Wer sich über die Werte einer menschlichen Existenz,
beurteilend oder genießend, Rechenschaft ablegt, wird nach zwei Richtungen
blicken müssen, von denen her das Leben die allgemeinsten Formen des
Wertvollen und Bedeutsamen erzeugen kann.
Das Leben selbst, in der Unmittelbarkeit und Gegenwart
seines Daseins und seiner Kräfte, ist der erste Träger von Werten: schaffend
und genießend, empfindend und spielend, in sittlicher Bewährung wie in
Gewinn und Verlust dem Schicksal gegenüber, kann es sich als groß und
wesentlich und wertvoll - freilich auch als das Gegenteil von alledem
bewähren.
Diese Werte bezahlt der Vorgang des Lebens mit seiner
Vergänglichkeit; wenn er gelebt ist, ist er vorbei, aufgelöst in anders
geformte Wirkungen und in die Schattenbilder der Erinnerung.
Aber als geistiges Leben hat er die mit keiner anderen
Daseinstatsache vergleichliche, alle menschliche Kultur begründende
Fähigkeit: ein Ergebnis zu bewirken, das, unabhängig von dem Prozess seiner
Erzeugung und dessen Vorübergehen, eine selbständige Existenz besitzt.
Kunstwerke und Erkenntnisse, religiöse Lehren und soziale
Verfassungen liegen in diesem Bezirk des vom Leben zwar Erzeugten, aber vom
Leben Gelösten, gegen seine Entstehungskräfte selbst gleichgültig
Gewordenen.
Und hier erheben sich ganz neue Werte, an sachlichen
Maßstäben, an zeitlosen Ideen, an der Realität der Dinge gemessen.
Dies ist die andere große Wertmöglichkeit unserer
Existenz, dass sie die Erzeugnisse ihrer Energien aus sich heraus setze, in
eine von ihr selbst geschiedne, überdauernde Ordnung, in der diese
Ereignisse wie Dinge selbst stehen und sich ihren Rang nach Normen von
Schönheit und Größe, von Tiefe und Wahrheit bestimmen.
Die Betonungen des höheren Lebens pflegen in sehr
ungleichmäßiger Weise nach der einen oder der anderen dieser Richtungen zu
fallen und uns in Widersprüche und Konflikte unserer Beurteilungen, ebenso
wie unserer praktischen Entscheidungen zu verwickeln.
Das strömende, nur auf sein eigenes Gesetz hörende Leben,
mit den Werten, die es seiner Unmittelbarkeit verleihen oder ihr entnehmen
kann, übertönt unzählige Male die objektiven Werte unseres Schaffens, die
selbständige Bedeutung seiner Erzeugnisse verblasst vor den Werten des
erzeugenden Lebens selbst; und dann wieder versinkt das Subjekt mit seiner
vorüberfliegenden Existenz, es wird, widerstandslos oder in Kämpfen,
zurückgeschoben, ein bloßes Mittel für die Sachwerte, die überpersönliche
Bedeutung unserer Arbeit oder vielmehr der Resultate unserer Arbeit.
Sucht man nun zu den mannigfaltigen Werten, deren
Summierung die Goethesche Existenz als etwas Unvergleichliches erscheinen
lässt, nach einer zentralen Formulierung - nicht für Einzelwerte, sondern
für deren Vereinheitlichung -, so möchte ich diesen Wurzel- oder Gipfelpunkt
seines Wesens so bezeichnen: der Prozess seines Lebens, die von innen
hervorbrechende, stetige Strömung seiner Triebe und Kraftentladungen war den
Ergebnissen dieses Lebens harmonischer zugeordnet, die sachlichen, von ihrem
Entstehungsprozess ganz gelösten Werte seines Werkes waren den inneren,
gelebten Werten inniger verbunden, als wir es sonst von einer Existenz des
gleichen Größenmaßes wissen.
Hier wurde eine Existenz gelebt, die an sich einen
höchsten Wert darstellte, von dem ihrer Produkte ganz unabhängig: nach der
Tiefe ihrer Geistigkeit, nach der Kraft und Freiheit ihres Idealismus, nach
der Fülle ihres Aufnehmens und Sichausströmens, nach der strengen Schönheit,
zu der er sein leidenschaftliches Verhältnis zu Dingen, Menschen und Ideen
gestaltete.
Und dieses Leben, mit alledem nur von seinem
individuellen Gesetz gelenkt, seinen eigenen Ausdrücken nach in allem Tun
nur einem Spieltrieb und Liebhabertum folgend, - schuf hiermit Kunstwerke,
wissenschaftliche Erkenntnisse, Deutungen des Lebens, von einer so reinen
Sachlichkeit, solcher Treue gegen den Gegenstand, so objektiver Vollendung,
als wäre alles dies sozusagen unmittelbar aus den Gesetzen der Dinge selbst,
aus den ganz überpersönlichen Forderungen der Kunst hervorgegangen.
Der große Spalt, der unsere Existenzwerte so oft
auseinander treibt: zwischen dem subjektiven Lebensprozess, der seine
Bewährungen in sich selbst trägt und sich in seinen Zeitgrenzen vollendet,
und dem objektiven Werke, dessen Wert sich, jenseits aller Lebensbedingtheit
seines Entstehens, nach bloß sachlichen Maßstäben entscheidet - dieser Spalt
setzt sich bei Goethe nicht wie bei den meisten von uns bis in den
Wurzelgrund der Existenz fort.
In diesem letzten Fundament besaß er eine Einheitlichkeit
- keine starre, prinzipielle, sondern eine lebendige, durch unzählige
Wechselstadien und Widersprüche hindurch entwickelte -, die es ihm
gestattete, sich seinen Neigungen und Impulsivitäten gewissermaßen
unbekümmert anzuvertrauen, als müssten diese ihn von sich aus zu der
Produktion des sachlich, überzeitlich Wertvollen führen; und die in
demselben Maße, in dem dies Leben, rein als Leben, ein subjektiv vollendetes
wurde, als hätte es alle Kräfte und Werte in seine Gegenwart gesammelt, das
Werk in die Höhen hob, die wir kennen.
- Dies ist natürlich nur ein erstes und allgemeinstes
Schema seines Wesens, nur die Form umreißend, in der sich mit ihm, in
einziger Weise, die allgemeinen Menschheitswerte aufgegipfelt haben.
Aber hiermit motiviert sich das von jeher bestehende
Gefühl, dass wir an Goethe mehr haben als die Summe seiner Werke.
Nicht im Sinne des ungeheuren biographischen Materials,
das ja, von dem Bedürfnis tieferen Verstehens her gesehen, eigentlich neben
seinen Werken steht; kennten wir nämlich auch das ganze Milieu, alle
Modelle, die gesamten äußeren »Anregungen« zu jedem seiner Werke, so würden
wir tatsächlich darüber alles dasjenige wissen, was eben nicht goethisch
ist, was also das Spezifische der Leistung, um dessentwillen wir uns
überhaupt um sie kümmern, gerade nicht enthält.
Vielmehr, wodurch er uns mehr ist als die Schöpfer, die
für uns nur in der Summe ihrer Werke bestehen, das ist - kurz und etwas
paradox ausgedrückt - das Bewusstsein, jedes dieser Werke und Worte sei von
Goethe.
Jener Wert, der dem geistigen Erzeugnis von seinen rein
sachlichen Normen her zukommt, wird hier aufgenommen, genährt, gesteigert
von dem Strom des persönlichen Lebens, der unmittelbar aus eigener Quelle
fließt.
Dadurch, dass jede seiner Äußerungen in einer unerhörten
Einheit und Kontinuität aus der rein selbstgesetzlichen Innerlichkeit dieses
Lebens quillt, haben sie alle untereinander, bei aller Mannigfaltigkeit, ja
Gegensätzlichkeit ihrer Inhalte und auch ihrer Werte, eine organische
Beziehung zueinander, als gehörten sie demselben Blutkreislauf zu; und
dadurch wird gewissermaßen jede einzelne um die Totalität aller bereichert.
Dass wir Goethe als ganzen haben, das enthebt jedes Werk
und jedes Wort von ihm der Isoliertheit des Wertes, der nur seinem
Sachgehalt zukäme.
Wie Goethe nun einmal als Gesamterscheinung und
unvergleichlicher Besitz der deutschen Kultur vor uns steht, ist sein
einzelnes Werk, in seinem letzten Sinne und seiner Bedeutung für uns, weit
weniger aus der Gesamtheit der Lebensleistung gelöst, als es bei Kunstwerken
sonst der Fall ist.
Mehr als anderen spüren wir diesem Menschen gegenüber,
von dem wir unmittelbar und mittelbar wohl mehr wissen als von irgendeiner
historischen Persönlichkeit, die Macht und Einheit des Lebensprozesses als
solchen, dem jede Äußerung entsprossen ist; so dass wie durch diese
gemeinsame Wurzel hindurch jede einzelne mit dem Kern oder der
Entwicklungsreihe aller anderen organisch verbunden und dadurch mit einer
Weite und Tiefe von Beziehungen und geahnten Bedeutungen, einem Reichtum
gelebten Lebens ausgestattet ist, wie keine andere Erscheinung der
Geistesgeschichte es in gleichem Maße besitzt.
Dass nun aber Erzeugnisse, so aus rein innerlichen
Wachstumsnotwendigkeiten heraus entfaltet, mit der Wahrheit der Dinge und
den Forderungen der Kunst so harmonisch und sachgesetzlich einstimmig sind -
das mag man symbolisch so ausdrücken, dass eben jene Wesenswurzel seiner
selbst, das ganze individuelle Gesetz seiner Existenz und Entwicklung dem
Kosmos - oder wie man die letzte Einheit alles Seins und Sinnes benennen mag
- enger oder wenigstens fühlbarer und in verfolgbareren Linien verwurzelt
war als andere Existenzen der gleichen Bedeutsamkeit.
Hiermit mögen nur die Motive vorbereitet sein, aus denen
sich eine prinzipielle Art, das Gesamtwerk Goethes aufzunehmen, entwickeln
lässt.
In seinem tatsächlichen Verhalten wie in der Betrachtung
wird Goethe von der Empfindung beherrscht, dass das Leben zu seinen höchsten
Werten gelange, wenn es nur ganz sich selbst, seinem reinen Wachstum, der
Unverfälschtheit seiner Triebe folgen wollte, statt sich von Zwecken ziehen
zu lassen, die ihm in irgendeinem, wie auch idealen Sinne von außen kommen.
Dagegen spricht nicht, dass Goethes Leben ein ungeheures
Maß von Selbsterziehung, Selbstbeherrschung, Verzicht enthält; denn dies
sind bei ihm nicht Hemmungen, Abzüge, Gegenbewegungen zur Lebensströmung,
sondern die inneren Formungen ihrer selbst, durchaus positiv ihr zugehörige
Gestaltungen.
Darum wird der ganze Umfang und die ganze Entwicklung
Goethes von einem unbedingten Vertrauen zum Leben selbst getragen, von der
fortwährenden Akzentuierung jener ersten Seite unserer Existenzwerte: der
Lebensdynamik, der Aktivität als solcher - oft mit entschiedener Abweisung
der zweiten, der Normierung durch Zwecke und Produkte, wie sie von bloßen
Sachgehalten herkommt.
»Es kommt offenbar«, so sagt er, »im Leben aufs Leben und
nicht auf ein Resultat desselben an.« Wer auf die Resultate sieht, sagt er
anderweitig, dem »geht darüber die einzelne Tat sowie der einzelne Mensch
verloren«.
Und in zwei ganz kurz abschließenden Ausdrücken: »Der
Zweck des Lebens ist das Leben selbst« und »Das Tun interessiert, das Getane
nicht.« Das eigentümliche, wohltätige Gefühl nach der Lektüre auch nur
weniger Seiten Goethes oder der Berichte über ihn, als wäre man in seiner
Lebenszuversicht gestärkt, spürte unter der eigenen Existenz einen
tragfähigeren Boden - geht sicher auf diesen in sich selbst gegründeten
Lebenswillen zurück, auf dieses tiefe, seine Äußerungen von Anfang bis Ende
durchströmende Zutrauen, dass das Leben sich um seiner selbst willen lohne.
Er selbst empfindet mit einem gewissen Stolz diese
Wirkung, wenn er, nur mit einer leichten Modifikation, sich einen »Befreier«
der Deutschen nennt; denn sie wären an ihm gewahr geworden, dass »der Mensch
von innen heraus leben müsse«.
Es war jene glücklich geniale Harmonie seiner Existenz zu
dem, was man die Wahrheit und die Schönheit der Dinge nennen möchte, woraus
ihm das Zutrauen zum Leben entsprang, und die Überzeugung, an der
Unmittelbarkeit dieses nur auf sich selbst hörenden Lebens sein Wertmaximum
zu besitzen; dass dies überhaupt an einem Menschen höchster objektiver
Leistungen möglich war, ist eben für uns ein unersetzliches Pfand für eine
letzte Zuverlässigkeit des Lebens.
Dieses, seinem eigen-innerlichen Triebe überlassene und
in dieser Gerichtetheit seiner selbst sichere Leben spricht sich in der
Abneigung gegen alle »Profession« aus.
Als den beharrenden Grundzug seiner Gesinnung bezeichnet
er es, zu keiner »Innung« zu gehören und »Liebhaber bis ans Ende« zu
bleiben; es ist ihm »zuwider« etwas als »Profession« zu treiben: »Ich will
alles, was ich kann, spielend treiben, was mir eben kommt, und solange die
Lust daran währt.« Er war einer der arbeitsamsten Menschen, von denen wir
wissen.
Seine erhaltenen Werke (außerordentlich viel
Geschriebenes hat er selbst vernichtet) bezeichnet doch nur einen Bruchteil
dieser ungeheuren Tätigkeit als Dichter und Verwaltungsbeamter, als
Naturforscher und Theaterdirektor, als Agierender in unzähligen
Angelegenheiten dritter Personen und als Kritiker.
Dass er dies alles als Liebhabertum im Gegensatz zur
Berufsmäßigkeit empfand, war nur durch jene Grundstruktur seiner Existenz
möglich: dass deren zentrale Triebhaftigkeit Inhalte, Gebilde, Leistungen
erzeugte, die typischerweise von vorbestehenden Formen, gegebenen Zielen,
äußerer Objektivität her gewonnen werden.
Gewiss hat er gelernt und von Welt so viel aufgenommen
wie wenige; aber das Entscheidende war doch immer die Selbstentwicklung
seines Geistes, die ihn sozusagen auf den Wegen seines eigenen Lebens zu den
Punkten führte, an denen er mit den Wegen der Welt - als Wirklichkeit und
Idee - zusammentraf.
In einer Epoche, in der er eine unerhörte Fülle von
Eindrücken und Erkenntnissen gewann, schreibt er, es dränge so auf ihn ein,
dass er sich dessen nicht erwehren könne - »und doch entwickelt sich alles
von innen heraus«.
Dies ist freilich der äußerste Gegensatz zu aller
»Professionsmäßigkeit«, die auf vorgebahntem Wege vorbezeichnete Ziele sucht
und die Kraftbewährung in einer von außen her gezogenen Linie festlegt.
Darum kann er, ohne dass ein Ton von Selbstvorwurf
mitklänge, es aussprechen, dass er immer nur »egoistisch« gelernt und
gearbeitet hätte; schließlich hätte ihm immer nur daran gelegen, sich selbst
auszubilden; was uns später noch näher beschäftigen wird.
Solche Ich-Sucht ist schließlich danach zu werten, was
für ein Ich es ist, das sich selbst sucht.
Und hier war es ein solches, das sich mit der Natur und
dem Werte der Dinge harmonisch wusste und fühlte, so dass es mit der
eigenen, sich selbst suchenden Entwicklung und Ausbildung gleichsam den Sinn
des Daseins selbst - in dem Maße menschlicher Beschränktheit - realisierte.
Es ist darum eigentlich selbstverständlich, dass er die
Summe seiner Leistungen: Dichterisches und Geistesgeschichtliches,
Naturwissenschaftliches und Biographisches als eine einzige Leistung ansah.
Er spricht dies in einer äußerst markanten Weise aus,
indem er am Anfang der Bekanntschaft mit Schiller, in einem für seine ganze
Geistigkeit programmatischen und höchst durchdachten Briefe an diesen
schreibt: »Da ich sehr lebhaft fühle, dass mein Unternehmen das Maß der
menschlichen Kräfte und ihre irdische Dauer weit übersteigt« - usw.
Nicht etwa ein einzelnes Unternehmen ist gemeint, sondern
die Gesamtheit seiner Lebensleistungen; aber er bezeichnet sie nicht als
»meine Unternehmen«, nicht als Mehrzahl, sondern als ein einziges: »mein
Unternehmen« - diese Leistungen, die sich zwischen Dichtung jeder Form und
dem geschichtsphilosophischen Studium der früheren Farbenlehren spannen, von
Theorien über Knochenbau bis zur systematischen Darstellung des
Dilettantismus, von der Erzählung orientalischer Geistesgeschichte bis zu
den Regeln für Schauspieler.
All dieses erscheint ihm keineswegs in dem Maße heterogen
und gegeneinander selbständig, wie wenn jedes für sich der Inhalt einer
besonderen Berufstätigkeit wäre.
Da vielmehr Interesse und Arbeit für ein jedes aus der
vollen Spontaneität und jeweiligen Entwicklungsnotwendigkeit seiner Natur
hervorgeht, so ist es eben alles miteinander verwurzelt und schlechthin »mein
Unternehmen«.
Wenn es zu seinen entscheidendsten Grundüberzeugungen
gehörte, dass die Welt in natürlicher wie in kultureller Hinsicht eine
einheitliche sei, wenn die Natur allenthalben im Kleinen genau dasselbe tut
wie im Großen, wenn ihm Orient und Okzident nicht zu trennen sind - so ist
dies gewissermaßen die objektive Spiegelung der ungeheuren Einheit seiner
Natur.
Denn auch diese bedeutet ja nicht Einschrumpfung auf eine
einseitige Enge, sondern eine unerhört weite Ausstrahlung, an der sich
gerade erst die produktive und eben damit zusammenhaltende Kraft der
zentralen Einheit bewährt.
Von hier verdeutlicht sich noch einmal das Verhältnis
zwischen Goethes Werken und seinem Leben - nicht etwa den »Umständen« dieses
Lebens, sondern seinem ganzen und inneren Prozesse.
Er hat oft ausgesprochen, dass seine Schriften von dem
Augenblick ihrer Vollendung an alles Interesse für ihn verloren hätten.
Er habe eben das, was ihn beschäftigt habe, beglückend
oder peinigend, in ein künstlerisches Bild verwandelt und sich dadurch von
dem Erlebnis des Affektes selbst befreit.
Die Befreiung aber hat sozusagen nur den Zweck, dass das
Leben nun seinen Weg weitergehen kann; es hat diese Station des Erlebens und
Erzeugens passiert, und sie hat nun keine Bedeutung mehr für den
Weiterlebenden.
Er fühlte offenbar zu seinen Werken, obgleich sie doch
gerade in objektiver Festigkeit und Zeitdauer vorliegen, so wenig Beziehung,
wie die Lebensgegenwart als solche sich auf die Pulsschläge des vergangenen
Lebens zurückbezieht; in dem weitesten Sinne des Wortes kann man deshalb
sagen, dass er der undogmatischste Mensch von der Welt war.
Er lässt seine Dichtungen, seine Maximen hinter sich, wie
wir die durchlebten Gefühle und Situationen unserer Existenz hinter uns
lassen, da sich für ihn, den schlechthin produktiven Menschen, alles
Okkupierende, Bedrängende, Vergewaltigende wie von selbst in Schöpfung und
Gebilde umsetzte, sich aus der Lebensströmung heraussetzte, damit für diese,
wie sie immer von neuem aus ihrer Quelle nachdrängte, Platz würde.
Damit ist ein sehr merkwürdiges und für das Verständnis
seiner Gesamterscheinung höchst wichtiges Doppelverhältnis zwischen ihm und
seinem Werke gegeben: einerseits ist er der Mensch einer sozusagen bis zu
seinem letzten Tage nicht rastenden Entwicklung, und da seine Dichtungen nur
Momente dieser Entwicklung in der Form der künstlerischen Objektivierung
sind, so sind sie auch jeweilig völlig abgetan und ausgeschieden: da er
»immer vorwärts strebe«, sagt er in seinem zweiundachtzigsten Jahre, so
vergesse er sehr bald, was er geschrieben habe.
Man übersehe die Begründung nicht, »da ich immer vorwärts
strebe« - also nicht der Grund gilt, der dem Schaffenden sonst oft sein Werk
zu etwas Fremdem, ja Unbegriffenem und Unheimlichem macht: dass es die Form
der Objektivität hat, als ein Selbständiges, nun wie aus eigenem Rechte,
auch seinem Erzeuger gegenüber, Dastehendes.
Aber während das unter solchem Aspekt von uns losgelöste
Erzeugnis gerade oft in unserer Lebensströmung wie ein Pfahl oder wie ein
widerwillig Mitgeschlepptes ist, kann das Geschaffene für Goethe, weil es
ganz unmittelbar der Überfluss oder die Not seines Lebens selbst war,
wirklich radikale Vergangenheit werden.
Denn es ist das Wesen des Lebens, nicht umgekehrt werden
zu können wie eine mathematische Gleichung, und keine Unveränderlichkeit
bewahren zu können wie ein Energiequantum, sondern sich schlechthin nach
vorwärts zu wandeln.
Derselbe Grund aber, auf den der Radikalismus dieser
Ablösung des Werkes zurückgeht, verknüpft es nun andererseits in ebenso
einzigartiger Weise dem Leben.
Je mehr ein Inhalt, ein Produkt, ein Objektiv-Werdendes
wirklich sich der letzten Lebensquelle entformt, wirklich »das Leben selbst«
ist, desto entschiedener zeigt sich daran das doppelte Verhältnis: dass es
einerseits mit dem Subjekt solidarisch, nur aus der Totalität seiner
Existenz verständlich ist, andererseits wegen jener Zeitgebundenheit des
Lebens eine bloße Durchgangsstation ist, zum Überwundenwerden bestimmt, in
dem Augenblick seiner Verwirklichung auch schon für dieses Leben ein
Versinkendes, Vergehendes.
Nur unter diesem Doppelaspekt, der ersichtlich die
Entfaltung einer ganz einheitlichen Grundstruktur ist, kann das Verhältnis
zwischen Goethes Leben und Goethes Werken voll erfasst werden.
Dass der jeweilige Inhalt seines Lebens sozusagen nichts
Abgesondertes, Isoliertes war, sondern die Wellenhöhe, zu der sich seine
Lebenstotalität gerade jetzt hob, ist der tiefere Grund und die Schönheit
eines Zuges, den man namentlich seinen späteren Jahren zum Vorwurf zu machen
pflegt: der »Kühle« seines Sichgebens, Sichäußerns.
Er lebt eben als Ganzer in jeder Äußerung, und eben dies
gibt ihr die wundervolle Temperierung, verhindert das Mitgerissenwerden in
die Einseitigkeit des momentanen Inhalts.
So viel Eruptives, an den Moment Gebundenes, ja
Launisches sich in seinem Leben und seinen Äußerungen finden mag, so
empfindet man doch, dass das ganze Leben nie sein Übergewicht über das
gerade zur Oberfläche gehobene Element verloren hat, dass das Verhältnis des
Ganzen zum Teil prinzipiell immer richtig geblieben ist: seine »Kühle« ist
nichts anderes als dieses Aufwiegen der Lebenseinzelheit durch die
Lebensganzheit.
Je mehr und voller dies Leben wurde, desto geringer wurde
ersichtlich das Gewicht der Einzelheit, desto kühler also muss er all denen
erscheinen, die, gegen jene Proportion rücksichtslos, die ganze gestaltlose
Lebensintensität in die jeweilige Einzelheit einschießen lassen und damit
freilich ein gewisses Wärmephänomen erzeugen.
Dies ist durchaus kein Widerspruch gegen das sonst
Hervorzuhebende: dass Goethe, nach seinem eigenen Ausdruck, »das Leben nicht
teilte«; weil er nie Erstarrtes innerlich mitschleppte, sondern seine
Existenz eine in jedem Augenblick von ihrem letzten Grunde her bewegte war,
so war er in jedem Augenblick wirklich »der Ganze«, war selber so, wie er es
von Homer sagt: »Der Eine, der sich in Viele - Teilt und einer jedoch, ewig
der Einzige bleibt.« Aber dieses Ganze war keine gleichsam formlose Masse,
wie wir es oft an unbeherrschten Menschen empfinden, wenn sie »sich ganz
geben«.
Das eben bedeutete die fortwährende »Ganzheit« seines
Lebens, dass er jedem Inhalt gab, was ihm in Rücksicht dieser Ganzheit, als
deren jeweilig angemessener Ausdruck zukam.
Und aus dem gleichen Grunde bekräftigt sich das vorhin
Angedeutete: dass das einzelne Werk Goethes allerdings durch unser
Bewusstsein, es sei ein Werk Goethes, eine höhere Bedeutsamkeit erhält, als
es sie in anonymer Vereinzelung besessen hätte.
Als Aberglaube und Idolatrie muss dies dem Rationalismus
erscheinen, für den nur Einzelheiten und Elemente wirklich sind, Ganzheiten
nur als Zusammensetzungen aus diesen, restlos wieder in sie auflösbar und
nur in dieser Auflösung »begriffen«.
Wenn aber irgendeine historische Erscheinung es
nachdrücklich machen kann, dass der Weg zum Begreifen des Lebens der
umgekehrte ist: vom Ganzen zum Einzelnen, von der Einheit zum Element - so
ist es Goethe.
Das Unvergleichliche seiner Gestalt für uns ist doch
dies: wir haben die Erzeugnisse seines Schaffens nicht einfach in der Form
der Objektivität als einen daliegenden Inhalt mit gegeneinander
abgeschlossenen Teilen, sondern wir haben all diese zugleich in der Form des
Lebens, weil wir seine Person, seine Ganzheit, die Entwicklung und Strömung
seines Lebens kennen, nachleben, besitzen.
Es handelt sich nicht nur darum, dass jedes der Werke
durch das andere interpretiert oder, wie ich es vorhin ausdrückte, um das
andere bereichert werde; sondern den Lebensprozess selbst fühlen wir, der
sich in diesen Inhalten niedergeschlagen hat, fühlen ihn in dem
Geburtsmoment seiner Inhalte, die sozusagen nach allen Seiten hin offene
Türen zu ihm haben.
Seine Werke sind nicht nur die fertigen, allenfalls sich
untereinander tragenden Elaborate der Prozesse, die sie erzeugten oder deren
Inhalt sie waren; sondern sie sind außerdem sein Leben selbst, wir wissen
das Unbeschreibliche des kontinuierlich strömenden Lebens an ihnen, durch
sie, in seinem Gegensatz gegen alle Form des Objektiv-Gewordenseins.
Dies alles bedeutet nichts anderes, als dass das einzelne
nur aus der Totalität begriffen und in dieser Zugehörigkeit über seinen
unmittelbaren Inhalt hinausgeführt wird; wobei die Ganzheit des ihm
einwohnenden oder es umstrahlenden Lebens natürlich nicht dessen zeitliche
Erstrecktheit und Inhaltssumme bedeutet, sondern die Einheit, die in
fortwährendem Wandel lebt und von der jeder ihrer wechselnden Momente
dennoch das Ganze ist.
Diese Form des Lebendigen überhaupt - im Gegensatz zu dem
Schöpfer, bei dem sich das Erzeugnis von vornherein vom Leben abgelöst und
ihm gegenübergestellt hat - ist es, die uns, über allen mechanistischen
Rationalismus hinaus berechtigt, ja verpflichtet, das einzelne Werk und Wort
wirklich daraufhin, dass es dem Gesamtleben Goethe zugehört, in einer
volleren Bedeutung, einer tieferen Weihe, gleichsam einem größeren Umfang
und Inhalt hinzunehmen, als stünde das genau Identische in einem geringeren
Leben oder in einer Isolierung gegen das schöpferische Leben überhaupt.
Die Weltgeschichte des Geistes kennt keine
Persönlichkeit, die mit einer so reichen und nach allen Seiten hin
ausstrahlenden Produktivität den Eindruck einer so einheitlich umfassenden,
bruchlosen, über alle Einzelheiten als solche erhabenen Lebensganzheit
erzeugte.
Vergebens, diese Einheit an seinen Produkten selbst, an
den Inhalten seines Dichtens und Forschens zu suchen, sie mit Begriffen
fixieren zu wollen.
All ihre Mannigfaltigkeiten und Widersprüche lassen aber
ihre vitale Einheit fühlen: dass sie die Pulsschläge oder
Entwicklungsmomente eines Lebens sind, dessen Einheit nicht starr an
irgendeinem Stoff haftet, sondern gerade in dem Sich-Hindurchleben durch
eine Unendlichkeit von Zuständen besteht: »Und so teil ich mich, ihr
Lieben - Und bin immerfort der Eine.«
Selbstverständlich ist Goethe nicht der einzige Schöpfer,
bei dem die einzelne Äußerung und Schöpfung durch die so gedeutete Strömung
des Lebensganzen fühlbar getragen wird; allein das Maß, in dem sich bei ihm
die Gegensätze spannen, die nach einer geheimnisvollen, dem Leben allein
vorbehaltenen Formel dynamisch zusammengehalten werden - dieses Maß ist
schlechthin einzig.
Man könnte an Michelangelo denken, dessen ungeheure, aus
jedem Werk herausglühende Lebensdynamik und Lebenstiefe die tragische
Gegensätzlichkeit letzter Lebenswerte in ein künstlerisches Schauen und
seelisches Fühlen zusammenzwingt.
Allein in ihm sind die Gegenrichtungen: des Irdischen und
des Transzendenten, der leiblichen Schwere und der sehnsüchtigen
Geistigkeit, der sinnlichen Leidenschaft und der religiösen Erlösung - von
vornherein der Inhalt von Leben und Werk, ihr Kampf, der doch die Parteien
voraussetzt, ist die angebbare, anschauliche Einheit dieser beiden.
Damit ist er wohl gigantischer,
metaphysisch-dramatischer, erschütternder als Goethe, aber seine Probleme,
man möchte sagen, sein Problem ist in sich geschlossen, es gibt sich nicht
wie das Goethesche an alle Extensität des Daseins hin, so dass es, sozusagen
gleichmäßig, künstlerisch, wissenschaftlich, praktisch angegriffen werden
müsste.
Näher kommt an das Goethesche Maß von Mannigfaltigkeiten
und Entwicklungen, mit denen eine einheitliche Lebensdynamik zu ihrer
zeitlichen Verwirklichung drängt, noch Beethoven heran.
Auch bei ihm ist das unsäglich Erleuchtende und
Ergreifende, dass die äußersten Gegensätze der Lebensströmungen sich in eins
schlingen und gegenseitig deuten, weil sie die Stadien einer allmählich
durch sie hindurch sich entfaltenden Lebenseinheit sind.
All jenem vereinzelnden analytischen Rationalismus zum
Trotz sind uns die harmlosen ersten Sonaten und Trios Beethovens dadurch in
eine besondere Gefühlsbedeutung gerückt, dass wir die fünfte Symphonie und
die russischen Quartette kennen.
Und diese Entwicklung von schöner Heiterkeit zu dem Ernst
der Größe steht nun wieder in einer Wechselwirkung des Eindrucks mit dem
tragischen Sichselbstsuchen der Seele in den letzten Cellosonaten und
Quartetten.
Ähnlich ist es bei Rembrandt, dessen ganze Alterskunst,
so selbstgenugsam und durch sich selbst erschütternd sie wirkt, dafür eine
dennoch aus dem isolierten Einzelwerk nicht begründbare Verstärkung gewinnt,
wenn man sie als das letzte Wort eines Lebens weiß, dessen frühere Epochen
sich in den Saskiabildern und der Nachtwache aussprachen.
Aber auch bei diesen beiden, deren einheitlich strömende
Vitalität gleichfalls das begrifflich polar Entgegengesetzte in der Form der
Entwicklung kontinuierlich zusammenschließt, bleibt das Problem auf das
Kunstgebiet beschränkt.
Das handelnde Dasein verlangt bei Beethoven gar keine
fühlbare Einheit mit dem künstlerischen; denn bei aller inneren Vornehmheit,
bei aller sittlichen Unbeugsamkeit und aller Güte seines Wesens hat doch
sein Verhalten innerhalb der praktischen Welt etwas Unkultiviert-Abruptes
etwas Disharmonisch-Zufälliges nie ganz überwunden, das praktische und das
künstlerische Phänomen Beethoven scheinen oft von zwei ganz verschiedenen
Grundströmungen des Lebens genährt.
Von Rembrandt wissen wir in dieser Hinsicht gar nichts.
Sein Leben, soweit es nicht irgendeine Beziehung auf
seine Kunst hatte, scheint eigentlich an dieser und dem sie tragenden Leben
nur wie ein rudimentäres Organ oder wie ein Parasit zu hängen.
Natürlich ist jeder große Künstler - was uns noch später
wichtig werden wird - mehr als bloß Künstler, grade bei den größten spüren
wir eine schöpferische Macht schlechthin, für die das besondre Talent nur
der gewissermaßen zufällige Auslass ist.
Rückstandsloser aber als bei andern ist bei Rembrandt
jene, ich möchte sagen, undifferenzierte Kraft und Umfänglichkeit der Seele
von diesem Kanal aufgenommen, nirgends überschäumt sie die Form, zu der
grade das spezifisch malerische Talent sie prägt.
- Immerhin, es ist bei diesen Künstlern die
Lebensströmung fühlbar, in der die einzelne Leistung steht und die deren
Grenzen nach einem Persönlichkeitszentrum hin öffnet, ihr damit neuen Umfang
und neue Bedeutung gewährend - wenngleich die in diesem Zentrum
zusammenschießenden und von ihm wieder ausgehenden Strahlen nicht die
Mannigfaltigkeit wie in der Goetheschen Existenz haben.
Prinzipiell anders aber verhält sich der andere
künstlerische Typus, den man etwa auf die Namen Shakespeare, Velasquez, Bach
taufen kann.
Hier hat das einzelne Werk die Nabelschnur völlig
zerschnitten, die es mit seinem Erzeuger verband und die ihm bei jenen
anderen auch aus dessen Weiterleben und Gesamtexistenz noch - für den
Aufnehmenden - ein eigentümliches Mehr an Eindruck und Bedeutung zufließen
ließ.
Ich lasse dahingestellt, ob dies nicht irgendwie
modifiziert wäre, wenn wir z. B. von Shakespeare mehr außerkünstlerische
Dokumente seiner Persönlichkeit und seiner Entwicklung besäßen, und spreche
nur von dem tatsächlichen Bilde, als das alle diese Schöpfer für uns
bestehen und dessen Bestimmung durch das, was von ihnen zufällig überliefert
ist und zufällig nicht überliefert ist, ein unvermeidliches Schicksal ist.
Dennoch glaube ich, dass auch in rein sachlicher
Beziehung für die Werke dieses Künstlertypus jeweils ein ganz anderes Maß
von Abgeschlossenheit gegen die Totalentwicklung ihres Schöpfers besteht als
bei Michelangelo und Rembrandt, bei Goethe und Beethoven.
Ich begehe zur Charakterisierung dieses immerhin nur
relativen Unterschiedes eine absichtliche Übertreibung, indem ich ihn dahin
verabsolutiere: gegenüber einem Drama Shakespeares, einem Porträt von
Velasquez, einer Bachschen Cantate ist es gleichgültig, dass sie von eben
diesen Schöpfern stammen; wäre jedes einzelne Werk anonym und ohne
irgendeinen gewussten Zusammenhang mit einem andern desselben Künstlers
überliefert, so würde sein Eindruck um nichts geringer sein.
Hier umfasst jedes Werk nur sich selbst, es streckt nicht
die unsichtbaren Hände aus, mit denen es sich mit den andern zu einer Kette
schließt und die Strömung eines Gesamtlebens jenseits der Werke, gebend und
empfangend, durch sich hindurch leitet.
Dies aber gilt, natürlich in sehr abgestuftem Maße, für
jenen andern Typus von Künstlern, die man wohl Subjektivisten genannt hat.
Über diese Differenz bedarf es durchaus der Klarheit,
weil sie über die Attitüde entscheidet, mit der man dem Werk Goethes
gegenübersteht.
Für die rein ästhetische Betrachtung scheint das
Kunstwerk dastehen zu sollen, als wäre es vom Himmel gefallen.
Denn es ist doch allerdings sein Wesen, dass es die
unendlichen Fäden, die jedes reale Ding mit allem sonstigen realen Dasein
verbinden, abgeschnitten und in sich selbst zurückgeknüpft hat; was seinem
Reiz und seiner Bedeutung aus andern als den in ihm selbst entspringenden
Quellen zufließen möge: aus historischen oder religiösen, anekdotischen oder
ethischen, personalen oder sensuellen - ist insofern unehrlicher Erwerb; es
ist eine selbstgenugsame Welt und es hat so Recht wie Pflicht, gegenüber der
Welt und den Welten jenseits seines Rahmens in undurchbrechlicher
Begrenztheit zu verharren.
Diese Reinheit des Kunstbegriffs ist uns heute ein schwer
errungener Besitz und er darf unter keinen Umständen wieder preisgegeben
werden.
Sie bedeutet auch keineswegs Verarmung des Inhalts
zugunsten eines leeren Formalismus, denn jeder Weltinhalt kann mit seinem
vollen Reichtum in irgendeine Kunstform eingehen; nur, ist dies einmal
geschehen, so dürfen in die damit bezeichnete Grenze sich nicht diejenigen
Bedeutungen und Anziehungen einschleichen, die dieser Inhalt besitzt,
insofern er außerhalb der Kunst besteht.
Solche Lauterkeit und Geschlossenheit des Kunstwerks in
sich selbst also unbedingt festhaltend, kann man dennoch überzeugt sein,
dass das Kunstwerk als Ganzes nun vom Leben umgriffen wird, in einem
Lebensgrunde wurzelt, dessen Kräfte seinen Rahmen, seine Einheit und
Ganzheit nirgends durchbrechen und doch darin einströmen und es tränken.
Die vollkommene innere Geschlossenheit und die
gleichzeitige Verbundenheit mit einer persönlichen Entwicklung und dem
Kräftestrom eines Lebens besteht hier in einer mit diesen räumlichen
Gleichnissen nicht recht zu veranschaulichenden Art.
Das Kunstwerk verhält sich insofern ähnlich wie die
Landschaft: um wirklich »eine Landschaft« zu sein, muss ein Stück des
natürlichen Daseins zu einer festen, umgrenzten Einheit erschaut, aus dem
allumschließenden Naturzusammenhange herausgehoben werden; und dennoch ruht
ihre Bedeutung für uns auf dem nie aussetzenden Gefühl, dass die unendlichen
Strömungen dieses Zusammenhanges, auch in ihr lebendig, sie absatzlos dem
All-Leben verbinden.
Dieser Doppelaspekt des Kunstwerks: ein absolut
Selbständiges zu sein, aus eigenem Zentrum gewachsen und verständlich, und
zugleich ein Moment einer umgreifenden, es durchströmenden und in ihm
fühlbaren Lebensentwicklung - dieser lässt durch die stärkere Betonung des
einen oder des anderen jene Reihung der Künstler entstehen, von dem Extrem
desjenigen Werkes an, das von dem erzeugenden Gesamtleben wie durch eine
Isolierschicht getrennt ist, nirgends durch ein positives Symptom verratend,
dass dahinter oder darin etwas ist, was es nicht verrät, - bis zu dem
anderen Extrem, wo das Werk völlig in die Lebenssphäre seines Erzeugers
eingetaucht ist, mit all seinen anderen Produkten kontinuierlich verbunden,
wie jede Meereswelle mit jeder anderen.
Diesen Pol der Reihe bezeichnet Goethe.
Gewiss steht jedes seiner dichterischen Werke in der
Umschriebenheit und Selbstverantwortlichkeit, in der artistischen
Objektivität, die überhaupt das Wesen jedes Kunstwerks ausmacht.
Aber er ist der monumentale Beweis für das logisch so
schwer Ausdrückbare: dass die Gelöstheit des Kunstwerks und seine
Lebenswurzelung sich nicht widersprechen.
Für die Teile seines Werkes gilt, was er von dem
geschichtlichen Kosmos des Geistes überhaupt aussagt: »Nur wer Hafis liebt
und kennt, Weiß, was Calderon gesungen.« Oder genauer: Nur wer das Ganze
»liebt und kennt«, wird des Einzelnen in seinem ganzen Wesen, Wert und Fülle
inne, so sehr das Einzelne, weil es Kunstwerk ist, selbst ein Ganzes ist.
Was ich soeben als geistesgeschichtliche Erfahrung
aussprach: dass der Künstler eine äußerste Höhe auch rein als Künstler nur
dann erreicht, wenn er mehr als nur Künstler ist - das ist nicht nur eine
letzte Formel für Goethes Existenzwert überhaupt, sondern gilt
übertragener-weise auch für sein Werk.
jede seiner Dichtungen besitzt ihre äußerste Bedeutung
für uns erst, wenn wir sie innerhalb der Totalität eines Schöpfertums und
Lebens erblicken, das sehr viel mehr als ein nur künstlerisches war.
Hier liegt die eine Begründung dafür (die andere wird uns
später beschäftigen), dass seine wissenschaftlichen, kritischen, ja
gelegentlich sogar seine poetischen Arbeiten im höheren Alter einen
autobiographischen Ton annehmen.
Von den sachlichsten Angelegenheiten redet er mit
Rücksicht darauf, wie er sie erlebt hat, welche Bedeutung für sein Leben sie
haben, das Subjekt Ich gewinnt ein eigentümliches Übergewicht.
Er drückte damit nur den Zusammenhang aus, in dem jede
seiner Äußerungen zu seiner Lebensganzheit stand und der ihm selbst mit
steigendem Alter immer klarer geworden war.
Mit dieser betonten Beziehung auf sich selbst, seine
Tendenzen und seine Entwicklung realisierte er jene Charakteristik seiner
Gesamtleistungen Schiller gegenüber: »Mein Unternehmen«, - offenbarte, dass
all dies fast unabsehbar Mannigfaltige dadurch auch eine tiefgelegene
sachliche Beziehung gewann, dass es die Schöpfung eines einzigen,
kontinuierlichen, eigengesetzlichen Lebens war; oder vielleicht
erschöpfender: jede einzelne Schöpfung war dieses ganze Leben, erfasst in
dem Augenblicke, wo es sich gerade zu dieser Form, dieser Wellenhöhe hob.
Ich habe schon angedeutet, dass dieses innere Verhältnis
der Erscheinung Goethe sich gewissermaßen an dem Verhältnis dieser
Erscheinung zu der kosmischen Ganzheit wiederholt.
Das Entscheidende war, dass die einzelne Äußerung,
Schöpfung, Bewährung aus dem Gesamtleben der Persönlichkeit in einer
innigeren und fühlbareren Unmittelbarkeit hervorging, dass dadurch alle
Äußerungen entschiedener organisch verbunden und aufeinander angewiesen
waren, als bei irgendeinem seiner Pairs im Bereiche der Kunst.
Nun aber empfinden wir an ihm, die Ganzheit seines
Denkens, Erlebens, Schaffens zu überblicken versuchend, eine analoge
Einwurzelung eben dieser Existenz in das kosmische Dasein.
Damit ist nichts Mystisches gemeint, wenigstens nicht
anders, als es überhaupt im Verhältnis einer individuellen Existenz zu dem
Weltganzen enthalten ist.
Selbstverständlich ist jedes Leben diesem Ganzen
verhaftet, ist eine Frucht ebenderselben Triebkräfte, die auch jede andere
Daseinsforderung begründen, und geht auf die letzte Einheit und
Gesetzlichkeit des Kosmos überhaupt zurück.
Aber mit unverkennbaren Abstufungen unterscheiden sich
die Erscheinungen danach, bis in welche Tiefe hinein sie uns diesen
Zusammenhang mit den Gründen alles Seins fühlbar machen.
Insbesondere für die geistigen Erscheinungen gilt dies,
die nicht nur Wirklichkeit und Wirkung sind, sondern ein ganz neues -
vielleicht entfernteres, vielleicht näheres - Verhältnis zum Dasein
aufbringen, ein Verhältnis des Symbols, der Spiegelung, der Zusammenfassung
oder wie man es nenne.
So erzeugen denn manche Wesenheiten den Eindruck, als ob
der tiefste und allgemeinste Sinn und Rhythmus des Daseins in ihnen
deutlicher als in anderen zum Ausdruck käme, als ob ihre Gestalt und
Entwicklung die Gesetzlichkeit des Ganzen unmittelbar anschaulich machte.
Mag das an der Einstellung unseres Blickes liegen, die
uns nicht fähig macht, in jedem Wesen überhaupt das Walten des göttlich
All-Einen unmittelbar festzustellen, jedes einzelne als Analogie des
Weltdaseins zu begreifen.
Allein, dass dem so beschaffenen Blick das eine Wesen als
das reine Gefäß der tiefsten Seinskräfte erscheint, und als klänge es von
sich selbst aus harmonisch zu der Tonart der Weltsymphonie überhaupt,
während andere Wesen ihm nur wie trübe Spiegel der Wirklichkeit vorkommen
und als beschränke sich ihr Zusammenhang mit der Ganzheit und Einheit des
Seins auf das Notdürftigste - das ist dennoch ein Unterschied in diesen
Wesen selbst.
Und das Gefühl, jenen ersten zuzugehören, muss in Goethe
das wundervolle Zutrauen zu Welt und Leben, zu dem eigenen Leben erzeugt
haben, von dem ich sprach, während es zugleich seine wundervolle
Bescheidenheit und Selbstbegrenzung trug.
Denn alle Anmaßung, aller Größenwahn beruht ja darauf,
dass der Mensch sich von dem Gesamtsein losgerissen hat, dass die Harmonie
mit ihm, die des Menschen Stellung zu ihm und sein Bewusst sein von dieser
»richtig« macht, verloren ist.
Dass alles, was Goethe gesagt und getan hat, mit all
seinen Ungleichmäßigkeiten und inhaltlichen Widersprüchen, in
unvergleichlichem Maße zum Bilde eines Menschen zusammengeht, heißt doch, in
anderer Richtung gesehen, dass all seine Äußerungen in einer unmittelbareren
Art als wir es bei Schöpfern objektiver geistiger Werte gewöhnt sind, aus
den Trieben, Kräften und Gesetzen seiner innersten Lebensentwicklung
hervorgegangen sind.
Und das konnten sie mit dem Erfolge, den wir wissen, weil
bei ihm in einem ganz unvergleichlichen Maße jene Konsonanz des
individuellen Lebens mit dem kosmischen stattfand, jenes spürbare
Hinabreichen in die tiefsten Schichten von Welt und Idee, deren
Gesetzlichkeiten und Formen durch die scheinbar sich allein überlassenen
Bewegungen seiner Seele hindurchklangen.
Von hier ist die ganze Tiefe und Weite des Goetheschen
Weltverhältnisses zu erfassen, ist zu begreifen, dass er sich selbst einen
»Liebling der Götter« nennen durfte.
Er selbst hat die Bedeutung dieser kosmischen Harmonie
seines Wesens sehr wohl gefühlt.
»Unendlich viel wert« ist es ihm, aus Schillers Urteil
über den Meister sich zu vergewissern, dass »ich, was meiner Natur gemäß
ist, auch hier der Natur des Werkes gemäß hervorgebracht habe«.
Mit unzweifelhafter Beziehung auf sich selbst spricht er
von »besonders begabten Menschen«, die »zu allem, was die Natur in sie
gelegt hat, in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder suchen und
dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen steigern«.
Und als ein Höchstes preist er es, wenn zu dem innerlich
Erzeugten und Notwendigen die Natur außer uns »ja und Amen sage«.
Es ist ersichtlich nichts anderes, wenn er das Auge
selbst »sonnenhaft« nennt, da es doch sonst die Sonne nicht erblicken könne,
und wenn er - nun dasselbe Motiv auf die geistige Welt anwendend - vom
»Verstehen« sagt, es hieße: »dasjenige, was ein anderer ausgesprochen hat,
aus sich selbst entwickeln«.
Er hat wie wenige Menschen die Erscheinungen der
menschlichen und der äußeren Natur mit einer strengen Selbstlosigkeit, einer
hingebenden Treue und Wahrheitsliebe erforscht; und zugleich hat er -
zunächst zwar vom Dichter, aber mit ganz deutlicher Ausdehnung auf den
Menschen überhaupt - gesagt, dass ein jeder, »gebärde er sich wie er will,
immer nur sein Individuum zutage fördern wird«.
Dass ihm dies kein Widerspruch war, dass er überzeugt
war, das reine »Zutagefördern« des Individuums trüge den gleichen Inhalt wie
die objektivste Erforschung des natürlichen Seins - das eben ist das
Phänomen jener Einheit oder Parallelität zwischen seinem persönlichen Leben
und Sichentwickeln und den großen Rhythmen der Natur; es ist das, was man
das metaphysische Glück seines Wesens nennen könnte.
An diesem Punkte länger zu verweilen, ist unerlässlich,
denn an ihm treffen sich die verschiedenen Formulierungen des Urphänomens
Goethe, von dem all seine Betätigungen und Schöpfungen nur einzelne
ausgesandte Strahlen sind oder Stationen, durch die hindurch die Entwicklung
dieses letzten, an sich unaussprechlichen Geheimnisses des individuellen
Lebens sich vollzieht.
Hier ist also zuerst seines höchst merkwürdigen
Wahrheitsbegriffes zu gedenken, dessen er keineswegs nur als Voraussetzung
seines Forschertums, vielmehr zur Deutung seiner gesamten geistigen Existenz
bedarf.
»Was fruchtbar ist, allein ist wahr« - das heißt:
Wahrheit ist für ihn nicht, wie sie gewöhnlich vorgestellt wird,
Übereinstimmung zwischen einer objektiven Wirklichkeit und ihrem Spiegelbild
in unserm Bewusstsein, auch nicht, wie die Philosophie sie gefasst hat, die
Übereinstimmung unseres Denkens mit sich selbst.
Sondern dasjenige ist für den Menschen wahr, was für ihn
fruchtbar ist, das heißt, was ihn fördert, was seinem Wesen gemäß ist, was
sich seinem Sinn und Leben harmonisch anschließt.
Die Vorstellung eines Dinges ist doch nicht dessen
mechanischer Abdruck in unserer Psyche, sondern ist ein Vorgang unseres
Lebens selbst, eine Funktion innerhalb des rastlosen Bewegtseins unserer
Persönlichkeit.
Den Inhalt dieses Vorstellens nennen wir wahr - so ist
Goethes Überzeugung -, sobald sein Geschehen als solches sich fördernd,
passend, steigernd in den Gesamtverlauf unseres Lebens einfügt.
Die Wahrheit ist kein freischwebendes logisches
Abstraktum, sondern sie ist tief in das Leben des Individuums eingebettet,
für das sie eben Wahrheit sein kann.
So wird also auch hier das Grundgefühl mächtig, dass die
Welt uns nicht im Stich lässt, wenn das Leben nur den von ihm selbst
geforderten, ihm selbst förderlichen Weg geht: das Sein dementiert nie den
Gedankeninhalt als unwahr, der als Gedankenprozess, als dynamisches
Geschehen sich der Zweckmäßigkeit und Eigengesetzlichkeit des Lebens
harmonisch und erhöhend einfügt.
Die Konsonanz mit dem Kosmos, die er in sich selbst
spürt, deutet ihm auch die Wahrheit als einen Wert, in dem das Leben und das
sachliche Erzeugnis des Lebens sich nicht voneinander getrennt haben, und
mit dem der Gedanke, den das Leben als einen ihm selbst notwendigen erzeugt,
sich als dem Dasein entsprechend, das heißt eben als wahr legitimiert.
»Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur
Außenwelt,« sagte er, »so heiß' ich's Wahrheit.« Und damit bekommt das Motiv
noch einmal eine Vertiefung in noch breitere Fundamente des ganzen
Goetheschen Wesens hinein.
Denn nun ist aufs deutlichste ausgesprochen, dass der
ganze Mensch mit all seinen Bestimmungen und Beziehungen darüber
entscheidet, was für ihn Wahrheit sein kann, - nicht aber der isolierte
Verstand oder die isolierten Sinne.
Gegenüber aller zerlegenden und vereinzelnden Betrachtung
des Menschen und seiner körperlich-seelischen Kräfte hat Goethe stets auf
das leidenschaftlichste daran festgehalten, dass in jeder Betätigung der
ganze Mensch tätig ist, nur bald die eine, bald die andere Fähigkeit
gleichsam zum Kanal seines unaufhörlich strömenden Gesamtlebens machend.
Darum verlangt er gerade von dem Gelehrten, also von
demjenigen, dessen Leistung auf die objektivste Wahrheit hingeht, dass er
nicht etwa nur den Intellekt, sondern die Gesamtheit seiner seelischen
Energien in seine Arbeit einsetze: die Phantasie und das Gemüt, die
kombinatorische Spekulation und den enthusiastischen Schwung; gerade wo es
sich darum handelt, das reinste Bild der Sache zu gewinnen, muss der ganze
Mensch dazu wirken, jede vereinzelte Kraft seiner, mag sie noch so intensiv
sein, ist unzulänglich.
Ein Gräuel ist ihm stets die Lehre von den »oberen und
unteren Seelenvermögen« gewesen.
»In dem menschlichen Dasein sowie im Universum ist nichts
oben noch unten; alles fordert gleiche Rechte an einen gemeinsamem
Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das harmonische Verhältnis
aller Teile zu ihm manifestiert.« Wer dieses Grundmotiv Goethes, mit dem er
sich freilich einer fast durchgehenden Tendenz der modernen - analysierenden
und atomisierenden - Wissenschaft entgegenstellt, nicht in seinem Sinn für
die ganze Deutung des Lebens begreift, hat keinen Zugang zu der Goetheschen
Welt.
Denn dass gerade deren unendliche Mannigfaltigkeit von
dem Leitwort beherrscht ist: »Teilen kann ich nicht das Leben«, macht sie
einerseits zu einer lebendigen Welt und gibt andererseits dem individuellen
Leben jene Möglichkeit der Harmonie mit dem Gesamtsein, die Goethe in sich
so rein und stark empfand, dass er an dieser Empfindung die Aussprechbarkeit
von Welt und Leben und ihrem Verhältnis überhaupt gewann.
Dass die Elemente nicht in Sonderexistenz nebeneinander
liegen, sondern dass in jedem von ihnen das Ganze da ist und sich offenbart
- das eben macht den Unterschied des Lebendigen gegen allen Mechanismus aus;
und dieses Ganzsein des einzelnen Lebendigen macht es zu einem Gegenbild des
Gesamtseins.
Wie das Ewige, das Universum sich in jedem Wesen »
fortregt«, so regt sich das Ganze eines Lebens in jedem seiner Teile; und
nichts andres als dies ist jene Harmonie und Einordnung, durch die das sich
selbst überlassene, sich selbst gehorsame Leben Wahrheit, d. h.
Übereinstimmung des lebendigen Denkens mit der objektiven Welt erzeugt oder,
in einem tieferen Sinne, selbst schon Wahrheit ist.
Aber die ungeheure Originalität und Tiefe, mit der hier
die Einseitigkeiten und Gegensätzlichkeiten des Lebens selbst, auch die
scheinbar unentbehrlichsten, zugunsten seiner Totalität und seines
Totalverhältnisses zum Dasein überwunden werden, leuchtet erst aus der
Bedeutung des Irrtums auf.
Was wir Wahrheit nennen, ist für Goethe nur der geistige
Ausdruck, die geistige Formung des richtigen, vom Leben selbst geforderten
Verhältnisses zur Welt: die Vorstellung, die zu haben uns in diesem
Verhältnis nützlich ist, heißt uns Wahrheit.
Dieser Wahrheitsbegriff aber ist so weit und hoch
gespannt, dass er auch dasjenige, was in singulärem, äußerlichem, bloß
intellektuellem Sinne Irrtum ist, noch einzuschließen imstande ist -
natürlich ebenso auch das, was in diesem niedrigeren Sinne Wahrheit ist.
»Ans Wahre wie ans Falsche«, sagt er an einer
entscheidenden Stelle, »sind notwendige Bedingungen des Daseins gebunden.«
Und in ebendiesem Sinne sagt er, dass für den einen falsch sein müsse, was
für den anderen wahr sei, weil die Verschiedenheit der Menschen eben ein
ganz verschiedenes, reales Verhältnis zum Dasein fordere, das sich dann in
der Gegensätzlichkeit ihrer Wahrheiten ausspräche.
Ebendasselbe ist gemeint, wenn er von individuellen
seelischen Beschaffenheiten, die doch Anschauungen und Überzeugungen
mitbedeuten, sagt, sie seien »irrtümlich nach außen, wahrhaftig nach innen«.
Unzweifelhaft also steht ihm ein Wahrheitsbegriff vor
Augen, der den gewöhnlichen relativen Gegensatz von Wahrheit und Irrtum
umgreift, ein höherer Sinn von Wahrheit, der gar nicht unmittelbar nach dem
Inhalt und dessen Prüfung an den allgemeinen Methoden und Kriterien fragt,
sondern danach, ob das Denken dieses Inhalts als ein Pulsschlag des Lebens
in Sinn und Wert und Förderung dieses Lebens hineingehört oder nicht.
Verschwistert oder vielleicht sogar subordiniert ist dies
seiner ganz allgemeinen Maxime über das organische Leben: dass in ihm
»selbst das Unnütze, ja das Schädliche selbst, in den notwendigen Kreis des
Daseins aufgenommen wird (um) ins Ganze zu wirken«; so dass er an vielen
Stellen davor warnt, das sogenannte Abnorme in den Naturgebilden in einen
absoluten Gegensatz zu dem Normalen zu stellen, da eine höchste Norm eben
jenes wie dieses umfasst.
Von Abnormitäten könne man zwar sprechen, »wenn die
Einzelheiten obsiegen und auf eine - zufällig scheinende Art sich
hervortun«.
Allein auch dies sei mit dem Normalen »nah verwandt«, da
doch schließlich alles »von einem Geist belebt ist«.
So kann ein Gedanke wohl falsch sein, wenn das Besondere,
Einzelne seines Inhalts sich gegen das Ganze und Allgemeine absperrt, in
eine Sackgasse verläuft und erstarrt; dennoch kann der gleiche Inhalt in
jenem höheren Sinne richtig sein, wenn er »ins Ganze wirkt«, wenn ihn zu
denken das Leben seines Trägers belebt und fördert, nicht nach einem
momentanen Interesse, - das bedeutet Selbsttäuschung und Abschneiden der
Weiterentwicklung -, sondern nach der zentralen, definitiven, alles einzelne
übergreifenden Strömung dieses Lebens.
Die unmittelbare Konsequenz, wie Goethe selbst sie
ausspricht, ist, dass ein jeder »seine eigene Wahrheit haben kann«.
Denn jeder Mensch, insoweit er sich vom andern
unterscheidet, hat auch ein unterschiedenes Verhältnis zur Welt.
Es bedarf also vielleicht besonderer Verhaltungsweisen,
besonderer Voraussetzungen, einer besonderen, sein Leben fundierenden
»Wahrheit«, um dieses Leben, dieses Verhältnis zur Welt zu der höchsten
Förderlichkeit zu bringen.
Ersichtlich bezieht sich dies nur auf die letzten,
prinzipiellsten Überzeugungen auf allen Gebieten; in Beziehung auf die
singuläre, empirische Realität ist die Interessengleichheit der Menschen
groß genug, um ganz allgemeine, durchgehende Wahrheiten gelten zu lassen.
Aber Goethe ist weit entfernt, selbst jene Spannung der
individuellen Wahrheiten gegeneinander als isolierendes Aussereinander
anzusehen.
Sondern, da eine jede jeweils das »richtige«,
vollkommenste Leben ihres Subjekts ausdrückt, so gehören sie, über alle
logische Unvereinbarkeit ihrer Inhalte hinweg, dem einen großen Leben an,
dem »Ewig-Einen, das sich vielfach offenbart«, der einen Menschheit, die,
seinem Ausspruch nach, gerade durch diese einander entgegenstehenden und
einander ergänzenden Überzeugungen erst ihre Einheit gewinnt.
Ich habe mich bei diesem Wahrheitsbegriff so lange
verweilt, nicht wegen der Bedeutung, die er etwa an und für sich als
philosophische Theorie besitzt, sondern weil er die Grundstellung des
Goetheschen Wesens zu Werk und Leben besonders eindringlich macht.
Welch ungeheures Gefühl der Einheit zwischen dem
persönlichen Leben und der Objektivität der Dinge muss zugrunde liegen,
damit ganz allgemein behauptet werde: das Bild der Dinge, die Wahrheit, die
doch irgendeine Art Nachzeichnung jener von uns unabhängigen Objektivität zu
sein scheint, sei in Wirklichkeit nichts anderes, als eine Bewegung dieses
Lebens selbst, nichts anderes, als der Inhalt des Prozesses, mit dem das
Leben sich selbst fördert, seine zentralste, vielleicht ganz individuelle
Kraft zu ihrer Höhe, ihrer Gesundheit, ihrem Selbst-Sein bringt! Die
Erfahrungen an den Menschen, die er um sich sah, können ihn diese Maxime nur
äußerst fragmentarisch, wenn überhaupt gelehrt haben.
Nur in der tiefsten Schicht seines eigenen Wesens konnte
er eine so harmonische Zuordnung zwischen seinem Leben und der Welt spüren,
dass er eine Deutung der Wahrheit wagte, die sie ihrer Selbständigkeit und
Selbstherrlichkeit gegenüber den Schwankungen des Lebens entriss und sie
eben diesem Leben selbst preisgab - mit der sichersten Überzeugung, sie
damit nicht etwa zu entwurzeln und zu einem subjektiven Trugbild zu machen,
sondern ihr gerade so erst die letzte Sicherheit und Richtigkeit anzuweisen.
Dieses Motiv lebt in einem Satz, der in all seiner
Unscheinbarkeit Goethes tiefste Überzeugungen wie im Keime enthält: »Wenn
man mit sich selbst einig ist, ist man es auch mit andern.« Nur im Gefühl
des einheitlichsten Zusammenhanges zwischen dem individuellen Dasein und dem
Dasein überhaupt, dem auch »die andern« angehören, kann dies gesagt werden.
Und zwar nicht in dem naheliegenden Sinne einer
durchgängigen natürlichen Verknüpftheit aller Erscheinungen, sondern so,
dass gleichsam die Form des individuellen Daseins, insofern sie vollkommen
ist, die Form des allgemeinen Daseins oder des allgemeinen Geistes
wiederholt.
Diese Form des Daseins als Ganzen ist für Goethe:
Einheit; und wie sollte sie etwas anderes sein, da der Kosmos ja von dem
unteilbaren göttlichen Prinzip durchdrungen ist und nur dessen in unendliche
Mannigfaltigkeiten und Wechsel gebrochenes Leben bedeutet? Wenn er von der
Form des Organismus sagt, sie sei nichts als die fortwährend verwandelte
Erscheinung seines Inneren, so gilt ihm dies auch für das Dasein überhaupt,
und deshalb ist es ihm schlechthin Einheit.
Indem nun auch der Einzelne diese erreicht, »mit sich
selbst einig ist«, wird die Form des Weltbaues gleichsam durch ihn
hindurchgeleitet, wird an ihm selbst mächtig, macht ihm zum Ausdruck und
zugleich zur Parallelerscheinung des Ganzen, dem auch die andern Einzelnen
angehören.
Darum müssen alle in dem Maß, in dem jeder mit sich einig
ist, es auch untereinander sein.
Nicht um Gleichförmigkeit der Ansichten und
Überzeugungsinhalte handelt es sich, die Goethe vielmehr als durchaus
unrealisierbar ablehnt, sondern um die Gestalt des Lebens, um die dynamische
Realität unserer Existenz, von der die theoretischen Meinungen nur Symbole
sind, und oft durchaus einseitige, fragmentarische, die ihnen zugrunde
liegende Lebendigkeit gar nicht richtig ausdrückende.
Jener Satz überträgt eine andere allgemeinste Maxime
Goethes: »Die Natur tut nichts im großen, was sie nicht auch im kleinen
täte« - in die tiefsten Zusammenhänge des persönlichen Lebens.
Die ganze Stellung Goethes zur Welt, die ihm einerseits
Aufgabe, andererseits gefühlte Tatsächlichkeit war, wird durch dies Motiv
bestimmt: dass das individuelle Leben, als solches vollendet und in der
Ganzheit seines Sinnes und seiner Rhythmik durchschaut, die Form des
All-Lebens - die innere Einheit - wiederholt und durch diese Vermittlung
hindurch die Harmonie, die »Einigkeit« mit den anderen individuellen
Ausgestaltungen desselben All-Lebens gewinnt.
Die Allgemeinheit solcher großen Blicke und Maximen ist
unmöglich aus der Erfahrung singulärer Tatsachen zu gewinnen, und er selbst
charakterisiert die umfassendsten Seinsgesetze, denen sein Suchen galt, als
solche, von denen in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind.
Die Maxime vielmehr über das Mit sich Einigsein als
Voraussetzung, es mit andern zu sein, war der Ausdruck seiner innerlich
eigensten Lebensstruktur.
Er fühlte - an diesen symbolischen, wie aus der Ferne
tastenden Ausdruck sind wir gebunden - seine eigene Existenz dem All-Leben
störungslos, gleichsam für dessen Pulsationen durchlässig, verwurzelt; er
fühlte das metaphysische Verhältnis, das in jener Maxime liegt, in sich
selbst so deutlich, dass er es als allgemeine Wahrheit aussprechen konnte
und durfte.
Das muss man die Genialität seiner Natur nennen: während
der gewöhnliche Mensch nur Singuläres erfährt, aus dem er in Annäherungen
und mit Vorbehalten schließlich ein Allgemeines gewinnt, hat Goethes Geist
das Allgemeine unmittelbar erfahren, er war den fundamentalsten, menschlich
erreichbaren Schichten des Seins von Natur wegen so zugeordnet, dass er
seine innere Erfahrung, sein Wissen und das eigene Leben als ein
allgemeines, weil jener tiefen Schicht entwachsendes Gesetz aussprechen
konnte.
Wenn es überhaupt das Wesen des Genies ist, zu wissen,
was es nicht gelernt hat, so ist hiermit wohl eine Begründung davon, wie
unvoll kommen auch immer, formuliert; und geht man dem Satz vom »Einigsein«
in seine Voraussetzungen oder Grundlagen nach, so zeigt er sich also als die
inhalt- oder theoriegewordene Form des Goetheschen Lebensprozesses selbst in
seiner Beziehung zu dem kosmischen Leben.
All diese Vorstellungen von dem Wahren als dem
Lebensförderlichen, von einem höheren Wahrheitsbegriff, der Irrtümer und
Besonderheiten umschließt, von innerer Einheit als Bedingung der Einheit mit
anderen, - können nur entstehen, wo statt irgendwelcher einzelner
Vorstellungen oder Ziele, Anschauungen oder Interessen vielmehr der
Lebensprozess selbst in seiner einheitlichen Kraft und Gerichtetheit das
Letzte und Entscheidende ist und erst von sich aus all jenes inhaltlich
Angebbare bestimmt.
Dieser schlechthin wesentliche Zug der Goetheschen
Existenz, der der oft - und oft naiv - gebrauchten Formel: »Leben und Werke«
erst ihren eigentlichen Sinn gibt, bringt seine eigentümliche
Gleichgültigkeit gegen das einzelne Werk als solches mit sich.
Ob er dies oder jenes unternimmt, ob er überhaupt
produziert oder stagnierende Epochen durchmacht, ob er das Angefangene
fortsetzt oder liegen lässt, das ist ihm, der das Leben überhaupt nicht von
seinen Resultaten her wertet, offenbar nicht von erheblicher Wichtigkeit,
wenn er nur fühlt, dass der Rhythmus und die Entwicklungsnotwendigkeiten des
von innen strömenden Lebens damit die jeweilig richtige Erscheinung finden.
Aber gerade weil diese allein entscheidende
Triebhaftigkeit des schöpferischen Lebens nicht auf einen bestimmten Inhalt
festgelegt ist, hat Goethe eine ganz seltene Freiheit, seinem Tun nun wieder
Inhalte rein nach deren Wert zu wählen.
Dies eigentümlich positive und negative, die Goethesche
Existenz überhaupt erst interpretierende Verhältnis zwischen dem vitalen
Prozess und seinen Inhalten oder Produkten liegt der - sonst gar nicht
verständlichen - Äußerung aus seinem 78.
Jahre zugrunde: »Hätte ich so deutlich wie jetzt gewusst,
wie viel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist, ich
hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes getan.« Und noch einmal
drückt er, gleichfalls im hohen Alter, dieses ganze Verhältnis mit einem
Satz aus, von dem ein Strahlenbündel von Lichtern über sein Gesamtbild
fällt: »Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen,
und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte
oder Schüsseln.« Aber wohin zeigt diese Symbolik? Was wird durch sein Wirken
und Leisten symbolisiert? Gewiss irgendein Letztes und Unaussprechliches des
Daseins überhaupt, der Dinge, die ihm in irgendeinem Sinn Gegenstand oder
Ziel sind: da ihm die Dinge selbst- »alles Vergängliche« - nur ein Gleichnis
sind, so ist ihm ersichtlich alles Denken, Dichten, Formgeben eine Symbolik
gleichsam zweiter Instanz.
Aber Goethes Ausdruck geht hier noch auf etwas anderes
als auf das symbolisierte Geheimnis der Wirklichkeit; er geht auch auf das
innere Wesen und Leben seiner selbst, das an sich gleichfalls ein
verborgenes, nicht unmittelbar zu beleuchtendes ist und für das alle Worte
und Taten nur Symbole sind, der Eigenbedeutung ihres Inhalts nach also
insofern gleichgültig, wesentlich nur, insofern jene innerlichste Tatsache
und Bewegtheit des Lebens in ihnen versinnbildlicht wird.
Diese zweifache Symbolik ist freilich um alles
Menschenwerk herum.
Jeder Inhalt, den wir praktisch oder theoretisch schaffen
und der nicht ein sinnloser Zufall ist, weist aus größerer oder geringerer
Entfernung auf irgendeine Tiefe hin, die wir unmittelbar nicht anrühren
können.
Vielleicht bewahrt dies und die damit gegebene
Möglichkeit eines letzten Sinnes und Zieles all unserer Betätigungen uns vor
dem Gefühl, dass diese Betätigungen rettungslos isoliert und ein
zusammenhangloses Durcheinander wären.
Wie sie Symbole eines Tiefsten außerhalb unser sind, so
sind sie es für ein Tiefstes in uns selbst, Zeichen eines Lebens, das wir
zwar unmittelbar sind, aber nicht unmittelbar haben, sondern nur an dem
Zeichen dafür: den Inhalten unserer einzelnen Betätigungen und Äußerungen.
Während aber bei den meisten von uns diese beiden
Richtungen, nach denen hin unser Tun symbolisch ist, ungleichmäßig
ausgebildet und gegeneinander zufällig sind, scheint die Harmonie des
Subjektiven und des Objektiven überhaupt in Goethes Wesen und Bewusstsein
auch zwischen diesen beiden zu wirken: als wären jene Unaussprechbarkeiten,
auf die sie hingehen, schließlich nur eine, und als könnte er sich deshalb
dem »Wirken und Leisten«, das seine Sanktion nur von dem
Persönlich-Innerlichen her bekommt, überlassen, sicher, dass sein Ergebnis,
mochte es nun »Töpfe oder Schüsseln« sein, den gleichen Wert als Symbol des
Höchsten außer uns besäße.
Dieses unvergleichliche Maß, in dem Goethes Geistesnatur
sich dem Sein und Sinn der Welt verschlang, um in sich selbst dessen reiner
Ausdruck und Spiegel zu sein, setzt sich in die Bedeutung fort, die die
beiden Begriffe: Leben und Einheit - in seinem objektiven Bilde der Welt
gewinnen.
Will man Goethes Weltanschauung mit einem der
systematischen Stichworte der Philosophie bezeichnen, so kann sie nur
pantheistisch heißen.
Dass das Dasein in all seiner Ausdehnung und
Vielfältigkeit in sich Einheit ist, und dass diese Einheit das göttliche
Prinzip in sich begreift, dass sein Gott sich »in die Welt verschlingt« -
das ist die eigentlich niemals erschütterte Basis seines Denkens.
Niemals verstummt seine Gegnerschaft gegen die
atomisierende, an unverbundenen Einzelheiten endende, die Weltelemente
untereinander oder die Welt gegen Gott isolierende Betrachtungsweise.
»Wir sollten nicht von den Dingen an sich reden, sondern
nur von dem Einen an sich.
Dinge sind nur nach menschlicher Art, die ein
Verschiedenes und Mehreres setzt.
Es ist alles nur eins.
Aber von dem Einen an sich zu reden, wer vermag es?«
Solche Vereinheitlichung des Weltbildes ist bekanntlich in der Geschichte
des menschlichen Denkens eines der allerverbreitetsten und allermächtigsten
Motive.
Wo aber immer sie wirksam wurde, drohten ihr zwei
gefährliche Konsequenzen.
Zunächst eine Verarmung des Daseins, eine Aufopferung
alles Mannigfaltigen, Bewegten, Individuellen, Gegensätzlichen der Welt
zugunsten einer schließlich leeren und farblosen Einheit.
Alle Verschiedenheiten, Entwicklungen, Besonderheiten
waren Schein, Irrtum, Nicht-Seiendes, das starre und kahle Eins war das
einzig Wirkliche.
Und damit zusammenhängend das andere: die Unmöglichkeit,
aus dieser, durch Abstraktion gewonnenen Einheit die Vielgestaltigkeit
wieder zu entwickeln - mag diese auch nur ein Schein oder eine Erscheinung,
ein Vorüberfliegendes oder eine Oberfläche sein.
Es scheint unserm Denken nicht gegeben, aus der absoluten
Einheit heraus das Werden oder die Möglichkeit einer Vielheit zu begreifen,
sie bleibt steril und kann ohne Befruchtung durch ein zweites Prinzip keine
Folgeerscheinungen aus sich entlassen.
Diese Gefahren der All-Einheitslehren hat Goethe sehr
wohl durchschaut.
Er warnt davor, das göttliche Prinzip »in eine vor
unserem äußeren und inneren Sinne verschwindende Einheit zurückdrängen zu
lassen«, behauptet, dass durch die All-Einheitslehre »so viel gewonnen wie
verloren wird und zuletzt das so tröstliche als untröstliche Zero
übrigbleibt«.
Das Entscheidende ist nun: dass für Goethe die Einheit
der Welt eine lebendige ist.
Das Leben ist die einzige uns zur Verfügung stehende
Kategorie, in der eine Einheit (im Gegensatz zu allem mechanisch
Zusammengesetzten) der Vielheit nicht widerspricht, sondern sie gerade, im
Nebeneinander mannigfaltiger Organe wie im Nacheinander mannigfaltiger
Entwicklungsstadien, aus sich heraussprießen lässt.
Weil Goethe die Welt als einen Organismus verstand,
überwand er jene Klippe des früheren Pantheismus: dass die absolute Einheit
ja etwas schlechthin Undifferenziertes, Formloses, ewig Unänderbares ist;
denn das Wesen des Lebendigen ist es doch, dass es ein vielheitlich
Geformtes, unendlich Differenziertes und dennoch eines ist, das schlechthin
verschwindet, wenn man es in Teile zerschneidet (obgleich man diese
unverändert »in der Hand haben« mag), und das man nicht durch
Zusammensetzung seiner Elemente zustandebringen kann.
Wie das Lebendige, so ist ihm die Welt nicht Eins,
sondern immer ein Vieles; und wie das Lebendige, so ist ihm die Welt die
Einheit dieses Vielen.
Dass er die Welt organisch verstanden hat, heißt: Idee
und Wirksamkeit des Ganzen als einer Einheit dominiert ihm so sehr alles
Einzelne und die Wechselwirkungen innerhalb des Einzelnen, wie in dem
Organismus jeder Teil von dem Ganzen bestimmt wird und das Leben jedes
Teiles nichts anderes ist, als das in ihm sich vollziehende Leben des
Ganzen.
Auch hier liegt eine Analogie zu der wunderbaren Einheit,
in der wir, wie ich oben sagte, das Goethesche Leben empfinden.
Der Sinn und die Kraft dieser Einheit erschöpft sich
keineswegs darin, dass sie Betätigungen und Interessen von einer sachlichen
Vielseitigkeit und Spannweite, wie wohl kein anderes uns bekanntes Leben,
ohne Problematik und Disharmonie in sich schloss, dass sie aus jenen eine
sozusagen logisch begreifliche Lebensordnung herstellt, aus Elementen von
einzigartiger Form und Größe doch eine Lebensentwicklung von reinster,
typischer Menschlichkeit.
Aber jenseits aller inhaltlichen Vielfachheiten und ihrer
Bezwingung in eine Einheit durch die Macht seiner Lebensströmung scheint es
mir das erstaunlichste Phänomen dieser Lebenseinheit, dass sie auch durch
die Verschiedenwertigkeit ihrer Erzeugnisse nicht durchrissen wird.
Neben den Leistungen, die ihm in der Weltgeschichte des
Geistes seinen Rang geben, steht ein Maß von wertlosen, nichtigen,
eigentlich ganz unbegreiflichen Produktionen, wie es sich bei keinem seiner
Pairs in irgendeiner Kunst findet.
Dennoch fühlen wir bei ihm auch dies sachlich Leere und
Unterwertige als notwendige Durchgangspunkte einer als Ganzes unermesslich
wertvollen und in diesem Werte auch ganz einheitlichen Entwicklung.
Als Lebensäußerungen haben sie eine ganz andere
Bedeutung, als wenn man sie aus dem Leben isoliert und ihren Inhalten bloß
sachlichen Kriterien gemäß nachfragt.
Gerade wer aus der letzten, von ihrer Strömung gar nicht
abbiegbaren Lebensquelle heraus schafft, dessen Werk unterliegt den
Schwankungen des Lebensprozesses und muss diesen durch seine Tiefstände und
unvermeidlichen Mattheiten hindurchbegleiten - viel mehr als bei dem
sekundären, epigonenhaften Künstler, dessen Werk von fest übernommenen, dem
Leben bereits gegenüberstehenden Normen her bestimmt ist und es deshalb
leicht hat, in sich gleichmäßiger zu sein.
Dass eine so ungeheure Polarität der sachlichen Werte das
Gefühl von der Einheit der Goetheschen Existenz nicht zerstört, ist nur der
Unmittelbarkeit zu danken, mit der sich alle diese Erzeugnisse als Symbole
eines kontinuierlich sich entwickelnden Lebens geben.
Ich verfolge diese innere Gegensätzlichkeit in Goethes
Wesen noch nach einer anderen Richtung ihrer Spannungen.
Die geistige Gesamthaltung Goethes zu Welt und Menschen
führt zu der Vorstellung, dass in ihm eine sozusagen absolute Gerechtigkeit
war.
Eine solche entspricht zunächst seiner metaphysischen
Überzeugtheit von der gleichmäßig einheitlichen Göttlichkeit alles Seins.
Wer jede einzelne Erscheinung als Offenbarung des
Absoluten empfindet, es wirklich empfindet, nicht nur denkt - für den
entfällt eine sozusagen formale Voraussetzung der Ungerechtigkeit: die
Scheidung in Schafe und Böcke.
Er kann konsequenterweise gar nicht mit parteimäßigem
Radikalismus irgendeine Erscheinung schlechthin verdammen; und wäre eine
solche Verdammung auch tatsächlich gerecht, so gibt sie prinzipiell doch die
Möglichkeit einer so absoluten Ungerechtigkeit, wie sie eben bei
pantheistischer Verneinung jedes absoluten Wertdualismus im Dasein nicht
stattfinden kann.
Mit einem ganz ins Allgemeine hinsehenden Gleichnis sagt
er: der Mensch wird »eher die Entstehung der Distel, die ihm die Arbeit auf
seinem Acker sauer macht, dem Fluch eines erzürnten guten, der Tücke eines
schadenfrohen bösen Wesens zuschreiben, als eben diese Distel für ein Kind
der großen, allgemeinen Natur zu halten, das ihr ebenso nahe am Herzen liegt
als der Weizen«.
Und es ist doch eigentlich nur eine positive Symbolik des
gleichen Gedankens, wenn er, dreißig Jahre später, von einer Fortsetzung des
Faust spricht, »wo der Teufel selbst Gnade und Erbarmen vor Gott findet«.
Mit dieser Attitüde, soweit sie für Goethe aus seinem
Pantheismus folgt, ist nicht etwa Toleranz gemeint; denn diese setzt ja
gerade ein objektiv Verwerfliches voraus, das nur vom Subjekte und aus
subjektiven Gründen ertragen wird.
Es wird vielmehr der Standort für das urteilende
Verhältnis in einer Idee des Göttlichen genommen, deren Allumfassung eine
absolute Wertdifferenz der Erscheinungen, eine apriorische Verwerfung
irgendwelcher, überhaupt nicht zulässt, sondern eine gemeinsame Distanz,
oder, wenn man will, einen gemeinsamen Boden schafft, auf dem eigentlich
erst der relative Wert und der relative Unwert der einzelnen abgewogen
werden kann.
Höchst eigentümlich ist dies Streben nach Gerechtigkeit
in seiner Jugend, wo doch seine Werturteile von äußerster Leidenschaft sind:
er erzählt selbst im Alter, er hätte früher Bilder, die ihm verkehrt
vorkamen, an der Tischecke zerschlagen, Bücher habe er manchmal zerschossen
und ingrimmig dazu gerufen: Das soll nicht aufkommen! Dennoch sucht er schon
damals die höchste Gerechtigkeit von dem Gedanken einer höchsten Werteinheit
her, der ihm, unter Spinozas Einfluss, alles Wirkliche auch als vollkommen
erscheinen lässt.
Und ebenderselbe lässt ihn, mit derselben Tendenz, aber
höchst bezeichnendem Unterschied der Altersstufen, in der Jugend sagen: »Ist
das Böse nicht gut und das Gute nicht bös?« -und im Alter: »Warum denn immer
bös und gut? Müssen wir nicht mit uns selber wie mit andern vorlieb nehmen,
wie die Natur uns hat hervorbringen mögen?« Er negiert den Radikalismus des
Unterschiedes, zuerst in dem Temperament der Jugend, indem er die Gegensätze
in eine Einheit zusammenballt, dann in dem resignierenden Alter, indem er
von ihnen zurücktritt.
Und von vornherein ist eines der tiefsten
Gerechtigkeitsmotive in ihm wirksam: die Anerkennung der Individualität.
Es ist seine metaphysische Überzeugung, dass der
einheitliche Naturgrund sein Leben in der Hervorbringung fortwährend
wechselnder, in ihrer Gestaltung unvergleichbarer Wesen zeige.
Er nennt es die höchste und einzige Operation der Natur,
dass »ein jedes ein Besonderes werde, sei und bleibe«.
Darum hat, wie er sagt, »jedes Individuum vermittelst
seiner Neigungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht
aufheben«.
Leidenschaftlich bekämpft er den einseitig Urteilenden,
der auch den von Natur anders Gerichteten über den eigenen Kamm schert, der
nicht anerkennen will, dass das verschiedene Sein der Menschen auch
verschiedene Handlungsweisen, Wertungen, Gläubigkeiten zur notwendigen Folge
hat.
Dies ist bei ihm keineswegs schlaffe Toleranz, die ihm
mit ihrem bloß negativen Wesen sehr fern lag, sondern die starke, positive
Überzeugung, dass mit jedem Menschen ein natürliches Recht auf seine
Individualität geboren ist, auf das Rücksicht zu nehmen die erste Bedingung
aller Gerechtigkeit sei.
Und wenn er im Alter einmal sagt, dass er lieber eine
Ungerechtigkeit begehen, als eine Unordnung dulden wolle, so ist ganz klar,
dass diese »Unordnung« eine Verletzung der höheren und allgemeinen
Gerechtigkeit ist, die »Ungerechtigkeit« aber nur einem Individuum gilt, das
freilich jener gegenüber nachgeben muss.
Dies lebenslange Streben zur Gerechtigkeit - er fordert,
mit deutlicher Beziehung auf sich selbst, für gerechtes Urteilen eine
»unausgesetzte, leidenschaftlich durchgeführte Übung« - ruhte allerdings
wohl auf der Stärke des theoretisch intellektuellen Elementes in seiner
Natur.
Man kann sich nicht denken, dass leidenschaftliche
Künstlertemperamente, denen die Goethesche Wissenschaftlichkeit fernlag,
Michelangelo, Rembrandt, Beethoven, dieses bewusste Interesse an das
Gerechtigkeitsideal gesetzt hätten.
Unter den großen Menschheitsforderungen hat, abgesehen
von dem Ideal der Erkenntnis selbst, die der Gerechtigkeit am meisten einen
theoretisierenden Zug, mit dem sie sich natürlich keineswegs erschöpft; aber
sie ist unter allen praktischen Werten das Lieblingsideal des theoretischen
Menschen.
Dass diese Konstellation in irgendeinem Maße der
Gerechtigkeitstendenz Goethes zugrunde lag, hat Schiller offenbar empfunden,
indem er ihm in Indignation über einen Angriff Schlossers schreibt: »Sie,
der die Menschen besser kennt, erklären sich vielleicht richtiger und
natürlicher durch eine natürliche Beschränktheit, was ich, der die Menschen
gern verständiger annimmt, als sie sind, mir nur durch eine moralische Unart
erklären kann.«
Auf welche innere Struktur dies aber auch weise - der
Erfolg war, dass Goethe der größte aller Jasager war, sein ganzes Leben war,
hinsichtlich anderer Menschen und ihrer Leistungen, auf Gerechtigkeit mit
dem Willen zur Anerkennung gestellt; denn auch dem gerechtesten Individuum
pflegt man anzumerken, ob seine tiefste Tendenz, seine eigentliche
Spontaneität (auch wo sie sein tatsächliches Urteil gar nicht beeinflusst)
auf Verwerfen oder auf Anerkennen geht.
Vielleicht gibt es keinen Großen, der andere Menschen in
solchem Maße anerkannt hätte, und dass er von sich selbst sagt, das einzige,
ihm absolut fernliegende Laster sei der Neid, ist nur ein sehr negatives und
sekundäres Phänomen für seine lebenslange Leidenschaft, gerecht zu sein und,
als Resultat davon, anzuerkennen.
»Ich hasse die Leute«, sagte er mit zweiundachtzig
Jahren, »die nichts bewundern (nämlich menschliche Leistungen); denn ich
habe mein Leben damit hingebracht, alles zu bewundern.«
Dieser Zug, dessen Wichtigkeit für das ganze Bild der
Goetheschen Existenz solche Ausführlichkeit rechtfertigt, findet nun aber
innerhalb dieser Existenz die frappierendsten Gegenteile.
Er, der in der Kunst alles, was es Großes gab, mit der
höchsten Intensität zu begreifen und zu würdigen sucht, hat, sobald die
Klassik in seinen Gesichtskreis trat, die Gotik verachtet, hat von Dantes
»widerwärtiger, oft abscheulicher Großheit« gesprochen, hat für Michelangelo
nach ganz kurzer Beeindrucktheit eigentlich keine Augen gehabt, ist durch
Italien gegangen, ohne die Frührenaissance sozusagen eines Blickes zu
würdigen; er hat Mozart über Beethoven gestellt, hat die Zeltersche Musik
gepriesen und Schubert als nicht vorhanden betrachtet; er hat soundso viele
mittelmäßigste Talente ermutigt, in einer uns oft unbegreiflichen Weise, und
hat Jean Paul, Hölderlin, Kleist abgelehnt! Dies alles ansehend, muss man
gegenüber jener absoluten Gerechtigkeit, die sein Bild zu zeigen schien,
fast sagen, er sei einer der ungerechtesten Menschen gewesen.
Die Polarität, die er an jedem Daseinspunkte sah, hat
sich zwischen seiner Gerechtigkeit und seiner Ungerechtigkeit in einer,
vielleicht nicht für ihn selbst, aber für andere und für die von ihm
bestimmte Kultur tragischen Weise verwirklicht.
Und nun ist das Merkwürdige, das gar nicht rational,
sondern nur in einer gewissen Intuition seines Gesamtlebens begreiflich
wird, dass auch diese Falschurteile, ersichtlich der Intention seines Lebens
äußerst entgegengesetzt, dennoch dessen einheitliches Bild nicht zerstören.
Nicht als ob sie irgendwie gerechtfertigt werden sollen;
sie müssen durchaus als unverlöschte Gegenwertigkeiten in seiner Existenz
stehen bleiben.
Denn gerade, dass wir diese ungeheuren Kontraste nicht
aus seinem Leben wegdenken können, offenbart die ungeheure Einheitlichkeit
dieses Lebens, das, obgleich es sich ganz jedem Inhalt hingab, doch wieder
von diesen Inhalten in ihrem Selbstsinne, oft auch in ihrem Selbstwerte,
ganz unabhängig war.
Gerade, dass er sein volles Leben in die jeweiligen
Inhalte hineinlebte, gab allen diesen, als seine Lebensäußerungen angesehen,
eine Einheitlichkeit, die sie, logisch oder in irgendeiner anderen Hinsicht
betrachtet, niemals zeigen könnten.
Die Stärke des Goetheschen Lebens, das gerade als
Lebensprozess alle Gegensätze seiner Inhalte in seine Einheit fasste, zeigt
sich damit wieder in jener Verwurzelung und Analogie mit dem, was wir, mit
allen Vorbehalten, Wesen und Grund des Daseins überhaupt nennen müssen.
Auch innerhalb der objektiven Welt sah Goethe eine
unerhörte Gespanntheit von Gegensätzen der Inhalte und der Werte.
Alle Dinge leben für ihn in einer unaufhörlichen
Entzweiung mit sich selbst und mit andern, die sich unaufhörlich versöhnt,
um sich wieder zu spalten.
Und ebenso sieht er Hohes und Niedriges, Gutes und Böses
überall nebeneinander und durcheinander.
Aber alles dies ist Einheit, weil es nicht für sich
bestehende selbstgenugsame Daseinsstücke sind, nicht Sackgassen, in die sich
die Wirklichkeit verrannt hat, um jedes mal in ihnen definitiv
stillzustehen- sondern weil es Pulsationen eines Lebens sind.
»Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist
das Leben der Natur.« Will man diesen Satz recht verstehen, so muss der Ton
auf »Leben« liegen.
Und dessen Einheit wiederum darf nicht so verstanden
werden, als setzte sie sich schlechthin der »Entzweiung« entgegen, sondern
dass sich das Geeinte entzweit, das Entzweite vereint, das sind die Seiten
der übergreifenden Lebenssynthese, der allumfassenden Einheit des Daseins,
die überhaupt keine zu versöhnende Entzweiung sich gegenüber hat.
Solange dieser Gegensatz noch besteht, diese sich
wechselseitig sinngebende Relativität von Einheit und Getrenntheit - solange
ist die absolute Einheit des göttlich natürlichen Lebens noch nicht
erschaut, für die die Einheit in jenem noch gegensätzlichen, noch
parteimäßigen Sinne nur eine Äußerung ist, und die Trennung der Elemente die
andere, beides zusammen aber, mit dem Gleichnis, das Goethe so gern braucht,
nur wie Einatmung und Ausatmung, die zusammen erst das Atmen des Lebendigen
sind.
So allein war es möglich, dass er an keinem Stück der
unendlich gespaltenen, unendlich wertverschiedenen Welt den Geist, die Kraft
des Göttlichen vermisste.
Es war doch auch der Zauber seines Lebens, durch den er
all dessen Gespanntheiten überwand, dass wirklich jeder Augenblick oder jede
Leistung die jeweilige Form war, in der sich sein Leben überhaupt bot -
dieses Leben, dessen Gesetz freilich ein fortwährendes Sichwandeln, oft ein
Schwanken zwischen äußersten Ausschlagpolen war.
Goethe, der dem oberflächlichen Blick ein unaussprechlich
zerspaltenes Dasein bietet, eine harte Isolierung zwischen seinen Vorder-
und Hintergründen, sagt, offenbar aus dem tiefsten Gefühl seiner selbst
heraus: »Teilen kann ich nicht das Leben, /Nicht das Innen, nicht das Außen,
Allen muss das Ganze geben.« Ergab allen das Ganze, aber er gab es auch
allem, jeder Aufgabe, jedem Gedanken, jeder innerlichen oder auch
äußerlichen Situation.
Was wir aus dem Tiefsten des Goetheschen Lebens heraus
lernen können, ist dies, dass die entschiedenste Einheitlichkeit eines
Lebens durchaus nicht an das gleichsam substantielle Verharren und
Durchhalten von irgendwelchen Inhalten, ja sogar von Charakterzügen gebunden
ist.
Dass das Leben eine unaufhörliche Bewegtheit ist, ist
freilich eine Banalität - allein voller Ernst wird mit dieser Erkenntnis
keineswegs häufig gemacht.
Immer noch scheint die Einheit eines Lebens dadurch
bedingt, dass unter dem Wellenspiel einer fortwährend bewegten und
wechselnden Oberfläche irgend etwas Festes und ungeändert Bleibendes liegt,
das eben der eigentliche Träger der »Einheit« ist.
Aber gerade dadurch wird ja das Leben in sich gespalten,
jeder seiner Momente in zwei ganz verschieden rhythmisierte Reihen zerlegt.
Nur dadurch, dass jeder Augenblick mit seinem vielleicht
völlig neuen Inhalt das ganze Leben ist, d. h., dass das Leben eben die Form
hat, sich als Ganzes kontinuierlich zu wandeln und zu entwickeln - nur
dadurch ist es Einheit; es muss in den Wandel seiner Momente auch wirklich
jeweils ganz eingehen, es kann nicht irgendeine Starrheit tieferer Schichten
diesem Wandel entziehen, um an sie seine Einheit zu knüpfen.
Solange man nicht einsieht, dass die absolute Stetigkeit
eines absoluten, d. h. die Ganzheit des Lebens erfassenden Sichwandelns die
eigentliche und einzige Einheit dieses Lebens ist, hat man den Goetheschen
Lebensbegriff nicht erfasst.
Er bildet sogar die einzelnen Elemente des Lebens, den
herrschenden Vorstellungen entgegen, im Sinne dieses Begriffes um.
Denn nichts anderes will die wunderbare Äußerung sagen,
die er als Vierundsiebzigjähriger einmal in einem kleinen Kreise tat, als
bei Tisch ein Toast auf die »Erinnerung« ausgebracht wurde: »Ich statuiere
keine Erinnerung in eurem Sinne.
Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet,
muss nicht erst von außen her wieder erinnert, gleichsam erjagt werden.
Es muss sich vielmehr gleich von Anfang her in unser
Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues, besseres Ich in uns
erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen.
Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es
gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des
Vergangenen gestaltet.« In dieser Auffassung hat das Leben seine letzte
Starrheit überwunden.
Auch unsere leidenschaftlichen Erlebnisse - ein solches
hatte er in diesem Moment im Auge - sind nun nicht an einer Stelle der
Vergangenheit, an der wir sie in ihrem unveränderlichen Sogewesensein wieder
zu suchen hätten, angenagelt - und wir mit ihnen; sondern sie sind die
selbst bildsamen Elemente der Lebensgestaltung, die mit jedem Augenblick neu
einsetzt.
Weil er das Weltdasein in eben dieser Absolutheit des
Sichwandelns erschaute, war es ihm Leben und Einheit.
Er sah, dass es keine andere Einheit gibt, die die
Einheit eines unendlich Vielfachen und kontinuierlich anders Werdenden wäre,
als die, zu der das Leben den Schlüssel gibt.
Goethe war eine heraklitische Natur; dass »alles fließt«,
war sozusagen das metaphysische Zentrum, von dem her sich nach der einen
Seite sein Leben und Lebensgefühl, nach der andern sein objektives
Daseinsbild gestaltete.
Daneben aber tritt ein anderes Motiv, das vielleicht
nicht weniger tief gegründet ist als jenes, aber in Goethes Leben erst
später, insbesondere, nach einigen Vorahnungen, durch den Einfluss der
klassischen Kunst mächtig wird: die ewig unveränderliche Gestalt, die Form
des Lebendigen, die, einmal angelegt, nicht mehr umzuprägen ist.
Als radikalen Gegensatz freilich, als welchen wir es
vielleicht empfinden, hat Goethe das Verhältnis zwischen dem absoluten
Wandel des Lebendigen als solchen und der absoluten Unwandelbarkeit seiner
Gestalt, soviel ich weiß, nicht ausgesprochen, wenigstens nicht in
abstrakter Formulierung.
Tatsächlich aber laufen unzählige seiner tiefsten
Denkbemühungen in der Richtung, dies beides zusammenzubringen.
Wenn ich die Elemente formulieren sollte, von denen der
Geist, der metaphysische Sinn dieser Existenz ebenso Synthese wie Antithese
ist, so wäre es: das ewig fließende Leben und die ewig beständige Form.
Es sind Gegensätze, die als Gedanken und Tendenzen
weltgeschichtlich sind, weil sie als objektive, als metaphysische
Sachgehalte, übergeschichtlich sind.
Was Goethe in Italien an der klassischen Kunst fand, war
die Bedeutung der Form: darum fühlte er in Rom sich »so froh«, weil »hinten
im Norden - farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten« gelegen hatte.
Der Sinn für die plastische Geschlossenheit der
Erscheinung in ihrer naturhaften wie in ihrer künstlerischen Wirklichkeit,
der bis dahin in ihm latent gewesen war, wurde nun geweckt.
Die Leidenschaftlichkeit seines rastlos
vorwärtstreibenden Lebens war schließlich an dem Kleinkram, den
Widerständen, den Disharmonien des Weimarer Milieus zersplittert, er empfand
seine Existenz als auseinandergestückelt, und was ihn nach Italien trieb,
fasste er in den einen Ausdruck zusammen, er wünsche seine Existenz »ganzer«
zu machen - er hatte den Instinkt, dass er dort die Ganzheit finden würde.
Und diese eben war die Form in ihrem Selbstwert, ihrer
ruhigen, klassischen Vollendung, in ihrer Zeitlosigkeit, mit der sie sich
als Erlösung aus den Irrsalen des bloß bewegten, aber in seiner Bewegtheit
schließlich auseinanderfallenden Lebens anbot.
In den Gestalten der griechischen Plastik und vielen der
Hochrenaissance, an denen Goethe nun die unmittelbare, die symbolische, die
vorbildliche Lösung für die Wirrnisse seines Lebens und Weltfühlens fand,
ist das Leben zum Stillstand gekommen; nicht als ob sie jenseits seiner
stünden, als Abstraktionen oder Schemen; es ist wirklich in sie
hineingegangen, dann aber hat es sich zu einer Rundung, Fertigkeit,
Selbstgenugsamkeit seiner Form verfestigt, über die hinaus es nun nicht
weiter fließt, im Gegensatz etwa zu den gotischen Gestaltungen, menschlichen
wie ornamentalen, über die der Lebensstrom hinaussprüht, sei es ins
Transzendente, sei es zu einem bloßen Immerweiter in der gleichen Dimension.
Man wird vielleicht überhaupt sagen können, dass hier der
griechisch-italienische Geist gegen den germanischen steht.
Jener strebt nach dem plastischen, ruhenden, zeitlosen
Sein der Form.
Dieser ist »historisch«, d. h., er geht mehr auf
zeitliche Bewegung und Entwicklung und ist deshalb formloser, weil die
Kontinuität der Bewegung es zu der anschaulichen Ausgeprägtheit und
Festigkeit der Form weniger kommen lässt.
Darum hat er freilich etwas von dem »Prinzipium der
Unendlichkeit« an sich, das den schön geschlossenen Idealen der
Mittelmeerkultur abgeht.
Wenn man schon lange hervorgehoben hat, dass Goethes
Lebensarbeit und Lebensintention im Antagonismus, Wechsel, Vereinheitlichung
der weltgeschichtlichen Parteien der Klassik und des Germanentums verlaufe,
so scheint mir dieser Dualismus in seinem allgemeinsten Ausdruck der
zwischen der Form und der Lebensbewegtheit zu sein.
Er selbst bringt die Gegensätze ganz nahe zusammen, wenn
er die unentrinnbare Bestimmtheit des Individuums als »geprägte Form, die
lebend sich entwickelt« bezeichnet.
Das eben ist das ungeheure Problem, dessen Seiten die
Goethesche Weltattitüde markieren: wie kann das schon Geprägte sich noch
entwickeln? Wie kann der Sinn und Wert der Existenz sein Symbol in der
geschlossenen, allem Werden entrückten Festigkeit der klassisch plastischen
Gestalt haben, wenn das Leben doch gerade ein ewig sich Wandelndes, alle
Starrheit Fliehendes, in rastloser Umformung Werdendes ist und sein soll?
Aus dem Widerspruch zwischen der unendlichen Vielfältigkeit der Welt im
Nebeneinander wie im Nacheinander, und der Einheit, von der wir nicht lassen
können, hatte ihn Gefühl und Begriff der lebendigen Gott-Natur gerettet; die
organisch verstandene Welt war eben die Einheit, die in Vielheit, als
Vielheit, lebt und fruchtbar ist - wovon wir in unserer körperlich-geistigen
Persönlichkeit mit ihrer im Ich zusammengehaltenen Vielheit einen sehr
gebrochenen Strahl und unvollkommenes Gleichnis haben.
Nun aber tat sich der neue Zwiespalt auf, der neben das
Leben selbst ein anderes, nicht weniger wertabsolutes Prinzip setzte, das,
in ganz anderer Schicht, eine neue Versöhnung mit jenem, dem bisher
Allversöhnenden verlangte.
Freilich interessierte ihn hier so wenig wie sonst der
Zwiespalt als solcher, sondern dass er ein versöhnbarer und versöhnter sei.
Daran, dass hier eine unheimliche, vielleicht eine
tragische, metaphysische Entzweiung vorliegt, hält er sich überhaupt nicht
auf, seine Gedanken und sein Ausdruck stehen von vornherein in der
Vermittlungslinie: »Die Gestalt ist ein Bewegliches, ein Werdendes, ein
Vergehendes.
Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre!«
In der Übertragung auf die organische Natur als solche
ist die überdauernde, gegenüber allem Formwechsel des Lebens stabile Gestalt
nun dasjenige, was Goethe den Typus nennt.
Alle Lebewesen sind nach Grundformen gebildet, die ewig
sind, obgleich die Erscheinung sie fortwährend individualisiert, rückwärts
und vorwärts bildet, bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet.
Die Grenzen dieses Entwicklungsspielraumes sind für
unsere Erkenntnis gar nicht bestimmt festzulegen, aber irgendwo liegen sie,
irgendeine, unter keinen Umständen veränderliche Grundform, der Typus der
Art, besteht in jedem Organismus.
Auch wieweit die Art greift, für wie viele einzelne
Gattungen ein Arttypus anzusetzen ist, steht dahin.
Aber all diese empirischen Unsicherheiten erschüttern
nicht das Grundmotiv: dass ein Unveränderliches, das Allgemeine der
jeweiligen Art bedeutend, in dem rastlosen Werden und Umgeschaffenwerden
jeder organischen Natur enthalten ist.
Den Begriff, die Idee des Tieres nennt Goethe dies
selbst, es entspricht seinem anderweitigen Ausdruck über das »Gesetz, von
dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind« - das aber
nichtsdestoweniger Gesetz bleibt.
Es ist freilich nicht Gesetz im Sinne der modernen
mechanistischen Naturwissenschaft; denn für dieses hat die »Ausnahme« keinen
Sinn.
Der Spielraum der Freiheit, den Goethe der Natur
zuschreibt, damit sie die unveränderlichen Grundgesetze, Grundgestalten in
kontinuierlichem Werden und Wechsel und Umbilden realisiere, ist eine der
exakten Wissenschaft fremde Vorstellung.
Dass Goethe das überzeitlich Wertvolle der Erscheinungen,
das, was ihm in dem scheinbar regellosen, verwirrenden Strome des bloßen
Lebens Halt und Erlösung war, als das Allgemeine bestimmte, als dasjenige,
was einem unabsehlichen Komplex von Erscheinungen gemeinsam war, das
offenbart die tiefe Beziehung seiner Naturanschauung zu seinem Klassizismus.
Die antike Geistesart, soweit sie auf Goethe wirkte, fand
das Wesen jedes Stückes des Daseins in dem plastisch festgeformten
Allgemeinbegriff.
Wie die griechische Kunst auf Typen ausging, um die die
einzelnen Gestaltungen sich mit gewissem Spielraum bewegten, in der Reinheit
ihres Typus das Maß ihrer Vollendung findend, so schienen die Dinge in
Klassen zu gehören, die für ein jedes die Vorzeichnung bildeten, und jedes
Ding war es selbst, in dem es einen Typus darstellte - was es oft oder immer
nur in Unvollkommenheit und Trübung konnte.
In der Goetheschen Vorstellung des «Gesetzes« der
natürlichen Dinge trafen, indem die Gestalt Gesetz ist, die beiden Momente
zusammen: die »Gestalt« als das treibende, alles Werden erklärende Movens in
allen Elementen, wie es dem organischen Weltbegriff entspricht, und diese
Gestalt als Verwirklichung eines Typus, der sie zwar nie ganz aus sich
entlässt, von dem sie sich aber mit unabsehbaren Modifikationen,
Hypertrophien und Atrophien entfernen kann.
So ist also mit diesem Begriff des Typus oder des
Allgemeinen eine Erhebung über den Dualismus des Lebens und der Gestalt
gewonnen.
Das Leben selbst, in dem unstaubaren Flusse seines
Werdens und Anderswerdens, enthält nun in jeder seiner Gestalten notwendig
ein Ewiges, Unveränderbares, das sich als solches dadurch legitimiert, dass
es in allen Vielfältigkeiten und allen Wandlungen der Individuen und allen
Wandlungen des Individuums als das immer gleiche Grundschema der
Organisation aufweisbar ist.
Und zwar ist damit nicht etwa ein mechanisches
Nebeneinanderbestehen jener dualistischen Prinzipien gewonnen.
Denn das grade ist das Wesen des Organismus, dass das
Allgemeine und das Individuelle, das Beharrende und das Fließende eben eine
Erscheinung ausmachen, in der jene Elemente nicht real oder äußerlich,
sondern nur ideell trennbar sind; damit grade hat die Strömung und
Individualisierung des Lebens das Ewige und Gleiche ergriffen, ohne es zu
zerstören, die Gestalt ist und bleibt in ihrem Kern typisch, aber dieser
Kern selbst steht in der Rhythmik des Werdens und Sichentwickelns.
Unzählige Äußerungen Goethes gehen auf dieses
Ruhend-Bewegte, Einheitlich-Vielfache, Formgefestet-Lebendige, das freilich
nicht mit irgendeiner mechanistischen Vorstellungsweise, sondern erst aus
einer Vertiefung in das Leben zu erfassen ist; nur dass leider unsere
Ausdrücke aus jener Mechanistik stammen und deshalb nur von einer gewissen
Entfernung her auf das hier Gemeinte, das ja für Goethe selbst eine nur
mühsam verbegrifflichte Intuition war, hinzeigen können.
Man muss wohl auch seine psychologisch ethische Deutung
des Menschen in diesem Grundverhältnis wurzeln lassen.
Es mögen nicht viele Menschen die Bewegtheit und den
Wandel, die Anregbarkeit und die Beeinflussungen des individuellen Lebens so
empfunden und anerkannt haben wie er.
Sein eigenes rastloses Beobachten und Forschen brachte
seiner Persönlichkeit keine äußerlichen Zutaten, sondern baute an dieser
selbst und gestaltete sie fortwährend um, wie er selbst das ausspricht:
»Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.«
Und wie von außen, so von innen: sein ganzes Leben war ein fortwährendes
Bilden und Umbilden seiner selbst; noch in seinem zweiundachtzigsten Jahr
spricht er von seinem »Immer-Vorwärts-Streben«, das den Erfolg hätte, dass
er seine Produkte bald vergäße und sie ihm etwas ganz Fremdes würden.
Er hat das Leben, an ihm selbst wie überhaupt, als das
Ewig-Regsame gewusst, das »nur scheinbar Momente stillsteht«.
Dabei hat aber er so entschieden, wie es überhaupt
möglich ist, an der Unveränderlichkeit des angeborenen »Charakters«
festgehalten.
»Wir finden«, sagt er, »die Menschen, über deren
Veränderlichkeit so viele Klage geführt wird, nach vielen Jahren zu unserem
Erstaunen unverändert und nach äußeren und inneren unendlichen Anregungen
unveränderlich.« Er nennt es auch unsere »Natur«, die »zwar modifikabel,
aber doch unveränderlich« ist.
Also auch im Seelischen ist eine festgeprägte Form, die
ersichtlich zu jeder seiner Äußerungen das Allgemeine, Durchhaltende ist,
gleichsam der Typus dieses individuellen Menschen - aber dieser Mensch von
Moment zu Moment ein anderer, kontinuierlich durch unabsehliche
Individualisierungen seiner Lebensmomente hindurch entwickelter.
Beides aber steht doch nicht nebeneinander, sondern dies
eben ist die seelisch-sittliche Einheit des Lebens, dass der unveränderliche
Charakter des Menschen (und Unveränderlichkeit des Lebendigen hat ganz
anderen Sinn und Bedeutung als Unveränderlichkeit des Mechanischen und
Starren!) sein Leben als eine unaufhörliche Entwicklung und Umänderung
vollzieht; es ist nicht ein Leben da, welches diesen Gegensatz überwindet,
sondern ihn zu überwinden heißt Leben.
Das ist nun auch die metaphysische Grundlage, die Tendenz
der Gesamtanschauung, der z. B. die Metamorphose der Pflanzen zugehört.
In dem wuchernden Gewirr der Pflanzenformen, in der
fortwährenden Formveränderung der einzelnen - welches beides den
heraklitischen Werdecharakter des Lebendigen offenbart - sieht er eine
durchgehende Einheit, ein sich gleichbleibendes Muster ihrer Bildung - ohne
welches wir doch nicht sagen könnten, »dass dieses oder jenes Gebilde eine
Pflanze sei«.
Unter dem in Raum und Zeit unendlich Mannigfaltigen müsse
es doch eine »wesentliche Form« geben, »mit der die Natur gleichsam spielend
das mannigfaltige Leben hervorbringt«.
Es schwebt ihm das Bild einer »Urpflanze« vor, die
natürlich nicht im Sinne der heutigen Evolutionslehre der Stammvater aller
Pflanzen wäre - womit j a auch noch nicht bewiesen wäre, dass ihre Form sich
in sämtlichen Nachkommen wiederholen müsste -, sondern die nur als das
zeitlose Schema jeglicher Pflanze zu erkennen wäre.
Allein die wirkliche Erfüllung des Problems geschieht
durch die zuerst ganz kurz formulierte Einsicht: »alles ist Blatt«.
Alle Organe der Pflanze: Kelch, Staubwerkzeuge, Griffel,
Früchte usw. sind umgebildete, metamorphosierte Blätter.
Es ist also »im Grunde immer dasselbe Organ, das durch
eine Progression verändert wird«.
In diesem Motiv, dessen sonstige Bedeutung und
Entwicklung ich hier nicht verfolge, wird Goethes Art, das
Einheitlich-Bleibende und das Lebendig-Veränderliche sich zusammenleben zu
lassen, unmittelbar anschaulich.
Das Blatt ist das in seiner Urform Unveränderliche, ist
die Einheit, die sich in allen ihren Organen, als alle ihre Organe
entwickelt, es verhält sich etwa zu der einzelnen Pflanze, wie sich zu einer
Abteilung des Tierreichs ihr Typus verhält.
Das Blatt ist die in sich völlig feste Form, die doch
nicht als diese abstrakt allgemeine, sondern in fließender, ewig
modifizierender Metamorphose lebt.
Denn das eben heißt für ihn Leben, dass eine ewige Form -
die anschaulich, freilich nicht für einen einzelnen äußeren Sinn, sondern
für den intuitiven Geist gegeben ist - sich in kontinuierlicher Bewegtheit
durch immer neue individuelle Gestaltungen hindurch entwickle.
Die Metamorphose ist hier die Lösung der Antinomie, die
uns in der »geprägten Form, die lebend sich entwickelt«, zu liegen schien.
Er selbst hat das ganz programmatisch ausgesprochen: »So
viel getraue ich mir zu behaupten, dass, wenn ein organisches Wesen in die
Erscheinung hervortritt, Einheit und Freiheit des Bildungstriebes ohne den
Begriff der Metamorphose nicht zu fassen sei.« Denn Einheit und Freiheit ist
offenbar ebendieselbe Zweiheit, die ich als Form und Leben bezeichnete.
Die festgeschlossene Dauer der Formgeprägtheit schien
gegen die fließende Vielfältigkeit des Lebens fremd und unberührbar zu sein.
Nun aber kommt ein höherer Begriff des Lebens auf, dessen
Explikation oder Träger oder Beispiel die Metamorphose ist.
Dieser - wie man sagen könnte - absolute Begriff des
Lebens enthält den relativen, der noch an dem der Form seinen Gegensatz
findet, unter sich, schließt ihn als eines seiner Elemente ein, dessen
anderes nun die Form, die Gestalt ist.
Jetzt ist »Leben« nicht nur, wie es auf der früheren
Stufe war, zeitliche Bewegtheit, individuelle Vielfältigkeit, rastloses
Werden, sondern alles dies seiend ist es Bewegtheit eines zeitlos
Bedeutsamen und Beharrenden, Vielfältigkeit eines einheitlich Typischen,
Werden eines in feste Form Geprägten.
Dieser unbedingte Begriff des Lebens, der den Gegensatz
seiner eigenen bedingten Form mitumfasst, gehört unter dieselbe Kategorie
Goethescher Geisteswelt, wie jene Synthese des Lebens - in einem anderen
Sinne -, von der ich oben sprach und die das Zusammen und das Auseinander
als jetzt nur noch relative Parteien in sich begriff.
Zwischen Getrenntheit und Einheit alterniert das Leben,
es vereinheitlicht seine Elemente, um sie zu spalten, spaltet sie, um sie zu
vereinen, aber dieser Rhythmus ist eben das einheitliche Leben.
Das Definitivum seiner Formel ist nicht die Einheit, zu
der die zerstreute Vielheit sich zusammenfasst, sondern erst die
übergreifende Einheit, als deren Momente und Pendelschwingungen nur die
Einheit aus der Zerstreuung und die Zerstreuung aus der Einheit gelten
dürfen.
Wir haben hieran eine der tiefsten Formen, mit denen die
Goethesche Geistigkeit die Weltinhalte bezwang: er sah diese Inhalte sich
fortwährend in Gegensatzpaaren ordnen oder bekämpfen; und es war ihm
gegeben, je die eine (oder wechselnd die eine und die andere) Seite solcher
Gegensätze als so wichtig und absolut zu empfinden, dass sie nun ihren
eigenen Sinn, soweit er noch ein bloß relativer, im Gegensatz stehender und
auf ihn beschränkter war, unter sich begriff, dass beide Parteien, in der
Beschränkung auf sich selbst einander ausschließend, nun das Einatmen und
Ausatmen desselben höchsten Daseins wurden.
Die in den tiefsten Schichten wurzelnde Beziehung
zwischen Goethes objektivem Weltbild und der inneren Struktur und
Selbstempfindung seines persönlichen Daseins, die sich an vielerlei Punkten
erwies, ist auch an diesen weitesten Maximen seiner Natur- und
Lebensauffassung deutlich fühlbar.
Gerade diese aber dürften am meisten jene unglücklichen
Versuche dementieren, die für Weltanschauungen die »Personalakten« ihrer
Schöpfer verantwortlich machen wollen, d. h., ein Weltbild für die bloße
Vergrößerung oder kosmische Projektion einer seelischen Beschaffenheit
halten und aus dieser »erklären«.
Mag dies für sekundäre Denker zutreffen, an dem Wesen des
schöpferischen Genies geht es völlig vorbei.
Der wirklich große Geist, der in produktiver Weise von
der Ganzheit des Seins spricht, hat ein unmittelbares Bild von ihr, in das
sich Gefühl und Vorstellung seiner eigenen Existenz erst einordnet; man kann
es gerade als das Entscheidende des Genies bezeichnen - so bildlich und
asymptotisch solche Ausdrücke sein müssen -, dass das Wesen der Sache selbst
aus ihm spricht, gewissermaßen mit Überspringung der bloßen eigenen
Subjektivität.
Es mag dann freilich diese Subjektivität in einer tiefen
Harmonie und Verwurzeltheit mit der Welt und ihren Dingen fühlen und sie mag
ihm in ihren individuellen oder typischen Zügen das nächstliegende Beispiel
und die Ausdrucksmöglichkeit für die Schauung des Objektiven sein.
Aber immer ist es diese letztere, aus der heraus der
große Denker redet.
Gewiss, sie ist für den einen anders beschaffen als für
den andern, und gewiss liegt der Grund dieser Andersheit in den Differenzen
der Seelen, deren Strukturverhältnisse ihr Weltbild bestimmen.
Allein darum braucht dieses Bild doch keine Ähnlichkeit
mit dem Subjekt zu haben- als hätte es sich zu seinem Weltbild selbst Modell
gestanden! Die unmittelbar subjektive seelische Beschaffenheit eines Denkers
in seiner Vorstellung des Daseins, als deren Motivierung, wiederzusuchen,
ist nicht anders, als wollte man in dem individuellen Stil eines bildenden
Künstlers, in dem er seine Anschauung gestaltet und der natürlich aus seinem
ganzen physisch-psychischen Komplex hervorgeht, ein Abbild seiner eigenen
Körperlichkeit erblicken.
Wie die wenigen ganz großen Philosophen, hatte Goethe ein
geistig unmittelbares, zu Anschauung und Begriff werdendes Verhältnis zum
Seinsgrunde oder Seinsganzen; aber er fühlte freilich, wie ich es vorher zu
skizzieren versuchte, die tiefe und lebendige Zugehörigkeit seiner Existenz
zu der Einheit und dem Sinne des Daseins überhaupt, und das hat jene
wundervolle Konsequenz, dass er sich mit einer unerhörten Freiheit und
Einheitlichkeit den Antrieben, dem von innen drängenden Prozess des Lebens
überlassen konnte - die Selbstbeherrschung eingerechnet, die aus der
gleichen Quelle kam -, sicher, dass damit die Inhalte von Leben und
Produktion sozusagen von selbst dem Sinne und der Wahrheit natürlicher wie
ideeller Welt angemessen verliefen.
Niemals aber ist es das isolierte Subjekt, das
ursprünglich nur sich selbst hätte und von da aus die Welt konstruiert;
sondern der Boden seiner Geistigkeit bleibt das Ganze und die Objektivität
der Welt, der sein Subjekt auch angehört.
Wäre dies nicht das metaphysisch-seelische
Grundverhältnis, so würde seine Lebenstendenz sich in seinen eigenen
Äußerungen völlig unheilbar spalten.
Man kann nicht die hingebende Treue gegen das Objekt, im
Anschauen und Erforschen, leidenschaftlicher betonen, sie nicht
gewissenhafter bewahren als er, aller Subjektivismus und Anthropomorphismus
ist ihm nicht nur abstrakterweise verhasst und von ihm aufs heftigste
verfolgt, sondern er ist mit einer Gewissenhaftigkeit und Selbstlosigkeit in
jedem Sinne, die kein Fachgelehrter übertreffen kann, der reinen
Objektivität der Dinge nachgegangen.
In einem programmatischen Augenblick, wo er an der
Schwelle eines neuen, seines eigentlichen Lebens zu sein meinte, schreibt
er: »Ich will nichts als die Wahrheit um ihrer selbst willen.« Und in diesem
objektivistischen Interesse hält er in der gleichen Epoche seine
enthusiastische innere Erregtheit fast gewaltsam nieder: »Ich lebe sehr
diät«, schreibt er, »und halte mich ruhig, damit die Gegenstände keine
erhöhte Seele finden, sondern die Seele erhöhen.
Im letzten Falle ist man dem Irrtum weit weniger
ausgesetzt als im ersten.« Aber mit gleicher Entschiedenheit spricht er aus,
dass jeder schöpferische Mensch doch nur »sein Individuum zutage fördere«,
dass alle Theorien bis in die Einzelheiten hinunter von der persönlichen
Gerichtetheit des Denkers abhingen; in einer seiner trockensten und
spezialistischsten geologischen Abhandlungen sagt er: »Man würde nach meiner
Überzeugung über Gegenstände des Wissens, ihre Ableitung und Erklärung viel
weniger streiten, wenn jeder vor allen Dingen sich selbst kennte und wüsste,
zu welcher Partei er gehöre, was für eine Denkweise seiner Natur am
angemessensten sei.« Wie für ihn »poetischer Gehalt Gehalt des eigenen
Lebens« ist, so spricht für ihn der Forscher, indem er von Natur redet, nur
sich selbst aus.
Auf den Gedanken, man könne hier irgendeinen Widerspruch
sehen, kam Goethe ersichtlich überhaupt nicht, weil das Sprechen aus dem
Grunde der Individualität und das aus dem Grunde der Sache selbst für ihn
eines und dasselbe war, weil er nicht aus einem der Natur
gegenüberstehenden, von ihr losgerissenen Subjekt heraus, sondern aus der
Totalität, der auch das Subjekt angehöre, redete: »Und so kann jeder«, sagt
er in einem entscheidenden Satz, »seine eigene Wahrheit haben, und es ist
doch immer dieselbige« - ein Ausspruch, der um seiner Paradoxität willen der
Ergänzung durch einen anderen bedarf, in dem er gleichfalls die durchgehende
Individualität jedes organischen Geschöpfes betont und dann fortfährt: »So
ist jede Kreatur nur ein Ton, eine Schattierung einer großen Harmonie.«
Nicht in dem Sinne eines inhaltlichen und sozusagen mechanischen Sichdeckens
sind die Wahrheiten des einen und des andern Individuums »immer dieselbige«;
sondern weil eine jede ein zu der andern harmonischer Ausdruck des einen
göttlich-natürlichen Seins ist, ein jeder nicht sich selbst als ein im
Leeren schwebendes Subjekt ausspricht, sondern ein jeder in seiner Sprache
das Sein in seiner Einheit und Objektivität.
Wenn dies nun auch die prinzipielle Grundlage seines
Seins und Wirkens ist, so ist doch das mit ihr gesetzte Verhältnis kein
starres, ein für allemal geschaffenes; sondern auch dies ist ein »Gesetz,
von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind«, etwas
Lebendiges, das in jedem Augenblick neugeschaffen werden muss und das
Definitivum seines Sinnes vielleicht nie realisiert (»Kein organisches
Wesen«, sagt er, »ist ganz der Idee, die zugrunde liegt, entsprechend«),
mehr eine Aufgabe als ein Besitz.
Von hier aus verstehen wir die Äußerungen, die für das
Bild seines Wirkens und Wirkungsbewusstseins unentbehrlich sind: über das
Wiederfinden des eigenen Wesens und Daseins in der Erkenntnis der Welt und
über die Bedeutung und das Glück der Bestätigung seiner selbst, das durch
jene dem erkennenden Menschen wird.
Alle Freude des Entdeckens bestünde darin, dass man »beim
Anlass einer äußeren Erscheinung sich in seinem innern Selbst gewahr wird«.
An der schon angeführten Stelle, wo er von den »besonders
begabten Menschen« spricht, die »zu allem, was die Natur in sie gelegt hat,
noch in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder suchen«, erklärt er es
für die Wirkung dieser letzteren, dass sie »das Innere völlig zum Ganzen und
Gewissen steigern«.
In dem ganzen unabschließbaren Prozess des Erkennens erst
vollzieht sich empirisch jenes Einwohnen des Individuums in der Welt, das
metaphysisch eigentlich schon Tatsache und Voraussetzung ist; Kenntnis wie
Sicherung des eigenen Ich wächst erst so aus ihrem metaphysischen Grund zu
realem Besitz: »Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt
kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.« Und anderswo:
»Mein ganzes inneres (!) Wirken erwies sich als eine lebendige Heuristik,
welche, eine unbekannte geahnte Regel anerkennend, solche in der Außenwelt
zu finden und in die Außenwelt einzuführen trachtet.« Und endlich: »Der
Mensch erlangt die Gewissheit seines eigenen Wesens dadurch, dass er das
Wesen außer ihm als seinesgleichen, als gesetzlich anerkennt.« - Ich habe
diese Mehrzahl von Stellen angeführt, weil sie mir in der Deutung des
Goetheschen Geisteswesens ein wichtigstes Moment scheinen: das Grundgefühl
seiner Existenz stellen sie noch einmal in die Unendlichkeit des Lebens und
Forschens hinein, zeigen seine Realisierung gleichsam als die sich immer
vollziehende und nie vollzogene Vermählung des individuellen Geistes und des
objektiven Allseins.
Ist dieser Akzent richtig gelegt, so verstehen wir daraus
das Eigentümliche, dass er sich über seine naturwissenschaftlichen Arbeiten
und Entdeckungen mehr als einmal mit einer erregten Freude und einem Stolz
äußert, wie, wenn ich mich nicht täusche, niemals über seine Dichtungen.
Er sagt von seinen Gedichten - und im wesentlichen wird
das wohl von seinen poetischen Produktionen überhaupt gelten -, dass sie
Umsetzungen und Beruhigungen innerer Erregungszustände seien, mit denen er
auf diese Weise abschloss.
Darum verdanken sie sich einerseits irgendwelchen äußeren
Veranlassungen (»Gelegenheiten« nennt er es); andererseits waren sie
Entlastungen von einem gewissen inneren Überschuss; er selbst begründet ihre
Notwendigkeit für ihn damit, dass seine Natur ihn »immer von einem Extrem
ins andere warf«, sie kehrten also nicht als positive Bedeutsamkeiten für
sein Leben wieder in dieses zurück, sondern hatten nur etwas störend
Erregendes, das Gleichgewicht Verrückendes beseitigt, das nun zugleich mit
ihnen selbst aus ihm herausgesetzt war.
Seine Erkenntnisse aber, und zwar sowohl die
naturwissenschaftlichen wie doch auch die objektiv seelischen, leisteten
etwas Positives, das jene angeführten Äußerungen festlegen: sie waren ihm
Bestätigungen seiner selbst, durch sie wurde jene tiefe Harmonie zwischen
seinem subjektiven Sein und der kosmischen Einheit nun für ihn selbst hörbar
und gewiss.
Indem in der Erkenntnis die äußere Wirklichkeit nach
seinem Ausdruck zu der inneren »Ja und Amen« sagt, legitimierte sie seine
Existenz, die gerade auf diese Legitimation und nur auf diese in ihrer Tiefe
angelegt war.
Wenn seine poetischen Erzeugnisse ihn nur - cum grano
salis zu verstehen - so ließen oder wiederherstellten, wie er vorher gewesen
war, so machte ihn sein erkenntnishaftes Weltbild zwar nicht zu mehr, als er
war, aber mehr zu dem, was er war.
Über den Gewinn des theoretischen Weltbildes hinaus kann
man den Prozess, in dem Goethe den überzeitlichen Sinn seiner Existenz
zeitlich realisierte, ganz allgemein als die Objektivierung des Subjekts
bezeichnen.
In einer kaum überschaubaren Arbeit hat er das vielleicht
reichste, gedrängteste, bewegteste subjektive Leben, das wir kennen, derart
zu objektiver Geistigkeit gebildet, dass man den ganzen Umfang - wenn auch
nicht den ganzen Inhalt - und die unzähligen Ausschlagspole dieses rastlosen
innerlichen Werdens, dieses immer schwingenden, immer empfangenden und immer
zeugenden Ich an dem zeitlos ausgebreiteten Werk ablesen kann.
Er selbst hat auf das Werk als solches einen merkwürdig
geringen Wert gelegt, selbst der Stolz auf seine naturwissenschaftlichen
Entdeckungen, den ich erwähnte, bezog sich auf die Entdeckung als Tat, auf
das, was er das Aperçu nennt, auf das wesentliche Motiv, allenfalls auf die
treue, unablässige Arbeitsmühe, die ihn zu seiner Auffindung führte, aber
nicht eigentlich auf die fertige, als Werk vorliegende Publikation.
Ich erinnere an die eigentümliche schon angeführte
Äußerung, dass er nur aus Unkenntnis des schon Vorhandenen Schriftsteller
geworden wäre, und daran, dass er sein Leben lang kein rechtes Interesse am
Fertigmachen zeigte: Jahre und Jahrzehnte blieb Angefangenes liegen, und nur
die exzeptionelle Länge seines arbeitsamen Lebens ließ schließlich noch so
vieles fertig werden.
Gerade dieser Charakter seines Schaffens gibt dessen
Erzeugnissen eine gewisse Kontinuität, durch die sie im höchsten Maße als
die Objektivierungen eines ununterbrochenen Lebens erscheinen; jedes Produkt
war mit dem Zeitpunkt seiner Erzeugung solidarisch verbunden (daher er all
seine Gedichte als Gelegenheitsgedichte bezeichnete und das einmal
Geschaffene sogleich, im Fortschreiten zu Neuem, zu vergessen behauptete) -,
so dass die Reihe der Produkte die selbst fließende Symbolik seiner
Lebensströmung war.
Darum vereinigt sich mit jener Gleichgültigkeit gegen das
Abschließen des Werkes als solchen das lebhafteste, gewissenhafteste
Interesse an der Fixierung aller Lebensinhalte.
Ich weiß nicht, ob noch von irgendeiner anderen
Persönlichkeit eine so große Summe von mehr oder weniger unmittelbaren
Erzeugnissen des eigenen Lebens in objektiver Form niedergelegt ist.
Er selbst rechtfertigt im hohen Alter das Tagebuchführen,
das er mit unvergleichlicher Exaktheit und Detaillierung tat: »wir lernen
den Moment würdigen, wenn wir ihn also bald zu einem historischen machen«.
- Jene Äußerung, dass alle seine Gedichte nur Abschlüsse
und Beruhigungen gegenüber erlebten Freuden und Qualen wären, bedeutet
eigentlich nur eine partielle Beleuchtung innerhalb eines viel
Allgemeineren: es war überhaupt die Notwendigkeit seines Subjekts, sich zu
objektivieren, dies war sein individuelles, mit seiner Existenz selbst
unmittelbar verbundenes Gesetz.
Aber noch ist dies nicht die tiefste Form und Bedeutung,
in der die Objektivierung des Subjekts als seine Lebensformel gelten kann,
denn nicht nur an der dichterischen und überhaupt werkmäßigen Ausgestaltung
des Lebens, sondern unmittelbar an diesem selbst verwirklichte sie sich.
Denn nichts anderes ist gemeint, wenn man Goethes ganze
geistige Entwicklung als einen ungeheuren Prozess der »Bildung« bezeichnet.
Bilden heißt doch wohl, ein »Gebilde« herstellen, das
heißt, einem gegebenen Material äußerer oder geistiger Art eine Form
verleihen, die es vor dieser Abzweckung, vor diesem Willen zur Gestaltung
nicht hatte.
Nun mag solche Form irgendwie latent, ja irgendwie
drängend in dem Stoff selbst liegen, wie es Michelangelo von der Statue
sagt, dass sie im Marmorblock schon schlummere und nur herausgemeißelt zu
werden verlange.
Allein sie steht in jedem Fall als etwas Objektives da,
von dem Stoff und der subjektiven Arbeit an ihm ideell getrennt, und mit
ihrer Erreichung hat der Stoff eine Objektivierung gewonnen, die er vorher
nicht hatte.
Denn nun gehört er einem höheren Begriff an, der auch
noch über anderen Stoffen als ihre Norm steht.
In diesem Sinn hat Goethe lebenslang »sich gebildet«, hat
den Stoff seiner Persönlichkeit in eine Form gebracht, die freilich als
Trieb und Forderung von vornherein in ihr lag, aber erst als verwirklichte
ihn sozusagen zum »Gebilde« macht, zu etwas, was als objektiver Wert
dastand.
Dass dieses Formen und Entwickeln an seinem Subjekt
sozusagen nicht einfach zu seinem Subjekt zurückkehrt, sondern eine
objektive Bedeutung gewinnt, ein gültig Daseiendes ist - das muss man vor
Augen haben, um den scheinbaren Egoismus seines Arbeitens und Lernens recht
zu verstehen.
Im höchsten Alter spricht er es offen aus: »Ich habe
Natur und Kunst eigentlich immer nur egoistisch studiert, um mich zu
unterrichten, ich schrieb auch nur darüber, um mich weiter zu bilden«; und
in eben dieser Tendenz hatte er den Künstler aufgefordert, »höchst
egoistisch« zu verfahren.
Ein Begriff des Egoismus kommt damit auf, der innerhalb
der modernen ethischen Begriffsbildung ein völlig Neues war, nachdem er
freilich schon im griechischen Altertum und irgendwie auch in der
Renaissance als seelische Tatsächlichkeit wirksam gewesen war.
Das Individuum führt sich allen Weltstoff zu, bildet sich
an ihm, vollendet sich zu höchsterreichbarer Formung – nicht um sich
schließlich doch zum Mittel für »die Anderen« zu machen (»Was die Leute
daraus machen,« so fährt Goethe in dem obigen Ausspruch über sein Studieren
und Schreiben fort, »ist mir einerlei«), aber doch mit dem Bewusstsein
vollkommener Sittlichkeit, indem dieses Sich-Bilden das Subjekt aus seiner
Subjektivität herausführt und es zu einem »Gebilde« macht, das dem eigenen
Selbst gerade so wie dem der andern Menschen als ein objektiv Wertvolles
gegenübersteht.
Schließlich war er von dem objektiven Inhalt von Welt und
Geist gleichsam durchdrungen, und an diesen Inhalten und mit ihnen
gewissermaßen wieder in eine Einheit zusammenwachsend, hatte sein Subjekt
das Äußerste von Form, das in ihm überhaupt angelegt war, gewonnen.
Er war sich selbst zum Gebilde geworden, das gänzlich
objektiv war, oder richtiger: für das die Zweiheit von Objekt und Subjekt
nur noch Form des eigenen Lebens war; er schaut sich selbst mit einer
Objektivität an, in einem so absoluten Sinne, dass dieser relative Gegensatz
davon umgriffen wurde.
Daher der autobiographische Ton, in dem er im Alter seine
sachlichsten naturwissenschaftlichen oder kritischen Untersuchungen
verfasste: wie er zu jeder gekommen war, was sie für ihn bedeutete usw.
Sein subjektives Wissen um die Sache und die Objektivität
der Sache selbst war ihm eines und dasselbe geworden, Gebilde das eine wie
das andere.
Dies war die tiefste vitale Seite dessen, was er
theoretisch ausdrückte: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie
selbst sind die Lehre.« Denn das bedeutete doch zugleich: die Lehre ist das
Phänomen, das heißt, das subjektive Wissen ist von dem objektiven Sein nicht
mehr geschieden.
Es ist die großartigste Objektivierung des Subjekts, von
der wir wissen, das vollkommene Sachewerden, Historischwerden der eigenen
Persönlichkeit.
Denn nicht nur die Vergangenheit, die er als
abgeschlossen ansehen konnte, war ihm ein reines Bild geworden, sondern der
eben erlebte Tag war ein solches, ja der Moment des Erlebens selbst war ihm
ein objektives Geschehen - nicht nur im Sinne der gleichzeitigen
Selbstbeobachtung, der Spaltung des Bewusstseins, die sicher oft gar nicht
bestand, wenigstens nicht mehr als bei vielen anderen Menschen auch;
vielmehr der innere Ton des Erlebens, die Art, wie es subjektiv unmittelbar
vorging, hatte den Charakter der Objektivität.
Was er dachte und fühlte, war ihm Ereignis wie
Sonnenaufgang oder das Reifen der Früchte, er stellte das Ich nicht nur als
ein wissendes den Erlebnissen als dem Gewussten gegenüber, sondern von
vornherein war das Erleben dem kosmischen Geschehen eingeordnet.
Nicht nur einzelne Lebensinhalte waren ihm objektiv
geworden, sondern sozusagen der Lebensprozess selbst - er bedurfte für diese
Objektivität nicht mehr der Form des Gegenüber.
Diese Gegensatzschärfe war der Kategorie genommen, unter
der er sich erlebte, als eben derselben, unter der die Ereignisse des Kosmos
selbstgenugsam abrollen.
Dies Objektivwerden des Subjekts, womit Goethes
Seinsgrund sich zu besonderen zeitlichen Erscheinungen entwickelt, spricht
sich nun endlich wiederum in einer höchst charakteristischen Art an seinen
dramatischen und Romangestalten aus.
Wie diese sich zu seiner Persönlichkeit verhalten,
zeichnet sich vielleicht am deutlichsten mit einem Hinblick auf Shakespeare.
Es handelt sich um keinen allgemeinen Vergleich beider,
insbesondere nicht um einen Vergleich des Wertes, der immer schief und
unbillig ausfallen würde.
Shakespeare kann gar nicht anders angesehen, genossen und
beurteilt werden, wie als Dichter, auch das Menschlich-Ungeheure in und
hinter seiner Leistung ist mit seinem Dichtertum so organisch Eines, dass
nicht einmal die Abstraktion es davon sondern kann.
Deshalb kann Goethe auch nur seinem Dichtertum nach mit
Shakespeare verglichen werden, wenn überhaupt ein Vergleich in Frage kommt;
da für die Erscheinungen als ganze sonst kein Vergleichungspunkt besteht.
Da er nun als exklusiv dichterische Potenz hinter
Shakespeare zurücksteht, so kommt er bei solchem Vergleich immer schlecht
fort.
Es ist aber eine Beschränktheit, die Goethes
Kulturleistung für Deutschland in kaum abschätzbarem Maße hintanhält, dass
er im großen und ganzen eigentlich nur als Dichter gilt, während das
Dichtertum doch nur eine Seite seiner Existenz ist, die erst als ganze seine
Größe zeigt - eine Größe, die auch nicht pro rata in ihren einzelnen Seiten
aufzufinden ist.
Diese Tatsache, auf die ich noch näher zu sprechen komme,
liegt schließlich auch der an Shakespeare zu gewinnenden Bestimmung
zugrunde.
Shakespeares Schaffen1, seiner reinen Idee
nach, findet sein Symbol an dem göttlichen Schöpfertum.
In der gestalteten Welt ist das Etwas, woraus sie
gestaltet wurde, das Chaos oder das unbenennbare Sein, nun verschwunden, in
die Summe der einzelnen Gestaltungen aufgegangen; ebenso ist, gleichsam von
der anderen Seite, der Schöpfer selbst von diesen zurückgetreten, und
überlässt sie sich selbst und den von ihnen eingeprägten Gesetzen und steht
nicht mehr als ein Greifbares und eindeutig Auffindbares hinter ihnen.
Zu diesem Absoluten und Metaphysischen zeigen
Shakespeares Figuren die künstlerische Analogie.
Alle ihre »Naturhaftigkeit« besagt nicht, dass eine
allgemeine, einheitliche »Natur überhaupt« noch unter der einzelnen fühlbar
wäre, keine solche verbindet als ein gemeinsamer Wurzelboden die einzelnen,
sondern jede von diesen hat das Sein wie bis zum letzten Tropfen in sich
eingetrunken und es restlos in eben diese individuelle Form übergeführt.
Und auf der anderen Seite: der Schöpfer selbst hat sich
hinter seinem Werk unsichtbar gemacht, seine einzelnen Produkte weisen nicht
auf ihn als Ergänzung oder Deutung, als Hintergrund oder ideellen Brennpunkt
hin.
Es ist mindestens ein sehr symbolischer Zufall, dass wir
von Shakespeares Persönlichkeit außer einigen Äußerlichkeiten nichts wissen,
und dass auch von seinen freilich sehr persönlichen Sonetten keine wirkliche
innere Verbindung zu seinen Dramen führt.
Seine Produktionen und Gestalten haben sich von ihm
abgelöst, und - mit selbstverständlichem Vorbehalt gesprochen - es würde dem
Verständnis und dem Genuss keines seiner Werke etwas abbrechen, wenn ein
jedes einen anderen Schöpfer hätte.
Das Dasein, das jede seiner tragischen Gestalten
darstellt, geht bis in deren letzte Wurzelspitzen als individuelles hinunter
und löst sie in unerhörter Selbständigkeit und geschlossener Plastik sowohl
von der objektiven Zusammengehörigkeit aller Wesen los wie von der
Zugehörigkeit zu der dahinterstehenden Subjektivität des Dichters, die sie
zusammenbinden könnte.
In beiden Hinsichten sind die Werke und die einzelnen
Gestalten Goethes anders orientiert.
Goethes dichterische Produktion steht auf dem Gefühl eben
derselben Natur, deren Begriff sein theoretisches Weltbild fundamentiert.
Die Welt ist ihm Ausgestaltung eines universellen
einheitlichen Seins, das die Gestalten aus sich entlässt und in sich
zurücknimmt (»Geburt und Grab Ein ewiges Meer«), aber sie in keinem
Augenblick aus dieser physisch-metaphysischen Grundsubstanz sich völlig
lösen lässt (»Das Ewige regt sich fort in allen«).
Die Verwandtschaft aller Gestalten, die bei Shakespeare
höchstens in einer gewissen Gleichheit ihrer künstlerischen Formung, ihres
Stils und ihrer Umrissgrösse besteht, ist bei Goethe durch die Fundierung in
der Natureinheit gegeben, aus der sich die einzelne nur hebt, wie aus dem
Meere die einzelne Welle in ihrer vielleicht nie wiederholten Form.
Er selbst verlangt von den Charakteren im Dichtwerk als
ganz entscheidend, »dass sie zwar bedeutend voneinander abstehen, aber doch
immer unter ein Geschlecht gehören«.
Die »Natur«, unter deren Bilde oder als deren Erzeugnis
Goethe die Erscheinungen sah, war sehr viel weiter, metaphysischer, den
Zusammenhang der Individuen lückenloser unterbauend, als die »Natur«, die
die Shakespeareschen Erscheinungen hervortreibt.
Aber darum war sie auch nicht so in die einzelne
konzentriert, nicht mit so vulkanischer Stoßkraft die einzelne schaffend.
Bei Shakespeare handelt es sich um die Natur der
einzelnen Erscheinung, bei Goethe um die Natur überhaupt, die als die immer
gleiche jeder einzelnen zugrunde liegt.
Wie die typischen großen Menschen der Renaissance, haben
sich die Shakespeareschen Individuen sozusagen von Gott losgerissen, das
Metaphysische ihrer Existenz findet Platz zwischen ihrem Scheitel und ihrer
Sohle, während die Goetheschen als Glieder eines metaphysischen Organismus
wirken, als Früchte eines Baumes oder Stadien seiner Metamorphose.
Will man jenes Gleichnis des göttlichen Schöpfertums
fortsetzen, so gilt es für das Shakespearesche Schaffen, insoweit eine
göttliche Macht als schlechthin schöpferisch gedacht wird, d. h. als schüfe
sie aus dem Nichts.
In Hinsicht Goethes aber gilt das Gleichnis für die
kosmische göttliche Potenz, das heißt eine solche, die aus dem ewigen, nicht
erst zu schaffenden Stoff des Daseins die Welt formt; die bildende, Gestalt
gebende Kraft ist die Analogie seines Schöpfertums, nicht diejenige, die
zuallererst das substantielle Etwas hervorbringt.
Darum sind, im Gegensatz zu den Shakespeareschen, alle
Goetheschen Gestalten bedingt - einerseits durch die Einheit der allgemein
umfassenden, ihre Substanz hergebenden göttlichen Natur, andererseits,
worauf nun gleich hinzusehen sein wird, durch die Persönlichkeit ihres
Schöpfers.
Mit dieser nämlich sind sie in einer ganz einzigen Weise
verwachsen und alle Verwandtschaft unter ihnen selbst ist durch diese
Gemeinsamkeit ihrer Wurzel hindurch geleitet.
Bei Shakespeare liegt der dichterisch-schöpferische
Persönlichkeitspunkt, in dem sich die Lebenslinien seiner Gestalten treffen,
sozusagen im Unendlichen, bei Goethe rückt er nie ganz außer Sehweite.
Nicht so, als hätten sie alle, als beschreibbare
Phänomene, eine Familienähnlichkeit mit ihrem Erzeuger, als wären in jeder
Züge des Goetheschen Wesens feststellbar oder als wären sie aus diesen, als
aus fertigen Stücken seiner selbst, die er in der Hand hatte,
zusammengefügt.
Zwar, dieses Sich-selbst-Modellstehen, diese Projizierung
des eigenen, schon angebbar geformten Seins in die Phantasiegestalt kommt
bei Goethe oft genug vor und ist oft genug hervorgehoben worden.
Allein statt dieses einigermaßen
Naturalistisch-Mechanischen meine ich hier etwas reiner Funktionelles und
einer tieferen Schicht Zugehöriges: nicht das Übertragensein von Inhalten,
sondern das dynamische Getragensein oder genauer: Vorgetragensein der
Gestalt durch den Gestalter, durch den Schöpfer steht in Frage.
Die Figur steht nicht im selben Sinne wie bei Shakespeare
für sich, sondern sie ist das vom Dichter dargebotene Kunstwerk, sie ist
zwar ebenso »gewachsen« wie jene, aber nicht ebenso gleichsam aus sich
selbst, sondern aus der Lebendigkeit, dem Welt- und Kunstwollen Goethes: bei
aller qualitativen Eigenheit und Differenziertheit bleiben Mephisto und
Ottilie, Gretchen und Tasso, Orest und Makarie innerhalb der schöpferischen
Lebenssphäre des Dichters, und der Lebenssaft, der diese aus einheitlicher
Quelle tränkt, bleibt in allen fühlbar - eine Rückbeziehung der Geschöpfe
auf den Schöpfer nicht auf Grund des Inhalts, sondern des lebendigen, seine
Kontinuität von diesem zu jenem nicht lösenden Schöpfungsprozesses.
Der Gegensatz von Subjekt und Objekt oder, anders
gewendet, von Lyrik und Dramatik ist hier in einer Weise überwunden, die und
deren Zusammenhang mit Goethes tiefsten Lebensformeln durchaus erfasst
werden muss, wenn die Einheit und Ganzheit seines Bildes in Frage steht.
Die ungeheure produktive Dynamik seines Lebens ergoss
sich in seine Gestalten, wie sie sich in die einzelnen Szenen, Inhalte,
Äußerungen seines Lebens ergoss, und darum waren jene so subjektiv wie
diese, aber diese auch so objektiv wie jene.
So wenig aber die Einheit dieser Kraft ihren personalen
Äußerungen eine inhaltliche Verwandtschaft auferlegte, vielmehr deren
extreme Spannweite nicht hinderte - so wenig geschah das mit ihren
gebildhaften Äußerungen.
Darum ist, was seine Gestalten untereinander verbindet,
gar nicht mit Begriffen anzugeben, die immer nur die Inhalte des Lebens,
aber nicht das Leben selbst bezeichnen.
Dass aber dieses Leben sich selbst in seinen Werken
objektivierte, dass sie nicht, gleichnisweise gesprochen, aus der dagegen
isolierten Objektivität gewachsen waren, ist schließlich der Grund, weshalb
er sich so sehr dagegen wehrt, in seinen großen Werken eine »Idee«
durchgeführt zu haben.
So über den Meister: »Ich sollte meinen, ein reiches,
mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas,
ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist.« Und ebenso
über den Faust: »Es hätte auch ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein
so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im Faust
zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen Idee hätte
reihen wollen.« Der Gegensatz von Leben gegen Tendenz oder Idee umfasst - so
wenig er es hier im Sinn hat - auch das jetzt in Frage Stehende: den
Gegensatz der eigenen, die Gestalten als ihre eigenen Wellenformen
erzeugenden und sich in ihnen objektivierenden Lebensströmung - und der in
gelöster, bedingtheitsfreier Objektivität dastehenden Gebilde.
Nur solche tiefste Lebensströmung konnte sich so
objektivieren; jeder einzelne personale Lebensinhalt, in eine dichterische
Figur überpflanzt, hätte dieser das Cachet bloßen Subjektivismus gegeben,
eine Hineingezogenheit in die Beschränktheit des Ich und seiner zufälligen
Erlebnisse.
Darum ist es auch ein nur relativ gleicher Grundrhythmus,
den, bei allen Nuancierungen, die Redeweisen Antonios und der Prinzessin,
Fausts und Wagners, Pylades' und Orests zeigen, wenn man sie mit
Shakespeares Gestalten vergleicht; denn irgendwie ist in allen die
Gleichheit des Goetheschen Lebens spürbar.
Wenn dagegen Macbeth und Othello, Cordelia und Porzia
reden, so ist in der ideellen Welt dieses Geschehens und Sprechens absolut
nichts außer ihnen selbst vorhanden und spürbar, es gibt keinen Shakespeare,
der sie als ihr heimlicher König bewegte, er ist völlig in ihr Eigenleben
aufgelöst.
Vielleicht ist jene Unmittelbarkeit, mit der Goethes
Gestalten ihr Leben aus ihm selbst bezogen, die Ununterbrochenheit der
Säfteströmung zwischen ihnen - vielleicht ist diese der Grund, weshalb
Goethe vor dem Unternehmen einer »eigentlichen Tragödie« zurückscheute und
meinte, dass »der bloße Versuch ihn zerstören würde«.
Aus eben diesem Zusammenhang ist die Spannung zwischen
Subjektivität und Objektivität für Shakespeare etwas ganz anderes als für
Goethe: dort besteht sie sozusagen überhaupt nicht, das Problem ist gar
nicht auf sie eingestellt, hier ist sie überwunden, die Pole sind fühlbar,
die Distanz zwischen ihnen messbar, und zwar gerade dadurch, dass die
lebendige Funktion sie einheitlich verbindet.
Niemals hätte Shakespeare daran gedacht, sein Schaffen
als »gegenständlich« zu bezeichnen, wie Goethe, der sich offenbar durch
diese Formulierung wie erlöst gefühlt hat.
Shakespeares Lebensfülle ergießt sich im Augenblick ihres
Aufquellens selbst wie an seinem Subjekt vorbei in die Selbständigkeit der
Umrisse seiner Gestalten.
Sie sind »gegenständlich« - in dem Sinne jenes
Geschaffenseins aus dem Nichts und Gelöstseins von aller Bedingtheit, der
sie überhaupt jenseits der Frage von Subjektivität und Objektivität stellt;
während die Goethesche Akzentuierung dieses Begriffs aussagt, dass sein
Leben sich in Gebilden objektiviert, gewissermaßen als den Rhythmisierungen
seiner eigenen Bewegtheit, und ohne sich mit dieser Schöpfung von sich
selbst zu entfernen.
Sehr klar drückt sich dies in dem Stil der Romane aus,
indem wir im Meister und den Wahlverwandtschaften (um die entscheidendsten
Fälle zu nennen) überall den Erzähler fühlen.
Es fehlt hier der formal-künstlerische Realismus (von der
Alternative zwischen inhaltlichem Naturalismus und Stilisierung noch völlig
unabhängig), der die Ereignisse und Menschen auf sich selber stellt, so dass
sie, wie von der Bühne, nur als ein unmittelbares Dasein wirken: vielmehr,
sie sind wirklich eine »Erzählung«, die von dem dahinterstehenden fühlbaren
Erzähler getragen wird; bei aller Selbständigkeit der Personen und all der
Zerpflücktheit der Komposition, die etwa die Wanderjahre zeigen, bleibt doch
der Dichter die Einheit des Ganzen; in ihm laufen die Fäden zusammen, die in
der reinen Objektivität der Schicksale und Ereignisse sich nicht verweben
wollen.
Sogar in oder hinter den Dramen von Iphigenie an und der
späteren Lyrik steht, wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, der Dichter als
der Erzählende, der Berichtende.
Nicht als hätten sie an sich selbst epischen Stil.
Sondern so, dass Goethes Geisteswesen an ihnen fühlbar
wird, als die objektiv gewordene, aber in dieser Objektivität sich nicht
verlierende Subjektivität.
Dieser Ton des Erzählens, der das Gebilde sozusagen nicht
aus der Hand lässt, während er es zugleich als objektives hinstellt,
entspricht genau jenem autobiographischen seiner späteren wissenschaftlichen
Mitteilungen: es ist die nur aus dem Lebenscharakter seines Schaffens zu
verstehende, gleichzeitige Wahrung und Überwindung der Distanz zwischen
Subjekt und Objekt.
Dass man den Grundsinn der Goetheschen Existenz so, wie
ich es hier versucht habe, oder irgendwie abweichend formuliert, gibt für
unsere Auffassung von ihm und für das, was er uns ist, noch nicht die
wesentliche Entscheidung.
Diese liegt vielmehr im Gewinn einer Tiefe, von der aus
der ungeheure Umfang seines Daseins als Einheit geschaut werden kann - und
eines sozusagen formalen Verhältnisses zwischen dieser Einheit und dem
kosmischen Dasein überhaupt.
Wohin dieser Tiefenpunkt verlegt wird und welche Farbe
man diesem Verhältnis gibt, stiftet nicht die fundamentale Differenz
zwischen den Arten, Goethe aufzufassen.
Die inhaltlich vielfachen Möglichkeiten solcher
Auffassung entsprechen sogar durchaus der Vielfältigkeit seines Wesens und
der Knappheit, mit der er, der hinsichtlich der oberen Geistesschichten als
»der kommunikabelste aller Menschen« bezeichnet wurde, sich über seine
tiefsten Überzeugungen äußerte.
Mehr als einmal deutet er an, wie vieles von diesen er
verschwiege, und nur wie im Fluge kann man manches davon erhaschen, das ihm
fast gegen seinen Willen in beiläufigen Sätzen entschlüpft scheint.
Darum wird sich über die Begriffe, die seine geistige
Existenz charakterisieren, schwerlich Einstimmigkeit erzielen lassen;
prinzipiell kommt es zunächst nur auf die Einsicht an, dass innerhalb seines
Lebens als ganzen eine unerhörte Fülle von Welt durch eine ebenso unerhörte
Einheit der subjektiven Geistigkeit geformt ist.
Von den vielerlei Wegen, auf denen er dies vollbringt,
ist ihm die allgemeine deutsche Kultur eigentlich nur auf den dichterischen
gefolgt.
Obgleich die Ursachen davon keineswegs in der Tiefe zu
suchen sind, und obgleich dadurch das Wesentlichste seiner Erscheinung, das
eben in seiner Ganzheit als solcher liegt, sich verbirgt, so sprechen
allerdings gewisse sinnvolle Beziehungen zunächst dafür, diese Ganzheit
gerade durch ihre künstlerische Seite vertreten zu lassen.
Es erschien als das eigentümliche Glück seiner Natur,
dass er den in ihr gelegenen Trieben folgen, den in ihr selbst gezeichneten
Linien entlang gehen konnte und sicher war, damit ein Richtiges (im
sittlichen, künstlerischen, Erkenntnismässigen, kurz überhaupt im sachlich
ideellen Sinne) zu tun oder zu schaffen; oder von der anderen Seite her
ausgedrückt: dass er dem objektiven Sinne und Gesetz des Wirklichen wie des
Ideellen getreu und selbstlos nachschaffen konnte und damit zugleich seine
eigene Notwendigkeit realisierte, seine eigene Sprache redete.
Dies aber ist, prinzipiell, das eigentlich künstlerische
Phänomen.
Innerhalb der nichtkünstlerischen Lebenssphäre pflegt der
Konflikt der beiden Richtungen fühlbar zu sein, die Herrschaft der einen um
die Ansprüche der anderen unbekümmert zu sein, die Harmonie beider eine
Gnade oder zufällige Chance.
Wir bringen es zwar zwischen der Forderung des Objektiven
und den Trieben des Subjekts zu genug Kompromissen und Anpassungen,
vielleicht sogar zu einer gewissen allgemeinen Beruhigtheit über den
Dualismus; aber darum bleibt er nicht weniger im Grunde unser selbst und
sozusagen im Grunde des Daseins bestehen.
Der objektive Mensch: der Gelehrte, der Wirtschaftende,
der moralistisch Orientierte, der Dogmatiker fragt nur nach einer Normierung
von jenseits des Subjekts her, er lebt vom Zwecke aus, und wenn auch das
Ergebnis seines Verhaltens zu ihm zurückkehrt, so ist doch dies Verhalten
selbst um der unpersönlichen Ordnung der Dinge willen so, wie es ist.
Der subjektive Mensch dagegen, nicht von Zwecken gezogen,
sondern von inneren Ursachen getrieben, nicht durch das Hinsehen auf
Realitäten und Idealitäten, sondern durch den Instinkt normiert, steht damit
in einem bloß zufälligen Verhältnis zur objektiven Welt.
Sein Tun und dessen Produkte werden unzählige Male die
Ordnungen und die Vernunft der Dinge ebenso verfehlen, wie jener andere
Typus die eigenen Regungen und Bedürfnisse.
Natürlich wird kein Mensch ganz rein dem einen oder dem
andern Typus angehören, so wenig wie der Künstler, der nun ihre Synthese
darstellt, von der Einseitigkeit des einen oder des andern schlechthin frei
ist.
Im ganzen erscheint uns der Künstler als der
Instinktmensch; aber er ist derjenige, dessen Instinkte, im Maße seiner
Genialität, den Weg gehen, auf den der treue Anschluss an die
Gesetzmäßigkeit der Dinge und die Strenge der objektiven Kunstnormen von
sich aus führt.
Die so erreichte Einheit ist es, die von allem
Menschenwerk allein das Kunstwerk als das Gefühl gleichzeitiger Freiheit und
Notwendigkeit auf uns überströmen lässt.
Das Wunderbare der Goetheschen Beanlagung war, dass diese
künstlerische Lebensformel bei ihm über das Gebiet seines Kunstschaffens
hinaus den ganzen ungeheuren Komplex seiner Betätigungen bestimmt hat.
Ganz prinzipiell gibt es dazu nur eine Analogie, wenn
auch in engeren Maßen: was wir »die schöne Seele« nennen, ist ein Naturell,
das aus ganz ursprünglichem, unreflektiertem und keiner Normierung
bedürftigem Trieb sich der ethischen Idealität angemessen verhält, die für
andere ein Imperativ, eine auferlegte Pflicht ist.
Und auch hier weist die Namengebung als schöne Seele auf
das künstlerische Verhalten, mit eben dieser Einheit von Freiheit und
Notwendigkeit hin.
Aber für diese Seele handelt es sich insoweit um das
fließende, praktische Benehmen, um die Intentionen des Willens, nicht um das
Werk; um die Instinktmäßigkeit und -sicherheit der ethischen Werte, nicht
auch um die der Erkenntnis, der objektiven Lebensgestaltung, des
Kunstschaffens.
Alle diese aber werden bei Goethe von jener Formel
umfasst, die sonst nur für den Menschen, insoweit er Künstler ist, gilt.
Es wäre Sache einer nicht recht zu entscheidenden,
freilich auch nicht recht fruchtbaren Diskussion, wie man Goethe
hinsichtlich der rein künstlerischen Vollkommenheit und Eindrucksmacht der
einzelnen Werke mit Äschylos und Shakespeare, Michelangelo und Rembrandt,
Bach und Beethoven rangieren soll.
Es bleibe dahingestellt, ob er der größte Künstler in dem
gewöhnlichen Sinne des Wortes war; zweifellos aber war er es in dem, dass
bei keinem sonst bekannten Menschen ein so weiter Kreis schöpferischen
Lebens sich in jener Einheit von subjektivem Trieb und objektiver
Normierung, von Freiheit und Notwendigkeit erfüllte, für die uns sonst nur
das Kunstwerk Zeugnis und Symbol ist.
Ist das Künstlertum insoweit also Formel und Führer
seiner ganzen Subjektivität und ihres Verhältnisses zur Welt, so setzt es
sich mit dem gleichen Erfolg in das Weltbild selbst fort, das auf dieser
Basis gewonnen wird.
Es gilt die Überwindung eines Dualismus, der aber nun
nicht in den Voraussetzungen des subjektiven Lebens, sondern in denen der
metaphysischen Struktur der Dinge steckt.
Ich bezeichne seine Elemente als Wirklichkeit und Idee,
indem ich unter dieser das Übersinnliche, schlechthin Wertvolle, Göttliche
verstehe, kurz alles dasjenige, was seinem Begriffe nach von der
Wirklichkeit verschieden ist, aber ihr dennoch Sinn und Recht gibt.
Von der gemeinsamen Basis dieses Dualismus aus streben
zwei diametral entgegengesetzte Richtungen zum Bau eines Weltbildes.
Wer sich auf die Seite der sinnlichen Wirklichkeit stellt
und von ihrer Erkenntnis alles prinzipiell Unsinnliche fernhalten will,
erreicht solche Erkenntnis nur, indem er das Daseiende in Elemente zerlegt
und aus diesen wieder zusammenbaut: dies bedeutet für ihn »Verstehen«.
Für die andere Partei fällt aller Akzent auf die Seite
der Idee und auf die »höhere Wirklichkeit«, die sie darstellt, ihr ist alle
sinnliche Erscheinung Abfall, Schattenbild, Erzeugnis des Subjekts oder sie
wird überhaupt geleugnet, indem auch das sinnlich Gegebene nur ein
Entwicklungsstadium der metaphysischen Idee ist.
Beiden Richtungen: des auf die Elemente hinforschenden
Physikers und Chemikers und des die Sinnenwelt überfliegenden Metaphysikers
- ist das Goethesche Denken gleichmäßig fremd und feindlich.
Ihm ist die unmittelbare, sinnlich gegebene Erscheinung
als solche schon die unmittelbare Offenbarung der Idee und der mit ihr
bezeichneten Werte.
Insoweit eine Gestalt sichtbar gegeben ist, hat sie die
volle, von keiner nicht sichtbaren Instanz etwa erst zu borgende Realität;
ebenso weit aber ist für den richtig eingestellten Blick alles Ideelle in
ihr sichtbar.
»Vom Absoluten im theoretischen (das heißt hier
>abstrakten<) Sinne«, so spricht er dies erschöpfend aus, »wag' ich nicht zu
reden; behaupten aber darf ich, dass, wer es in der Erscheinung anerkannt
und immer im Auge behalten hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird.« Und
nichts anderes meint er mit dem mehr symbolischen Satz: »Ich glaube einen
Gott.
Das ist ein schönes und löbliches Wort; aber Gott
anerkennen wie und wo er sich offenbare, das ist eigentlich die Seligkeit
auf Erden.« Nicht hinter der erscheinenden Wirklichkeit, in einem
Ideenreiche oder einem Ding an sich oder einem Reich Gottes, das erst der
Jüngste Tag realisiert, lebt die Vernunft und der Wert der Dinge; sondern
weil sein Gott »sich in die Natur verschlingt«, die Welt »im Inneren
bewegt«, weil Wirklichkeit und Wert, Sinnlichkeit und Sinn ihm im letzten
Grunde eines sind - darum kann weder die naturwissenschaftliche Analyse noch
die theologische Metaphysik die Formel seines Weltbildes gewähren.
Denn beide reißen die Erscheinung und die Idee
auseinander, während es seine tiefste Überzeugung ist, dass wir, sobald wir
nur richtig sehen, die Idee erschauen; dass alle Vernunft, aller Sinn, alle
Schönheit, alle Göttlichkeit uns vor die Augen gestellt ist, gesetzt selbst,
dass wir diese nur selten recht zu brauchen wissen.
Dies nun spricht die Voraussetzung alles Künstlertums
überhaupt aus.
Der Künstler mag sich von dem ganzen Komplex der
unmittelbar gegebenen Welt noch so weit und entschieden entfernen -
irgendeine Wirklichkeit, ein Sichtbares oder Hörbares, stellt er hin,
welches nun so, wie es da ist, die Sichtbarkeit oder Hörbarkeit eines Wertes
ist, der Bedeutsamkeit, der Schönheit, des persönlichen Wesens, der Symbolik
des Seelischen oder Religiösen.
Ob der künstlerische Stil »naturalistisch« ist oder
nicht, macht hierin keinen Unterschied.
»Wenn Künstler von Natur sprechen«, sagt Goethe selbst,
»subintelligieren sie immer die Idee, ohne sich's deutlich bewusst zu sein.«
Denn dass irgendein Stück Wirklichkeit, sei es auch selbstgeschaffen, in
seiner sinnlichen Darbietung ein sinnvolles und wertvolles ist, das hat zu
seiner tiefsten Grundlage ein mehr oder weniger bewusstes Gefühl davon, dass
die Wirklichkeit überhaupt, ihrem Umfange wie der Tatsache ihres
Wirklichseins nach, eben die Wirklichkeit jenes Ideellen ist; und dass das
Stück Wirklichkeit, das der Künstler hinsetzt, schließlich nur am
geeignetsten ist, den Wert und Sinn alles Daseins überhaupt deutlich zu
machen.
Deshalb sind auch alle Künstler Naturanbeter, gleichviel
wohin ein jeder in diesen allgemeinen Tempel sein Allerheiligstes setzt und
ob er dessen Bedeutung so steigere, dass alles übrige ihm fast als Gegensatz
dazu erscheint.
So ist es also nach der Seite der Wesensbestimmung wie
des Weltbildes die künstlerische Struktur, in der, als in einem Fundament,
Goethes Wirkungs- und Denkweisen sich zusammenfinden.
Das mag einen Schein von Rechtfertigung dafür ergeben,
dass man sein Gesamtbild in seinem Dichtertum zuhöchst aufgegipfelt, ja
dadurch vertretbar glaubt.
Dennoch ist dies durchaus irrig.
Goethes Geist, in seinem Leben wie in seinem Werk, ist
überhaupt nicht durch irgendwelche »Höhepunkte« zu repräsentieren.
Sondern so gewiss sein Rang als Dichter, wie der eines
jeden Künstlers, gleich dem Rang seiner höchsten Werke ist, so gewiss liegt
in der ganzen Breite seines Schaffens ein unersetzlicher Wert, der eben nur
als ganzer gekannt und erlebt werden kann und neben dem der Wert jeder
einzelnen Provinz dieses Schaffens etwas Besonderes und nicht einmal im
genauen Sinne »ein Teil« ist.
Die letzte Basis hierfür und für das Bild Goethes
überhaupt ist, dass - in räumlichem und deshalb immer unzulänglichem
Gleichnis gesprochen - unterhalb seines Künstlertums noch eine tiefere,
tiefste Wurzel und Bedeutsamkeit seines Daseins lag.
Gewiss entbehrt kein benennbares menschliches Dasein und
Leisten der Wurzelung in dieser Schicht; nur muss sie an Goethe besonders
fühlbar gemacht werden, weil es scheint, als ob schon sein Künstlertum, das
doch all seinem Schaffen und Denken Form und Voraussetzung gibt, eben dies
Letzte wäre; tatsächlich aber ist es das so wenig, wie das Ethische oder das
Wissenschaftliche es ist.
Alles dies vielmehr wird von einer Rhythmik oder Dynamik,
alles einzelne übergreifend, getragen, ruht auf einer letzten Substanz und
Bedeutung seines Lebens, die in Begriffen nicht festzulegen ist, sondern die
nur als anschauliche Kenntnis aus dem Leben mit ihm wächst, - wie wir von
den Menschen, die uns vertraut sind, ein genaues Bild ihres Seins haben, das
gar nicht in irgendwelche Einzelheiten und Qualitäten aufgeht, mit dem aber
ein jeder erst dieser schlechthin unverwechselbare für uns wird.
Wir können vielleicht gar keine Wesensäußerung aufzeigen,
in der es sich rein ausspricht, auch die tiefste nicht, die uns noch
benennbar ist; und doch wissen wir: dies eben ist der Mensch, den wir
kennen, und alles noch so weit Gespannte, inhaltlich noch so Heterogene
wächst aus dieser Wurzel.
Dies ist es, was wir von vergangenen Menschen, von denen
uns nur einzelne Inhalte und Produkte geblieben sind, nicht so leicht
gewinnen, was aber Goethe in dem Maße, in dem die Breite seiner Leistung für
uns da ist, aber über jede seiner Leistungen hinaus uns gewährt, jenem
geheimnisvollen Ausspruch von ihm zugehörig: es ist für sein Wesen »das
Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind«.
Das Künstlertum in ihm, das gleichsam erst dasjenige
Gesetz seiner selbst bedeutet, das in seiner Erscheinung aufzuweisen ist, -
wird durch jenes Allgemeine und Einheitliche seines Wesens unterbaut, und
würde ohne die unerhörte Tiefe und Breite dieses Unterbaus auch als
Künstlertum nicht zu seiner Höhe geführt worden sein.
Er selbst tut einmal den Ausspruch: Jedes, was in seiner
Art vollkommen sei, gehe über seine Art hinaus - und begründet damit wie von
der andern Seite das Angedeutete: dass der Künstler dann erst seine
Vollendung auch rein als Künstler erreicht, wenn er mehr als Künstler ist.
Was alle Worte über »Goethe überhaupt« bewirken können,
ist im besten Falle dieses, dass der Instinkt für die Intuition dieser
Ganzheit und Einheit des Goetheschen Daseins geweckt und irgendwie geleitet
werde.
Da dies nun in einer Schicht liegt, in der man nicht mehr
durch Begriffe und Beweise sehen kann, so wird sich daran die Individualität
der geistigen Sehapparate in weitem Maße geltend machen.
Wenn von jeher ausgesprochen ist, dass ein jeder seinen
Goethe liest, so ist damit rechterweise nicht die Unfixierbarkeit des
Geschmacksurteils, wie sie dem Kunstwerk gegenüber zugegeben wird, gemeint,
sondern die allgemeine Tatsache des menschlichen Erkennens: dass wir es zu
Einstimmigkeit und überindividueller Bestimmtheit nur ganz singulären und
fest umschriebenen Erscheinungen gegenüber bringen, dass das Urteil aber um
so individueller, um so mehr der Verantwortlichkeit des Einzelnen
zugeschoben wird, je weiter der Gegenstand ist, je mehr er sich in die Tiefe
der Totalität streckt.
Wo es sich nicht um bloße Formeln handelt, wie in der
Mathematik, sind die Allgemeinheit des Gegenstandes und die Allgemeinheit
des Urteils einander umgekehrt proportional.
Dies aber bedeutet durchaus nicht Willkür und
unkontrollierbare Subjektivität des Individuums.
Sondern, wie für jede individuelle Seele zur Natur
überhaupt, zum göttlichen Prinzip, zum Sinn und Wertkern des Daseins ein
durch ihre Sonderart festgelegtes Verhältnis gilt, das für sie das rechte
ist, und das sie in ihrem inneren Verhalten realisieren oder verfehlen kann
- so zeigt sich die Tiefe und Bedeutsamkeit jenes letzten Goetheschen
Lebenssinnes darin, dass für jeden Menschen unserer Kultur ein ganz
bestimmtes Verhältnis zu Goethe besteht.
Er kann dieses Verhältnis gewinnen, kann es missdeuten,
kann darauf verzichten; darum bleibt es als die objektive Bezeichnung einer
so und so beschaffenen Persönlichkeit zu der bisher zentralsten
Persönlichkeit unserer Kultur nicht weniger gültig, nicht weniger wie mit
ideellen Linien vorgezeichnet.
Das Erfassen dieser Grundtatsache Goethe, die Ahnung des
Gesetzes, nach dem hier in einem Stück des Kosmos die Ganzheit dieses Kosmos
reiner und weiter zum Ausdruck gekommen ist, als in andern Stücken, die wir
kennen - ist natürlich von der Kenntnis irgendeiner einzelnen Leistung und
dem Verhältnis zu ihr ebenso unabhängig, wie sie von der Kenntnis seiner
Gesamtleistung abhängig ist.
Aber das Entscheidende bleibt dennoch etwas anderes als
auch die Summe seiner Werke, bleibt ihr ideeller Brennpunkt, jenes
einheitlich fundamentale Leben, das nicht beschreiblich, aber in dem
Verhältnis jedes hinreichend ausgebildeten Geistes zu ihm deutlich erfassbar
ist.
Und an diesem äußersten Punkte angelangt, kann man von
der geistesgeschichtlichen Unsterblichkeit Goethes reden.
Während gewisse seiner wundervollsten Werke selbst in den
Kreisen der »höheren Bildung«, geradezu gesagt, noch nicht entdeckt sind,
haben andere unzweifelhaft ihre Bedeutung für uns verloren; die anders
gewordene Zeit hat in manchem andere Wertkriterien erzeugt, als die seinigen
waren.
Niemand kann wissen, wie weit dieser Prozess vorschreiten
und wie tief er in einer fernen Zukunft die Genießbarkeit der einzelnen
Dichtungen, die Anerkennung der einzelnen Erkenntnisse herabsetzen wird.
Dass aber die Bedeutsamkeit, das Unvergleichliche und
doch zugleich Vorbildliche, der seelische und metaphysische Wert jenes
tiefsten Persönlichkeitslebens, für das alle Werke nur »ziemlich
gleichgültige - Töpfe oder Schüsseln« waren, einmal für die menschliche
Kultur verschwinden, oder auch nur geringer werden könnte, das ist nicht
auszudenken.
Ein höchst paradoxes, sich in alle dunkelsten Beziehungen
des Geistes zur Zeit hineinwühlendes Verhältnis tut sich hier auf.
Die Werke, objektiv dastehende, sozusagen zeitlich
unzerstörbare Tatsächlichkeiten, werden vielleicht der Sterblichkeit,
mindestens den geschichtlichen Schwankungen des Wertens unterliegen; das
Leben aber, das sie zeugte und trug, mit seinem letzten Atemzuge
dahingegangen, mit keinem Mittel und an keinem einzelnen Dokument sicher und
einheitlich zu ergreifen - das erscheint als ein ewiger Besitz, als etwas,
dessen Entwertung, oder dass es nicht mehr im Bewusstsein der Menschheit
sei, man nicht vorstellen kann.
Und gerade dieses unsterbliche Leben haben wir an jenen
vielleicht sterblichen Werken! - wie wir, nach seinem eigenen Gleichnis, an
dem farbigen Abglanz, der sich in den fortwährend vergehenden Tropfen des
Wassersturzes malt, das Leben haben.
In einer Wechselwirkung, wie sie so tief und rein wohl
kein Ereignis der Geistesgeschichte uns zeigt, trägt hier das Leben die
Werke und tragen die Werke das Leben - noch gegenüber dem Problem der
Unsterblichkeit jene Einheit von Werk und Leben verkündend, die uns das Bild
Goethes als sein letztes Geheimnis und seine letzte Offenbarung darbietet.
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Ich entnehme diese und einige weitere
Formulierungen meinem Buch: Goethe (Leipzig 1913) [in: GSG 15], - in dem
ich den geistigen Gesamtsinn der Goetheschen Existenz noch durch die
Einzelheiten von Leben, Werk, Weltanschauung hindurch zu entwickeln
unternommen habe.