Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
presents: Georg Simmel Online

  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online G.Simmel: Posthum erschienene Werke

 

Georg Simmel: Werte des Goethe'schen Lebens

ex: Georg Simmel: Allgemeine Einleitung in: Goethes sämtliche Werke. Mit Einleitungen von Hermann Bahr, Max Dessoir, Paul Ernst, Herbert Eulenberg, Cäsar Flaischlen, Ernst Hardt, Gerhart Hauptmann, Wilhelm Hegeler, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Wilhelm Ostwald, Karl Scheffler, Wilhelm von Scholz, Georg Simmel, Martin Wackernagel, Jakob Wassermann, Bruno Wille. Herausgegeben von Curt Noch und Paul Wiegler. Erster Band: Gedichte. Erster Teil 1756-1796. . Berlin: Verlag Ullstein o. J. [1923], S. 11-97.

"Meine Arbeiten sind immer nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens."  (Goethe, 1775).

"Meine ernstlichste Betrachtung ist jetzt die neuste Ausgabe meiner Lebensspuren, welche man, damit das Kind einen Namen habe, Werke zu nennen pflegt." (Goethe, 1815).

Wer sich über die Werte einer menschlichen Existenz, beurteilend oder genießend, Rechenschaft ablegt, wird nach zwei Richtungen blicken müssen, von denen her das Leben die allgemeinsten Formen des Wertvollen und Bedeutsamen erzeugen kann.

Das Leben selbst, in der Unmittelbarkeit und Gegenwart seines Daseins und seiner Kräfte, ist der erste Träger von Werten: schaffend und genießend, empfindend und spielend, in sittlicher Bewährung wie in Gewinn und Verlust dem Schicksal gegenüber, kann es sich als groß und wesentlich und wertvoll - freilich auch als das Gegenteil von alledem bewähren.

Diese Werte bezahlt der Vorgang des Lebens mit seiner Vergänglichkeit; wenn er gelebt ist, ist er vorbei, aufgelöst in anders geformte Wirkungen und in die Schattenbilder der Erinnerung.

Aber als geistiges Leben hat er die mit keiner anderen Daseinstatsache vergleichliche, alle menschliche Kultur begründende Fähigkeit: ein Ergebnis zu bewirken, das, unabhängig von dem Prozess seiner Erzeugung und dessen Vorübergehen, eine selbständige Existenz besitzt.

Kunstwerke und Erkenntnisse, religiöse Lehren und soziale Verfassungen liegen in diesem Bezirk des vom Leben zwar Erzeugten, aber vom Leben Gelösten, gegen seine Entstehungskräfte selbst gleichgültig Gewordenen.

Und hier erheben sich ganz neue Werte, an sachlichen Maßstäben, an zeitlosen Ideen, an der Realität der Dinge gemessen.

Dies ist die andere große Wertmöglichkeit unserer Existenz, dass sie die Erzeugnisse ihrer Energien aus sich heraus setze, in eine von ihr selbst geschiedne, überdauernde Ordnung, in der diese Ereignisse wie Dinge selbst stehen und sich ihren Rang nach Normen von Schönheit und Größe, von Tiefe und Wahrheit bestimmen.

Die Betonungen des höheren Lebens pflegen in sehr ungleichmäßiger Weise nach der einen oder der anderen dieser Richtungen zu fallen und uns in Widersprüche und Konflikte unserer Beurteilungen, ebenso wie unserer praktischen Entscheidungen zu verwickeln.

Das strömende, nur auf sein eigenes Gesetz hörende Leben, mit den Werten, die es seiner Unmittelbarkeit verleihen oder ihr entnehmen kann, übertönt unzählige Male die objektiven Werte unseres Schaffens, die selbständige Bedeutung seiner Erzeugnisse verblasst vor den Werten des erzeugenden Lebens selbst; und dann wieder versinkt das Subjekt mit seiner vorüberfliegenden Existenz, es wird, widerstandslos oder in Kämpfen, zurückgeschoben, ein bloßes Mittel für die Sachwerte, die überpersönliche Bedeutung unserer Arbeit oder vielmehr der Resultate unserer Arbeit.

Sucht man nun zu den mannigfaltigen Werten, deren Summierung die Goethesche Existenz als etwas Unvergleichliches erscheinen lässt, nach einer zentralen Formulierung - nicht für Einzelwerte, sondern für deren Vereinheitlichung -, so möchte ich diesen Wurzel- oder Gipfelpunkt seines Wesens so bezeichnen: der Prozess seines Lebens, die von innen hervorbrechende, stetige Strömung seiner Triebe und Kraftentladungen war den Ergebnissen dieses Lebens harmonischer zugeordnet, die sachlichen, von ihrem Entstehungsprozess ganz gelösten Werte seines Werkes waren den inneren, gelebten Werten inniger verbunden, als wir es sonst von einer Existenz des gleichen Größenmaßes wissen.

Hier wurde eine Existenz gelebt, die an sich einen höchsten Wert darstellte, von dem ihrer Produkte ganz unabhängig: nach der Tiefe ihrer Geistigkeit, nach der Kraft und Freiheit ihres Idealismus, nach der Fülle ihres Aufnehmens und Sichausströmens, nach der strengen Schönheit, zu der er sein leidenschaftliches Verhältnis zu Dingen, Menschen und Ideen gestaltete.

Und dieses Leben, mit alledem nur von seinem individuellen Gesetz gelenkt, seinen eigenen Ausdrücken nach in allem Tun nur einem Spieltrieb und Liebhabertum folgend, - schuf hiermit Kunstwerke, wissenschaftliche Erkenntnisse, Deutungen des Lebens, von einer so reinen Sachlichkeit, solcher Treue gegen den Gegenstand, so objektiver Vollendung, als wäre alles dies sozusagen unmittelbar aus den Gesetzen der Dinge selbst, aus den ganz überpersönlichen Forderungen der Kunst hervorgegangen.

Der große Spalt, der unsere Existenzwerte so oft auseinander treibt: zwischen dem subjektiven Lebensprozess, der seine Bewährungen in sich selbst trägt und sich in seinen Zeitgrenzen vollendet, und dem objektiven Werke, dessen Wert sich, jenseits aller Lebensbedingtheit seines Entstehens, nach bloß sachlichen Maßstäben entscheidet - dieser Spalt setzt sich bei Goethe nicht wie bei den meisten von uns bis in den Wurzelgrund der Existenz fort.

In diesem letzten Fundament besaß er eine Einheitlichkeit - keine starre, prinzipielle, sondern eine lebendige, durch unzählige Wechselstadien und Widersprüche hindurch entwickelte -, die es ihm gestattete, sich seinen Neigungen und Impulsivitäten gewissermaßen unbekümmert anzuvertrauen, als müssten diese ihn von sich aus zu der Produktion des sachlich, überzeitlich Wertvollen führen; und die in demselben Maße, in dem dies Leben, rein als Leben, ein subjektiv vollendetes wurde, als hätte es alle Kräfte und Werte in seine Gegenwart gesammelt, das Werk in die Höhen hob, die wir kennen.

- Dies ist natürlich nur ein erstes und allgemeinstes Schema seines Wesens, nur die Form umreißend, in der sich mit ihm, in einziger Weise, die allgemeinen Menschheitswerte aufgegipfelt haben.

Aber hiermit motiviert sich das von jeher bestehende Gefühl, dass wir an Goethe mehr haben als die Summe seiner Werke.

Nicht im Sinne des ungeheuren biographischen Materials, das ja, von dem Bedürfnis tieferen Verstehens her gesehen, eigentlich neben seinen Werken steht; kennten wir nämlich auch das ganze Milieu, alle Modelle, die gesamten äußeren »Anregungen« zu jedem seiner Werke, so würden wir tatsächlich darüber alles dasjenige wissen, was eben nicht goethisch ist, was also das Spezifische der Leistung, um dessentwillen wir uns überhaupt um sie kümmern, gerade nicht enthält.

Vielmehr, wodurch er uns mehr ist als die Schöpfer, die für uns nur in der Summe ihrer Werke bestehen, das ist - kurz und etwas paradox ausgedrückt - das Bewusstsein, jedes dieser Werke und Worte sei von Goethe.

Jener Wert, der dem geistigen Erzeugnis von seinen rein sachlichen Normen her zukommt, wird hier aufgenommen, genährt, gesteigert von dem Strom des persönlichen Lebens, der unmittelbar aus eigener Quelle fließt.

Dadurch, dass jede seiner Äußerungen in einer unerhörten Einheit und Kontinuität aus der rein selbstgesetzlichen Innerlichkeit dieses Lebens quillt, haben sie alle untereinander, bei aller Mannigfaltigkeit, ja Gegensätzlichkeit ihrer Inhalte und auch ihrer Werte, eine organische Beziehung zueinander, als gehörten sie demselben Blutkreislauf zu; und dadurch wird gewissermaßen jede einzelne um die Totalität aller bereichert.

Dass wir Goethe als ganzen haben, das enthebt jedes Werk und jedes Wort von ihm der Isoliertheit des Wertes, der nur seinem Sachgehalt zukäme.

Wie Goethe nun einmal als Gesamterscheinung und unvergleichlicher Besitz der deutschen Kultur vor uns steht, ist sein einzelnes Werk, in seinem letzten Sinne und seiner Bedeutung für uns, weit weniger aus der Gesamtheit der Lebensleistung gelöst, als es bei Kunstwerken sonst der Fall ist.

Mehr als anderen spüren wir diesem Menschen gegenüber, von dem wir unmittelbar und mittelbar wohl mehr wissen als von irgendeiner historischen Persönlichkeit, die Macht und Einheit des Lebensprozesses als solchen, dem jede Äußerung entsprossen ist; so dass wie durch diese gemeinsame Wurzel hindurch jede einzelne mit dem Kern oder der Entwicklungsreihe aller anderen organisch verbunden und dadurch mit einer Weite und Tiefe von Beziehungen und geahnten Bedeutungen, einem Reichtum gelebten Lebens ausgestattet ist, wie keine andere Erscheinung der Geistesgeschichte es in gleichem Maße besitzt.

Dass nun aber Erzeugnisse, so aus rein innerlichen Wachstumsnotwendigkeiten heraus entfaltet, mit der Wahrheit der Dinge und den Forderungen der Kunst so harmonisch und sachgesetzlich einstimmig sind - das mag man symbolisch so ausdrücken, dass eben jene Wesenswurzel seiner selbst, das ganze individuelle Gesetz seiner Existenz und Entwicklung dem Kosmos - oder wie man die letzte Einheit alles Seins und Sinnes benennen mag - enger oder wenigstens fühlbarer und in verfolgbareren Linien verwurzelt war als andere Existenzen der gleichen Bedeutsamkeit.

Hiermit mögen nur die Motive vorbereitet sein, aus denen sich eine prinzipielle Art, das Gesamtwerk Goethes aufzunehmen, entwickeln lässt.


In seinem tatsächlichen Verhalten wie in der Betrachtung wird Goethe von der Empfindung beherrscht, dass das Leben zu seinen höchsten Werten gelange, wenn es nur ganz sich selbst, seinem reinen Wachstum, der Unverfälschtheit seiner Triebe folgen wollte, statt sich von Zwecken ziehen zu lassen, die ihm in irgendeinem, wie auch idealen Sinne von außen kommen.

Dagegen spricht nicht, dass Goethes Leben ein ungeheures Maß von Selbsterziehung, Selbstbeherrschung, Verzicht enthält; denn dies sind bei ihm nicht Hemmungen, Abzüge, Gegenbewegungen zur Lebensströmung, sondern die inneren Formungen ihrer selbst, durchaus positiv ihr zugehörige Gestaltungen.

Darum wird der ganze Umfang und die ganze Entwicklung Goethes von einem unbedingten Vertrauen zum Leben selbst getragen, von der fortwährenden Akzentuierung jener ersten Seite unserer Existenzwerte: der Lebensdynamik, der Aktivität als solcher - oft mit entschiedener Abweisung der zweiten, der Normierung durch Zwecke und Produkte, wie sie von bloßen Sachgehalten herkommt.

»Es kommt offenbar«, so sagt er, »im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an.« Wer auf die Resultate sieht, sagt er anderweitig, dem »geht darüber die einzelne Tat sowie der einzelne Mensch verloren«.

Und in zwei ganz kurz abschließenden Ausdrücken: »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst« und »Das Tun interessiert, das Getane nicht.« Das eigentümliche, wohltätige Gefühl nach der Lektüre auch nur weniger Seiten Goethes oder der Berichte über ihn, als wäre man in seiner Lebenszuversicht gestärkt, spürte unter der eigenen Existenz einen tragfähigeren Boden - geht sicher auf diesen in sich selbst gegründeten Lebenswillen zurück, auf dieses tiefe, seine Äußerungen von Anfang bis Ende durchströmende Zutrauen, dass das Leben sich um seiner selbst willen lohne.

Er selbst empfindet mit einem gewissen Stolz diese Wirkung, wenn er, nur mit einer leichten Modifikation, sich einen »Befreier« der Deutschen nennt; denn sie wären an ihm gewahr geworden, dass »der Mensch von innen heraus leben müsse«.

Es war jene glücklich geniale Harmonie seiner Existenz zu dem, was man die Wahrheit und die Schönheit der Dinge nennen möchte, woraus ihm das Zutrauen zum Leben entsprang, und die Überzeugung, an der Unmittelbarkeit dieses nur auf sich selbst hörenden Lebens sein Wertmaximum zu besitzen; dass dies überhaupt an einem Menschen höchster objektiver Leistungen möglich war, ist eben für uns ein unersetzliches Pfand für eine letzte Zuverlässigkeit des Lebens.

Dieses, seinem eigen-innerlichen Triebe überlassene und in dieser Gerichtetheit seiner selbst sichere Leben spricht sich in der Abneigung gegen alle »Profession« aus.

Als den beharrenden Grundzug seiner Gesinnung bezeichnet er es, zu keiner »Innung« zu gehören und »Liebhaber bis ans Ende« zu bleiben; es ist ihm »zuwider« etwas als »Profession« zu treiben: »Ich will alles, was ich kann, spielend treiben, was mir eben kommt, und solange die Lust daran währt.« Er war einer der arbeitsamsten Menschen, von denen wir wissen.

Seine erhaltenen Werke (außerordentlich viel Geschriebenes hat er selbst vernichtet) bezeichnet doch nur einen Bruchteil dieser ungeheuren Tätigkeit als Dichter und Verwaltungsbeamter, als Naturforscher und Theaterdirektor, als Agierender in unzähligen Angelegenheiten dritter Personen und als Kritiker.

Dass er dies alles als Liebhabertum im Gegensatz zur Berufsmäßigkeit empfand, war nur durch jene Grundstruktur seiner Existenz möglich: dass deren zentrale Triebhaftigkeit Inhalte, Gebilde, Leistungen erzeugte, die typischerweise von vorbestehenden Formen, gegebenen Zielen, äußerer Objektivität her gewonnen werden.

Gewiss hat er gelernt und von Welt so viel aufgenommen wie wenige; aber das Entscheidende war doch immer die Selbstentwicklung seines Geistes, die ihn sozusagen auf den Wegen seines eigenen Lebens zu den Punkten führte, an denen er mit den Wegen der Welt - als Wirklichkeit und Idee - zusammentraf.

In einer Epoche, in der er eine unerhörte Fülle von Eindrücken und Erkenntnissen gewann, schreibt er, es dränge so auf ihn ein, dass er sich dessen nicht erwehren könne - »und doch entwickelt sich alles von innen heraus«.

Dies ist freilich der äußerste Gegensatz zu aller »Professionsmäßigkeit«, die auf vorgebahntem Wege vorbezeichnete Ziele sucht und die Kraftbewährung in einer von außen her gezogenen Linie festlegt.

Darum kann er, ohne dass ein Ton von Selbstvorwurf mitklänge, es aussprechen, dass er immer nur »egoistisch« gelernt und gearbeitet hätte; schließlich hätte ihm immer nur daran gelegen, sich selbst auszubilden; was uns später noch näher beschäftigen wird.

Solche Ich-Sucht ist schließlich danach zu werten, was für ein Ich es ist, das sich selbst sucht.

Und hier war es ein solches, das sich mit der Natur und dem Werte der Dinge harmonisch wusste und fühlte, so dass es mit der eigenen, sich selbst suchenden Entwicklung und Ausbildung gleichsam den Sinn des Daseins selbst - in dem Maße menschlicher Beschränktheit - realisierte.

Es ist darum eigentlich selbstverständlich, dass er die Summe seiner Leistungen: Dichterisches und Geistesgeschichtliches, Naturwissenschaftliches und Biographisches als eine einzige Leistung ansah.

Er spricht dies in einer äußerst markanten Weise aus, indem er am Anfang der Bekanntschaft mit Schiller, in einem für seine ganze Geistigkeit programmatischen und höchst durchdachten Briefe an diesen schreibt: »Da ich sehr lebhaft fühle, dass mein Unternehmen das Maß der menschlichen Kräfte und ihre irdische Dauer weit übersteigt« - usw.

Nicht etwa ein einzelnes Unternehmen ist gemeint, sondern die Gesamtheit seiner Lebensleistungen; aber er bezeichnet sie nicht als »meine Unternehmen«, nicht als Mehrzahl, sondern als ein einziges: »mein Unternehmen« - diese Leistungen, die sich zwischen Dichtung jeder Form und dem geschichtsphilosophischen Studium der früheren Farbenlehren spannen, von Theorien über Knochenbau bis zur systematischen Darstellung des Dilettantismus, von der Erzählung orientalischer Geistesgeschichte bis zu den Regeln für Schauspieler.

All dieses erscheint ihm keineswegs in dem Maße heterogen und gegeneinander selbständig, wie wenn jedes für sich der Inhalt einer besonderen Berufstätigkeit wäre.

Da vielmehr Interesse und Arbeit für ein jedes aus der vollen Spontaneität und jeweiligen Entwicklungsnotwendigkeit seiner Natur hervorgeht, so ist es eben alles miteinander verwurzelt und schlechthin »mein Unternehmen«.

Wenn es zu seinen entscheidendsten Grundüberzeugungen gehörte, dass die Welt in natürlicher wie in kultureller Hinsicht eine einheitliche sei, wenn die Natur allenthalben im Kleinen genau dasselbe tut wie im Großen, wenn ihm Orient und Okzident nicht zu trennen sind - so ist dies gewissermaßen die objektive Spiegelung der ungeheuren Einheit seiner Natur.

Denn auch diese bedeutet ja nicht Einschrumpfung auf eine einseitige Enge, sondern eine unerhört weite Ausstrahlung, an der sich gerade erst die produktive und eben damit zusammenhaltende Kraft der zentralen Einheit bewährt.

Von hier verdeutlicht sich noch einmal das Verhältnis zwischen Goethes Werken und seinem Leben - nicht etwa den »Umständen« dieses Lebens, sondern seinem ganzen und inneren Prozesse.

Er hat oft ausgesprochen, dass seine Schriften von dem Augenblick ihrer Vollendung an alles Interesse für ihn verloren hätten.

Er habe eben das, was ihn beschäftigt habe, beglückend oder peinigend, in ein künstlerisches Bild verwandelt und sich dadurch von dem Erlebnis des Affektes selbst befreit.

Die Befreiung aber hat sozusagen nur den Zweck, dass das Leben nun seinen Weg weitergehen kann; es hat diese Station des Erlebens und Erzeugens passiert, und sie hat nun keine Bedeutung mehr für den Weiterlebenden.

Er fühlte offenbar zu seinen Werken, obgleich sie doch gerade in objektiver Festigkeit und Zeitdauer vorliegen, so wenig Beziehung, wie die Lebensgegenwart als solche sich auf die Pulsschläge des vergangenen Lebens zurückbezieht; in dem weitesten Sinne des Wortes kann man deshalb sagen, dass er der undogmatischste Mensch von der Welt war.

Er lässt seine Dichtungen, seine Maximen hinter sich, wie wir die durchlebten Gefühle und Situationen unserer Existenz hinter uns lassen, da sich für ihn, den schlechthin produktiven Menschen, alles Okkupierende, Bedrängende, Vergewaltigende wie von selbst in Schöpfung und Gebilde umsetzte, sich aus der Lebensströmung heraussetzte, damit für diese, wie sie immer von neuem aus ihrer Quelle nachdrängte, Platz würde.

Damit ist ein sehr merkwürdiges und für das Verständnis seiner Gesamterscheinung höchst wichtiges Doppelverhältnis zwischen ihm und seinem Werke gegeben: einerseits ist er der Mensch einer sozusagen bis zu seinem letzten Tage nicht rastenden Entwicklung, und da seine Dichtungen nur Momente dieser Entwicklung in der Form der künstlerischen Objektivierung sind, so sind sie auch jeweilig völlig abgetan und ausgeschieden: da er »immer vorwärts strebe«, sagt er in seinem zweiundachtzigsten Jahre, so vergesse er sehr bald, was er geschrieben habe.

Man übersehe die Begründung nicht, »da ich immer vorwärts strebe« - also nicht der Grund gilt, der dem Schaffenden sonst oft sein Werk zu etwas Fremdem, ja Unbegriffenem und Unheimlichem macht: dass es die Form der Objektivität hat, als ein Selbständiges, nun wie aus eigenem Rechte, auch seinem Erzeuger gegenüber, Dastehendes.

Aber während das unter solchem Aspekt von uns losgelöste Erzeugnis gerade oft in unserer Lebensströmung wie ein Pfahl oder wie ein widerwillig Mitgeschlepptes ist, kann das Geschaffene für Goethe, weil es ganz unmittelbar der Überfluss oder die Not seines Lebens selbst war, wirklich radikale Vergangenheit werden.

Denn es ist das Wesen des Lebens, nicht umgekehrt werden zu können wie eine mathematische Gleichung, und keine Unveränderlichkeit bewahren zu können wie ein Energiequantum, sondern sich schlechthin nach vorwärts zu wandeln.

Derselbe Grund aber, auf den der Radikalismus dieser Ablösung des Werkes zurückgeht, verknüpft es nun andererseits in ebenso einzigartiger Weise dem Leben.

Je mehr ein Inhalt, ein Produkt, ein Objektiv-Werdendes wirklich sich der letzten Lebensquelle entformt, wirklich »das Leben selbst« ist, desto entschiedener zeigt sich daran das doppelte Verhältnis: dass es einerseits mit dem Subjekt solidarisch, nur aus der Totalität seiner Existenz verständlich ist, andererseits wegen jener Zeitgebundenheit des Lebens eine bloße Durchgangsstation ist, zum Überwundenwerden bestimmt, in dem Augenblick seiner Verwirklichung auch schon für dieses Leben ein Versinkendes, Vergehendes.

Nur unter diesem Doppelaspekt, der ersichtlich die Entfaltung einer ganz einheitlichen Grundstruktur ist, kann das Verhältnis zwischen Goethes Leben und Goethes Werken voll erfasst werden.

Dass der jeweilige Inhalt seines Lebens sozusagen nichts Abgesondertes, Isoliertes war, sondern die Wellenhöhe, zu der sich seine Lebenstotalität gerade jetzt hob, ist der tiefere Grund und die Schönheit eines Zuges, den man namentlich seinen späteren Jahren zum Vorwurf zu machen pflegt: der »Kühle« seines Sichgebens, Sichäußerns.

Er lebt eben als Ganzer in jeder Äußerung, und eben dies gibt ihr die wundervolle Temperierung, verhindert das Mitgerissenwerden in die Einseitigkeit des momentanen Inhalts.

So viel Eruptives, an den Moment Gebundenes, ja Launisches sich in seinem Leben und seinen Äußerungen finden mag, so empfindet man doch, dass das ganze Leben nie sein Übergewicht über das gerade zur Oberfläche gehobene Element verloren hat, dass das Verhältnis des Ganzen zum Teil prinzipiell immer richtig geblieben ist: seine »Kühle« ist nichts anderes als dieses Aufwiegen der Lebenseinzelheit durch die Lebensganzheit.

Je mehr und voller dies Leben wurde, desto geringer wurde ersichtlich das Gewicht der Einzelheit, desto kühler also muss er all denen erscheinen, die, gegen jene Proportion rücksichtslos, die ganze gestaltlose Lebensintensität in die jeweilige Einzelheit einschießen lassen und damit freilich ein gewisses Wärmephänomen erzeugen.

Dies ist durchaus kein Widerspruch gegen das sonst Hervorzuhebende: dass Goethe, nach seinem eigenen Ausdruck, »das Leben nicht teilte«; weil er nie Erstarrtes innerlich mitschleppte, sondern seine Existenz eine in jedem Augenblick von ihrem letzten Grunde her bewegte war, so war er in jedem Augenblick wirklich »der Ganze«, war selber so, wie er es von Homer sagt: »Der Eine, der sich in Viele - Teilt und einer jedoch, ewig der Einzige bleibt.« Aber dieses Ganze war keine gleichsam formlose Masse, wie wir es oft an unbeherrschten Menschen empfinden, wenn sie »sich ganz geben«.

Das eben bedeutete die fortwährende »Ganzheit« seines Lebens, dass er jedem Inhalt gab, was ihm in Rücksicht dieser Ganzheit, als deren jeweilig angemessener Ausdruck zukam.

Und aus dem gleichen Grunde bekräftigt sich das vorhin Angedeutete: dass das einzelne Werk Goethes allerdings durch unser Bewusstsein, es sei ein Werk Goethes, eine höhere Bedeutsamkeit erhält, als es sie in anonymer Vereinzelung besessen hätte.

Als Aberglaube und Idolatrie muss dies dem Rationalismus erscheinen, für den nur Einzelheiten und Elemente wirklich sind, Ganzheiten nur als Zusammensetzungen aus diesen, restlos wieder in sie auflösbar und nur in dieser Auflösung »begriffen«.

Wenn aber irgendeine historische Erscheinung es nachdrücklich machen kann, dass der Weg zum Begreifen des Lebens der umgekehrte ist: vom Ganzen zum Einzelnen, von der Einheit zum Element - so ist es Goethe.

Das Unvergleichliche seiner Gestalt für uns ist doch dies: wir haben die Erzeugnisse seines Schaffens nicht einfach in der Form der Objektivität als einen daliegenden Inhalt mit gegeneinander abgeschlossenen Teilen, sondern wir haben all diese zugleich in der Form des Lebens, weil wir seine Person, seine Ganzheit, die Entwicklung und Strömung seines Lebens kennen, nachleben, besitzen.

Es handelt sich nicht nur darum, dass jedes der Werke durch das andere interpretiert oder, wie ich es vorhin ausdrückte, um das andere bereichert werde; sondern den Lebensprozess selbst fühlen wir, der sich in diesen Inhalten niedergeschlagen hat, fühlen ihn in dem Geburtsmoment seiner Inhalte, die sozusagen nach allen Seiten hin offene Türen zu ihm haben.

Seine Werke sind nicht nur die fertigen, allenfalls sich untereinander tragenden Elaborate der Prozesse, die sie erzeugten oder deren Inhalt sie waren; sondern sie sind außerdem sein Leben selbst, wir wissen das Unbeschreibliche des kontinuierlich strömenden Lebens an ihnen, durch sie, in seinem Gegensatz gegen alle Form des Objektiv-Gewordenseins.

Dies alles bedeutet nichts anderes, als dass das einzelne nur aus der Totalität begriffen und in dieser Zugehörigkeit über seinen unmittelbaren Inhalt hinausgeführt wird; wobei die Ganzheit des ihm einwohnenden oder es umstrahlenden Lebens natürlich nicht dessen zeitliche Erstrecktheit und Inhaltssumme bedeutet, sondern die Einheit, die in fortwährendem Wandel lebt und von der jeder ihrer wechselnden Momente dennoch das Ganze ist.

Diese Form des Lebendigen überhaupt - im Gegensatz zu dem Schöpfer, bei dem sich das Erzeugnis von vornherein vom Leben abgelöst und ihm gegenübergestellt hat - ist es, die uns, über allen mechanistischen Rationalismus hinaus berechtigt, ja verpflichtet, das einzelne Werk und Wort wirklich daraufhin, dass es dem Gesamtleben Goethe zugehört, in einer volleren Bedeutung, einer tieferen Weihe, gleichsam einem größeren Umfang und Inhalt hinzunehmen, als stünde das genau Identische in einem geringeren Leben oder in einer Isolierung gegen das schöpferische Leben überhaupt.

Die Weltgeschichte des Geistes kennt keine Persönlichkeit, die mit einer so reichen und nach allen Seiten hin ausstrahlenden Produktivität den Eindruck einer so einheitlich umfassenden, bruchlosen, über alle Einzelheiten als solche erhabenen Lebensganzheit erzeugte.

Vergebens, diese Einheit an seinen Produkten selbst, an den Inhalten seines Dichtens und Forschens zu suchen, sie mit Begriffen fixieren zu wollen.

All ihre Mannigfaltigkeiten und Widersprüche lassen aber ihre vitale Einheit fühlen: dass sie die Pulsschläge oder Entwicklungsmomente eines Lebens sind, dessen Einheit nicht starr an irgendeinem Stoff haftet, sondern gerade in dem Sich-Hindurchleben durch eine Unendlichkeit von Zuständen besteht: »Und so teil ich mich, ihr Lieben - Und bin immerfort der Eine.«

Selbstverständlich ist Goethe nicht der einzige Schöpfer, bei dem die einzelne Äußerung und Schöpfung durch die so gedeutete Strömung des Lebensganzen fühlbar getragen wird; allein das Maß, in dem sich bei ihm die Gegensätze spannen, die nach einer geheimnisvollen, dem Leben allein vorbehaltenen Formel dynamisch zusammengehalten werden - dieses Maß ist schlechthin einzig.

Man könnte an Michelangelo denken, dessen ungeheure, aus jedem Werk herausglühende Lebensdynamik und Lebenstiefe die tragische Gegensätzlichkeit letzter Lebenswerte in ein künstlerisches Schauen und seelisches Fühlen zusammenzwingt.

Allein in ihm sind die Gegenrichtungen: des Irdischen und des Transzendenten, der leiblichen Schwere und der sehnsüchtigen Geistigkeit, der sinnlichen Leidenschaft und der religiösen Erlösung - von vornherein der Inhalt von Leben und Werk, ihr Kampf, der doch die Parteien voraussetzt, ist die angebbare, anschauliche Einheit dieser beiden.

Damit ist er wohl gigantischer, metaphysisch-dramatischer, erschütternder als Goethe, aber seine Probleme, man möchte sagen, sein Problem ist in sich geschlossen, es gibt sich nicht wie das Goethesche an alle Extensität des Daseins hin, so dass es, sozusagen gleichmäßig, künstlerisch, wissenschaftlich, praktisch angegriffen werden müsste.

Näher kommt an das Goethesche Maß von Mannigfaltigkeiten und Entwicklungen, mit denen eine einheitliche Lebensdynamik zu ihrer zeitlichen Verwirklichung drängt, noch Beethoven heran.

Auch bei ihm ist das unsäglich Erleuchtende und Ergreifende, dass die äußersten Gegensätze der Lebensströmungen sich in eins schlingen und gegenseitig deuten, weil sie die Stadien einer allmählich durch sie hindurch sich entfaltenden Lebenseinheit sind.

All jenem vereinzelnden analytischen Rationalismus zum Trotz sind uns die harmlosen ersten Sonaten und Trios Beethovens dadurch in eine besondere Gefühlsbedeutung gerückt, dass wir die fünfte Symphonie und die russischen Quartette kennen.

Und diese Entwicklung von schöner Heiterkeit zu dem Ernst der Größe steht nun wieder in einer Wechselwirkung des Eindrucks mit dem tragischen Sichselbstsuchen der Seele in den letzten Cellosonaten und Quartetten.

Ähnlich ist es bei Rembrandt, dessen ganze Alterskunst, so selbstgenugsam und durch sich selbst erschütternd sie wirkt, dafür eine dennoch aus dem isolierten Einzelwerk nicht begründbare Verstärkung gewinnt, wenn man sie als das letzte Wort eines Lebens weiß, dessen frühere Epochen sich in den Saskiabildern und der Nachtwache aussprachen.

Aber auch bei diesen beiden, deren einheitlich strömende Vitalität gleichfalls das begrifflich polar Entgegengesetzte in der Form der Entwicklung kontinuierlich zusammenschließt, bleibt das Problem auf das Kunstgebiet beschränkt.

Das handelnde Dasein verlangt bei Beethoven gar keine fühlbare Einheit mit dem künstlerischen; denn bei aller inneren Vornehmheit, bei aller sittlichen Unbeugsamkeit und aller Güte seines Wesens hat doch sein Verhalten innerhalb der praktischen Welt etwas Unkultiviert-Abruptes etwas Disharmonisch-Zufälliges nie ganz überwunden, das praktische und das künstlerische Phänomen Beethoven scheinen oft von zwei ganz verschiedenen Grundströmungen des Lebens genährt.

Von Rembrandt wissen wir in dieser Hinsicht gar nichts.

Sein Leben, soweit es nicht irgendeine Beziehung auf seine Kunst hatte, scheint eigentlich an dieser und dem sie tragenden Leben nur wie ein rudimentäres Organ oder wie ein Parasit zu hängen.

Natürlich ist jeder große Künstler - was uns noch später wichtig werden wird - mehr als bloß Künstler, grade bei den größten spüren wir eine schöpferische Macht schlechthin, für die das besondre Talent nur der gewissermaßen zufällige Auslass ist.

Rückstandsloser aber als bei andern ist bei Rembrandt jene, ich möchte sagen, undifferenzierte Kraft und Umfänglichkeit der Seele von diesem Kanal aufgenommen, nirgends überschäumt sie die Form, zu der grade das spezifisch malerische Talent sie prägt.

- Immerhin, es ist bei diesen Künstlern die Lebensströmung fühlbar, in der die einzelne Leistung steht und die deren Grenzen nach einem Persönlichkeitszentrum hin öffnet, ihr damit neuen Umfang und neue Bedeutung gewährend - wenngleich die in diesem Zentrum zusammenschießenden und von ihm wieder ausgehenden Strahlen nicht die Mannigfaltigkeit wie in der Goetheschen Existenz haben.

Prinzipiell anders aber verhält sich der andere künstlerische Typus, den man etwa auf die Namen Shakespeare, Velasquez, Bach taufen kann.

Hier hat das einzelne Werk die Nabelschnur völlig zerschnitten, die es mit seinem Erzeuger verband und die ihm bei jenen anderen auch aus dessen Weiterleben und Gesamtexistenz noch - für den Aufnehmenden - ein eigentümliches Mehr an Eindruck und Bedeutung zufließen ließ.

Ich lasse dahingestellt, ob dies nicht irgendwie modifiziert wäre, wenn wir z. B. von Shakespeare mehr außerkünstlerische Dokumente seiner Persönlichkeit und seiner Entwicklung besäßen, und spreche nur von dem tatsächlichen Bilde, als das alle diese Schöpfer für uns bestehen und dessen Bestimmung durch das, was von ihnen zufällig überliefert ist und zufällig nicht überliefert ist, ein unvermeidliches Schicksal ist.

Dennoch glaube ich, dass auch in rein sachlicher Beziehung für die Werke dieses Künstlertypus jeweils ein ganz anderes Maß von Abgeschlossenheit gegen die Totalentwicklung ihres Schöpfers besteht als bei Michelangelo und Rembrandt, bei Goethe und Beethoven.

Ich begehe zur Charakterisierung dieses immerhin nur relativen Unterschiedes eine absichtliche Übertreibung, indem ich ihn dahin verabsolutiere: gegenüber einem Drama Shakespeares, einem Porträt von Velasquez, einer Bachschen Cantate ist es gleichgültig, dass sie von eben diesen Schöpfern stammen; wäre jedes einzelne Werk anonym und ohne irgendeinen gewussten Zusammenhang mit einem andern desselben Künstlers überliefert, so würde sein Eindruck um nichts geringer sein.

Hier umfasst jedes Werk nur sich selbst, es streckt nicht die unsichtbaren Hände aus, mit denen es sich mit den andern zu einer Kette schließt und die Strömung eines Gesamtlebens jenseits der Werke, gebend und empfangend, durch sich hindurch leitet.

Dies aber gilt, natürlich in sehr abgestuftem Maße, für jenen andern Typus von Künstlern, die man wohl Subjektivisten genannt hat.

Über diese Differenz bedarf es durchaus der Klarheit, weil sie über die Attitüde entscheidet, mit der man dem Werk Goethes gegenübersteht.

Für die rein ästhetische Betrachtung scheint das Kunstwerk dastehen zu sollen, als wäre es vom Himmel gefallen.

Denn es ist doch allerdings sein Wesen, dass es die unendlichen Fäden, die jedes reale Ding mit allem sonstigen realen Dasein verbinden, abgeschnitten und in sich selbst zurückgeknüpft hat; was seinem Reiz und seiner Bedeutung aus andern als den in ihm selbst entspringenden Quellen zufließen möge: aus historischen oder religiösen, anekdotischen oder ethischen, personalen oder sensuellen - ist insofern unehrlicher Erwerb; es ist eine selbstgenugsame Welt und es hat so Recht wie Pflicht, gegenüber der Welt und den Welten jenseits seines Rahmens in undurchbrechlicher Begrenztheit zu verharren.

Diese Reinheit des Kunstbegriffs ist uns heute ein schwer errungener Besitz und er darf unter keinen Umständen wieder preisgegeben werden.

Sie bedeutet auch keineswegs Verarmung des Inhalts zugunsten eines leeren Formalismus, denn jeder Weltinhalt kann mit seinem vollen Reichtum in irgendeine Kunstform eingehen; nur, ist dies einmal geschehen, so dürfen in die damit bezeichnete Grenze sich nicht diejenigen Bedeutungen und Anziehungen einschleichen, die dieser Inhalt besitzt, insofern er außerhalb der Kunst besteht.

Solche Lauterkeit und Geschlossenheit des Kunstwerks in sich selbst also unbedingt festhaltend, kann man dennoch überzeugt sein, dass das Kunstwerk als Ganzes nun vom Leben umgriffen wird, in einem Lebensgrunde wurzelt, dessen Kräfte seinen Rahmen, seine Einheit und Ganzheit nirgends durchbrechen und doch darin einströmen und es tränken.

Die vollkommene innere Geschlossenheit und die gleichzeitige Verbundenheit mit einer persönlichen Entwicklung und dem Kräftestrom eines Lebens besteht hier in einer mit diesen räumlichen Gleichnissen nicht recht zu veranschaulichenden Art.

Das Kunstwerk verhält sich insofern ähnlich wie die Landschaft: um wirklich »eine Landschaft« zu sein, muss ein Stück des natürlichen Daseins zu einer festen, umgrenzten Einheit erschaut, aus dem allumschließenden Naturzusammenhange herausgehoben werden; und dennoch ruht ihre Bedeutung für uns auf dem nie aussetzenden Gefühl, dass die unendlichen Strömungen dieses Zusammenhanges, auch in ihr lebendig, sie absatzlos dem All-Leben verbinden.

Dieser Doppelaspekt des Kunstwerks: ein absolut Selbständiges zu sein, aus eigenem Zentrum gewachsen und verständlich, und zugleich ein Moment einer umgreifenden, es durchströmenden und in ihm fühlbaren Lebensentwicklung - dieser lässt durch die stärkere Betonung des einen oder des anderen jene Reihung der Künstler entstehen, von dem Extrem desjenigen Werkes an, das von dem erzeugenden Gesamtleben wie durch eine Isolierschicht getrennt ist, nirgends durch ein positives Symptom verratend, dass dahinter oder darin etwas ist, was es nicht verrät, - bis zu dem anderen Extrem, wo das Werk völlig in die Lebenssphäre seines Erzeugers eingetaucht ist, mit all seinen anderen Produkten kontinuierlich verbunden, wie jede Meereswelle mit jeder anderen.

Diesen Pol der Reihe bezeichnet Goethe.

Gewiss steht jedes seiner dichterischen Werke in der Umschriebenheit und Selbstverantwortlichkeit, in der artistischen Objektivität, die überhaupt das Wesen jedes Kunstwerks ausmacht.

Aber er ist der monumentale Beweis für das logisch so schwer Ausdrückbare: dass die Gelöstheit des Kunstwerks und seine Lebenswurzelung sich nicht widersprechen.

Für die Teile seines Werkes gilt, was er von dem geschichtlichen Kosmos des Geistes überhaupt aussagt: »Nur wer Hafis liebt und kennt, Weiß, was Calderon gesungen.« Oder genauer: Nur wer das Ganze »liebt und kennt«, wird des Einzelnen in seinem ganzen Wesen, Wert und Fülle inne, so sehr das Einzelne, weil es Kunstwerk ist, selbst ein Ganzes ist.

Was ich soeben als geistesgeschichtliche Erfahrung aussprach: dass der Künstler eine äußerste Höhe auch rein als Künstler nur dann erreicht, wenn er mehr als nur Künstler ist - das ist nicht nur eine letzte Formel für Goethes Existenzwert überhaupt, sondern gilt übertragener-weise auch für sein Werk.

jede seiner Dichtungen besitzt ihre äußerste Bedeutung für uns erst, wenn wir sie innerhalb der Totalität eines Schöpfertums und Lebens erblicken, das sehr viel mehr als ein nur künstlerisches war.

Hier liegt die eine Begründung dafür (die andere wird uns später beschäftigen), dass seine wissenschaftlichen, kritischen, ja gelegentlich sogar seine poetischen Arbeiten im höheren Alter einen autobiographischen Ton annehmen.

Von den sachlichsten Angelegenheiten redet er mit Rücksicht darauf, wie er sie erlebt hat, welche Bedeutung für sein Leben sie haben, das Subjekt Ich gewinnt ein eigentümliches Übergewicht.

Er drückte damit nur den Zusammenhang aus, in dem jede seiner Äußerungen zu seiner Lebensganzheit stand und der ihm selbst mit steigendem Alter immer klarer geworden war.

Mit dieser betonten Beziehung auf sich selbst, seine Tendenzen und seine Entwicklung realisierte er jene Charakteristik seiner Gesamtleistungen Schiller gegenüber: »Mein Unternehmen«, - offenbarte, dass all dies fast unabsehbar Mannigfaltige dadurch auch eine tiefgelegene sachliche Beziehung gewann, dass es die Schöpfung eines einzigen, kontinuierlichen, eigengesetzlichen Lebens war; oder vielleicht erschöpfender: jede einzelne Schöpfung war dieses ganze Leben, erfasst in dem Augenblicke, wo es sich gerade zu dieser Form, dieser Wellenhöhe hob.

Ich habe schon angedeutet, dass dieses innere Verhältnis der Erscheinung Goethe sich gewissermaßen an dem Verhältnis dieser Erscheinung zu der kosmischen Ganzheit wiederholt.

Das Entscheidende war, dass die einzelne Äußerung, Schöpfung, Bewährung aus dem Gesamtleben der Persönlichkeit in einer innigeren und fühlbareren Unmittelbarkeit hervorging, dass dadurch alle Äußerungen entschiedener organisch verbunden und aufeinander angewiesen waren, als bei irgendeinem seiner Pairs im Bereiche der Kunst.

Nun aber empfinden wir an ihm, die Ganzheit seines Denkens, Erlebens, Schaffens zu überblicken versuchend, eine analoge Einwurzelung eben dieser Existenz in das kosmische Dasein.

Damit ist nichts Mystisches gemeint, wenigstens nicht anders, als es überhaupt im Verhältnis einer individuellen Existenz zu dem Weltganzen enthalten ist.

Selbstverständlich ist jedes Leben diesem Ganzen verhaftet, ist eine Frucht ebenderselben Triebkräfte, die auch jede andere Daseinsforderung begründen, und geht auf die letzte Einheit und Gesetzlichkeit des Kosmos überhaupt zurück.

Aber mit unverkennbaren Abstufungen unterscheiden sich die Erscheinungen danach, bis in welche Tiefe hinein sie uns diesen Zusammenhang mit den Gründen alles Seins fühlbar machen.

Insbesondere für die geistigen Erscheinungen gilt dies, die nicht nur Wirklichkeit und Wirkung sind, sondern ein ganz neues - vielleicht entfernteres, vielleicht näheres - Verhältnis zum Dasein aufbringen, ein Verhältnis des Symbols, der Spiegelung, der Zusammenfassung oder wie man es nenne.

So erzeugen denn manche Wesenheiten den Eindruck, als ob der tiefste und allgemeinste Sinn und Rhythmus des Daseins in ihnen deutlicher als in anderen zum Ausdruck käme, als ob ihre Gestalt und Entwicklung die Gesetzlichkeit des Ganzen unmittelbar anschaulich machte.

Mag das an der Einstellung unseres Blickes liegen, die uns nicht fähig macht, in jedem Wesen überhaupt das Walten des göttlich All-Einen unmittelbar festzustellen, jedes einzelne als Analogie des Weltdaseins zu begreifen.

Allein, dass dem so beschaffenen Blick das eine Wesen als das reine Gefäß der tiefsten Seinskräfte erscheint, und als klänge es von sich selbst aus harmonisch zu der Tonart der Weltsymphonie überhaupt, während andere Wesen ihm nur wie trübe Spiegel der Wirklichkeit vorkommen und als beschränke sich ihr Zusammenhang mit der Ganzheit und Einheit des Seins auf das Notdürftigste - das ist dennoch ein Unterschied in diesen Wesen selbst.

Und das Gefühl, jenen ersten zuzugehören, muss in Goethe das wundervolle Zutrauen zu Welt und Leben, zu dem eigenen Leben erzeugt haben, von dem ich sprach, während es zugleich seine wundervolle Bescheidenheit und Selbstbegrenzung trug.

Denn alle Anmaßung, aller Größenwahn beruht ja darauf, dass der Mensch sich von dem Gesamtsein losgerissen hat, dass die Harmonie mit ihm, die des Menschen Stellung zu ihm und sein Bewusst sein von dieser »richtig« macht, verloren ist.

Dass alles, was Goethe gesagt und getan hat, mit all seinen Ungleichmäßigkeiten und inhaltlichen Widersprüchen, in unvergleichlichem Maße zum Bilde eines Menschen zusammengeht, heißt doch, in anderer Richtung gesehen, dass all seine Äußerungen in einer unmittelbareren Art als wir es bei Schöpfern objektiver geistiger Werte gewöhnt sind, aus den Trieben, Kräften und Gesetzen seiner innersten Lebensentwicklung hervorgegangen sind.

Und das konnten sie mit dem Erfolge, den wir wissen, weil bei ihm in einem ganz unvergleichlichen Maße jene Konsonanz des individuellen Lebens mit dem kosmischen stattfand, jenes spürbare Hinabreichen in die tiefsten Schichten von Welt und Idee, deren Gesetzlichkeiten und Formen durch die scheinbar sich allein überlassenen Bewegungen seiner Seele hindurchklangen.

Von hier ist die ganze Tiefe und Weite des Goetheschen Weltverhältnisses zu erfassen, ist zu begreifen, dass er sich selbst einen »Liebling der Götter« nennen durfte.

Er selbst hat die Bedeutung dieser kosmischen Harmonie seines Wesens sehr wohl gefühlt.

»Unendlich viel wert« ist es ihm, aus Schillers Urteil über den Meister sich zu vergewissern, dass »ich, was meiner Natur gemäß ist, auch hier der Natur des Werkes gemäß hervorgebracht habe«.

Mit unzweifelhafter Beziehung auf sich selbst spricht er von »besonders begabten Menschen«, die »zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen steigern«.

Und als ein Höchstes preist er es, wenn zu dem innerlich Erzeugten und Notwendigen die Natur außer uns »ja und Amen sage«.

Es ist ersichtlich nichts anderes, wenn er das Auge selbst »sonnenhaft« nennt, da es doch sonst die Sonne nicht erblicken könne, und wenn er - nun dasselbe Motiv auf die geistige Welt anwendend - vom »Verstehen« sagt, es hieße: »dasjenige, was ein anderer ausgesprochen hat, aus sich selbst entwickeln«.

Er hat wie wenige Menschen die Erscheinungen der menschlichen und der äußeren Natur mit einer strengen Selbstlosigkeit, einer hingebenden Treue und Wahrheitsliebe erforscht; und zugleich hat er - zunächst zwar vom Dichter, aber mit ganz deutlicher Ausdehnung auf den Menschen überhaupt - gesagt, dass ein jeder, »gebärde er sich wie er will, immer nur sein Individuum zutage fördern wird«.

Dass ihm dies kein Widerspruch war, dass er überzeugt war, das reine »Zutagefördern« des Individuums trüge den gleichen Inhalt wie die objektivste Erforschung des natürlichen Seins - das eben ist das Phänomen jener Einheit oder Parallelität zwischen seinem persönlichen Leben und Sichentwickeln und den großen Rhythmen der Natur; es ist das, was man das metaphysische Glück seines Wesens nennen könnte.

An diesem Punkte länger zu verweilen, ist unerlässlich, denn an ihm treffen sich die verschiedenen Formulierungen des Urphänomens Goethe, von dem all seine Betätigungen und Schöpfungen nur einzelne ausgesandte Strahlen sind oder Stationen, durch die hindurch die Entwicklung dieses letzten, an sich unaussprechlichen Geheimnisses des individuellen Lebens sich vollzieht.

Hier ist also zuerst seines höchst merkwürdigen Wahrheitsbegriffes zu gedenken, dessen er keineswegs nur als Voraussetzung seines Forschertums, vielmehr zur Deutung seiner gesamten geistigen Existenz bedarf.

»Was fruchtbar ist, allein ist wahr« - das heißt: Wahrheit ist für ihn nicht, wie sie gewöhnlich vorgestellt wird, Übereinstimmung zwischen einer objektiven Wirklichkeit und ihrem Spiegelbild in unserm Bewusstsein, auch nicht, wie die Philosophie sie gefasst hat, die Übereinstimmung unseres Denkens mit sich selbst.

Sondern dasjenige ist für den Menschen wahr, was für ihn fruchtbar ist, das heißt, was ihn fördert, was seinem Wesen gemäß ist, was sich seinem Sinn und Leben harmonisch anschließt.

Die Vorstellung eines Dinges ist doch nicht dessen mechanischer Abdruck in unserer Psyche, sondern ist ein Vorgang unseres Lebens selbst, eine Funktion innerhalb des rastlosen Bewegtseins unserer Persönlichkeit.

Den Inhalt dieses Vorstellens nennen wir wahr - so ist Goethes Überzeugung -, sobald sein Geschehen als solches sich fördernd, passend, steigernd in den Gesamtverlauf unseres Lebens einfügt.

Die Wahrheit ist kein freischwebendes logisches Abstraktum, sondern sie ist tief in das Leben des Individuums eingebettet, für das sie eben Wahrheit sein kann.

So wird also auch hier das Grundgefühl mächtig, dass die Welt uns nicht im Stich lässt, wenn das Leben nur den von ihm selbst geforderten, ihm selbst förderlichen Weg geht: das Sein dementiert nie den Gedankeninhalt als unwahr, der als Gedankenprozess, als dynamisches Geschehen sich der Zweckmäßigkeit und Eigengesetzlichkeit des Lebens harmonisch und erhöhend einfügt.

Die Konsonanz mit dem Kosmos, die er in sich selbst spürt, deutet ihm auch die Wahrheit als einen Wert, in dem das Leben und das sachliche Erzeugnis des Lebens sich nicht voneinander getrennt haben, und mit dem der Gedanke, den das Leben als einen ihm selbst notwendigen erzeugt, sich als dem Dasein entsprechend, das heißt eben als wahr legitimiert.

»Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt,« sagte er, »so heiß' ich's Wahrheit.« Und damit bekommt das Motiv noch einmal eine Vertiefung in noch breitere Fundamente des ganzen Goetheschen Wesens hinein.

Denn nun ist aufs deutlichste ausgesprochen, dass der ganze Mensch mit all seinen Bestimmungen und Beziehungen darüber entscheidet, was für ihn Wahrheit sein kann, - nicht aber der isolierte Verstand oder die isolierten Sinne.

Gegenüber aller zerlegenden und vereinzelnden Betrachtung des Menschen und seiner körperlich-seelischen Kräfte hat Goethe stets auf das leidenschaftlichste daran festgehalten, dass in jeder Betätigung der ganze Mensch tätig ist, nur bald die eine, bald die andere Fähigkeit gleichsam zum Kanal seines unaufhörlich strömenden Gesamtlebens machend.

Darum verlangt er gerade von dem Gelehrten, also von demjenigen, dessen Leistung auf die objektivste Wahrheit hingeht, dass er nicht etwa nur den Intellekt, sondern die Gesamtheit seiner seelischen Energien in seine Arbeit einsetze: die Phantasie und das Gemüt, die kombinatorische Spekulation und den enthusiastischen Schwung; gerade wo es sich darum handelt, das reinste Bild der Sache zu gewinnen, muss der ganze Mensch dazu wirken, jede vereinzelte Kraft seiner, mag sie noch so intensiv sein, ist unzulänglich.

Ein Gräuel ist ihm stets die Lehre von den »oberen und unteren Seelenvermögen« gewesen.

»In dem menschlichen Dasein sowie im Universum ist nichts oben noch unten; alles fordert gleiche Rechte an einen gemeinsamem Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das harmonische Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert.« Wer dieses Grundmotiv Goethes, mit dem er sich freilich einer fast durchgehenden Tendenz der modernen - analysierenden und atomisierenden - Wissenschaft entgegenstellt, nicht in seinem Sinn für die ganze Deutung des Lebens begreift, hat keinen Zugang zu der Goetheschen Welt.

Denn dass gerade deren unendliche Mannigfaltigkeit von dem Leitwort beherrscht ist: »Teilen kann ich nicht das Leben«, macht sie einerseits zu einer lebendigen Welt und gibt andererseits dem individuellen Leben jene Möglichkeit der Harmonie mit dem Gesamtsein, die Goethe in sich so rein und stark empfand, dass er an dieser Empfindung die Aussprechbarkeit von Welt und Leben und ihrem Verhältnis überhaupt gewann.

Dass die Elemente nicht in Sonderexistenz nebeneinander liegen, sondern dass in jedem von ihnen das Ganze da ist und sich offenbart - das eben macht den Unterschied des Lebendigen gegen allen Mechanismus aus; und dieses Ganzsein des einzelnen Lebendigen macht es zu einem Gegenbild des Gesamtseins.

Wie das Ewige, das Universum sich in jedem Wesen » fortregt«, so regt sich das Ganze eines Lebens in jedem seiner Teile; und nichts andres als dies ist jene Harmonie und Einordnung, durch die das sich selbst überlassene, sich selbst gehorsame Leben Wahrheit, d. h. Übereinstimmung des lebendigen Denkens mit der objektiven Welt erzeugt oder, in einem tieferen Sinne, selbst schon Wahrheit ist.

Aber die ungeheure Originalität und Tiefe, mit der hier die Einseitigkeiten und Gegensätzlichkeiten des Lebens selbst, auch die scheinbar unentbehrlichsten, zugunsten seiner Totalität und seines Totalverhältnisses zum Dasein überwunden werden, leuchtet erst aus der Bedeutung des Irrtums auf.

Was wir Wahrheit nennen, ist für Goethe nur der geistige Ausdruck, die geistige Formung des richtigen, vom Leben selbst geforderten Verhältnisses zur Welt: die Vorstellung, die zu haben uns in diesem Verhältnis nützlich ist, heißt uns Wahrheit.

Dieser Wahrheitsbegriff aber ist so weit und hoch gespannt, dass er auch dasjenige, was in singulärem, äußerlichem, bloß intellektuellem Sinne Irrtum ist, noch einzuschließen imstande ist - natürlich ebenso auch das, was in diesem niedrigeren Sinne Wahrheit ist.

»Ans Wahre wie ans Falsche«, sagt er an einer entscheidenden Stelle, »sind notwendige Bedingungen des Daseins gebunden.« Und in ebendiesem Sinne sagt er, dass für den einen falsch sein müsse, was für den anderen wahr sei, weil die Verschiedenheit der Menschen eben ein ganz verschiedenes, reales Verhältnis zum Dasein fordere, das sich dann in der Gegensätzlichkeit ihrer Wahrheiten ausspräche.

Ebendasselbe ist gemeint, wenn er von individuellen seelischen Beschaffenheiten, die doch Anschauungen und Überzeugungen mitbedeuten, sagt, sie seien »irrtümlich nach außen, wahrhaftig nach innen«.

Unzweifelhaft also steht ihm ein Wahrheitsbegriff vor Augen, der den gewöhnlichen relativen Gegensatz von Wahrheit und Irrtum umgreift, ein höherer Sinn von Wahrheit, der gar nicht unmittelbar nach dem Inhalt und dessen Prüfung an den allgemeinen Methoden und Kriterien fragt, sondern danach, ob das Denken dieses Inhalts als ein Pulsschlag des Lebens in Sinn und Wert und Förderung dieses Lebens hineingehört oder nicht.

Verschwistert oder vielleicht sogar subordiniert ist dies seiner ganz allgemeinen Maxime über das organische Leben: dass in ihm »selbst das Unnütze, ja das Schädliche selbst, in den notwendigen Kreis des Daseins aufgenommen wird (um) ins Ganze zu wirken«; so dass er an vielen Stellen davor warnt, das sogenannte Abnorme in den Naturgebilden in einen absoluten Gegensatz zu dem Normalen zu stellen, da eine höchste Norm eben jenes wie dieses umfasst.

Von Abnormitäten könne man zwar sprechen, »wenn die Einzelheiten obsiegen und auf eine - zufällig scheinende Art sich hervortun«.

Allein auch dies sei mit dem Normalen »nah verwandt«, da doch schließlich alles »von einem Geist belebt ist«.

So kann ein Gedanke wohl falsch sein, wenn das Besondere, Einzelne seines Inhalts sich gegen das Ganze und Allgemeine absperrt, in eine Sackgasse verläuft und erstarrt; dennoch kann der gleiche Inhalt in jenem höheren Sinne richtig sein, wenn er »ins Ganze wirkt«, wenn ihn zu denken das Leben seines Trägers belebt und fördert, nicht nach einem momentanen Interesse, - das bedeutet Selbsttäuschung und Abschneiden der Weiterentwicklung -, sondern nach der zentralen, definitiven, alles einzelne übergreifenden Strömung dieses Lebens.

Die unmittelbare Konsequenz, wie Goethe selbst sie ausspricht, ist, dass ein jeder »seine eigene Wahrheit haben kann«.

Denn jeder Mensch, insoweit er sich vom andern unterscheidet, hat auch ein unterschiedenes Verhältnis zur Welt.

Es bedarf also vielleicht besonderer Verhaltungsweisen, besonderer Voraussetzungen, einer besonderen, sein Leben fundierenden »Wahrheit«, um dieses Leben, dieses Verhältnis zur Welt zu der höchsten Förderlichkeit zu bringen.

Ersichtlich bezieht sich dies nur auf die letzten, prinzipiellsten Überzeugungen auf allen Gebieten; in Beziehung auf die singuläre, empirische Realität ist die Interessengleichheit der Menschen groß genug, um ganz allgemeine, durchgehende Wahrheiten gelten zu lassen.

Aber Goethe ist weit entfernt, selbst jene Spannung der individuellen Wahrheiten gegeneinander als isolierendes Aussereinander anzusehen.

Sondern, da eine jede jeweils das »richtige«, vollkommenste Leben ihres Subjekts ausdrückt, so gehören sie, über alle logische Unvereinbarkeit ihrer Inhalte hinweg, dem einen großen Leben an, dem »Ewig-Einen, das sich vielfach offenbart«, der einen Menschheit, die, seinem Ausspruch nach, gerade durch diese einander entgegenstehenden und einander ergänzenden Überzeugungen erst ihre Einheit gewinnt.

Ich habe mich bei diesem Wahrheitsbegriff so lange verweilt, nicht wegen der Bedeutung, die er etwa an und für sich als philosophische Theorie besitzt, sondern weil er die Grundstellung des Goetheschen Wesens zu Werk und Leben besonders eindringlich macht.

Welch ungeheures Gefühl der Einheit zwischen dem persönlichen Leben und der Objektivität der Dinge muss zugrunde liegen, damit ganz allgemein behauptet werde: das Bild der Dinge, die Wahrheit, die doch irgendeine Art Nachzeichnung jener von uns unabhängigen Objektivität zu sein scheint, sei in Wirklichkeit nichts anderes, als eine Bewegung dieses Lebens selbst, nichts anderes, als der Inhalt des Prozesses, mit dem das Leben sich selbst fördert, seine zentralste, vielleicht ganz individuelle Kraft zu ihrer Höhe, ihrer Gesundheit, ihrem Selbst-Sein bringt! Die Erfahrungen an den Menschen, die er um sich sah, können ihn diese Maxime nur äußerst fragmentarisch, wenn überhaupt gelehrt haben.

Nur in der tiefsten Schicht seines eigenen Wesens konnte er eine so harmonische Zuordnung zwischen seinem Leben und der Welt spüren, dass er eine Deutung der Wahrheit wagte, die sie ihrer Selbständigkeit und Selbstherrlichkeit gegenüber den Schwankungen des Lebens entriss und sie eben diesem Leben selbst preisgab - mit der sichersten Überzeugung, sie damit nicht etwa zu entwurzeln und zu einem subjektiven Trugbild zu machen, sondern ihr gerade so erst die letzte Sicherheit und Richtigkeit anzuweisen.

Dieses Motiv lebt in einem Satz, der in all seiner Unscheinbarkeit Goethes tiefste Überzeugungen wie im Keime enthält: »Wenn man mit sich selbst einig ist, ist man es auch mit andern.« Nur im Gefühl des einheitlichsten Zusammenhanges zwischen dem individuellen Dasein und dem Dasein überhaupt, dem auch »die andern« angehören, kann dies gesagt werden.

Und zwar nicht in dem naheliegenden Sinne einer durchgängigen natürlichen Verknüpftheit aller Erscheinungen, sondern so, dass gleichsam die Form des individuellen Daseins, insofern sie vollkommen ist, die Form des allgemeinen Daseins oder des allgemeinen Geistes wiederholt.

Diese Form des Daseins als Ganzen ist für Goethe: Einheit; und wie sollte sie etwas anderes sein, da der Kosmos ja von dem unteilbaren göttlichen Prinzip durchdrungen ist und nur dessen in unendliche Mannigfaltigkeiten und Wechsel gebrochenes Leben bedeutet? Wenn er von der Form des Organismus sagt, sie sei nichts als die fortwährend verwandelte Erscheinung seines Inneren, so gilt ihm dies auch für das Dasein überhaupt, und deshalb ist es ihm schlechthin Einheit.

Indem nun auch der Einzelne diese erreicht, »mit sich selbst einig ist«, wird die Form des Weltbaues gleichsam durch ihn hindurchgeleitet, wird an ihm selbst mächtig, macht ihm zum Ausdruck und zugleich zur Parallelerscheinung des Ganzen, dem auch die andern Einzelnen angehören.

Darum müssen alle in dem Maß, in dem jeder mit sich einig ist, es auch untereinander sein.

Nicht um Gleichförmigkeit der Ansichten und Überzeugungsinhalte handelt es sich, die Goethe vielmehr als durchaus unrealisierbar ablehnt, sondern um die Gestalt des Lebens, um die dynamische Realität unserer Existenz, von der die theoretischen Meinungen nur Symbole sind, und oft durchaus einseitige, fragmentarische, die ihnen zugrunde liegende Lebendigkeit gar nicht richtig ausdrückende.

Jener Satz überträgt eine andere allgemeinste Maxime Goethes: »Die Natur tut nichts im großen, was sie nicht auch im kleinen täte« - in die tiefsten Zusammenhänge des persönlichen Lebens.

Die ganze Stellung Goethes zur Welt, die ihm einerseits Aufgabe, andererseits gefühlte Tatsächlichkeit war, wird durch dies Motiv bestimmt: dass das individuelle Leben, als solches vollendet und in der Ganzheit seines Sinnes und seiner Rhythmik durchschaut, die Form des All-Lebens - die innere Einheit - wiederholt und durch diese Vermittlung hindurch die Harmonie, die »Einigkeit« mit den anderen individuellen Ausgestaltungen desselben All-Lebens gewinnt.

Die Allgemeinheit solcher großen Blicke und Maximen ist unmöglich aus der Erfahrung singulärer Tatsachen zu gewinnen, und er selbst charakterisiert die umfassendsten Seinsgesetze, denen sein Suchen galt, als solche, von denen in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind.

Die Maxime vielmehr über das Mit sich Einigsein als Voraussetzung, es mit andern zu sein, war der Ausdruck seiner innerlich eigensten Lebensstruktur.

Er fühlte - an diesen symbolischen, wie aus der Ferne tastenden Ausdruck sind wir gebunden - seine eigene Existenz dem All-Leben störungslos, gleichsam für dessen Pulsationen durchlässig, verwurzelt; er fühlte das metaphysische Verhältnis, das in jener Maxime liegt, in sich selbst so deutlich, dass er es als allgemeine Wahrheit aussprechen konnte und durfte.

Das muss man die Genialität seiner Natur nennen: während der gewöhnliche Mensch nur Singuläres erfährt, aus dem er in Annäherungen und mit Vorbehalten schließlich ein Allgemeines gewinnt, hat Goethes Geist das Allgemeine unmittelbar erfahren, er war den fundamentalsten, menschlich erreichbaren Schichten des Seins von Natur wegen so zugeordnet, dass er seine innere Erfahrung, sein Wissen und das eigene Leben als ein allgemeines, weil jener tiefen Schicht entwachsendes Gesetz aussprechen konnte.

Wenn es überhaupt das Wesen des Genies ist, zu wissen, was es nicht gelernt hat, so ist hiermit wohl eine Begründung davon, wie unvoll kommen auch immer, formuliert; und geht man dem Satz vom »Einigsein« in seine Voraussetzungen oder Grundlagen nach, so zeigt er sich also als die inhalt- oder theoriegewordene Form des Goetheschen Lebensprozesses selbst in seiner Beziehung zu dem kosmischen Leben.

All diese Vorstellungen von dem Wahren als dem Lebensförderlichen, von einem höheren Wahrheitsbegriff, der Irrtümer und Besonderheiten umschließt, von innerer Einheit als Bedingung der Einheit mit anderen, - können nur entstehen, wo statt irgendwelcher einzelner Vorstellungen oder Ziele, Anschauungen oder Interessen vielmehr der Lebensprozess selbst in seiner einheitlichen Kraft und Gerichtetheit das Letzte und Entscheidende ist und erst von sich aus all jenes inhaltlich Angebbare bestimmt.

Dieser schlechthin wesentliche Zug der Goetheschen Existenz, der der oft - und oft naiv - gebrauchten Formel: »Leben und Werke« erst ihren eigentlichen Sinn gibt, bringt seine eigentümliche Gleichgültigkeit gegen das einzelne Werk als solches mit sich.

Ob er dies oder jenes unternimmt, ob er überhaupt produziert oder stagnierende Epochen durchmacht, ob er das Angefangene fortsetzt oder liegen lässt, das ist ihm, der das Leben überhaupt nicht von seinen Resultaten her wertet, offenbar nicht von erheblicher Wichtigkeit, wenn er nur fühlt, dass der Rhythmus und die Entwicklungsnotwendigkeiten des von innen strömenden Lebens damit die jeweilig richtige Erscheinung finden.

Aber gerade weil diese allein entscheidende Triebhaftigkeit des schöpferischen Lebens nicht auf einen bestimmten Inhalt festgelegt ist, hat Goethe eine ganz seltene Freiheit, seinem Tun nun wieder Inhalte rein nach deren Wert zu wählen.

Dies eigentümlich positive und negative, die Goethesche Existenz überhaupt erst interpretierende Verhältnis zwischen dem vitalen Prozess und seinen Inhalten oder Produkten liegt der - sonst gar nicht verständlichen - Äußerung aus seinem 78.

Jahre zugrunde: »Hätte ich so deutlich wie jetzt gewusst, wie viel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist, ich hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes getan.« Und noch einmal drückt er, gleichfalls im hohen Alter, dieses ganze Verhältnis mit einem Satz aus, von dem ein Strahlenbündel von Lichtern über sein Gesamtbild fällt: »Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln.« Aber wohin zeigt diese Symbolik? Was wird durch sein Wirken und Leisten symbolisiert? Gewiss irgendein Letztes und Unaussprechliches des Daseins überhaupt, der Dinge, die ihm in irgendeinem Sinn Gegenstand oder Ziel sind: da ihm die Dinge selbst- »alles Vergängliche« - nur ein Gleichnis sind, so ist ihm ersichtlich alles Denken, Dichten, Formgeben eine Symbolik gleichsam zweiter Instanz.

Aber Goethes Ausdruck geht hier noch auf etwas anderes als auf das symbolisierte Geheimnis der Wirklichkeit; er geht auch auf das innere Wesen und Leben seiner selbst, das an sich gleichfalls ein verborgenes, nicht unmittelbar zu beleuchtendes ist und für das alle Worte und Taten nur Symbole sind, der Eigenbedeutung ihres Inhalts nach also insofern gleichgültig, wesentlich nur, insofern jene innerlichste Tatsache und Bewegtheit des Lebens in ihnen versinnbildlicht wird.

Diese zweifache Symbolik ist freilich um alles Menschenwerk herum.

Jeder Inhalt, den wir praktisch oder theoretisch schaffen und der nicht ein sinnloser Zufall ist, weist aus größerer oder geringerer Entfernung auf irgendeine Tiefe hin, die wir unmittelbar nicht anrühren können.

Vielleicht bewahrt dies und die damit gegebene Möglichkeit eines letzten Sinnes und Zieles all unserer Betätigungen uns vor dem Gefühl, dass diese Betätigungen rettungslos isoliert und ein zusammenhangloses Durcheinander wären.

Wie sie Symbole eines Tiefsten außerhalb unser sind, so sind sie es für ein Tiefstes in uns selbst, Zeichen eines Lebens, das wir zwar unmittelbar sind, aber nicht unmittelbar haben, sondern nur an dem Zeichen dafür: den Inhalten unserer einzelnen Betätigungen und Äußerungen.

Während aber bei den meisten von uns diese beiden Richtungen, nach denen hin unser Tun symbolisch ist, ungleichmäßig ausgebildet und gegeneinander zufällig sind, scheint die Harmonie des Subjektiven und des Objektiven überhaupt in Goethes Wesen und Bewusstsein auch zwischen diesen beiden zu wirken: als wären jene Unaussprechbarkeiten, auf die sie hingehen, schließlich nur eine, und als könnte er sich deshalb dem »Wirken und Leisten«, das seine Sanktion nur von dem Persönlich-Innerlichen her bekommt, überlassen, sicher, dass sein Ergebnis, mochte es nun »Töpfe oder Schüsseln« sein, den gleichen Wert als Symbol des Höchsten außer uns besäße.

Dieses unvergleichliche Maß, in dem Goethes Geistesnatur sich dem Sein und Sinn der Welt verschlang, um in sich selbst dessen reiner Ausdruck und Spiegel zu sein, setzt sich in die Bedeutung fort, die die beiden Begriffe: Leben und Einheit - in seinem objektiven Bilde der Welt gewinnen.

Will man Goethes Weltanschauung mit einem der systematischen Stichworte der Philosophie bezeichnen, so kann sie nur pantheistisch heißen.

Dass das Dasein in all seiner Ausdehnung und Vielfältigkeit in sich Einheit ist, und dass diese Einheit das göttliche Prinzip in sich begreift, dass sein Gott sich »in die Welt verschlingt« - das ist die eigentlich niemals erschütterte Basis seines Denkens.

Niemals verstummt seine Gegnerschaft gegen die atomisierende, an unverbundenen Einzelheiten endende, die Weltelemente untereinander oder die Welt gegen Gott isolierende Betrachtungsweise.

»Wir sollten nicht von den Dingen an sich reden, sondern nur von dem Einen an sich.

Dinge sind nur nach menschlicher Art, die ein Verschiedenes und Mehreres setzt.

Es ist alles nur eins.

Aber von dem Einen an sich zu reden, wer vermag es?« Solche Vereinheitlichung des Weltbildes ist bekanntlich in der Geschichte des menschlichen Denkens eines der allerverbreitetsten und allermächtigsten Motive.

Wo aber immer sie wirksam wurde, drohten ihr zwei gefährliche Konsequenzen.

Zunächst eine Verarmung des Daseins, eine Aufopferung alles Mannigfaltigen, Bewegten, Individuellen, Gegensätzlichen der Welt zugunsten einer schließlich leeren und farblosen Einheit.

Alle Verschiedenheiten, Entwicklungen, Besonderheiten waren Schein, Irrtum, Nicht-Seiendes, das starre und kahle Eins war das einzig Wirkliche.

Und damit zusammenhängend das andere: die Unmöglichkeit, aus dieser, durch Abstraktion gewonnenen Einheit die Vielgestaltigkeit wieder zu entwickeln - mag diese auch nur ein Schein oder eine Erscheinung, ein Vorüberfliegendes oder eine Oberfläche sein.

Es scheint unserm Denken nicht gegeben, aus der absoluten Einheit heraus das Werden oder die Möglichkeit einer Vielheit zu begreifen, sie bleibt steril und kann ohne Befruchtung durch ein zweites Prinzip keine Folgeerscheinungen aus sich entlassen.

Diese Gefahren der All-Einheitslehren hat Goethe sehr wohl durchschaut.

Er warnt davor, das göttliche Prinzip »in eine vor unserem äußeren und inneren Sinne verschwindende Einheit zurückdrängen zu lassen«, behauptet, dass durch die All-Einheitslehre »so viel gewonnen wie verloren wird und zuletzt das so tröstliche als untröstliche Zero übrigbleibt«.

Das Entscheidende ist nun: dass für Goethe die Einheit der Welt eine lebendige ist.

Das Leben ist die einzige uns zur Verfügung stehende Kategorie, in der eine Einheit (im Gegensatz zu allem mechanisch Zusammengesetzten) der Vielheit nicht widerspricht, sondern sie gerade, im Nebeneinander mannigfaltiger Organe wie im Nacheinander mannigfaltiger Entwicklungsstadien, aus sich heraussprießen lässt.

Weil Goethe die Welt als einen Organismus verstand, überwand er jene Klippe des früheren Pantheismus: dass die absolute Einheit ja etwas schlechthin Undifferenziertes, Formloses, ewig Unänderbares ist; denn das Wesen des Lebendigen ist es doch, dass es ein vielheitlich Geformtes, unendlich Differenziertes und dennoch eines ist, das schlechthin verschwindet, wenn man es in Teile zerschneidet (obgleich man diese unverändert »in der Hand haben« mag), und das man nicht durch Zusammensetzung seiner Elemente zustandebringen kann.

Wie das Lebendige, so ist ihm die Welt nicht Eins, sondern immer ein Vieles; und wie das Lebendige, so ist ihm die Welt die Einheit dieses Vielen.

Dass er die Welt organisch verstanden hat, heißt: Idee und Wirksamkeit des Ganzen als einer Einheit dominiert ihm so sehr alles Einzelne und die Wechselwirkungen innerhalb des Einzelnen, wie in dem Organismus jeder Teil von dem Ganzen bestimmt wird und das Leben jedes Teiles nichts anderes ist, als das in ihm sich vollziehende Leben des Ganzen.

Auch hier liegt eine Analogie zu der wunderbaren Einheit, in der wir, wie ich oben sagte, das Goethesche Leben empfinden.

Der Sinn und die Kraft dieser Einheit erschöpft sich keineswegs darin, dass sie Betätigungen und Interessen von einer sachlichen Vielseitigkeit und Spannweite, wie wohl kein anderes uns bekanntes Leben, ohne Problematik und Disharmonie in sich schloss, dass sie aus jenen eine sozusagen logisch begreifliche Lebensordnung herstellt, aus Elementen von einzigartiger Form und Größe doch eine Lebensentwicklung von reinster, typischer Menschlichkeit.

Aber jenseits aller inhaltlichen Vielfachheiten und ihrer Bezwingung in eine Einheit durch die Macht seiner Lebensströmung scheint es mir das erstaunlichste Phänomen dieser Lebenseinheit, dass sie auch durch die Verschiedenwertigkeit ihrer Erzeugnisse nicht durchrissen wird.

Neben den Leistungen, die ihm in der Weltgeschichte des Geistes seinen Rang geben, steht ein Maß von wertlosen, nichtigen, eigentlich ganz unbegreiflichen Produktionen, wie es sich bei keinem seiner Pairs in irgendeiner Kunst findet.

Dennoch fühlen wir bei ihm auch dies sachlich Leere und Unterwertige als notwendige Durchgangspunkte einer als Ganzes unermesslich wertvollen und in diesem Werte auch ganz einheitlichen Entwicklung.

Als Lebensäußerungen haben sie eine ganz andere Bedeutung, als wenn man sie aus dem Leben isoliert und ihren Inhalten bloß sachlichen Kriterien gemäß nachfragt.

Gerade wer aus der letzten, von ihrer Strömung gar nicht abbiegbaren Lebensquelle heraus schafft, dessen Werk unterliegt den Schwankungen des Lebensprozesses und muss diesen durch seine Tiefstände und unvermeidlichen Mattheiten hindurchbegleiten - viel mehr als bei dem sekundären, epigonenhaften Künstler, dessen Werk von fest übernommenen, dem Leben bereits gegenüberstehenden Normen her bestimmt ist und es deshalb leicht hat, in sich gleichmäßiger zu sein.

Dass eine so ungeheure Polarität der sachlichen Werte das Gefühl von der Einheit der Goetheschen Existenz nicht zerstört, ist nur der Unmittelbarkeit zu danken, mit der sich alle diese Erzeugnisse als Symbole eines kontinuierlich sich entwickelnden Lebens geben.

Ich verfolge diese innere Gegensätzlichkeit in Goethes Wesen noch nach einer anderen Richtung ihrer Spannungen.

Die geistige Gesamthaltung Goethes zu Welt und Menschen führt zu der Vorstellung, dass in ihm eine sozusagen absolute Gerechtigkeit war.

Eine solche entspricht zunächst seiner metaphysischen Überzeugtheit von der gleichmäßig einheitlichen Göttlichkeit alles Seins.

Wer jede einzelne Erscheinung als Offenbarung des Absoluten empfindet, es wirklich empfindet, nicht nur denkt - für den entfällt eine sozusagen formale Voraussetzung der Ungerechtigkeit: die Scheidung in Schafe und Böcke.

Er kann konsequenterweise gar nicht mit parteimäßigem Radikalismus irgendeine Erscheinung schlechthin verdammen; und wäre eine solche Verdammung auch tatsächlich gerecht, so gibt sie prinzipiell doch die Möglichkeit einer so absoluten Ungerechtigkeit, wie sie eben bei pantheistischer Verneinung jedes absoluten Wertdualismus im Dasein nicht stattfinden kann.

Mit einem ganz ins Allgemeine hinsehenden Gleichnis sagt er: der Mensch wird »eher die Entstehung der Distel, die ihm die Arbeit auf seinem Acker sauer macht, dem Fluch eines erzürnten guten, der Tücke eines schadenfrohen bösen Wesens zuschreiben, als eben diese Distel für ein Kind der großen, allgemeinen Natur zu halten, das ihr ebenso nahe am Herzen liegt als der Weizen«.

Und es ist doch eigentlich nur eine positive Symbolik des gleichen Gedankens, wenn er, dreißig Jahre später, von einer Fortsetzung des Faust spricht, »wo der Teufel selbst Gnade und Erbarmen vor Gott findet«.

Mit dieser Attitüde, soweit sie für Goethe aus seinem Pantheismus folgt, ist nicht etwa Toleranz gemeint; denn diese setzt ja gerade ein objektiv Verwerfliches voraus, das nur vom Subjekte und aus subjektiven Gründen ertragen wird.

Es wird vielmehr der Standort für das urteilende Verhältnis in einer Idee des Göttlichen genommen, deren Allumfassung eine absolute Wertdifferenz der Erscheinungen, eine apriorische Verwerfung irgendwelcher, überhaupt nicht zulässt, sondern eine gemeinsame Distanz, oder, wenn man will, einen gemeinsamen Boden schafft, auf dem eigentlich erst der relative Wert und der relative Unwert der einzelnen abgewogen werden kann.

Höchst eigentümlich ist dies Streben nach Gerechtigkeit in seiner Jugend, wo doch seine Werturteile von äußerster Leidenschaft sind: er erzählt selbst im Alter, er hätte früher Bilder, die ihm verkehrt vorkamen, an der Tischecke zerschlagen, Bücher habe er manchmal zerschossen und ingrimmig dazu gerufen: Das soll nicht aufkommen! Dennoch sucht er schon damals die höchste Gerechtigkeit von dem Gedanken einer höchsten Werteinheit her, der ihm, unter Spinozas Einfluss, alles Wirkliche auch als vollkommen erscheinen lässt.

Und ebenderselbe lässt ihn, mit derselben Tendenz, aber höchst bezeichnendem Unterschied der Altersstufen, in der Jugend sagen: »Ist das Böse nicht gut und das Gute nicht bös?« -und im Alter: »Warum denn immer bös und gut? Müssen wir nicht mit uns selber wie mit andern vorlieb nehmen, wie die Natur uns hat hervorbringen mögen?« Er negiert den Radikalismus des Unterschiedes, zuerst in dem Temperament der Jugend, indem er die Gegensätze in eine Einheit zusammenballt, dann in dem resignierenden Alter, indem er von ihnen zurücktritt.

Und von vornherein ist eines der tiefsten Gerechtigkeitsmotive in ihm wirksam: die Anerkennung der Individualität.

Es ist seine metaphysische Überzeugung, dass der einheitliche Naturgrund sein Leben in der Hervorbringung fortwährend wechselnder, in ihrer Gestaltung unvergleichbarer Wesen zeige.

Er nennt es die höchste und einzige Operation der Natur, dass »ein jedes ein Besonderes werde, sei und bleibe«.

Darum hat, wie er sagt, »jedes Individuum vermittelst seiner Neigungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht aufheben«.

Leidenschaftlich bekämpft er den einseitig Urteilenden, der auch den von Natur anders Gerichteten über den eigenen Kamm schert, der nicht anerkennen will, dass das verschiedene Sein der Menschen auch verschiedene Handlungsweisen, Wertungen, Gläubigkeiten zur notwendigen Folge hat.

Dies ist bei ihm keineswegs schlaffe Toleranz, die ihm mit ihrem bloß negativen Wesen sehr fern lag, sondern die starke, positive Überzeugung, dass mit jedem Menschen ein natürliches Recht auf seine Individualität geboren ist, auf das Rücksicht zu nehmen die erste Bedingung aller Gerechtigkeit sei.

Und wenn er im Alter einmal sagt, dass er lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als eine Unordnung dulden wolle, so ist ganz klar, dass diese »Unordnung« eine Verletzung der höheren und allgemeinen Gerechtigkeit ist, die »Ungerechtigkeit« aber nur einem Individuum gilt, das freilich jener gegenüber nachgeben muss.

Dies lebenslange Streben zur Gerechtigkeit - er fordert, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst, für gerechtes Urteilen eine »unausgesetzte, leidenschaftlich durchgeführte Übung« - ruhte allerdings wohl auf der Stärke des theoretisch intellektuellen Elementes in seiner Natur.

Man kann sich nicht denken, dass leidenschaftliche Künstlertemperamente, denen die Goethesche Wissenschaftlichkeit fernlag, Michelangelo, Rembrandt, Beethoven, dieses bewusste Interesse an das Gerechtigkeitsideal gesetzt hätten.

Unter den großen Menschheitsforderungen hat, abgesehen von dem Ideal der Erkenntnis selbst, die der Gerechtigkeit am meisten einen theoretisierenden Zug, mit dem sie sich natürlich keineswegs erschöpft; aber sie ist unter allen praktischen Werten das Lieblingsideal des theoretischen Menschen.

Dass diese Konstellation in irgendeinem Maße der Gerechtigkeitstendenz Goethes zugrunde lag, hat Schiller offenbar empfunden, indem er ihm in Indignation über einen Angriff Schlossers schreibt: »Sie, der die Menschen besser kennt, erklären sich vielleicht richtiger und natürlicher durch eine natürliche Beschränktheit, was ich, der die Menschen gern verständiger annimmt, als sie sind, mir nur durch eine moralische Unart erklären kann.«

Auf welche innere Struktur dies aber auch weise - der Erfolg war, dass Goethe der größte aller Jasager war, sein ganzes Leben war, hinsichtlich anderer Menschen und ihrer Leistungen, auf Gerechtigkeit mit dem Willen zur Anerkennung gestellt; denn auch dem gerechtesten Individuum pflegt man anzumerken, ob seine tiefste Tendenz, seine eigentliche Spontaneität (auch wo sie sein tatsächliches Urteil gar nicht beeinflusst) auf Verwerfen oder auf Anerkennen geht.

Vielleicht gibt es keinen Großen, der andere Menschen in solchem Maße anerkannt hätte, und dass er von sich selbst sagt, das einzige, ihm absolut fernliegende Laster sei der Neid, ist nur ein sehr negatives und sekundäres Phänomen für seine lebenslange Leidenschaft, gerecht zu sein und, als Resultat davon, anzuerkennen.

»Ich hasse die Leute«, sagte er mit zweiundachtzig Jahren, »die nichts bewundern (nämlich menschliche Leistungen); denn ich habe mein Leben damit hingebracht, alles zu bewundern.«

Dieser Zug, dessen Wichtigkeit für das ganze Bild der Goetheschen Existenz solche Ausführlichkeit rechtfertigt, findet nun aber innerhalb dieser Existenz die frappierendsten Gegenteile.

Er, der in der Kunst alles, was es Großes gab, mit der höchsten Intensität zu begreifen und zu würdigen sucht, hat, sobald die Klassik in seinen Gesichtskreis trat, die Gotik verachtet, hat von Dantes »widerwärtiger, oft abscheulicher Großheit« gesprochen, hat für Michelangelo nach ganz kurzer Beeindrucktheit eigentlich keine Augen gehabt, ist durch Italien gegangen, ohne die Frührenaissance sozusagen eines Blickes zu würdigen; er hat Mozart über Beethoven gestellt, hat die Zeltersche Musik gepriesen und Schubert als nicht vorhanden betrachtet; er hat soundso viele mittelmäßigste Talente ermutigt, in einer uns oft unbegreiflichen Weise, und hat Jean Paul, Hölderlin, Kleist abgelehnt! Dies alles ansehend, muss man gegenüber jener absoluten Gerechtigkeit, die sein Bild zu zeigen schien, fast sagen, er sei einer der ungerechtesten Menschen gewesen.

Die Polarität, die er an jedem Daseinspunkte sah, hat sich zwischen seiner Gerechtigkeit und seiner Ungerechtigkeit in einer, vielleicht nicht für ihn selbst, aber für andere und für die von ihm bestimmte Kultur tragischen Weise verwirklicht.

Und nun ist das Merkwürdige, das gar nicht rational, sondern nur in einer gewissen Intuition seines Gesamtlebens begreiflich wird, dass auch diese Falschurteile, ersichtlich der Intention seines Lebens äußerst entgegengesetzt, dennoch dessen einheitliches Bild nicht zerstören.

Nicht als ob sie irgendwie gerechtfertigt werden sollen; sie müssen durchaus als unverlöschte Gegenwertigkeiten in seiner Existenz stehen bleiben.

Denn gerade, dass wir diese ungeheuren Kontraste nicht aus seinem Leben wegdenken können, offenbart die ungeheure Einheitlichkeit dieses Lebens, das, obgleich es sich ganz jedem Inhalt hingab, doch wieder von diesen Inhalten in ihrem Selbstsinne, oft auch in ihrem Selbstwerte, ganz unabhängig war.

Gerade, dass er sein volles Leben in die jeweiligen Inhalte hineinlebte, gab allen diesen, als seine Lebensäußerungen angesehen, eine Einheitlichkeit, die sie, logisch oder in irgendeiner anderen Hinsicht betrachtet, niemals zeigen könnten.

Die Stärke des Goetheschen Lebens, das gerade als Lebensprozess alle Gegensätze seiner Inhalte in seine Einheit fasste, zeigt sich damit wieder in jener Verwurzelung und Analogie mit dem, was wir, mit allen Vorbehalten, Wesen und Grund des Daseins überhaupt nennen müssen.

Auch innerhalb der objektiven Welt sah Goethe eine unerhörte Gespanntheit von Gegensätzen der Inhalte und der Werte.

Alle Dinge leben für ihn in einer unaufhörlichen Entzweiung mit sich selbst und mit andern, die sich unaufhörlich versöhnt, um sich wieder zu spalten.

Und ebenso sieht er Hohes und Niedriges, Gutes und Böses überall nebeneinander und durcheinander.

Aber alles dies ist Einheit, weil es nicht für sich bestehende selbstgenugsame Daseinsstücke sind, nicht Sackgassen, in die sich die Wirklichkeit verrannt hat, um jedes mal in ihnen definitiv stillzustehen- sondern weil es Pulsationen eines Lebens sind.

»Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur.« Will man diesen Satz recht verstehen, so muss der Ton auf »Leben« liegen.

Und dessen Einheit wiederum darf nicht so verstanden werden, als setzte sie sich schlechthin der »Entzweiung« entgegen, sondern dass sich das Geeinte entzweit, das Entzweite vereint, das sind die Seiten der übergreifenden Lebenssynthese, der allumfassenden Einheit des Daseins, die überhaupt keine zu versöhnende Entzweiung sich gegenüber hat.

Solange dieser Gegensatz noch besteht, diese sich wechselseitig sinngebende Relativität von Einheit und Getrenntheit - solange ist die absolute Einheit des göttlich natürlichen Lebens noch nicht erschaut, für die die Einheit in jenem noch gegensätzlichen, noch parteimäßigen Sinne nur eine Äußerung ist, und die Trennung der Elemente die andere, beides zusammen aber, mit dem Gleichnis, das Goethe so gern braucht, nur wie Einatmung und Ausatmung, die zusammen erst das Atmen des Lebendigen sind.

So allein war es möglich, dass er an keinem Stück der unendlich gespaltenen, unendlich wertverschiedenen Welt den Geist, die Kraft des Göttlichen vermisste.

Es war doch auch der Zauber seines Lebens, durch den er all dessen Gespanntheiten überwand, dass wirklich jeder Augenblick oder jede Leistung die jeweilige Form war, in der sich sein Leben überhaupt bot - dieses Leben, dessen Gesetz freilich ein fortwährendes Sichwandeln, oft ein Schwanken zwischen äußersten Ausschlagpolen war.

Goethe, der dem oberflächlichen Blick ein unaussprechlich zerspaltenes Dasein bietet, eine harte Isolierung zwischen seinen Vorder- und Hintergründen, sagt, offenbar aus dem tiefsten Gefühl seiner selbst heraus: »Teilen kann ich nicht das Leben, /Nicht das Innen, nicht das Außen, Allen muss das Ganze geben.« Ergab allen das Ganze, aber er gab es auch allem, jeder Aufgabe, jedem Gedanken, jeder innerlichen oder auch äußerlichen Situation.

Was wir aus dem Tiefsten des Goetheschen Lebens heraus lernen können, ist dies, dass die entschiedenste Einheitlichkeit eines Lebens durchaus nicht an das gleichsam substantielle Verharren und Durchhalten von irgendwelchen Inhalten, ja sogar von Charakterzügen gebunden ist.

Dass das Leben eine unaufhörliche Bewegtheit ist, ist freilich eine Banalität - allein voller Ernst wird mit dieser Erkenntnis keineswegs häufig gemacht.

Immer noch scheint die Einheit eines Lebens dadurch bedingt, dass unter dem Wellenspiel einer fortwährend bewegten und wechselnden Oberfläche irgend etwas Festes und ungeändert Bleibendes liegt, das eben der eigentliche Träger der »Einheit« ist.

Aber gerade dadurch wird ja das Leben in sich gespalten, jeder seiner Momente in zwei ganz verschieden rhythmisierte Reihen zerlegt.

Nur dadurch, dass jeder Augenblick mit seinem vielleicht völlig neuen Inhalt das ganze Leben ist, d. h., dass das Leben eben die Form hat, sich als Ganzes kontinuierlich zu wandeln und zu entwickeln - nur dadurch ist es Einheit; es muss in den Wandel seiner Momente auch wirklich jeweils ganz eingehen, es kann nicht irgendeine Starrheit tieferer Schichten diesem Wandel entziehen, um an sie seine Einheit zu knüpfen.

Solange man nicht einsieht, dass die absolute Stetigkeit eines absoluten, d. h. die Ganzheit des Lebens erfassenden Sichwandelns die eigentliche und einzige Einheit dieses Lebens ist, hat man den Goetheschen Lebensbegriff nicht erfasst.

Er bildet sogar die einzelnen Elemente des Lebens, den herrschenden Vorstellungen entgegen, im Sinne dieses Begriffes um.

Denn nichts anderes will die wunderbare Äußerung sagen, die er als Vierundsiebzigjähriger einmal in einem kleinen Kreise tat, als bei Tisch ein Toast auf die »Erinnerung« ausgebracht wurde: »Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne.

Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muss nicht erst von außen her wieder erinnert, gleichsam erjagt werden.

Es muss sich vielmehr gleich von Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues, besseres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen.

Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet.« In dieser Auffassung hat das Leben seine letzte Starrheit überwunden.

Auch unsere leidenschaftlichen Erlebnisse - ein solches hatte er in diesem Moment im Auge - sind nun nicht an einer Stelle der Vergangenheit, an der wir sie in ihrem unveränderlichen Sogewesensein wieder zu suchen hätten, angenagelt - und wir mit ihnen; sondern sie sind die selbst bildsamen Elemente der Lebensgestaltung, die mit jedem Augenblick neu einsetzt.

Weil er das Weltdasein in eben dieser Absolutheit des Sichwandelns erschaute, war es ihm Leben und Einheit.

Er sah, dass es keine andere Einheit gibt, die die Einheit eines unendlich Vielfachen und kontinuierlich anders Werdenden wäre, als die, zu der das Leben den Schlüssel gibt.

Goethe war eine heraklitische Natur; dass »alles fließt«, war sozusagen das metaphysische Zentrum, von dem her sich nach der einen Seite sein Leben und Lebensgefühl, nach der andern sein objektives Daseinsbild gestaltete.

Daneben aber tritt ein anderes Motiv, das vielleicht nicht weniger tief gegründet ist als jenes, aber in Goethes Leben erst später, insbesondere, nach einigen Vorahnungen, durch den Einfluss der klassischen Kunst mächtig wird: die ewig unveränderliche Gestalt, die Form des Lebendigen, die, einmal angelegt, nicht mehr umzuprägen ist.

Als radikalen Gegensatz freilich, als welchen wir es vielleicht empfinden, hat Goethe das Verhältnis zwischen dem absoluten Wandel des Lebendigen als solchen und der absoluten Unwandelbarkeit seiner Gestalt, soviel ich weiß, nicht ausgesprochen, wenigstens nicht in abstrakter Formulierung.

Tatsächlich aber laufen unzählige seiner tiefsten Denkbemühungen in der Richtung, dies beides zusammenzubringen.

Wenn ich die Elemente formulieren sollte, von denen der Geist, der metaphysische Sinn dieser Existenz ebenso Synthese wie Antithese ist, so wäre es: das ewig fließende Leben und die ewig beständige Form.

Es sind Gegensätze, die als Gedanken und Tendenzen weltgeschichtlich sind, weil sie als objektive, als metaphysische Sachgehalte, übergeschichtlich sind.

Was Goethe in Italien an der klassischen Kunst fand, war die Bedeutung der Form: darum fühlte er in Rom sich »so froh«, weil »hinten im Norden - farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten« gelegen hatte.

Der Sinn für die plastische Geschlossenheit der Erscheinung in ihrer naturhaften wie in ihrer künstlerischen Wirklichkeit, der bis dahin in ihm latent gewesen war, wurde nun geweckt.

Die Leidenschaftlichkeit seines rastlos vorwärtstreibenden Lebens war schließlich an dem Kleinkram, den Widerständen, den Disharmonien des Weimarer Milieus zersplittert, er empfand seine Existenz als auseinandergestückelt, und was ihn nach Italien trieb, fasste er in den einen Ausdruck zusammen, er wünsche seine Existenz »ganzer« zu machen - er hatte den Instinkt, dass er dort die Ganzheit finden würde.

Und diese eben war die Form in ihrem Selbstwert, ihrer ruhigen, klassischen Vollendung, in ihrer Zeitlosigkeit, mit der sie sich als Erlösung aus den Irrsalen des bloß bewegten, aber in seiner Bewegtheit schließlich auseinanderfallenden Lebens anbot.

In den Gestalten der griechischen Plastik und vielen der Hochrenaissance, an denen Goethe nun die unmittelbare, die symbolische, die vorbildliche Lösung für die Wirrnisse seines Lebens und Weltfühlens fand, ist das Leben zum Stillstand gekommen; nicht als ob sie jenseits seiner stünden, als Abstraktionen oder Schemen; es ist wirklich in sie hineingegangen, dann aber hat es sich zu einer Rundung, Fertigkeit, Selbstgenugsamkeit seiner Form verfestigt, über die hinaus es nun nicht weiter fließt, im Gegensatz etwa zu den gotischen Gestaltungen, menschlichen wie ornamentalen, über die der Lebensstrom hinaussprüht, sei es ins Transzendente, sei es zu einem bloßen Immerweiter in der gleichen Dimension.

Man wird vielleicht überhaupt sagen können, dass hier der griechisch-italienische Geist gegen den germanischen steht.

Jener strebt nach dem plastischen, ruhenden, zeitlosen Sein der Form.

Dieser ist »historisch«, d. h., er geht mehr auf zeitliche Bewegung und Entwicklung und ist deshalb formloser, weil die Kontinuität der Bewegung es zu der anschaulichen Ausgeprägtheit und Festigkeit der Form weniger kommen lässt.

Darum hat er freilich etwas von dem »Prinzipium der Unendlichkeit« an sich, das den schön geschlossenen Idealen der Mittelmeerkultur abgeht.

Wenn man schon lange hervorgehoben hat, dass Goethes Lebensarbeit und Lebensintention im Antagonismus, Wechsel, Vereinheitlichung der weltgeschichtlichen Parteien der Klassik und des Germanentums verlaufe, so scheint mir dieser Dualismus in seinem allgemeinsten Ausdruck der zwischen der Form und der Lebensbewegtheit zu sein.

Er selbst bringt die Gegensätze ganz nahe zusammen, wenn er die unentrinnbare Bestimmtheit des Individuums als »geprägte Form, die lebend sich entwickelt« bezeichnet.

Das eben ist das ungeheure Problem, dessen Seiten die Goethesche Weltattitüde markieren: wie kann das schon Geprägte sich noch entwickeln? Wie kann der Sinn und Wert der Existenz sein Symbol in der geschlossenen, allem Werden entrückten Festigkeit der klassisch plastischen Gestalt haben, wenn das Leben doch gerade ein ewig sich Wandelndes, alle Starrheit Fliehendes, in rastloser Umformung Werdendes ist und sein soll? Aus dem Widerspruch zwischen der unendlichen Vielfältigkeit der Welt im Nebeneinander wie im Nacheinander, und der Einheit, von der wir nicht lassen können, hatte ihn Gefühl und Begriff der lebendigen Gott-Natur gerettet; die organisch verstandene Welt war eben die Einheit, die in Vielheit, als Vielheit, lebt und fruchtbar ist - wovon wir in unserer körperlich-geistigen Persönlichkeit mit ihrer im Ich zusammengehaltenen Vielheit einen sehr gebrochenen Strahl und unvollkommenes Gleichnis haben.

Nun aber tat sich der neue Zwiespalt auf, der neben das Leben selbst ein anderes, nicht weniger wertabsolutes Prinzip setzte, das, in ganz anderer Schicht, eine neue Versöhnung mit jenem, dem bisher Allversöhnenden verlangte.

Freilich interessierte ihn hier so wenig wie sonst der Zwiespalt als solcher, sondern dass er ein versöhnbarer und versöhnter sei.

Daran, dass hier eine unheimliche, vielleicht eine tragische, metaphysische Entzweiung vorliegt, hält er sich überhaupt nicht auf, seine Gedanken und sein Ausdruck stehen von vornherein in der Vermittlungslinie: »Die Gestalt ist ein Bewegliches, ein Werdendes, ein Vergehendes.

Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre!«

In der Übertragung auf die organische Natur als solche ist die überdauernde, gegenüber allem Formwechsel des Lebens stabile Gestalt nun dasjenige, was Goethe den Typus nennt.

Alle Lebewesen sind nach Grundformen gebildet, die ewig sind, obgleich die Erscheinung sie fortwährend individualisiert, rückwärts und vorwärts bildet, bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet.

Die Grenzen dieses Entwicklungsspielraumes sind für unsere Erkenntnis gar nicht bestimmt festzulegen, aber irgendwo liegen sie, irgendeine, unter keinen Umständen veränderliche Grundform, der Typus der Art, besteht in jedem Organismus.

Auch wieweit die Art greift, für wie viele einzelne Gattungen ein Arttypus anzusetzen ist, steht dahin.

Aber all diese empirischen Unsicherheiten erschüttern nicht das Grundmotiv: dass ein Unveränderliches, das Allgemeine der jeweiligen Art bedeutend, in dem rastlosen Werden und Umgeschaffenwerden jeder organischen Natur enthalten ist.

Den Begriff, die Idee des Tieres nennt Goethe dies selbst, es entspricht seinem anderweitigen Ausdruck über das »Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind« - das aber nichtsdestoweniger Gesetz bleibt.

Es ist freilich nicht Gesetz im Sinne der modernen mechanistischen Naturwissenschaft; denn für dieses hat die »Ausnahme« keinen Sinn.

Der Spielraum der Freiheit, den Goethe der Natur zuschreibt, damit sie die unveränderlichen Grundgesetze, Grundgestalten in kontinuierlichem Werden und Wechsel und Umbilden realisiere, ist eine der exakten Wissenschaft fremde Vorstellung.

Dass Goethe das überzeitlich Wertvolle der Erscheinungen, das, was ihm in dem scheinbar regellosen, verwirrenden Strome des bloßen Lebens Halt und Erlösung war, als das Allgemeine bestimmte, als dasjenige, was einem unabsehlichen Komplex von Erscheinungen gemeinsam war, das offenbart die tiefe Beziehung seiner Naturanschauung zu seinem Klassizismus.

Die antike Geistesart, soweit sie auf Goethe wirkte, fand das Wesen jedes Stückes des Daseins in dem plastisch festgeformten Allgemeinbegriff.

Wie die griechische Kunst auf Typen ausging, um die die einzelnen Gestaltungen sich mit gewissem Spielraum bewegten, in der Reinheit ihres Typus das Maß ihrer Vollendung findend, so schienen die Dinge in Klassen zu gehören, die für ein jedes die Vorzeichnung bildeten, und jedes Ding war es selbst, in dem es einen Typus darstellte - was es oft oder immer nur in Unvollkommenheit und Trübung konnte.

In der Goetheschen Vorstellung des «Gesetzes« der natürlichen Dinge trafen, indem die Gestalt Gesetz ist, die beiden Momente zusammen: die »Gestalt« als das treibende, alles Werden erklärende Movens in allen Elementen, wie es dem organischen Weltbegriff entspricht, und diese Gestalt als Verwirklichung eines Typus, der sie zwar nie ganz aus sich entlässt, von dem sie sich aber mit unabsehbaren Modifikationen, Hypertrophien und Atrophien entfernen kann.

So ist also mit diesem Begriff des Typus oder des Allgemeinen eine Erhebung über den Dualismus des Lebens und der Gestalt gewonnen.

Das Leben selbst, in dem unstaubaren Flusse seines Werdens und Anderswerdens, enthält nun in jeder seiner Gestalten notwendig ein Ewiges, Unveränderbares, das sich als solches dadurch legitimiert, dass es in allen Vielfältigkeiten und allen Wandlungen der Individuen und allen Wandlungen des Individuums als das immer gleiche Grundschema der Organisation aufweisbar ist.

Und zwar ist damit nicht etwa ein mechanisches Nebeneinanderbestehen jener dualistischen Prinzipien gewonnen.

Denn das grade ist das Wesen des Organismus, dass das Allgemeine und das Individuelle, das Beharrende und das Fließende eben eine Erscheinung ausmachen, in der jene Elemente nicht real oder äußerlich, sondern nur ideell trennbar sind; damit grade hat die Strömung und Individualisierung des Lebens das Ewige und Gleiche ergriffen, ohne es zu zerstören, die Gestalt ist und bleibt in ihrem Kern typisch, aber dieser Kern selbst steht in der Rhythmik des Werdens und Sichentwickelns.

Unzählige Äußerungen Goethes gehen auf dieses Ruhend-Bewegte, Einheitlich-Vielfache, Formgefestet-Lebendige, das freilich nicht mit irgendeiner mechanistischen Vorstellungsweise, sondern erst aus einer Vertiefung in das Leben zu erfassen ist; nur dass leider unsere Ausdrücke aus jener Mechanistik stammen und deshalb nur von einer gewissen Entfernung her auf das hier Gemeinte, das ja für Goethe selbst eine nur mühsam verbegrifflichte Intuition war, hinzeigen können.

Man muss wohl auch seine psychologisch ethische Deutung des Menschen in diesem Grundverhältnis wurzeln lassen.

Es mögen nicht viele Menschen die Bewegtheit und den Wandel, die Anregbarkeit und die Beeinflussungen des individuellen Lebens so empfunden und anerkannt haben wie er.

Sein eigenes rastloses Beobachten und Forschen brachte seiner Persönlichkeit keine äußerlichen Zutaten, sondern baute an dieser selbst und gestaltete sie fortwährend um, wie er selbst das ausspricht: »Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.« Und wie von außen, so von innen: sein ganzes Leben war ein fortwährendes Bilden und Umbilden seiner selbst; noch in seinem zweiundachtzigsten Jahr spricht er von seinem »Immer-Vorwärts-Streben«, das den Erfolg hätte, dass er seine Produkte bald vergäße und sie ihm etwas ganz Fremdes würden.

Er hat das Leben, an ihm selbst wie überhaupt, als das Ewig-Regsame gewusst, das »nur scheinbar Momente stillsteht«.

Dabei hat aber er so entschieden, wie es überhaupt möglich ist, an der Unveränderlichkeit des angeborenen »Charakters« festgehalten.

»Wir finden«, sagt er, »die Menschen, über deren Veränderlichkeit so viele Klage geführt wird, nach vielen Jahren zu unserem Erstaunen unverändert und nach äußeren und inneren unendlichen Anregungen unveränderlich.« Er nennt es auch unsere »Natur«, die »zwar modifikabel, aber doch unveränderlich« ist.

Also auch im Seelischen ist eine festgeprägte Form, die ersichtlich zu jeder seiner Äußerungen das Allgemeine, Durchhaltende ist, gleichsam der Typus dieses individuellen Menschen - aber dieser Mensch von Moment zu Moment ein anderer, kontinuierlich durch unabsehliche Individualisierungen seiner Lebensmomente hindurch entwickelter.

Beides aber steht doch nicht nebeneinander, sondern dies eben ist die seelisch-sittliche Einheit des Lebens, dass der unveränderliche Charakter des Menschen (und Unveränderlichkeit des Lebendigen hat ganz anderen Sinn und Bedeutung als Unveränderlichkeit des Mechanischen und Starren!) sein Leben als eine unaufhörliche Entwicklung und Umänderung vollzieht; es ist nicht ein Leben da, welches diesen Gegensatz überwindet, sondern ihn zu überwinden heißt Leben.

Das ist nun auch die metaphysische Grundlage, die Tendenz der Gesamtanschauung, der z. B. die Metamorphose der Pflanzen zugehört.

In dem wuchernden Gewirr der Pflanzenformen, in der fortwährenden Formveränderung der einzelnen - welches beides den heraklitischen Werdecharakter des Lebendigen offenbart - sieht er eine durchgehende Einheit, ein sich gleichbleibendes Muster ihrer Bildung - ohne welches wir doch nicht sagen könnten, »dass dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei«.

Unter dem in Raum und Zeit unendlich Mannigfaltigen müsse es doch eine »wesentliche Form« geben, »mit der die Natur gleichsam spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt«.

Es schwebt ihm das Bild einer »Urpflanze« vor, die natürlich nicht im Sinne der heutigen Evolutionslehre der Stammvater aller Pflanzen wäre - womit j a auch noch nicht bewiesen wäre, dass ihre Form sich in sämtlichen Nachkommen wiederholen müsste -, sondern die nur als das zeitlose Schema jeglicher Pflanze zu erkennen wäre.

Allein die wirkliche Erfüllung des Problems geschieht durch die zuerst ganz kurz formulierte Einsicht: »alles ist Blatt«.

Alle Organe der Pflanze: Kelch, Staubwerkzeuge, Griffel, Früchte usw. sind umgebildete, metamorphosierte Blätter.

Es ist also »im Grunde immer dasselbe Organ, das durch eine Progression verändert wird«.

In diesem Motiv, dessen sonstige Bedeutung und Entwicklung ich hier nicht verfolge, wird Goethes Art, das Einheitlich-Bleibende und das Lebendig-Veränderliche sich zusammenleben zu lassen, unmittelbar anschaulich.

Das Blatt ist das in seiner Urform Unveränderliche, ist die Einheit, die sich in allen ihren Organen, als alle ihre Organe entwickelt, es verhält sich etwa zu der einzelnen Pflanze, wie sich zu einer Abteilung des Tierreichs ihr Typus verhält.

Das Blatt ist die in sich völlig feste Form, die doch nicht als diese abstrakt allgemeine, sondern in fließender, ewig modifizierender Metamorphose lebt.

Denn das eben heißt für ihn Leben, dass eine ewige Form - die anschaulich, freilich nicht für einen einzelnen äußeren Sinn, sondern für den intuitiven Geist gegeben ist - sich in kontinuierlicher Bewegtheit durch immer neue individuelle Gestaltungen hindurch entwickle.

Die Metamorphose ist hier die Lösung der Antinomie, die uns in der »geprägten Form, die lebend sich entwickelt«, zu liegen schien.

Er selbst hat das ganz programmatisch ausgesprochen: »So viel getraue ich mir zu behaupten, dass, wenn ein organisches Wesen in die Erscheinung hervortritt, Einheit und Freiheit des Bildungstriebes ohne den Begriff der Metamorphose nicht zu fassen sei.« Denn Einheit und Freiheit ist offenbar ebendieselbe Zweiheit, die ich als Form und Leben bezeichnete.

Die festgeschlossene Dauer der Formgeprägtheit schien gegen die fließende Vielfältigkeit des Lebens fremd und unberührbar zu sein.

Nun aber kommt ein höherer Begriff des Lebens auf, dessen Explikation oder Träger oder Beispiel die Metamorphose ist.

Dieser - wie man sagen könnte - absolute Begriff des Lebens enthält den relativen, der noch an dem der Form seinen Gegensatz findet, unter sich, schließt ihn als eines seiner Elemente ein, dessen anderes nun die Form, die Gestalt ist.

Jetzt ist »Leben« nicht nur, wie es auf der früheren Stufe war, zeitliche Bewegtheit, individuelle Vielfältigkeit, rastloses Werden, sondern alles dies seiend ist es Bewegtheit eines zeitlos Bedeutsamen und Beharrenden, Vielfältigkeit eines einheitlich Typischen, Werden eines in feste Form Geprägten.

Dieser unbedingte Begriff des Lebens, der den Gegensatz seiner eigenen bedingten Form mitumfasst, gehört unter dieselbe Kategorie Goethescher Geisteswelt, wie jene Synthese des Lebens - in einem anderen Sinne -, von der ich oben sprach und die das Zusammen und das Auseinander als jetzt nur noch relative Parteien in sich begriff.

Zwischen Getrenntheit und Einheit alterniert das Leben, es vereinheitlicht seine Elemente, um sie zu spalten, spaltet sie, um sie zu vereinen, aber dieser Rhythmus ist eben das einheitliche Leben.

Das Definitivum seiner Formel ist nicht die Einheit, zu der die zerstreute Vielheit sich zusammenfasst, sondern erst die übergreifende Einheit, als deren Momente und Pendelschwingungen nur die Einheit aus der Zerstreuung und die Zerstreuung aus der Einheit gelten dürfen.

Wir haben hieran eine der tiefsten Formen, mit denen die Goethesche Geistigkeit die Weltinhalte bezwang: er sah diese Inhalte sich fortwährend in Gegensatzpaaren ordnen oder bekämpfen; und es war ihm gegeben, je die eine (oder wechselnd die eine und die andere) Seite solcher Gegensätze als so wichtig und absolut zu empfinden, dass sie nun ihren eigenen Sinn, soweit er noch ein bloß relativer, im Gegensatz stehender und auf ihn beschränkter war, unter sich begriff, dass beide Parteien, in der Beschränkung auf sich selbst einander ausschließend, nun das Einatmen und Ausatmen desselben höchsten Daseins wurden.


Die in den tiefsten Schichten wurzelnde Beziehung zwischen Goethes objektivem Weltbild und der inneren Struktur und Selbstempfindung seines persönlichen Daseins, die sich an vielerlei Punkten erwies, ist auch an diesen weitesten Maximen seiner Natur- und Lebensauffassung deutlich fühlbar.

Gerade diese aber dürften am meisten jene unglücklichen Versuche dementieren, die für Weltanschauungen die »Personalakten« ihrer Schöpfer verantwortlich machen wollen, d. h., ein Weltbild für die bloße Vergrößerung oder kosmische Projektion einer seelischen Beschaffenheit halten und aus dieser »erklären«.

Mag dies für sekundäre Denker zutreffen, an dem Wesen des schöpferischen Genies geht es völlig vorbei.

Der wirklich große Geist, der in produktiver Weise von der Ganzheit des Seins spricht, hat ein unmittelbares Bild von ihr, in das sich Gefühl und Vorstellung seiner eigenen Existenz erst einordnet; man kann es gerade als das Entscheidende des Genies bezeichnen - so bildlich und asymptotisch solche Ausdrücke sein müssen -, dass das Wesen der Sache selbst aus ihm spricht, gewissermaßen mit Überspringung der bloßen eigenen Subjektivität.

Es mag dann freilich diese Subjektivität in einer tiefen Harmonie und Verwurzeltheit mit der Welt und ihren Dingen fühlen und sie mag ihm in ihren individuellen oder typischen Zügen das nächstliegende Beispiel und die Ausdrucksmöglichkeit für die Schauung des Objektiven sein.

Aber immer ist es diese letztere, aus der heraus der große Denker redet.

Gewiss, sie ist für den einen anders beschaffen als für den andern, und gewiss liegt der Grund dieser Andersheit in den Differenzen der Seelen, deren Strukturverhältnisse ihr Weltbild bestimmen.

Allein darum braucht dieses Bild doch keine Ähnlichkeit mit dem Subjekt zu haben- als hätte es sich zu seinem Weltbild selbst Modell gestanden! Die unmittelbar subjektive seelische Beschaffenheit eines Denkers in seiner Vorstellung des Daseins, als deren Motivierung, wiederzusuchen, ist nicht anders, als wollte man in dem individuellen Stil eines bildenden Künstlers, in dem er seine Anschauung gestaltet und der natürlich aus seinem ganzen physisch-psychischen Komplex hervorgeht, ein Abbild seiner eigenen Körperlichkeit erblicken.

Wie die wenigen ganz großen Philosophen, hatte Goethe ein geistig unmittelbares, zu Anschauung und Begriff werdendes Verhältnis zum Seinsgrunde oder Seinsganzen; aber er fühlte freilich, wie ich es vorher zu skizzieren versuchte, die tiefe und lebendige Zugehörigkeit seiner Existenz zu der Einheit und dem Sinne des Daseins überhaupt, und das hat jene wundervolle Konsequenz, dass er sich mit einer unerhörten Freiheit und Einheitlichkeit den Antrieben, dem von innen drängenden Prozess des Lebens überlassen konnte - die Selbstbeherrschung eingerechnet, die aus der gleichen Quelle kam -, sicher, dass damit die Inhalte von Leben und Produktion sozusagen von selbst dem Sinne und der Wahrheit natürlicher wie ideeller Welt angemessen verliefen.

Niemals aber ist es das isolierte Subjekt, das ursprünglich nur sich selbst hätte und von da aus die Welt konstruiert; sondern der Boden seiner Geistigkeit bleibt das Ganze und die Objektivität der Welt, der sein Subjekt auch angehört.

Wäre dies nicht das metaphysisch-seelische Grundverhältnis, so würde seine Lebenstendenz sich in seinen eigenen Äußerungen völlig unheilbar spalten.

Man kann nicht die hingebende Treue gegen das Objekt, im Anschauen und Erforschen, leidenschaftlicher betonen, sie nicht gewissenhafter bewahren als er, aller Subjektivismus und Anthropomorphismus ist ihm nicht nur abstrakterweise verhasst und von ihm aufs heftigste verfolgt, sondern er ist mit einer Gewissenhaftigkeit und Selbstlosigkeit in jedem Sinne, die kein Fachgelehrter übertreffen kann, der reinen Objektivität der Dinge nachgegangen.

In einem programmatischen Augenblick, wo er an der Schwelle eines neuen, seines eigentlichen Lebens zu sein meinte, schreibt er: »Ich will nichts als die Wahrheit um ihrer selbst willen.« Und in diesem objektivistischen Interesse hält er in der gleichen Epoche seine enthusiastische innere Erregtheit fast gewaltsam nieder: »Ich lebe sehr diät«, schreibt er, »und halte mich ruhig, damit die Gegenstände keine erhöhte Seele finden, sondern die Seele erhöhen.

Im letzten Falle ist man dem Irrtum weit weniger ausgesetzt als im ersten.« Aber mit gleicher Entschiedenheit spricht er aus, dass jeder schöpferische Mensch doch nur »sein Individuum zutage fördere«, dass alle Theorien bis in die Einzelheiten hinunter von der persönlichen Gerichtetheit des Denkers abhingen; in einer seiner trockensten und spezialistischsten geologischen Abhandlungen sagt er: »Man würde nach meiner Überzeugung über Gegenstände des Wissens, ihre Ableitung und Erklärung viel weniger streiten, wenn jeder vor allen Dingen sich selbst kennte und wüsste, zu welcher Partei er gehöre, was für eine Denkweise seiner Natur am angemessensten sei.« Wie für ihn »poetischer Gehalt Gehalt des eigenen Lebens« ist, so spricht für ihn der Forscher, indem er von Natur redet, nur sich selbst aus.

Auf den Gedanken, man könne hier irgendeinen Widerspruch sehen, kam Goethe ersichtlich überhaupt nicht, weil das Sprechen aus dem Grunde der Individualität und das aus dem Grunde der Sache selbst für ihn eines und dasselbe war, weil er nicht aus einem der Natur gegenüberstehenden, von ihr losgerissenen Subjekt heraus, sondern aus der Totalität, der auch das Subjekt angehöre, redete: »Und so kann jeder«, sagt er in einem entscheidenden Satz, »seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige« - ein Ausspruch, der um seiner Paradoxität willen der Ergänzung durch einen anderen bedarf, in dem er gleichfalls die durchgehende Individualität jedes organischen Geschöpfes betont und dann fortfährt: »So ist jede Kreatur nur ein Ton, eine Schattierung einer großen Harmonie.« Nicht in dem Sinne eines inhaltlichen und sozusagen mechanischen Sichdeckens sind die Wahrheiten des einen und des andern Individuums »immer dieselbige«; sondern weil eine jede ein zu der andern harmonischer Ausdruck des einen göttlich-natürlichen Seins ist, ein jeder nicht sich selbst als ein im Leeren schwebendes Subjekt ausspricht, sondern ein jeder in seiner Sprache das Sein in seiner Einheit und Objektivität.

Wenn dies nun auch die prinzipielle Grundlage seines Seins und Wirkens ist, so ist doch das mit ihr gesetzte Verhältnis kein starres, ein für allemal geschaffenes; sondern auch dies ist ein »Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind«, etwas Lebendiges, das in jedem Augenblick neugeschaffen werden muss und das Definitivum seines Sinnes vielleicht nie realisiert (»Kein organisches Wesen«, sagt er, »ist ganz der Idee, die zugrunde liegt, entsprechend«), mehr eine Aufgabe als ein Besitz.

Von hier aus verstehen wir die Äußerungen, die für das Bild seines Wirkens und Wirkungsbewusstseins unentbehrlich sind: über das Wiederfinden des eigenen Wesens und Daseins in der Erkenntnis der Welt und über die Bedeutung und das Glück der Bestätigung seiner selbst, das durch jene dem erkennenden Menschen wird.

Alle Freude des Entdeckens bestünde darin, dass man »beim Anlass einer äußeren Erscheinung sich in seinem innern Selbst gewahr wird«.

An der schon angeführten Stelle, wo er von den »besonders begabten Menschen« spricht, die »zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, noch in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder suchen«, erklärt er es für die Wirkung dieser letzteren, dass sie »das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen steigern«.

In dem ganzen unabschließbaren Prozess des Erkennens erst vollzieht sich empirisch jenes Einwohnen des Individuums in der Welt, das metaphysisch eigentlich schon Tatsache und Voraussetzung ist; Kenntnis wie Sicherung des eigenen Ich wächst erst so aus ihrem metaphysischen Grund zu realem Besitz: »Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.« Und anderswo: »Mein ganzes inneres (!) Wirken erwies sich als eine lebendige Heuristik, welche, eine unbekannte geahnte Regel anerkennend, solche in der Außenwelt zu finden und in die Außenwelt einzuführen trachtet.« Und endlich: »Der Mensch erlangt die Gewissheit seines eigenen Wesens dadurch, dass er das Wesen außer ihm als seinesgleichen, als gesetzlich anerkennt.« - Ich habe diese Mehrzahl von Stellen angeführt, weil sie mir in der Deutung des Goetheschen Geisteswesens ein wichtigstes Moment scheinen: das Grundgefühl seiner Existenz stellen sie noch einmal in die Unendlichkeit des Lebens und Forschens hinein, zeigen seine Realisierung gleichsam als die sich immer vollziehende und nie vollzogene Vermählung des individuellen Geistes und des objektiven Allseins.

Ist dieser Akzent richtig gelegt, so verstehen wir daraus das Eigentümliche, dass er sich über seine naturwissenschaftlichen Arbeiten und Entdeckungen mehr als einmal mit einer erregten Freude und einem Stolz äußert, wie, wenn ich mich nicht täusche, niemals über seine Dichtungen.

Er sagt von seinen Gedichten - und im wesentlichen wird das wohl von seinen poetischen Produktionen überhaupt gelten -, dass sie Umsetzungen und Beruhigungen innerer Erregungszustände seien, mit denen er auf diese Weise abschloss.

Darum verdanken sie sich einerseits irgendwelchen äußeren Veranlassungen (»Gelegenheiten« nennt er es); andererseits waren sie Entlastungen von einem gewissen inneren Überschuss; er selbst begründet ihre Notwendigkeit für ihn damit, dass seine Natur ihn »immer von einem Extrem ins andere warf«, sie kehrten also nicht als positive Bedeutsamkeiten für sein Leben wieder in dieses zurück, sondern hatten nur etwas störend Erregendes, das Gleichgewicht Verrückendes beseitigt, das nun zugleich mit ihnen selbst aus ihm herausgesetzt war.

Seine Erkenntnisse aber, und zwar sowohl die naturwissenschaftlichen wie doch auch die objektiv seelischen, leisteten etwas Positives, das jene angeführten Äußerungen festlegen: sie waren ihm Bestätigungen seiner selbst, durch sie wurde jene tiefe Harmonie zwischen seinem subjektiven Sein und der kosmischen Einheit nun für ihn selbst hörbar und gewiss.

Indem in der Erkenntnis die äußere Wirklichkeit nach seinem Ausdruck zu der inneren »Ja und Amen« sagt, legitimierte sie seine Existenz, die gerade auf diese Legitimation und nur auf diese in ihrer Tiefe angelegt war.

Wenn seine poetischen Erzeugnisse ihn nur - cum grano salis zu verstehen - so ließen oder wiederherstellten, wie er vorher gewesen war, so machte ihn sein erkenntnishaftes Weltbild zwar nicht zu mehr, als er war, aber mehr zu dem, was er war.

Über den Gewinn des theoretischen Weltbildes hinaus kann man den Prozess, in dem Goethe den überzeitlichen Sinn seiner Existenz zeitlich realisierte, ganz allgemein als die Objektivierung des Subjekts bezeichnen.

In einer kaum überschaubaren Arbeit hat er das vielleicht reichste, gedrängteste, bewegteste subjektive Leben, das wir kennen, derart zu objektiver Geistigkeit gebildet, dass man den ganzen Umfang - wenn auch nicht den ganzen Inhalt - und die unzähligen Ausschlagspole dieses rastlosen innerlichen Werdens, dieses immer schwingenden, immer empfangenden und immer zeugenden Ich an dem zeitlos ausgebreiteten Werk ablesen kann.

Er selbst hat auf das Werk als solches einen merkwürdig geringen Wert gelegt, selbst der Stolz auf seine naturwissenschaftlichen Entdeckungen, den ich erwähnte, bezog sich auf die Entdeckung als Tat, auf das, was er das Aperçu nennt, auf das wesentliche Motiv, allenfalls auf die treue, unablässige Arbeitsmühe, die ihn zu seiner Auffindung führte, aber nicht eigentlich auf die fertige, als Werk vorliegende Publikation.

Ich erinnere an die eigentümliche schon angeführte Äußerung, dass er nur aus Unkenntnis des schon Vorhandenen Schriftsteller geworden wäre, und daran, dass er sein Leben lang kein rechtes Interesse am Fertigmachen zeigte: Jahre und Jahrzehnte blieb Angefangenes liegen, und nur die exzeptionelle Länge seines arbeitsamen Lebens ließ schließlich noch so vieles fertig werden.

Gerade dieser Charakter seines Schaffens gibt dessen Erzeugnissen eine gewisse Kontinuität, durch die sie im höchsten Maße als die Objektivierungen eines ununterbrochenen Lebens erscheinen; jedes Produkt war mit dem Zeitpunkt seiner Erzeugung solidarisch verbunden (daher er all seine Gedichte als Gelegenheitsgedichte bezeichnete und das einmal Geschaffene sogleich, im Fortschreiten zu Neuem, zu vergessen behauptete) -, so dass die Reihe der Produkte die selbst fließende Symbolik seiner Lebensströmung war.

Darum vereinigt sich mit jener Gleichgültigkeit gegen das Abschließen des Werkes als solchen das lebhafteste, gewissenhafteste Interesse an der Fixierung aller Lebensinhalte.

Ich weiß nicht, ob noch von irgendeiner anderen Persönlichkeit eine so große Summe von mehr oder weniger unmittelbaren Erzeugnissen des eigenen Lebens in objektiver Form niedergelegt ist.

Er selbst rechtfertigt im hohen Alter das Tagebuchführen, das er mit unvergleichlicher Exaktheit und Detaillierung tat: »wir lernen den Moment würdigen, wenn wir ihn also bald zu einem historischen machen«.

- Jene Äußerung, dass alle seine Gedichte nur Abschlüsse und Beruhigungen gegenüber erlebten Freuden und Qualen wären, bedeutet eigentlich nur eine partielle Beleuchtung innerhalb eines viel Allgemeineren: es war überhaupt die Notwendigkeit seines Subjekts, sich zu objektivieren, dies war sein individuelles, mit seiner Existenz selbst unmittelbar verbundenes Gesetz.

Aber noch ist dies nicht die tiefste Form und Bedeutung, in der die Objektivierung des Subjekts als seine Lebensformel gelten kann, denn nicht nur an der dichterischen und überhaupt werkmäßigen Ausgestaltung des Lebens, sondern unmittelbar an diesem selbst verwirklichte sie sich.

Denn nichts anderes ist gemeint, wenn man Goethes ganze geistige Entwicklung als einen ungeheuren Prozess der »Bildung« bezeichnet.

Bilden heißt doch wohl, ein »Gebilde« herstellen, das heißt, einem gegebenen Material äußerer oder geistiger Art eine Form verleihen, die es vor dieser Abzweckung, vor diesem Willen zur Gestaltung nicht hatte.

Nun mag solche Form irgendwie latent, ja irgendwie drängend in dem Stoff selbst liegen, wie es Michelangelo von der Statue sagt, dass sie im Marmorblock schon schlummere und nur herausgemeißelt zu werden verlange.

Allein sie steht in jedem Fall als etwas Objektives da, von dem Stoff und der subjektiven Arbeit an ihm ideell getrennt, und mit ihrer Erreichung hat der Stoff eine Objektivierung gewonnen, die er vorher nicht hatte.

Denn nun gehört er einem höheren Begriff an, der auch noch über anderen Stoffen als ihre Norm steht.

In diesem Sinn hat Goethe lebenslang »sich gebildet«, hat den Stoff seiner Persönlichkeit in eine Form gebracht, die freilich als Trieb und Forderung von vornherein in ihr lag, aber erst als verwirklichte ihn sozusagen zum »Gebilde« macht, zu etwas, was als objektiver Wert dastand.

Dass dieses Formen und Entwickeln an seinem Subjekt sozusagen nicht einfach zu seinem Subjekt zurückkehrt, sondern eine objektive Bedeutung gewinnt, ein gültig Daseiendes ist - das muss man vor Augen haben, um den scheinbaren Egoismus seines Arbeitens und Lernens recht zu verstehen.

Im höchsten Alter spricht er es offen aus: »Ich habe Natur und Kunst eigentlich immer nur egoistisch studiert, um mich zu unterrichten, ich schrieb auch nur darüber, um mich weiter zu bilden«; und in eben dieser Tendenz hatte er den Künstler aufgefordert, »höchst egoistisch« zu verfahren.

Ein Begriff des Egoismus kommt damit auf, der innerhalb der modernen ethischen Begriffsbildung ein völlig Neues war, nachdem er freilich schon im griechischen Altertum und irgendwie auch in der Renaissance als seelische Tatsächlichkeit wirksam gewesen war.

Das Individuum führt sich allen Weltstoff zu, bildet sich an ihm, vollendet sich zu höchsterreichbarer Formung – nicht um sich schließlich doch zum Mittel für »die Anderen« zu machen (»Was die Leute daraus machen,« so fährt Goethe in dem obigen Ausspruch über sein Studieren und Schreiben fort, »ist mir einerlei«), aber doch mit dem Bewusstsein vollkommener Sittlichkeit, indem dieses Sich-Bilden das Subjekt aus seiner Subjektivität herausführt und es zu einem »Gebilde« macht, das dem eigenen Selbst gerade so wie dem der andern Menschen als ein objektiv Wertvolles gegenübersteht.

Schließlich war er von dem objektiven Inhalt von Welt und Geist gleichsam durchdrungen, und an diesen Inhalten und mit ihnen gewissermaßen wieder in eine Einheit zusammenwachsend, hatte sein Subjekt das Äußerste von Form, das in ihm überhaupt angelegt war, gewonnen.

Er war sich selbst zum Gebilde geworden, das gänzlich objektiv war, oder richtiger: für das die Zweiheit von Objekt und Subjekt nur noch Form des eigenen Lebens war; er schaut sich selbst mit einer Objektivität an, in einem so absoluten Sinne, dass dieser relative Gegensatz davon umgriffen wurde.

Daher der autobiographische Ton, in dem er im Alter seine sachlichsten naturwissenschaftlichen oder kritischen Untersuchungen verfasste: wie er zu jeder gekommen war, was sie für ihn bedeutete usw.

Sein subjektives Wissen um die Sache und die Objektivität der Sache selbst war ihm eines und dasselbe geworden, Gebilde das eine wie das andere.

Dies war die tiefste vitale Seite dessen, was er theoretisch ausdrückte: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.« Denn das bedeutete doch zugleich: die Lehre ist das Phänomen, das heißt, das subjektive Wissen ist von dem objektiven Sein nicht mehr geschieden.

Es ist die großartigste Objektivierung des Subjekts, von der wir wissen, das vollkommene Sachewerden, Historischwerden der eigenen Persönlichkeit.

Denn nicht nur die Vergangenheit, die er als abgeschlossen ansehen konnte, war ihm ein reines Bild geworden, sondern der eben erlebte Tag war ein solches, ja der Moment des Erlebens selbst war ihm ein objektives Geschehen - nicht nur im Sinne der gleichzeitigen Selbstbeobachtung, der Spaltung des Bewusstseins, die sicher oft gar nicht bestand, wenigstens nicht mehr als bei vielen anderen Menschen auch; vielmehr der innere Ton des Erlebens, die Art, wie es subjektiv unmittelbar vorging, hatte den Charakter der Objektivität.

Was er dachte und fühlte, war ihm Ereignis wie Sonnenaufgang oder das Reifen der Früchte, er stellte das Ich nicht nur als ein wissendes den Erlebnissen als dem Gewussten gegenüber, sondern von vornherein war das Erleben dem kosmischen Geschehen eingeordnet.

Nicht nur einzelne Lebensinhalte waren ihm objektiv geworden, sondern sozusagen der Lebensprozess selbst - er bedurfte für diese Objektivität nicht mehr der Form des Gegenüber.

Diese Gegensatzschärfe war der Kategorie genommen, unter der er sich erlebte, als eben derselben, unter der die Ereignisse des Kosmos selbstgenugsam abrollen.

Dies Objektivwerden des Subjekts, womit Goethes Seinsgrund sich zu besonderen zeitlichen Erscheinungen entwickelt, spricht sich nun endlich wiederum in einer höchst charakteristischen Art an seinen dramatischen und Romangestalten aus.

Wie diese sich zu seiner Persönlichkeit verhalten, zeichnet sich vielleicht am deutlichsten mit einem Hinblick auf Shakespeare.

Es handelt sich um keinen allgemeinen Vergleich beider, insbesondere nicht um einen Vergleich des Wertes, der immer schief und unbillig ausfallen würde.

Shakespeare kann gar nicht anders angesehen, genossen und beurteilt werden, wie als Dichter, auch das Menschlich-Ungeheure in und hinter seiner Leistung ist mit seinem Dichtertum so organisch Eines, dass nicht einmal die Abstraktion es davon sondern kann.

Deshalb kann Goethe auch nur seinem Dichtertum nach mit Shakespeare verglichen werden, wenn überhaupt ein Vergleich in Frage kommt; da für die Erscheinungen als ganze sonst kein Vergleichungspunkt besteht.

Da er nun als exklusiv dichterische Potenz hinter Shakespeare zurücksteht, so kommt er bei solchem Vergleich immer schlecht fort.

Es ist aber eine Beschränktheit, die Goethes Kulturleistung für Deutschland in kaum abschätzbarem Maße hintanhält, dass er im großen und ganzen eigentlich nur als Dichter gilt, während das Dichtertum doch nur eine Seite seiner Existenz ist, die erst als ganze seine Größe zeigt - eine Größe, die auch nicht pro rata in ihren einzelnen Seiten aufzufinden ist.

Diese Tatsache, auf die ich noch näher zu sprechen komme, liegt schließlich auch der an Shakespeare zu gewinnenden Bestimmung zugrunde.

Shakespeares Schaffen1, seiner reinen Idee nach, findet sein Symbol an dem göttlichen Schöpfertum.

In der gestalteten Welt ist das Etwas, woraus sie gestaltet wurde, das Chaos oder das unbenennbare Sein, nun verschwunden, in die Summe der einzelnen Gestaltungen aufgegangen; ebenso ist, gleichsam von der anderen Seite, der Schöpfer selbst von diesen zurückgetreten, und überlässt sie sich selbst und den von ihnen eingeprägten Gesetzen und steht nicht mehr als ein Greifbares und eindeutig Auffindbares hinter ihnen.

Zu diesem Absoluten und Metaphysischen zeigen Shakespeares Figuren die künstlerische Analogie.

Alle ihre »Naturhaftigkeit« besagt nicht, dass eine allgemeine, einheitliche »Natur überhaupt« noch unter der einzelnen fühlbar wäre, keine solche verbindet als ein gemeinsamer Wurzelboden die einzelnen, sondern jede von diesen hat das Sein wie bis zum letzten Tropfen in sich eingetrunken und es restlos in eben diese individuelle Form übergeführt.

Und auf der anderen Seite: der Schöpfer selbst hat sich hinter seinem Werk unsichtbar gemacht, seine einzelnen Produkte weisen nicht auf ihn als Ergänzung oder Deutung, als Hintergrund oder ideellen Brennpunkt hin.

Es ist mindestens ein sehr symbolischer Zufall, dass wir von Shakespeares Persönlichkeit außer einigen Äußerlichkeiten nichts wissen, und dass auch von seinen freilich sehr persönlichen Sonetten keine wirkliche innere Verbindung zu seinen Dramen führt.

Seine Produktionen und Gestalten haben sich von ihm abgelöst, und - mit selbstverständlichem Vorbehalt gesprochen - es würde dem Verständnis und dem Genuss keines seiner Werke etwas abbrechen, wenn ein jedes einen anderen Schöpfer hätte.

Das Dasein, das jede seiner tragischen Gestalten darstellt, geht bis in deren letzte Wurzelspitzen als individuelles hinunter und löst sie in unerhörter Selbständigkeit und geschlossener Plastik sowohl von der objektiven Zusammengehörigkeit aller Wesen los wie von der Zugehörigkeit zu der dahinterstehenden Subjektivität des Dichters, die sie zusammenbinden könnte.

In beiden Hinsichten sind die Werke und die einzelnen Gestalten Goethes anders orientiert.

Goethes dichterische Produktion steht auf dem Gefühl eben derselben Natur, deren Begriff sein theoretisches Weltbild fundamentiert.

Die Welt ist ihm Ausgestaltung eines universellen einheitlichen Seins, das die Gestalten aus sich entlässt und in sich zurücknimmt (»Geburt und Grab Ein ewiges Meer«), aber sie in keinem Augenblick aus dieser physisch-metaphysischen Grundsubstanz sich völlig lösen lässt (»Das Ewige regt sich fort in allen«).

Die Verwandtschaft aller Gestalten, die bei Shakespeare höchstens in einer gewissen Gleichheit ihrer künstlerischen Formung, ihres Stils und ihrer Umrissgrösse besteht, ist bei Goethe durch die Fundierung in der Natureinheit gegeben, aus der sich die einzelne nur hebt, wie aus dem Meere die einzelne Welle in ihrer vielleicht nie wiederholten Form.

Er selbst verlangt von den Charakteren im Dichtwerk als ganz entscheidend, »dass sie zwar bedeutend voneinander abstehen, aber doch immer unter ein Geschlecht gehören«.

Die »Natur«, unter deren Bilde oder als deren Erzeugnis Goethe die Erscheinungen sah, war sehr viel weiter, metaphysischer, den Zusammenhang der Individuen lückenloser unterbauend, als die »Natur«, die die Shakespeareschen Erscheinungen hervortreibt.

Aber darum war sie auch nicht so in die einzelne konzentriert, nicht mit so vulkanischer Stoßkraft die einzelne schaffend.

Bei Shakespeare handelt es sich um die Natur der einzelnen Erscheinung, bei Goethe um die Natur überhaupt, die als die immer gleiche jeder einzelnen zugrunde liegt.

Wie die typischen großen Menschen der Renaissance, haben sich die Shakespeareschen Individuen sozusagen von Gott losgerissen, das Metaphysische ihrer Existenz findet Platz zwischen ihrem Scheitel und ihrer Sohle, während die Goetheschen als Glieder eines metaphysischen Organismus wirken, als Früchte eines Baumes oder Stadien seiner Metamorphose.

Will man jenes Gleichnis des göttlichen Schöpfertums fortsetzen, so gilt es für das Shakespearesche Schaffen, insoweit eine göttliche Macht als schlechthin schöpferisch gedacht wird, d. h. als schüfe sie aus dem Nichts.

In Hinsicht Goethes aber gilt das Gleichnis für die kosmische göttliche Potenz, das heißt eine solche, die aus dem ewigen, nicht erst zu schaffenden Stoff des Daseins die Welt formt; die bildende, Gestalt gebende Kraft ist die Analogie seines Schöpfertums, nicht diejenige, die zuallererst das substantielle Etwas hervorbringt.

Darum sind, im Gegensatz zu den Shakespeareschen, alle Goetheschen Gestalten bedingt - einerseits durch die Einheit der allgemein umfassenden, ihre Substanz hergebenden göttlichen Natur, andererseits, worauf nun gleich hinzusehen sein wird, durch die Persönlichkeit ihres Schöpfers.

Mit dieser nämlich sind sie in einer ganz einzigen Weise verwachsen und alle Verwandtschaft unter ihnen selbst ist durch diese Gemeinsamkeit ihrer Wurzel hindurch geleitet.

Bei Shakespeare liegt der dichterisch-schöpferische Persönlichkeitspunkt, in dem sich die Lebenslinien seiner Gestalten treffen, sozusagen im Unendlichen, bei Goethe rückt er nie ganz außer Sehweite.

Nicht so, als hätten sie alle, als beschreibbare Phänomene, eine Familienähnlichkeit mit ihrem Erzeuger, als wären in jeder Züge des Goetheschen Wesens feststellbar oder als wären sie aus diesen, als aus fertigen Stücken seiner selbst, die er in der Hand hatte, zusammengefügt.

Zwar, dieses Sich-selbst-Modellstehen, diese Projizierung des eigenen, schon angebbar geformten Seins in die Phantasiegestalt kommt bei Goethe oft genug vor und ist oft genug hervorgehoben worden.

Allein statt dieses einigermaßen Naturalistisch-Mechanischen meine ich hier etwas reiner Funktionelles und einer tieferen Schicht Zugehöriges: nicht das Übertragensein von Inhalten, sondern das dynamische Getragensein oder genauer: Vorgetragensein der Gestalt durch den Gestalter, durch den Schöpfer steht in Frage.

Die Figur steht nicht im selben Sinne wie bei Shakespeare für sich, sondern sie ist das vom Dichter dargebotene Kunstwerk, sie ist zwar ebenso »gewachsen« wie jene, aber nicht ebenso gleichsam aus sich selbst, sondern aus der Lebendigkeit, dem Welt- und Kunstwollen Goethes: bei aller qualitativen Eigenheit und Differenziertheit bleiben Mephisto und Ottilie, Gretchen und Tasso, Orest und Makarie innerhalb der schöpferischen Lebenssphäre des Dichters, und der Lebenssaft, der diese aus einheitlicher Quelle tränkt, bleibt in allen fühlbar - eine Rückbeziehung der Geschöpfe auf den Schöpfer nicht auf Grund des Inhalts, sondern des lebendigen, seine Kontinuität von diesem zu jenem nicht lösenden Schöpfungsprozesses.

Der Gegensatz von Subjekt und Objekt oder, anders gewendet, von Lyrik und Dramatik ist hier in einer Weise überwunden, die und deren Zusammenhang mit Goethes tiefsten Lebensformeln durchaus erfasst werden muss, wenn die Einheit und Ganzheit seines Bildes in Frage steht.

Die ungeheure produktive Dynamik seines Lebens ergoss sich in seine Gestalten, wie sie sich in die einzelnen Szenen, Inhalte, Äußerungen seines Lebens ergoss, und darum waren jene so subjektiv wie diese, aber diese auch so objektiv wie jene.

So wenig aber die Einheit dieser Kraft ihren personalen Äußerungen eine inhaltliche Verwandtschaft auferlegte, vielmehr deren extreme Spannweite nicht hinderte - so wenig geschah das mit ihren gebildhaften Äußerungen.

Darum ist, was seine Gestalten untereinander verbindet, gar nicht mit Begriffen anzugeben, die immer nur die Inhalte des Lebens, aber nicht das Leben selbst bezeichnen.

Dass aber dieses Leben sich selbst in seinen Werken objektivierte, dass sie nicht, gleichnisweise gesprochen, aus der dagegen isolierten Objektivität gewachsen waren, ist schließlich der Grund, weshalb er sich so sehr dagegen wehrt, in seinen großen Werken eine »Idee« durchgeführt zu haben.

So über den Meister: »Ich sollte meinen, ein reiches, mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas, ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist.« Und ebenso über den Faust: »Es hätte auch ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im Faust zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen Idee hätte reihen wollen.« Der Gegensatz von Leben gegen Tendenz oder Idee umfasst - so wenig er es hier im Sinn hat - auch das jetzt in Frage Stehende: den Gegensatz der eigenen, die Gestalten als ihre eigenen Wellenformen erzeugenden und sich in ihnen objektivierenden Lebensströmung - und der in gelöster, bedingtheitsfreier Objektivität dastehenden Gebilde.

Nur solche tiefste Lebensströmung konnte sich so objektivieren; jeder einzelne personale Lebensinhalt, in eine dichterische Figur überpflanzt, hätte dieser das Cachet bloßen Subjektivismus gegeben, eine Hineingezogenheit in die Beschränktheit des Ich und seiner zufälligen Erlebnisse.

Darum ist es auch ein nur relativ gleicher Grundrhythmus, den, bei allen Nuancierungen, die Redeweisen Antonios und der Prinzessin, Fausts und Wagners, Pylades' und Orests zeigen, wenn man sie mit Shakespeares Gestalten vergleicht; denn irgendwie ist in allen die Gleichheit des Goetheschen Lebens spürbar.

Wenn dagegen Macbeth und Othello, Cordelia und Porzia reden, so ist in der ideellen Welt dieses Geschehens und Sprechens absolut nichts außer ihnen selbst vorhanden und spürbar, es gibt keinen Shakespeare, der sie als ihr heimlicher König bewegte, er ist völlig in ihr Eigenleben aufgelöst.

Vielleicht ist jene Unmittelbarkeit, mit der Goethes Gestalten ihr Leben aus ihm selbst bezogen, die Ununterbrochenheit der Säfteströmung zwischen ihnen - vielleicht ist diese der Grund, weshalb Goethe vor dem Unternehmen einer »eigentlichen Tragödie« zurückscheute und meinte, dass »der bloße Versuch ihn zerstören würde«.

Aus eben diesem Zusammenhang ist die Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität für Shakespeare etwas ganz anderes als für Goethe: dort besteht sie sozusagen überhaupt nicht, das Problem ist gar nicht auf sie eingestellt, hier ist sie überwunden, die Pole sind fühlbar, die Distanz zwischen ihnen messbar, und zwar gerade dadurch, dass die lebendige Funktion sie einheitlich verbindet.

Niemals hätte Shakespeare daran gedacht, sein Schaffen als »gegenständlich« zu bezeichnen, wie Goethe, der sich offenbar durch diese Formulierung wie erlöst gefühlt hat.

Shakespeares Lebensfülle ergießt sich im Augenblick ihres Aufquellens selbst wie an seinem Subjekt vorbei in die Selbständigkeit der Umrisse seiner Gestalten.

Sie sind »gegenständlich« - in dem Sinne jenes Geschaffenseins aus dem Nichts und Gelöstseins von aller Bedingtheit, der sie überhaupt jenseits der Frage von Subjektivität und Objektivität stellt; während die Goethesche Akzentuierung dieses Begriffs aussagt, dass sein Leben sich in Gebilden objektiviert, gewissermaßen als den Rhythmisierungen seiner eigenen Bewegtheit, und ohne sich mit dieser Schöpfung von sich selbst zu entfernen.

Sehr klar drückt sich dies in dem Stil der Romane aus, indem wir im Meister und den Wahlverwandtschaften (um die entscheidendsten Fälle zu nennen) überall den Erzähler fühlen.

Es fehlt hier der formal-künstlerische Realismus (von der Alternative zwischen inhaltlichem Naturalismus und Stilisierung noch völlig unabhängig), der die Ereignisse und Menschen auf sich selber stellt, so dass sie, wie von der Bühne, nur als ein unmittelbares Dasein wirken: vielmehr, sie sind wirklich eine »Erzählung«, die von dem dahinterstehenden fühlbaren Erzähler getragen wird; bei aller Selbständigkeit der Personen und all der Zerpflücktheit der Komposition, die etwa die Wanderjahre zeigen, bleibt doch der Dichter die Einheit des Ganzen; in ihm laufen die Fäden zusammen, die in der reinen Objektivität der Schicksale und Ereignisse sich nicht verweben wollen.

Sogar in oder hinter den Dramen von Iphigenie an und der späteren Lyrik steht, wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, der Dichter als der Erzählende, der Berichtende.

Nicht als hätten sie an sich selbst epischen Stil.

Sondern so, dass Goethes Geisteswesen an ihnen fühlbar wird, als die objektiv gewordene, aber in dieser Objektivität sich nicht verlierende Subjektivität.

Dieser Ton des Erzählens, der das Gebilde sozusagen nicht aus der Hand lässt, während er es zugleich als objektives hinstellt, entspricht genau jenem autobiographischen seiner späteren wissenschaftlichen Mitteilungen: es ist die nur aus dem Lebenscharakter seines Schaffens zu verstehende, gleichzeitige Wahrung und Überwindung der Distanz zwischen Subjekt und Objekt.


Dass man den Grundsinn der Goetheschen Existenz so, wie ich es hier versucht habe, oder irgendwie abweichend formuliert, gibt für unsere Auffassung von ihm und für das, was er uns ist, noch nicht die wesentliche Entscheidung.

Diese liegt vielmehr im Gewinn einer Tiefe, von der aus der ungeheure Umfang seines Daseins als Einheit geschaut werden kann - und eines sozusagen formalen Verhältnisses zwischen dieser Einheit und dem kosmischen Dasein überhaupt.

Wohin dieser Tiefenpunkt verlegt wird und welche Farbe man diesem Verhältnis gibt, stiftet nicht die fundamentale Differenz zwischen den Arten, Goethe aufzufassen.

Die inhaltlich vielfachen Möglichkeiten solcher Auffassung entsprechen sogar durchaus der Vielfältigkeit seines Wesens und der Knappheit, mit der er, der hinsichtlich der oberen Geistesschichten als »der kommunikabelste aller Menschen« bezeichnet wurde, sich über seine tiefsten Überzeugungen äußerte.

Mehr als einmal deutet er an, wie vieles von diesen er verschwiege, und nur wie im Fluge kann man manches davon erhaschen, das ihm fast gegen seinen Willen in beiläufigen Sätzen entschlüpft scheint.

Darum wird sich über die Begriffe, die seine geistige Existenz charakterisieren, schwerlich Einstimmigkeit erzielen lassen; prinzipiell kommt es zunächst nur auf die Einsicht an, dass innerhalb seines Lebens als ganzen eine unerhörte Fülle von Welt durch eine ebenso unerhörte Einheit der subjektiven Geistigkeit geformt ist.

Von den vielerlei Wegen, auf denen er dies vollbringt, ist ihm die allgemeine deutsche Kultur eigentlich nur auf den dichterischen gefolgt.

Obgleich die Ursachen davon keineswegs in der Tiefe zu suchen sind, und obgleich dadurch das Wesentlichste seiner Erscheinung, das eben in seiner Ganzheit als solcher liegt, sich verbirgt, so sprechen allerdings gewisse sinnvolle Beziehungen zunächst dafür, diese Ganzheit gerade durch ihre künstlerische Seite vertreten zu lassen.

Es erschien als das eigentümliche Glück seiner Natur, dass er den in ihr gelegenen Trieben folgen, den in ihr selbst gezeichneten Linien entlang gehen konnte und sicher war, damit ein Richtiges (im sittlichen, künstlerischen, Erkenntnismässigen, kurz überhaupt im sachlich ideellen Sinne) zu tun oder zu schaffen; oder von der anderen Seite her ausgedrückt: dass er dem objektiven Sinne und Gesetz des Wirklichen wie des Ideellen getreu und selbstlos nachschaffen konnte und damit zugleich seine eigene Notwendigkeit realisierte, seine eigene Sprache redete.

Dies aber ist, prinzipiell, das eigentlich künstlerische Phänomen.

Innerhalb der nichtkünstlerischen Lebenssphäre pflegt der Konflikt der beiden Richtungen fühlbar zu sein, die Herrschaft der einen um die Ansprüche der anderen unbekümmert zu sein, die Harmonie beider eine Gnade oder zufällige Chance.

Wir bringen es zwar zwischen der Forderung des Objektiven und den Trieben des Subjekts zu genug Kompromissen und Anpassungen, vielleicht sogar zu einer gewissen allgemeinen Beruhigtheit über den Dualismus; aber darum bleibt er nicht weniger im Grunde unser selbst und sozusagen im Grunde des Daseins bestehen.

Der objektive Mensch: der Gelehrte, der Wirtschaftende, der moralistisch Orientierte, der Dogmatiker fragt nur nach einer Normierung von jenseits des Subjekts her, er lebt vom Zwecke aus, und wenn auch das Ergebnis seines Verhaltens zu ihm zurückkehrt, so ist doch dies Verhalten selbst um der unpersönlichen Ordnung der Dinge willen so, wie es ist.

Der subjektive Mensch dagegen, nicht von Zwecken gezogen, sondern von inneren Ursachen getrieben, nicht durch das Hinsehen auf Realitäten und Idealitäten, sondern durch den Instinkt normiert, steht damit in einem bloß zufälligen Verhältnis zur objektiven Welt.

Sein Tun und dessen Produkte werden unzählige Male die Ordnungen und die Vernunft der Dinge ebenso verfehlen, wie jener andere Typus die eigenen Regungen und Bedürfnisse.

Natürlich wird kein Mensch ganz rein dem einen oder dem andern Typus angehören, so wenig wie der Künstler, der nun ihre Synthese darstellt, von der Einseitigkeit des einen oder des andern schlechthin frei ist.

Im ganzen erscheint uns der Künstler als der Instinktmensch; aber er ist derjenige, dessen Instinkte, im Maße seiner Genialität, den Weg gehen, auf den der treue Anschluss an die Gesetzmäßigkeit der Dinge und die Strenge der objektiven Kunstnormen von sich aus führt.

Die so erreichte Einheit ist es, die von allem Menschenwerk allein das Kunstwerk als das Gefühl gleichzeitiger Freiheit und Notwendigkeit auf uns überströmen lässt.

Das Wunderbare der Goetheschen Beanlagung war, dass diese künstlerische Lebensformel bei ihm über das Gebiet seines Kunstschaffens hinaus den ganzen ungeheuren Komplex seiner Betätigungen bestimmt hat.

Ganz prinzipiell gibt es dazu nur eine Analogie, wenn auch in engeren Maßen: was wir »die schöne Seele« nennen, ist ein Naturell, das aus ganz ursprünglichem, unreflektiertem und keiner Normierung bedürftigem Trieb sich der ethischen Idealität angemessen verhält, die für andere ein Imperativ, eine auferlegte Pflicht ist.

Und auch hier weist die Namengebung als schöne Seele auf das künstlerische Verhalten, mit eben dieser Einheit von Freiheit und Notwendigkeit hin.

Aber für diese Seele handelt es sich insoweit um das fließende, praktische Benehmen, um die Intentionen des Willens, nicht um das Werk; um die Instinktmäßigkeit und -sicherheit der ethischen Werte, nicht auch um die der Erkenntnis, der objektiven Lebensgestaltung, des Kunstschaffens.

Alle diese aber werden bei Goethe von jener Formel umfasst, die sonst nur für den Menschen, insoweit er Künstler ist, gilt.

Es wäre Sache einer nicht recht zu entscheidenden, freilich auch nicht recht fruchtbaren Diskussion, wie man Goethe hinsichtlich der rein künstlerischen Vollkommenheit und Eindrucksmacht der einzelnen Werke mit Äschylos und Shakespeare, Michelangelo und Rembrandt, Bach und Beethoven rangieren soll.

Es bleibe dahingestellt, ob er der größte Künstler in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes war; zweifellos aber war er es in dem, dass bei keinem sonst bekannten Menschen ein so weiter Kreis schöpferischen Lebens sich in jener Einheit von subjektivem Trieb und objektiver Normierung, von Freiheit und Notwendigkeit erfüllte, für die uns sonst nur das Kunstwerk Zeugnis und Symbol ist.

Ist das Künstlertum insoweit also Formel und Führer seiner ganzen Subjektivität und ihres Verhältnisses zur Welt, so setzt es sich mit dem gleichen Erfolg in das Weltbild selbst fort, das auf dieser Basis gewonnen wird.

Es gilt die Überwindung eines Dualismus, der aber nun nicht in den Voraussetzungen des subjektiven Lebens, sondern in denen der metaphysischen Struktur der Dinge steckt.

Ich bezeichne seine Elemente als Wirklichkeit und Idee, indem ich unter dieser das Übersinnliche, schlechthin Wertvolle, Göttliche verstehe, kurz alles dasjenige, was seinem Begriffe nach von der Wirklichkeit verschieden ist, aber ihr dennoch Sinn und Recht gibt.

Von der gemeinsamen Basis dieses Dualismus aus streben zwei diametral entgegengesetzte Richtungen zum Bau eines Weltbildes.

Wer sich auf die Seite der sinnlichen Wirklichkeit stellt und von ihrer Erkenntnis alles prinzipiell Unsinnliche fernhalten will, erreicht solche Erkenntnis nur, indem er das Daseiende in Elemente zerlegt und aus diesen wieder zusammenbaut: dies bedeutet für ihn »Verstehen«.

Für die andere Partei fällt aller Akzent auf die Seite der Idee und auf die »höhere Wirklichkeit«, die sie darstellt, ihr ist alle sinnliche Erscheinung Abfall, Schattenbild, Erzeugnis des Subjekts oder sie wird überhaupt geleugnet, indem auch das sinnlich Gegebene nur ein Entwicklungsstadium der metaphysischen Idee ist.

Beiden Richtungen: des auf die Elemente hinforschenden Physikers und Chemikers und des die Sinnenwelt überfliegenden Metaphysikers - ist das Goethesche Denken gleichmäßig fremd und feindlich.

Ihm ist die unmittelbare, sinnlich gegebene Erscheinung als solche schon die unmittelbare Offenbarung der Idee und der mit ihr bezeichneten Werte.

Insoweit eine Gestalt sichtbar gegeben ist, hat sie die volle, von keiner nicht sichtbaren Instanz etwa erst zu borgende Realität; ebenso weit aber ist für den richtig eingestellten Blick alles Ideelle in ihr sichtbar.

»Vom Absoluten im theoretischen (das heißt hier >abstrakten<) Sinne«, so spricht er dies erschöpfend aus, »wag' ich nicht zu reden; behaupten aber darf ich, dass, wer es in der Erscheinung anerkannt und immer im Auge behalten hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird.« Und nichts anderes meint er mit dem mehr symbolischen Satz: »Ich glaube einen Gott.

Das ist ein schönes und löbliches Wort; aber Gott anerkennen wie und wo er sich offenbare, das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden.« Nicht hinter der erscheinenden Wirklichkeit, in einem Ideenreiche oder einem Ding an sich oder einem Reich Gottes, das erst der Jüngste Tag realisiert, lebt die Vernunft und der Wert der Dinge; sondern weil sein Gott »sich in die Natur verschlingt«, die Welt »im Inneren bewegt«, weil Wirklichkeit und Wert, Sinnlichkeit und Sinn ihm im letzten Grunde eines sind - darum kann weder die naturwissenschaftliche Analyse noch die theologische Metaphysik die Formel seines Weltbildes gewähren.

Denn beide reißen die Erscheinung und die Idee auseinander, während es seine tiefste Überzeugung ist, dass wir, sobald wir nur richtig sehen, die Idee erschauen; dass alle Vernunft, aller Sinn, alle Schönheit, alle Göttlichkeit uns vor die Augen gestellt ist, gesetzt selbst, dass wir diese nur selten recht zu brauchen wissen.

Dies nun spricht die Voraussetzung alles Künstlertums überhaupt aus.

Der Künstler mag sich von dem ganzen Komplex der unmittelbar gegebenen Welt noch so weit und entschieden entfernen - irgendeine Wirklichkeit, ein Sichtbares oder Hörbares, stellt er hin, welches nun so, wie es da ist, die Sichtbarkeit oder Hörbarkeit eines Wertes ist, der Bedeutsamkeit, der Schönheit, des persönlichen Wesens, der Symbolik des Seelischen oder Religiösen.

Ob der künstlerische Stil »naturalistisch« ist oder nicht, macht hierin keinen Unterschied.

»Wenn Künstler von Natur sprechen«, sagt Goethe selbst, »subintelligieren sie immer die Idee, ohne sich's deutlich bewusst zu sein.« Denn dass irgendein Stück Wirklichkeit, sei es auch selbstgeschaffen, in seiner sinnlichen Darbietung ein sinnvolles und wertvolles ist, das hat zu seiner tiefsten Grundlage ein mehr oder weniger bewusstes Gefühl davon, dass die Wirklichkeit überhaupt, ihrem Umfange wie der Tatsache ihres Wirklichseins nach, eben die Wirklichkeit jenes Ideellen ist; und dass das Stück Wirklichkeit, das der Künstler hinsetzt, schließlich nur am geeignetsten ist, den Wert und Sinn alles Daseins überhaupt deutlich zu machen.

Deshalb sind auch alle Künstler Naturanbeter, gleichviel wohin ein jeder in diesen allgemeinen Tempel sein Allerheiligstes setzt und ob er dessen Bedeutung so steigere, dass alles übrige ihm fast als Gegensatz dazu erscheint.

So ist es also nach der Seite der Wesensbestimmung wie des Weltbildes die künstlerische Struktur, in der, als in einem Fundament, Goethes Wirkungs- und Denkweisen sich zusammenfinden.

Das mag einen Schein von Rechtfertigung dafür ergeben, dass man sein Gesamtbild in seinem Dichtertum zuhöchst aufgegipfelt, ja dadurch vertretbar glaubt.

Dennoch ist dies durchaus irrig.

Goethes Geist, in seinem Leben wie in seinem Werk, ist überhaupt nicht durch irgendwelche »Höhepunkte« zu repräsentieren.

Sondern so gewiss sein Rang als Dichter, wie der eines jeden Künstlers, gleich dem Rang seiner höchsten Werke ist, so gewiss liegt in der ganzen Breite seines Schaffens ein unersetzlicher Wert, der eben nur als ganzer gekannt und erlebt werden kann und neben dem der Wert jeder einzelnen Provinz dieses Schaffens etwas Besonderes und nicht einmal im genauen Sinne »ein Teil« ist.

Die letzte Basis hierfür und für das Bild Goethes überhaupt ist, dass - in räumlichem und deshalb immer unzulänglichem Gleichnis gesprochen - unterhalb seines Künstlertums noch eine tiefere, tiefste Wurzel und Bedeutsamkeit seines Daseins lag.

Gewiss entbehrt kein benennbares menschliches Dasein und Leisten der Wurzelung in dieser Schicht; nur muss sie an Goethe besonders fühlbar gemacht werden, weil es scheint, als ob schon sein Künstlertum, das doch all seinem Schaffen und Denken Form und Voraussetzung gibt, eben dies Letzte wäre; tatsächlich aber ist es das so wenig, wie das Ethische oder das Wissenschaftliche es ist.

Alles dies vielmehr wird von einer Rhythmik oder Dynamik, alles einzelne übergreifend, getragen, ruht auf einer letzten Substanz und Bedeutung seines Lebens, die in Begriffen nicht festzulegen ist, sondern die nur als anschauliche Kenntnis aus dem Leben mit ihm wächst, - wie wir von den Menschen, die uns vertraut sind, ein genaues Bild ihres Seins haben, das gar nicht in irgendwelche Einzelheiten und Qualitäten aufgeht, mit dem aber ein jeder erst dieser schlechthin unverwechselbare für uns wird.

Wir können vielleicht gar keine Wesensäußerung aufzeigen, in der es sich rein ausspricht, auch die tiefste nicht, die uns noch benennbar ist; und doch wissen wir: dies eben ist der Mensch, den wir kennen, und alles noch so weit Gespannte, inhaltlich noch so Heterogene wächst aus dieser Wurzel.

Dies ist es, was wir von vergangenen Menschen, von denen uns nur einzelne Inhalte und Produkte geblieben sind, nicht so leicht gewinnen, was aber Goethe in dem Maße, in dem die Breite seiner Leistung für uns da ist, aber über jede seiner Leistungen hinaus uns gewährt, jenem geheimnisvollen Ausspruch von ihm zugehörig: es ist für sein Wesen »das Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind«.

Das Künstlertum in ihm, das gleichsam erst dasjenige Gesetz seiner selbst bedeutet, das in seiner Erscheinung aufzuweisen ist, - wird durch jenes Allgemeine und Einheitliche seines Wesens unterbaut, und würde ohne die unerhörte Tiefe und Breite dieses Unterbaus auch als Künstlertum nicht zu seiner Höhe geführt worden sein.

Er selbst tut einmal den Ausspruch: Jedes, was in seiner Art vollkommen sei, gehe über seine Art hinaus - und begründet damit wie von der andern Seite das Angedeutete: dass der Künstler dann erst seine Vollendung auch rein als Künstler erreicht, wenn er mehr als Künstler ist.

Was alle Worte über »Goethe überhaupt« bewirken können, ist im besten Falle dieses, dass der Instinkt für die Intuition dieser Ganzheit und Einheit des Goetheschen Daseins geweckt und irgendwie geleitet werde.

Da dies nun in einer Schicht liegt, in der man nicht mehr durch Begriffe und Beweise sehen kann, so wird sich daran die Individualität der geistigen Sehapparate in weitem Maße geltend machen.

Wenn von jeher ausgesprochen ist, dass ein jeder seinen Goethe liest, so ist damit rechterweise nicht die Unfixierbarkeit des Geschmacksurteils, wie sie dem Kunstwerk gegenüber zugegeben wird, gemeint, sondern die allgemeine Tatsache des menschlichen Erkennens: dass wir es zu Einstimmigkeit und überindividueller Bestimmtheit nur ganz singulären und fest umschriebenen Erscheinungen gegenüber bringen, dass das Urteil aber um so individueller, um so mehr der Verantwortlichkeit des Einzelnen zugeschoben wird, je weiter der Gegenstand ist, je mehr er sich in die Tiefe der Totalität streckt.

Wo es sich nicht um bloße Formeln handelt, wie in der Mathematik, sind die Allgemeinheit des Gegenstandes und die Allgemeinheit des Urteils einander umgekehrt proportional.

Dies aber bedeutet durchaus nicht Willkür und unkontrollierbare Subjektivität des Individuums.

Sondern, wie für jede individuelle Seele zur Natur überhaupt, zum göttlichen Prinzip, zum Sinn und Wertkern des Daseins ein durch ihre Sonderart festgelegtes Verhältnis gilt, das für sie das rechte ist, und das sie in ihrem inneren Verhalten realisieren oder verfehlen kann - so zeigt sich die Tiefe und Bedeutsamkeit jenes letzten Goetheschen Lebenssinnes darin, dass für jeden Menschen unserer Kultur ein ganz bestimmtes Verhältnis zu Goethe besteht.

Er kann dieses Verhältnis gewinnen, kann es missdeuten, kann darauf verzichten; darum bleibt es als die objektive Bezeichnung einer so und so beschaffenen Persönlichkeit zu der bisher zentralsten Persönlichkeit unserer Kultur nicht weniger gültig, nicht weniger wie mit ideellen Linien vorgezeichnet.

Das Erfassen dieser Grundtatsache Goethe, die Ahnung des Gesetzes, nach dem hier in einem Stück des Kosmos die Ganzheit dieses Kosmos reiner und weiter zum Ausdruck gekommen ist, als in andern Stücken, die wir kennen - ist natürlich von der Kenntnis irgendeiner einzelnen Leistung und dem Verhältnis zu ihr ebenso unabhängig, wie sie von der Kenntnis seiner Gesamtleistung abhängig ist.

Aber das Entscheidende bleibt dennoch etwas anderes als auch die Summe seiner Werke, bleibt ihr ideeller Brennpunkt, jenes einheitlich fundamentale Leben, das nicht beschreiblich, aber in dem Verhältnis jedes hinreichend ausgebildeten Geistes zu ihm deutlich erfassbar ist.

Und an diesem äußersten Punkte angelangt, kann man von der geistesgeschichtlichen Unsterblichkeit Goethes reden.

Während gewisse seiner wundervollsten Werke selbst in den Kreisen der »höheren Bildung«, geradezu gesagt, noch nicht entdeckt sind, haben andere unzweifelhaft ihre Bedeutung für uns verloren; die anders gewordene Zeit hat in manchem andere Wertkriterien erzeugt, als die seinigen waren.

Niemand kann wissen, wie weit dieser Prozess vorschreiten und wie tief er in einer fernen Zukunft die Genießbarkeit der einzelnen Dichtungen, die Anerkennung der einzelnen Erkenntnisse herabsetzen wird.

Dass aber die Bedeutsamkeit, das Unvergleichliche und doch zugleich Vorbildliche, der seelische und metaphysische Wert jenes tiefsten Persönlichkeitslebens, für das alle Werke nur »ziemlich gleichgültige - Töpfe oder Schüsseln« waren, einmal für die menschliche Kultur verschwinden, oder auch nur geringer werden könnte, das ist nicht auszudenken.

Ein höchst paradoxes, sich in alle dunkelsten Beziehungen des Geistes zur Zeit hineinwühlendes Verhältnis tut sich hier auf.

Die Werke, objektiv dastehende, sozusagen zeitlich unzerstörbare Tatsächlichkeiten, werden vielleicht der Sterblichkeit, mindestens den geschichtlichen Schwankungen des Wertens unterliegen; das Leben aber, das sie zeugte und trug, mit seinem letzten Atemzuge dahingegangen, mit keinem Mittel und an keinem einzelnen Dokument sicher und einheitlich zu ergreifen - das erscheint als ein ewiger Besitz, als etwas, dessen Entwertung, oder dass es nicht mehr im Bewusstsein der Menschheit sei, man nicht vorstellen kann.

Und gerade dieses unsterbliche Leben haben wir an jenen vielleicht sterblichen Werken! - wie wir, nach seinem eigenen Gleichnis, an dem farbigen Abglanz, der sich in den fortwährend vergehenden Tropfen des Wassersturzes malt, das Leben haben.

In einer Wechselwirkung, wie sie so tief und rein wohl kein Ereignis der Geistesgeschichte uns zeigt, trägt hier das Leben die Werke und tragen die Werke das Leben - noch gegenüber dem Problem der Unsterblichkeit jene Einheit von Werk und Leben verkündend, die uns das Bild Goethes als sein letztes Geheimnis und seine letzte Offenbarung darbietet.


1 Ich entnehme diese und einige weitere Formulierungen meinem Buch: Goethe (Leipzig 1913) [in: GSG 15], - in dem ich den geistigen Gesamtsinn der Goetheschen Existenz noch durch die Einzelheiten von Leben, Werk, Weltanschauung hindurch zu entwickeln unternommen habe.


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
Andreasstr. 15 
8050 Zürich 
Tel. ++41 55 2444012