. Rembrandts religiöse Bilder, in denen die Frömmigkeit sich
gerade als eine Art, auf die die Seele lebt, erweist — in aller
Fülle, Buntheit, ja Zufälligkeit, die eben ihrer Lebensform
eigen ist — sind insofern der vollkommene Gegensatz zum
innersten Prinzip der reinen Gotik. Mit dieser tritt also noch ein viertes Element auf. Jenseits von
Form und Leben stand noch die Substanz — jetzt steht noch ebenso
die Seele in dem Gegensatz zur Substanz da, aber nicht ihr
Leben, sondern ihre transzendente Bestimmung, die jetzt
sozusagen ihre Substanz ist. Leben und Seele decken sich nicht, sondern überschneiden sich
nur, jedes ist ein Allgemeineres als der Abschnitt, mit dem sie
sich decken. Diese Seele ist nicht individuell. Die gotische Seele hat, schon
weil ihr das Transzendente das Wesentliche ist, keine Einzigkeit
— individuell ist nur das Leben. Nur in der Form des Lebens ist die Seele individuell, wie (auf
niederer Stufe) die Substanz es nur in der Form der Form ist.
Ich verfolge hier die Struktur der Begriffe, in die wir das
Weltbild aufteilen, nicht über den Punkt hinaus, an dem sich der
Polarität von Form und Leben die gleichmässige Einheit der
Substanz überhaupt unterbaut. Mag Physik und Metaphysik auch dies in Relationen auflösen —
bevor die Auflösung soweit vordringt, kommt sie an eine Stelle,
an der das Gefühl von Leben und Kunst in seiner Mannigfaltigkeit
sich doch wohl nur aus der differenzierten Fühlbarkeit dieser
Substanz in allem Lebendigen und allem Geformten deuten lässt.
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2.
Kapitel: Die Individualisierung und das Allgemeine |