Man hat es als den entscheidenden Unterschied zwischen
dem naturgesetzlich berechenbaren Geschehen und dem seelischen Leben
bezeichnet, dass in jenem nichts im eigentlichen Sinne Neues geschehe; denn
es sei nur ein Hin- und Herschieben unveränderlicher Quanten von Energie und
Masse, jeder Zustand sei in dem vorhergehenden schon virtuell enthalten und
die Berechenbarkeit des späteren aus dem früheren setze eben voraus, dass
jener nicht durch irgend etwas in diesem nicht enthaltenen zustande gekommen
sei.
Dagegen sei es absolut unmöglich, innerhalb des
fortschreitenden Lebens mit Sicherheit zu wissen, was wir im nächsten
Augenblick denken oder tun werden.
Denn ein jeder solcher ist schöpferisch, er erzeugt
etwas, was nicht nur eine Kombination des schon Vorhandenen ist, und deshalb
auch aus ihm nicht berechenbar, sondern erst wissbar, wenn es da ist.
Da es nun der G. (Geschichte) aufgegeben ist, das
lebendig-seelische Geschehen zu erkennen und zwar ein jedes grade in und aus
dem Zusammenhange mit Vorangegangenem, so fordert ihre Theorie die Lösung
des Problems, das sich aus dem Nebeneinander jenes angeblichen Unterschiedes
und dieser Aufgabe ergibt.
Und da die letztere sich ja doch als eine Umbildung jenes
unmittelbar und schöpferisch Erlebten in eine rein erkenntnismässige Form
erfüllt, so könnte jener Charaktergegensatz zwischen Mechanismus und Leben
eine neue Möglichkeit geben, die G. in der Skala der theoretischen
Kategorien festzulegen.
Dafür fordert die behauptete Orientierung nach
Tatsächlichkeit oder Ausschluss des »Neuen« eine fundamentale Prüfung.
Die prinzipiell immer mögliche Berechnung aller künftigen
Zustände eines mechanischen Systems aus seinem gegenwärtigen Zustand gilt
als Beweis, dass die Zukunft ihm nichts Neues zubringen kann; wie sie sich
auch gestalte, prinzipiell muss sie restlos in der Gegenwart enthalten sein.
Und dies bestätige sich symptomatisch durch die
gleichfalls prinzipiell immer mögliche Rückverwandlung jedes späteren
Zustandes in jeden früheren.
Wir können die chemische Verbindung wieder auflösen, die
transformierte Energie in die frühere Form überführen, verschobene
materielle Gegenstände genau an ihren ursprünglichen Platz stellen; da so in
allem Mechanischen jeder status quo ante wieder zu erreichen ist, so kann in
dem beliebig gewählten Zeitabstand zwischen je zwei Zuständen eines Systems
nichts Neues, das mit dem ersten von ihnen nicht schon gegeben wäre,
aufgetreten sein.
Dem Lebendigen aber ist die Umkehrbarkeit versagt.
Innerhalb seiner Entwicklung ist jeder bestimmte Zustand an einen bestimmten
Moment der nach vorwärts gerichteten Zeit gebunden und kann durchaus an
keinem andern auftreten: der Jüngling wird zum Greise, niemals aber der
Greis zum Jüngling, niemals kann der seelische Zustand eines individuellen
Lebens sich in ihm wiederholen, weil die dazwischen verlaufene Zeit die
Verfassung der Seele jedenfalls irgendwie geändert hat, so dass sie die
genau gleiche Erscheinung überhaupt nicht zum zweiten Mal hervorbringen
kann, die spätere vielmehr, schon weil sie die spätere ist, eine andere sein
muss.
Hier ist also das spätere nicht, wie im Mechanismus, eine
bloße Umlagerung der Elemente des Früheren, da diese sonst wieder in die
alte Lage zurückzubringen wären; jedes Stadium unserer seelischen Verfassung
ist ein Neues, das nicht aus dem Vorherigen konstruiert, sondern abgewartet
werden muss.
Hier setzt nun zunächst die Verwendung des Begriffes vom
»Neuen« voraus, dass die als Mechanismen aufgefassten Erscheinungen
ausschließlich mechanistisch betrachtet werden können, d. h. nur auf die
gegenseitig einwirkenden Kräfte der kleinsten Teile hin (Formlose Welt).
Fasst man hingegen die Formen ins Auge, die durch und als
die Synthesen jener Teile an einzelnen, irgendwie als Einheiten angesehenen
Komplexen entstehen, so ergeben sich andere Möglichkeiten.
Die Formen nämlich sind unendlicher Mannigfaltigkeit
zugängig, es gibt nicht den geringsten Beweis, der das Auftauchen einer bis
dahin gänzlich unerhörten in jedem beliebigen Augenblick verhinderte.
Mag eine solche auch aus den vorhergegangenen
Konstellationen berechenbar sein, ihre »Neuheit« wird dadurch nicht
angetastet.
Der Schluss: die Berechenbarkeit aus vorangegangenen
Faktoren beweise, dass das Berechnete implizite in jenen Faktoren enthalten,
also nichts Neues sein könne - ist irrig.
Es gilt höchstens für das dynamische Verhältnis der
Weltelemente, d. h. wenn der spätere Zustand das Freiwerden von Kräften
bedeutet, die in dem früheren latent waren, dann ist tatsächlich zu der
Energiesumme, die jenen bestimmt, nichts Neues hinzugekommen, um diesen zu
bestimmen.
Formen aber sind überhaupt nicht in diesem Sinne
auseinander entwickelbar, keine kann ihre Energie in die andere hineingeben,
da sie als Formen überhaupt keine Energien haben, jede ist der andern
gegenüber etwas Neues, niemals kann sich die eine in die andere
transmutieren, ohne dass etwas in jener nicht Enthaltenes wirksam hinzukäme,
keine geht es sozusagen etwas an, dass andere, ihr gleiche oder ungleiche,
vor oder nach ihr da sind.
Im absoluten Maßstabe gilt dies für das Weltgeschehen als
Ganzheit und Einheit.
Setzt man dies Geschehen auch als ein rein
mechanistisches an, so kann zwar innerhalb der dauernd erhaltenen Quanten
von Energie und Stoff nichts »Neues« sich realisieren, allein der
Gesamtaspekt einer Phase ist von dem der vorhergehenden jedenfalls
unterschieden und selbst dann etwas Neues, wenn er zuvor schon einmal in
genauer Uebereinstimmung dagewesen wäre.
Denn diese Uebereinstimmung wäre im eminenten Sinne
»zufällig«, die erste Realisierung nicht der Grund der zweiten; selbst bei
vorausgesetzter »ewiger Wiederkehr« werden die korrespondierenden
Weltzustände nicht durcheinander erzeugt, sondern ein jeder durch solche,
die seiner Epoche und ihren untereinander stets differenten Formungen
angehören.
Nur von einem Blickpunkt aus, für den die Geformtheit der
Welt verschwindet, kann das Auftreten des Neuen in ihr geleugnet werden.
Nur weil der Mechanismus die Formen überhaupt nicht als
wesenhafte Weltelemente anerkennt, sondern nur als zufällige Aspekte oder
irreale Grenzbegriffe der allein realen Dynamik und Statik der kleinsten
Teile, kann er wegen der Berechenbarkeit aller Zukunft, die von diesem
Aspekt aus gilt, die Möglichkeit des Neuen ablehnen, alle Begreiflichkeit
auf die durch Gleichungen erzielbare beschränken.
Uns aber interessiert dies jetzt nur als Grundlage für
sein darüber gebautes Gegenteil: das lebendig-seelische Dasein, das in jedem
Augenblick das »Neue« erzeugen soll, schöpferisch, also nicht aus
Vorhergehendem berechenbar, innerhalb jeder Reihe nicht wiederholbar, weil
die Summierung der von dem Individuum durchlebten Momente für jeden
aktuellen solche Bedingungen des Entstehens schafft, wie sie kein früherer
haben konnte.
Damit öffnet sich ein Blick auf eine Kardinalfrage der
Historik, nach der Individualität der geschichtlichen Tatsachen; sie ist
bekanntlich in so radikalem Sinne beantwortet worden, dass man nichts in die
Geschichte als solche hineinlassen wollte, was nicht als ein schlechthin
Einziges, qualitativ Individuelles angesehen werden konnte; ob es gleich von
anderen, als eben den historischen Kategorien aus angesehen, sehr wohl ein
Vergleichbares, d. h. allgemeinen Gesetzen, bzw. Naturgesetzen Unterworfenes
sein kann.
Ist nun wirklich das seelisch-menschliche Geschehen in
jedem Augenblick ein neues, unwiederholbares, so wäre dieses Problem von
vornherein gelöst.
Denn damit wäre der Inhalt der G. objektiv als ein
jeweils einziger bestimmt, es bedürfte für ihn keiner einseitigen
partikularen Einstellung, um ihn historisch als individuellen, neuen zu
behaupten; eine solche wäre dann nur nötig für die Betrachtung der gleichen
Objekte als allgemein-gesetzlicher, naturhafter, die etwa durch Herauslösung
einzelner Elemente jenes Geschehens, Abspaltung mechanischer Teilvorgänge
von der objektiven vitalen Einheit vollziehbar wäre.
Zwar könnte in unseren Lebensläufen jeweils ein
inhaltlich identischer Abschnitt wiederkehren.
Allein dies wäre, wie in dem soeben vorgekommenen Fall,
etwas Zufälliges, da der Inhalt ein jedes Mal aus der Kombination anderer
Bedingungen hervorginge und der Voraussetzung nach kein allgemeines Gesetz
bestünde, das ihr Auftreten innerhalb der einzelnen Reihe vorzuberechnen
erlaubte.
Hat nun tatsächlich das seelische Geschehen dies
eigentümliche Verhältnis zu unserem theoretischen Bewusstsein, nach seinem
Auftreten zwar völlig feststellbar und durchschaubar zu sein, jedem
Vorwissen aber sich seinem Wesen nach zu entziehen? Kann man den Begriff des
»Ueberraschenden« von seiner bloß psychologischen, gefühlsbetonten Bedeutung
befreien und ihn als eine logische Kategorie für das Verhältnis von Inhalten
fassen, so wäre nach jener Theorie jeder seelische Augenblick tatsächlich
»überraschend« oder, wie wir es bisher nannten, neu.
[Ersichtlich liegt hier ein Knotenpunkt von Problemen
zutage; in der zuletzt formulierten Frage treffen sich (wenn auch nicht zu
einfachem Zusammenfallen) jene erste nach der Individualität des
historischen Geschehens und die nach der Freiheit und nach der
Gesetzlichkeit des Seelenlebens.]
Vielleicht empfängt dieses dunkle Problem eine Klärung,
wenn man das Verhältnis zwischen dem Geschehen und der Form als Analogie
heranzieht.
Diesem nämlich scheint, in der hier fraglichen Hinsicht,
das Verhältnis zwischen dem seelischen Lebensprozess und seinem ausdrückbar
bewussten Inhalt zu entsprechen.
In beiden Fällen handelt es sich darum, dass ein Vorgang,
dessen Elemente in mechanischer oder der mechanischen ähnlichen Dynamik
aufkommen, vermöge dieser in einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung
einen synthetischen Aspekt darbietet, der dem Vorgang selbst, rein als
solcher und in der Entwicklung seiner Elemente betrachtet, nicht zu
entnehmen ist.
Wenn eine Gebirgsmasse durch Verwitterung die Gestalt
eines Dreiecks annimmt, so ist zwar Gestalt und Lage jedes
Oberflächenteilchens durch mechanische Prozesse bestimmt, allein, dass das
Ganze in vereinheitlichender Ueberschau ein Dreieck bildet, geht diese
Prozesse und ihre konkreteinzelnen Erfolge sozusagen nichts an, sie geben
diese Oberfläche her, die von ihnen abgeschöpft werden kann, von außen her
und einer ganz anderen Ordnung als der Dynamik des Geschehens angehörend.
Unterscheiden wir nun von dem seelischen Prozess, als
einer reinen Funktion, einem Fluten, Drängen, Energieumsetzen unterhalb des
mit Worten festzulegenden Bewusstseins - unterscheiden wir von ihm seinen
gewussten Inhalt (dasjenige, was wir an ihm haben, während wir jenes sind),
so ist auch er gleichsam eine Oberfläche; sie ist zwar hervorgetrieben von
jenem dunklen Lebensprozess, mag er zerebraler oder irgendwie anderer Natur
sein, aber sie stellt sich so dar, als wäre sie von einem außerhalb dieses
dynamischen Vorgangs stehenden Bewusstsein aufgenommen, sie ist wie ein nach
außen gewandtes, nur nach außen sich dokumentierendes Bild und ergibt sich
erst in einer Synthese der unabsehlichen Teilvorgänge ontogenetischer und
phylogenetischer Art, die jener Begriff der seelischen Funktion, des
seelischen Lebensvorganges deckt.
Das Bewusstsein vollzieht diese Synthese, schöpft die in
ihr sich bildende Form ab, die sich damit als seelisch bewusster,
begrifflich ausdrückbarer (wenigstens prinzipiell so ausdrückbarer) Inhalt
bietet und in einer Schicht ganz anderen Charakters, ganz anderer
Orientierung liegt, als jener zeugende, nach irgendwelchen
Bewusstseinsgesetzen abrollende Prozess.
Diese Gesetze mögen unveränderliche, zeitlos geltende
sein, der Prozess mag in keinem Falle seines Vorkommens etwas absolut
»Neues«, Ueberraschendes sein können, sowenig wie die Verwitterungsvorgänge
an jenem Gebirgskamm: wie dies letztere aber nicht verhindert, dass die für
die Synthesis resultierende Form, der von der Alternative objektiv oder
subjektiv nicht recht getroffene Aspekt des Berges etwas schlechthin
Einmaliges, Unvergleichliches ist, sowenig macht der - vielleicht -
naturgesetzliche, keine eigentliche Neuschöpfung zulassende Charakter des
seelischen Prozesses die völlige Originalität und Einzigkeit seines Inhalts
unmöglich.
Die Scheidung von seelischem Grundvorgang und
Bewusstseinsinhalt in dieser Hinsicht klarzumachen, ist natürlich die
einzige Begründung für ihre Analogisierung mit dem Verhältnisse von
Geschehen und resultierender Form; im übrigen besteht kein
Vergleichungspunkt.
Aus den beiden behandelten Scheidungen geht nur hervor:
einerseits, dass die reine Naturgesetzlichkeit, Berechenbarkeit,
Energieerhaltung der mechanistisch verstandenen Welt das Auftreten eines
schlechthin »Neuen« und Ueberraschenden keineswegs ausschließt, sobald man
überhaupt nur die Form als etwas angeschautes Wirkliches anerkennt;
andrerseits, dass das bewusst Seelische, wenn sich innerhalb seiner die
Erscheinung eines solchen Neuen tatsächlich zeigt, darum noch nicht ein
jener physischen Welt unberührbares Wesensprinzip zu haben braucht, da es
vermöge der Trennung seines Prozesses von seinem Inhalt gleichfalls die
Naturgesetzlichkeit des Geschehens mit der völligen Neuheit eines, von
diesem Geschehen irgendwie getragenen Phänomens vereinigen kann.
Man hat nun diese letztere Zweiheit mit der der
Notwendigkeit und der Freiheit identifiziert.
Es bedarf zunächst einer - natürlich nur ganz partiellen
- Erörterung eben dieser, insoweit sie jetzt für das Verhältnis der
Geschichte zum Leben und dessen verschiedenen Aspekten in Frage kommt.
Hier ist es nun verwunderlich, dass man dieses Problem
stets aus methodischen Grundsätzen heraus zu beantworten unternahm, bejahend
sowohl wie verneinend; dass man nicht das ungeheure empirische Material des
menschlichen Verkehrs zu Rate gezogen hat, und zwar nicht, oder wenigstens
nicht nur die aus ihm zu ziehenden Erfahrungen, sondern die außerordentlich
viel tieferen und gesicherteren, auf denen er beruht.
Sieht man auf diese hin, so tritt dem ganzen Komplex von
Behauptungen des Freien und Ueberraschenden, Unvergleichlichen und
Unberechenbaren der menschlichen Verhaltungsweisen die einfache Tatsache
gegenüber: dass aller menschliche Verkehr, wie wir ihn kennen, auf dem
Vorwissen eben dieser Verhaltungsweisen beruht und ohne ein solches
schlechthin unmöglich wäre.
Der in unzähligen Verzahnungen laufende Mechanismus des
öffentlichen wie jedes privaten Lebens in unsern und schon in sehr viel
einfacheren Kulturverhältnissen würde augenblicklich stillstehen, wenn nicht
jedes Individuum unbedingt sicher darauf vertraute, dass sich in
unübersehbar vielen anderen Individuen und auch in ihm selbst Gedanken und
Willensakte zu ganz bestimmter Zeit in ganz bestimmter Weise einstellen
werden.
Dass das Vorwissen noch nicht eingetretener seelischer
Vorgänge überhaupt möglich ist, d. h. dass das Vertrauen darauf durch ihr
Eintreten nicht enttäuscht wird, ist ein A priori alles menschlichen
Miteinander-Lebens.
Unser ganzer Verkehr ist Kreditwirtschaft, deren
ökonomische Seite, mit ihren übrigen verglichen, von ganz geringer
Ausdehnung ist; und alle Verbreiterung des Verkehrs kann nur in dem Maße
geschehen, in dem das Wissen um die künftigen Vorstellungen und Handlungen
des Mitmenschen extensiver und zuverlässiger wird.
Dieser Zunahme entspricht freilich mit der Erweiterung
des sozialen Kreises eine gewisse Einbuße an Gründlichkeit und
Vollständigkeit des Vorwissens um einzelne Individuen, die Entwicklung führt
dahin, dass wir uns betreffs der Zukunft immer sicherer auf gewisses
Allgemeines in dem Verhalten dieses Kreises verlassen können, immer weniger
aber auf die individuellen seelischen Lebensäußerungen.
Aber dies ist sozusagen nur eine technische Modifikation
und sie lässt vor allem die Gewissheit über das künftige Verhalten des uns
nächststehenden Menschen ganz unberührt.
Gänzlich gleichgültig gegen vorhandene oder
nichtvorhandene theoretische Legitimation, ebenso gleichgültig gegen die
unleugbare Möglichkeit, dass der von uns am besten gekannte Mensch doch in
der nächsten Stunde das absolut Unerwartete, durch seine völlige Freiheit
überraschende tue, glauben wir seines künftigen Benehmens so schwankungslos
gewiss zu sein, dass wir ein zukünftig anders charakterisiertes Verhalten
von ihm weniger zugeben, als dass wir uns etwa in den bestfundierten
Erkenntnissen der Naturgesetze getäuscht haben sollten.
Wir handeln als ob wir der künftigen Vorstellungen
anderer, oft langer und individuell höchst nuancierter Vorstellungsfolgen,
sicher wären, und zwar nicht etwa hypothetisch und mit Vorbehalt, sondern
kategorisch und meistens, ohne dass in dieses Vorwissen auch nur die
Möglichkeit, dass es anders kommen könnte, dass der andre von seiner
Freiheit, abzuweichen, Gebrauch machte, sich irgendwie mischte.
Tritt man nun aber von diesem jeweils auf einen
Einzelfall gerichteten Wissen - mag es auch einen ganzen Komplex von
Individuen betreffen - zurück, stellt man das Subjekt nicht als individuelle
Tatsächlichkeit, sondern als allgemein-menschliche Möglichkeit vor, so weiß
man ohne weiteres, dass es sich auch ganz anders, ganz überraschend
verhalten kann, unsre Worte unbegrenzt variabel verstehen, seinem bisherigen
Charakter strikt entgegen handeln, alle Zuverlässigkeit seines Gefühlslebens
durch einen rein aus seinem Innern vorbrechenden Sturm umblasen kann.
Damit zeigt die einfach praktische Alltäglichkeit
ungefähr das Gegenteil einer häufig gehörten Ansicht: das
Allgemein-Menschliche am Menschen, das Typisch-Durchgehende sei das
Naturgesetzliche, das Unausweichliche, mit seinem Wesen Gegebene; die
Individualität aber, die singuläre Realität seiner Existenz sei der Ort der
Freiheit, hier höre die Berechenbarkeit auf, die generelle Entschiedenheit
sei durch unendliche Möglichkeiten der Entscheidung ersetzt.
Hier scheint sich also eine Antinomie aufzutun: der
konkrete einzelne Mensch einerseits ein Gegenstand des verlässlichsten, alle
Lebenssicherheit überhaupt tragenden Vorwissens, andrerseits grade das ganz
Unberechenbare, eigentlich »zufällige«, aller Prognose aufs überraschendste
ausweichende Wesen, und: der Mensch überhaupt, das Generelle oder Typische,
das in einem ideellen Sinn über den Individuen steht, aber dennoch in jedem
Einzelnen subsistiert - dies ist einerseits unabsehlicher Möglichkeiten
voll, keine noch so große praktische Sicherheit über das künftige seelische
Verhalten des von diesem Blickpunkt her angesehenen Menschen schließt die
Chance des absolut Entgegengesetzten aus; andrerseits aber erscheint doch
das Allgemeine in uns als die feste Linie, um deren verlässlich gesetzlichen
Verlauf die Freiheit und Unberechenbarkeit des individuellen Lebens in den
überraschendsten Schwingungen spielt.
Man könnte dieser Antinomie vielleicht durch schärfere
Differenzierung der Begriffe Herr werden, nachweisen, dass die Widersprüche
sich gar nicht auf genau dieselben Bedeutungen ihrer beziehen.
Was aber dessen ungeachtet von ihr bestehen bleibt,
scheint mir den Schluss unvermeidlich zu machen: dass die ganzen hier
angewandten Kategorien des Vorwissens oder des Überraschenden, des Neuen
oder des Berechenbaren, des Gesetzmäßigen oder des Freien - dass diese die
Relation des Erkennens zu dem seelischen Verhalten der Subjekte überhaupt
nicht umschreiben.
Dies scheint sich vielmehr in einer Schicht zu bewegen,
die in den üblichen Einteilungen der Erkenntnistheorie nicht recht
unterkommt und deshalb von allen Gegensätzen in dieser mit dem gleichen
Recht und Unrecht in Anspruch genommen wird.
Jenes praktisch zuverlässige Vorwissen stellt sich der
Entscheidung zwischen dem Sicheren oder dem Hypothetischen, dem Allgemeinen
oder dem Individuellen, dem Notwendigen oder dem Freien überhaupt nicht.
Ich möchte sagen, es ist einfach als Wirklichkeit da, so
gut wie sein Objekt, eine Tatsache des Lebens, die in dessen Verflechtungen
steht, als eine seiner zahllosen Funktionen überhaupt, herleitbar nicht aus
den Bedingungen des Wissens, sondern aus der Totalität des Lebens.
Wenn ich es als sicher oder kategorisch bezeichnete, so
war es damit schon auf die Ebene der Theorie mit ihren besonderen Wertungen
projiziert, in der es von sich aus gar nicht steht.
Es entspricht aber ganz der Tatsache, dass sein Objekt,
das seelische Leben, an und für sich weder frei noch notwendig ist.
Es ist schlechthin und Freiheit und Notwendigkeit sind
Beleuchtungen, die von einer weiteren Instanz her auf diese bloße
Wirklichkeit fallen.
Sie als Reflexionen über die einfache Tatsache zu
bezeichnen, wie es nahe liegt, ist vielleicht nicht erschöpfend.
Ich möchte glauben, dass es sich für die Entscheidung
zwischen Freiheit und Notwendigkeit um fundamentale seelische
Spannungszustände oder Bedürfnisse handelt, zu jenen polaren, das seelische
Gleichgewicht erhaltenden Phänomenen gehörend, wie Bewegtheit und Ruhe,
Ernst und Heiterkeit, Expansion und Konzentrierung und viele andere.
Die bloßen Realitäten geben Gelegenheit, bald mehr die
eine, bald die andere dieser inneren Möglichkeiten aktuell werden zu lassen,
wie (mit den nötigen Vorbehalten) die Landschaft sich dazu hergibt, uns bald
als melancholisch, bald als lebensfreudig zu erscheinen.
Gewiss sind es objektive Unterschiede der Landschaften,
die uns zu diesen in sie hineingesehenen Charakterisierungen ihrer
auffordern; nur nicht solche, die sich mit den so bezeichneten seelischen
Färbungen deckten.
So sind es wohl auch sachlich unterschiedene Vorgänge
oder wenigstens Aspekte von Vorgängen, von denen die einen zu der
Bezeichnung als freie, die andern zu der als notwendige veranlassen,
(unbeschadet, dass sie sich gelegentlich übereinanderschieben,
Unentschiedenheit oder Gleichzeitigkeit der Zuweisungen ermöglichen, wie ja
auch eine und dieselbe Landschaft je nach den Beleuchtungen zwischen jenen
beiden Stimmungswerten wechseln kann).
Das schlichte Dasein der Dinge jedenfalls enthält unter
seinen unmittelbaren Bestimmungen weder die Freiheit noch die Notwendigkeit.
Die Täuschung hierüber hängt daran, dass eben dieses
Dasein 'nicht häufig von der philosophischen Reflexion aufgenommen worden
ist; sie meint es wohl, wenn sie den nackten Begriff der »Gegebenheit«
verwendet, obgleich auch hierin schon eine reflektierende Beziehung auf das
Subjekt lebt, die dem Dasein in seiner Reinheit fern liegt; im allgemeinen
aber scheint sie mit ihm nichts Rechtes anfangen zu können, sondern fasst es
gleich in irgendeiner besonderen Modifikation oder Kategorisierung auf, an
die sie dann ihre systematischen Konstruktionen leichter oder sprungloser
anknüpfen kann.
Es ist damit auch nicht etwa die noumenale
An-sich-Existenz der Dinge im Gegensatz zu ihrer subjektbestimmten
Erscheinung gemeint; auch diese Zweiheit liegt in einer höheren
Reflexionsschicht, von der das bloße Dasein nicht berührt wird.
Freilich ist auch der Begriff der »Einheit« nicht darauf
anzuwenden, da ihm der bedeutunggebende Gegensatz fehlt.
Die Verkennung davon, dass das Dasein nicht mit einem bis
zu seinem Grunde gehenden Schnitt in freies und notwendiges aufzuteilen ist,
dass es vielmehr zunächst als ein in dieser Hinsicht nicht differenziertes
da ist, hat zu dem häufigen Irrtum geführt, den - versuchten oder gelungenen
- Nachweis, irgendein Dasein sei nicht naturgesetzlich notwendig, mit dessen
erwiesener »Freiheit« für selbstverständlich identisch anzusehen.
Tatsächlich liegt hier gar keine kontradiktorische
Alternative vor, die die Bejahung der einen Seite zur logischen Folge der
Verneinung der andern machte.
Es ist vielmehr ein Drittes möglich: aus der eingesehenen
Nicht-Notwendigkeit kann man, statt auf die Freiheit, auch auf jene einfache
Wirklichkeit schließen, für die weder die eine noch die andere Bestimmung
zutrifft.
Als solches primäre Wirklichsein nun wird das menschliche
Verhalten von jenem praktisch dauernd geübten Vorwissen erfasst.
Indem unsere ganze Existenz, insoweit sie im weitesten
Sinne sozial ist, darin fundamentiert ist, dass wir der Impulse und
Leistungen, der Vorstellungen und Gefühlsrichtungen unzähliger Anderer
gewiss sind, machen wir dies nicht von einer Überlegung: ob dies Verhalten
aus Freiheit oder aus Notwendigkeit hervorgehe, abhängig.
Sondern wie wir es, nachdem es einmal geschehen ist, in
der Regel hinnehmen, ohne ihm eine Entscheidung jener Frage zu unterbauen,
so stellen wir es auch unter der Kategorie der Zukunft vor.
Und wie seinen Inhalt, so nimmt es auch sich selbst ohne
jede derartige Problematik hin, ohne viel nach Sicherheit oder Unsicherheit,
nach Kriterien der Vermutung oder des Beweises zu fragen, in jedem einzelnen
Falle einfach als eine Tatsache des Lebens, wie unsere Gefühle und unsere
physiologischen Gegebenheiten.1
Wie wir uns zwar an Vergangenes erinnern können, aber
niemals in absolut genauem und als genau erweislichem Sinne, so können wir
zwar das psychologisch Zukünftige wissen, aber niemals in absolut genauem
und als genau berechenbarem Sinne.
(Alles schon dagewesen - neu. Handeln: als ob wir frei
wären - Theorie: als ob wir gebunden wären.
Geschichte: sich an die bloße Tatsächlichkeit, vor dieser
Entscheidung, haltend.) Es ist eigentlich das entsprechende Motiv, mit dem
einer der großen Scholastiker die Widerspruchslosigkeit zwischen dem
göttlichen Vorwissen und der menschlichen Freiheit erweisen will.
Unser Handeln, so könnte man sein Argument
zusammenfassen, mag irgendwelche Vorbedingungen haben, Freiheit oder
Notwendigkeit, - irgendwie muss es ausfallen.
Diese Tatsächlichkeit seiner, mit der es in die
Erscheinung tritt, ist der Gegenstand der Allwissenheit Gottes.
Auch das aus Freiheit Geschehende geschieht doch, und
indem Gott einfach dies Geschehen von Ewigkeit her weiß, wird in dessen
Freiheit gar nicht eingegriffen, jenes Vorwissen macht es nicht notwendig:
es geschieht nicht, weil Gott es vorher weiß, sondern er weiß es, weil es
geschieht.
Setzt man die Absolutheit dieses spekulativen Gedankens
zu der Relativität und Unvollkommenheit des menschlichen Wesens herab, so
trifft er die Art des hier gemeinten, die menschliche Praxis durchziehenden
Vorwissens.
Ob der Mensch, den wir kennen, aus Freiheit oder aus
Notwendigkeit handelt, ist hier ganz einflusslos; wir wissen nur: so wird er
handeln; denn dies ist es, was für unsere praktischen Zwecke allein
erforderlich ist.
Es ist nun zu erwägen, welche Bedeutung die hier
behandelten Begriffe für die geschichtliche Formung als solche besitzen.
Sie muss sich an ihrem Unterschiede gegen die Rolle
dieser Begriffe in anderen großen Kategorisierungen zeigen.
Ein gewolltes menschliches Tun, insofern es unmittelbares
Bewusstsein des Handelnden ist, steht im Zeichen der Freiheit.
Ich halte es für eine Pervertierung dieses Bewusstseins
durch nachträgliche theoretische Überlegungen, wenn man unter Wollen
überhaupt etwas anderes als frei Wollen versteht.
Was wir Zwang nennen, besagt immer nur, dass wir uns für
die eine Seite einer Alternative entscheiden, deren andere zu ergreifen
nicht absolut ausgeschlossen wäre, wenn wir nur den Preis bezahlen wollten,
den eben diese andere Entscheidung fordert.
Nur dass gewisse Preise gemäß den normalen Wertskalen
sozusagen gar nicht in Betracht kommen, scheint uns die entsprechenden
Betätigungen der Freiheit a priori auszuschließen und konstituiert damit die
sogenannte »Zwangslage«.
Als Ausnahme muss man nur die Fälle der vollständigen
Suggestion und jener »Inspiration« zugeben, in denen der Mensch sich als
bloßes Werkzeug einer überempirischen Macht vorkommt.
Aber grade in diesen fühlt er seinen »Willen« ja auch
ausgeschaltet.
Wenn die Seinswirklichkeit überhaupt als solche jenseits
von Freiheit und Notwendigkeit steht, so gilt dies auch für die
Seinswirklichkeit des Willens.
Allein es bietet sich hier wieder die typische
Erscheinung, dass eine einfache Unmittelbarkeit, in eine dualistische
Polarität auseinandergehend, sich nun doch wesentlich für die eine von deren
Seiten entscheidet: die innere Qualität des Wollens kann nur als Freiheit
bezeichnet werden.
Schon weil der Satz, dass unsere seelischen Akte
notwendige sind, sich selbst widerspricht; denn dann wäre dieses Urteil ja
selbst notwendig, d. h. es musste gefällt werden, gleichviel ob sein Inhalt
wahr oder irrig ist.
Der Wille muss sich vielmehr frei entscheiden können, ob
er den Argumenten für die Notwendigkeit oder denen für die Freiheit
beizutreten hat.
Es ist die umfassende Freiheit des Willens überhaupt, die
die Alternative zwischen Freiheit und Notwendigkeit als sekundären
Gegensätzen umgreift, jenes dialektische Argument ist nur die nachträgliche
Theoretisierung der Identität von unmittelbarem Wollen und Freiheit.
Aber wie das Dasein überhaupt, so geht auch das
menschlich-seelische in freies und notwendiges auseinander.
Während es die erstere Bestimmung in seine unmittelbare
innere Wirklichkeit hineinträgt, geht es innerhalb der theoretischen
Erwägung in die zweite über; wobei unter theoretischer Erwägung im
allgemeinen die als naturwissenschaftlich bezeichnete gemeint ist.
Zwischen Theorie überhaupt und Notwendigkeit überhaupt
besteht ein tiefer Zusammenhang; Kants Deutung der Kausalität als einer Form
des Vorstellens, durch die aus den dunklen Gegebenheiten des Sinnlichen das
Erfahrungswissen gestaltet wird, ist einer der möglichen Ausdrücke oder eine
Spezialisierung dieser Beziehung.
Ihre allgemeinere Fundamentierung dürfte in der Scheidung
des Seins der Weltinhalte von den Inhalten des Seins gefunden werden.
Für das Sein als solches, für die Tatsache, dass
überhaupt eine Welt existiert, finden wir, nach der Art unseres Denkens,
keine Notwendigkeit; keiner unserer logischen oder empirischen
Gesetzlichkeiten, Denkunumgänglichkeiten wäre widersprochen, wenn statt des
Seins das Nichts wäre.
Darum ist das Sein schlechthin irrational, ist der Typus,
oder wenn man will die einzige Absolutheit des Irrationalen.
Auch ist das Sein als solches mit nichts verbunden, die
Tatsache des Seins ist innerhalb unserer Begriffsbildung eine schlechthin
isolierte, aus dem Sein eines Inhalts lässt sich, insoweit man nicht auf den
Inhalt selbst achtet, weder vorwärts noch rückwärts auf irgendein anderes
Sein schließen.
Keine Theorie kann das Sein durchdringen, es bleibt als
eine unaufgelöste Tatsache in ihr.
Da es weder hergeleitet, noch zerlegt, noch zu höheren
Einheiten zusammengesetzt werden kann, so ist es überhaupt kein Gegenstand
der Theorie, sondern nur des Erlebens.
Unser Lebensprozess verläuft in Verwebung mit Elementen,
die, sobald diese Verwebung bewusst wird, als seiende gelten; aber wenn das
Denken diesen Punkt erreicht hat, macht es Halt.
Ausschließlich Inhalte - das Was des Seins - sind
verbunden, und darum kann nur an ihrer Kette ein an dem einen haftendes Sein
auf den andern für uns begreiflich übertragen werden: ein Inhalt reicht es
dem andern wie ein verschlossenes Gefäß.
Wir müssen alle Inhalte als miteinander verbunden
vorstellen, da wir unter der Voraussetzung leben, dass unsere
Wirklichkeitswelt eine Welt ist und nicht mehrere, diskontinuierliche.
Diese Verbundenheit macht den einzelnen im Sein
befindlichen Inhalt zu einem notwendigen und darum steht die Theorie, der
das Sein unzugängig und die auf die Inhalte angewiesen ist, im Zeichen der
Notwendigkeit - wie die Praxis in dem der Freiheit.
Allein von diesem Charakter der Theorie scheint mir das
historische Erkennen eine Ausnahme zu bilden.
Suche ich rein herauszulösen, was denn innerhalb seiner
das nur und spezifisch Historische ist, hervorgehoben aus der allenthalben
dazu wirkenden Vermischung mit naturwissenschaftlich theoretischen und
praktischen Denkweisen und Intentionen - so sehe ich als sein Objekt jenes
einfach wirkliche Geschehen, jenes noch von keiner nachträglichen Reflexion
einkategorisierte Dasein, das mir als das primäre, noch jenseits von
Freiheit wie von Notwendigkeit bestehende erschien.
Ich möchte den freilich sehr gewagten Begriff der »reinen
Erfahrung« in seinem striktesten Sinne hierauf anwenden; als der Gegenstand
der Historie lässt sich hier allerdings das bezeichnen, was »wirklich
gewesen ist«, obgleich natürlich dann innerhalb ihrer durch die ihr eigenen
Kategorien ein neues besonderes Gebilde daraus erwächst.
Dem Historiker ist es wesentlich, dass ein Geschehen
geschehen ist, wie es dem Handelnden wesentlich ist, dass es aus Freiheit,
dem reinen Theoretiker (dem naturwissenschaftlich zeitlos Denkenden), dass
es aus Notwendigkeit geschehen ist.
Darum hat man die Geschichtswissenschaft auch als die
Wirklichkeitswissenschaft schlechthin, oder auch als die Wissenschaft von
dem in der Zeit Geschehenden bezeichnen können.
Die Wirklichkeit ist eben das, was vor aller Entscheidung
zwischen Freiheit und Notwendigkeit steht (wobei unter ihr nicht »das Sein«,
von dem ich sprach, und das in seiner inhaltfreien Reinheit eine Abstraktion
ist, gemeint wird, sondern die seienden Inhalte), und das Geschehen, rein
auf seine Zeitverhältnisse hin betrachtet, weiß weder von Freiheit noch von
Notwendigkeit.
Nun liegt ja zutage, dass der Historiker dauernd
Notwendigkeiten, gesetzliche Zusammenhänge, aufsucht.
Allein diese sind immer entweder physischer oder
psychologischer Art, die Notwendigkeit von solchem Notwendigen ist sozusagen
ein außerhistorisches Imponderabile, das die historischen Möglichkeiten
durchflutet - grade wie die ethisch-metaphysische »Freiheit«, von der der
Historiker spricht, von ihm aus einer ganz anderen Schicht als der
historischen heraus den geschehenen Wirklichkeiten imputiert wird.
Da die eine oder die andere dieser Kategorien fast
durchgehends wirkt, so ist das historische Erkennen eigentlich niemals das
rein historische, dieses ist vielmehr in seiner Reinheit nur durch
Abstraktion aus der Komplexität der tatsächlichen Geschichtsbilder
herauszustellen: Geschichte ist niemals bloß Geschichte, wie ihr ganz
autonomer Begriff sie erscheinen lässt.
Die Formungen, vermittelst deren sie dieses in das
historische Gebilde überführt, nehmen aber, diesem reinen Begriffe nach, das
Geschehen nur insofern es wirklich geschehen ist auf, nicht aber als ein,
schon als Geschehen, von Freiheit oder Notwendigkeit gefärbtes oder
durchdrungenes.
Dass wir die vorliegende Historie dennoch nur in dieser
Gefärbtheit oder Durchdrungenheit kennen, bedeutet aber nicht etwa eine
Verunreinigung im Wertsinne, die es zu beseitigen gelten könnte, da die
Reflexion sie ja doch in der eigentümlichen Art und Einheit, in der sie sich
bietet, hinzunehmen hat; es ist nur das Amt der Reflexion, die Elemente, aus
denen diese Einheit zusammengewebt ist, nach dem reinen Sondersinn eines
jeden sichtbar zu machen.
II
Es handelt sich hier um die Form, in der über den
Widersprüchen zwischen unseren letzten Seinskategorien die Möglichkeit eines
Lebens - d.h. doch einer Einheit des Lebens - irgendwie anschaulich oder
wenigstens ausdrückbar wird.
Macht man mit der absoluten Stetigkeit alles Daseins
wirklich Ernst, so verschwindet aus ihm die Kausalität, denn die Verwendung
von »Ursache und Wirkung« fordert einen Trennungsstrich, der zwar keine
Lücke in dem Zeitverlauf der Geschehensreihe bedeutet, aber doch dies: je
ein diesseits seiner liegendes Stück dieser Reihe und ein jenseits seiner
liegendes wird zu einer Einheit geballt, derart, dass eine jede solche in
sich einen stärkeren Zusammenhalt hat, ihre Elemente untereinander
entschiedener kontinuierlich sind, als es zwischen diesem Ganzen und dem
zweiten Ganzen der Fall ist.
Nun erst kann das eine Ursache, das andere Wirkung
heißen.
Es wird dazu ja ein Zentrum erfordert, um das ein
Phänomenkomplex gewissermaßen kristallisiert und zu etwas relativ
Beständigem oder Substantiellem oder unter einen Begriff Gefasstem wird.
Und obgleich sich im Geschehensfluss das eine pausenlos
an das andere ansetzt, so muss doch die absolute Kontinuität, in der die
Richtigkeit je zweier Momente niemals geringer sein kann, als die je zweier
anderer, und in der jede Abgegrenztheit und innere Substantialität des
Einzelwesens schlechthin aufgelöst ist, gelockert werden, wenn die Einheit:
Ursache, von der Einheit: Wirkung - differenziert werden soll, so sehr die
Dynamik, die Zeit kontinuierlich erfüllend, sie wieder zusammenbringen mag.
Zerschnitten wir nicht jene unausgesetzte absolute
Kontinuität, so würden wir gar nichts haben, was als Ursache und was als
Wirkung gelten könnte.
Ganz allgemein wird mit diesen Begriffen in einer
lässigen, praktisch zwar genügenden, den genauen Sachverhalt aber
verhüllenden Weise umgegangen.
Eine Billardkugel wird so gestoßen, dass sie auf eine
zweite trifft; die Bewegung dieser zweiten gilt nun als die Wirkung, und als
deren Ursache die Bewegung der ersteren, die ihrerseits durch den
vorangegangenen Anstoß verursacht ist.
Allein zu eben diesem Vorgang »wirken« noch eine große
Anzahl anderer Ursachen mit: die besonders beschaffene Unterlage, der
Luftwiderstand, kurz das ganze Milieu, in dem er sich abspielt.
Streng genommen sind es Gesamtzustände, die ineinander
übergleiten und die spezielle Verbindung eines Einzelelementes mit einem
anderen Einzelelement ist eine praktisch erforderliche, schließlich aber
willkürliche Heraushebung aus einem an sich ungespaltenen Gesamtereignis.
Wie aber dessen Phasen eine sich in sich entwickelnde
Einheit sind, so besteht auch sachliche Ungetrenntheit zwischen der letzten
Bewegungsphase der gestoßenen Billardkugel und der Bewegung der zweiten, auf
die sie trifft.
Beide verhalten sich im objektiven Geschehen durchaus
nicht anders, als sich zwei aneinander unendlich nahe Phasen in der Bewegung
der einen, ersten Kugel verhalten.
Dass wir sie als zwei selbständige Körper aus der
unendlichen Kontinuität des Seins heraustrennen, um sie dann wieder als
Träger einer Ursache und einer Wirkung zusammenzubringen, ist eine
subjektive Formgebung, eine Auslese, Zusammenballung, singularisierende
Akzentlegung, die in die abgrenzungslose Stetigkeit des Seins eingezeichnet
wird.
Dieser Widerspruch zwischen Kontinuität und Kausalität,
ist für einen Geschehensbezirk schon weitgehend anerkannt, für den
psychologischen.
Hier ruht alle Kausalität auf der Isolierung seelischer
Elemente gegeneinander, sei es im Kantischen Sinne der Seelenvermögen (»der
Verstand bestimmt die Sinnlichkeit«), sei es in der Vorstellungspsychologie,
die die Einzelvorstellungen sich gegenseitig heben oder verdrängen, abstoßen
oder verketten lässt und diesen streng kausalen Mechanismus als Leben der
Seele anspricht.
Dies ist nun freilich lange als eine gewalttätige
Zerreißung und willkürliche Hypostasierung durchschaut.
Wir denken uns jetzt das seelische Leben als die
Entwicklung einer (im übrigen unbezeichenbaren) Einheit, die sich in jedem
Augenblick anders färbt, anders erfüllt, anders orientiert, ein von den
Sinnen zwar angeregtes aber von innen her getriebenes organisches Wachstum,
in dem kein Schritt zwischen Moment und Moment, keine wirkliche, von
vornherein bestehende Zusammenhanglosigkeit von Inhalt zu Inhalt möglich
ist.
Hier entwickelt sich Phase nach Phase, eine jede
hervorgetrieben aus einer gänzlich unergründeten inneren Dynamik, eine jede
zwar dadurch bestimmt, dass diese Dynamik die früheren Phasen als ihre
Ausdrücke durchlaufen hat; aber Kausalität in einem für uns geläufigen und
belangvollen Sinne - Verknüpfung einer Einzelheit mit einer anderen,
Erzeugen der einen durch Komplexe anderer Einzelheiten nach allgemeinen
Gesetzen - ist hier nicht zu finden, sondern, da man ihrer nicht entraten
konnte, verfiel man auf die einzige Möglichkeit ihrer Anwendung:
Atomisierung des seelischen Lebens, Stauung seines kontinuierlichen Stromes
zu einzelnen Vorstellungen, die, jeweils mit Eigenkräften geladen, ein
mechanisches Spiel nach dem Schema Ursache und Wirkung aufführen - will man
Kausalität, so muss man auf Kontinuität verzichten.
Mit der Wechselwirkung verhält es sich ebenso.
Auch hier müssen feste Kristallisierungspunkte innerhalb
des fließenden Geschehens sich entfalten.
Eine gewisse Problematik des Kausalbegriffs aber wird
vielleicht für diese Anwendung seiner am anschaulichsten.
Wo wir von Ursache und Wirkung sprechen, haben wir Stücke
der Welt - »Stücke« in substantieller oder dynamischer, begrifflicher oder
psychologischer Bedeutung - gegeneinander abgegrenzt.
Sie haben zwar einen gemeinsamen Punkt, Linie, Fläche des
Aneinanderstoßens, wo sich die Umsetzung der Energie vollzieht, aber diese
Berührungsstelle trennt zugleich zwei je irgendwie in sich geschlossene,
irgendwie in sich zentrierende Wesenheiten.
Wie aber verträgt sich dies mit der streng gefassten
Kontinuität der Weltelemente nach Raum und Zeit, nach Beschaffenheit und
Bewegung? Unsere Praxis freilich, die mit begrenzten Kräften arbeitet und
immer auf ein singuläres Ziel geht, zwingt uns die Kontinuität zu
zerschneiden, Linien durch sie zu legen, die irgendein Stück ihrer jeweils
als »ein Ding« umschränkt, einem differenzierten Begriff untertan, um ein
eigenes Zentrum gelagert.
Aber damit vergewaltigen wir die Form des Weltprozesses,
die unsere Theorie als ein absatzloses Gleiten annehmen muss, ein Strömen
ohne Pausen und starre Gebilde, ein in jedem Sinn sprungloses, keiner
besonderen Grenzüberwindung bedürftiges Gelangen von jedem Punkte zu jedem
anderen.
Dass wir in diesen heraklitischen Fluss ein Netz werfen
und das von ihm ideell Umgrenzte in sich enger zusammengehören lassen, als
es mit anderen zusammengehört, dass wir einem Materienstück oder einer
Zeitausdehnung, einem Menschenschicksal oder einem Komplex von Qualitäten,
einer Bewegung oder einem Eindruck eine Konsistenz in sich selbst verleihen,
durch die er zu einer Einheit wird, jenseits seiner Zugehörigkeit zu der
innerlich grenzenfremden Einheit des Kosmos - das ist ein menschlich
subjektives Verfahren.
Aber dank der Fähigkeit des Geistes, sich über sich
selbst zu erheben, sich gleichsam von außen zu sehen, ist er in diesen von
ihm selbst gezogenen Grenzen nicht schlechthin eingefangen, sondern kann
jene kosmische Einheit, die sich unserer zerstückelnden, verhärtenden
Anschauung versagt, dennoch als die eigentliche Wirklichkeit denken; und
dies auch innerhalb von einzelnen Reihen, die als ganze zwar
herausdifferenziert sind, innerhalb ihrer aber Stück an Stück zu setzen
scheinen, bis die darüber gesetzte Überzeugung von ihrer Kontinuität ihre
Parzellierung wieder aufhebt.
Als Gedankengebilde, »Ideen« im Platonischen Sinne, sind
die Dinge in festem Umrisse isoliert, ein jedes wird bis zu dieser Grenze
von seinem »Begriff« (einem nicht notwendig logisch formulierbaren)
durchdrungen, der es dadurch als dieses bestimmte und eine zusammenhält.
Die Doppelbedeutung von Einheit macht sich geltend: würde
es nicht als Einheit in sich vorgestellt - wodurch es erst den Sinn eines
Dinges erhält - so könnte es auch im numerischen Sinne keine Einheit sein;
nur weil es ein Ding ist, kann es ein Ding sein.
So haftet die Geschlossenheit eigentlich nur an dem
ideellen Gebilde, an dem Begriff und der ihm entsprechenden Intuition, grade
wie die geometrische Genauigkeit an einer entsprechenden, nicht aber an
einer realisierten Figur haftet.
Sobald wir aber diese innerlich fixierte Gestalt in die
Wirklichkeit übertragen, und sie nun vom Standpunkt dieser Wirklichkeit aus
betrachten, zeigen ihre Grenzen sich als nur ideell möglich und lösen sich
in stetigen Übergängen in das Diesseits und jenseits, das Vorher und
Nachher, das Mehr und Weniger auf.
Damit entschwindet die Zentrierung des Dinges in sich
selbst, es ist nicht mehr der Träger absolut charakterisierender Umrisse und
Subjekt nur noch in dem unrealistischen Sinne, in dem wir seine Flüssigkeit
in jene bloß gedachte Form bannen.
Da nun Kausalität von der Herstellung eines Subjekts als
Ursache und eines Subjekts als Wirkung abhängig ist, so ist sie mit der
subjektlosen Kontinuität des Weltgeschehens nicht zu vereinigen.
Damit erst scheint mir der Humesche Zweifel an der
ursächlichen Verbindung auf seinen Sachgrund gebracht zu sein.
Die unmittelbare Erfahrung zeige uns nur das zeitliche
Nacheinander der Erscheinungen; wenn das Auftreten der einen an ihrer
Zeitstelle es notwendig zu bedingen scheine, dass eine andere an der ihrigen
auftrete, so sei dies ein nur psychologisch zu erklärender Zusatz zu jener
allein realen nur zeitlichen Folge.
Allerdings: sobald man das Geschehen ausschließlich auf
seinen zeitlichen Verlauf hin ansieht, so folgt es der in sich schlechthin
gleichmäßigen, ungegliederten Kontinuität der Zeit selbst; seine Inhalte
können deshalb nicht als Ursachen und Wirkungen auftreten, weil diese an
Subjekten als Sonderexistenzen haftet, und die Stetigkeit der Strömung es zu
solchen nicht kommen lässt.
Hume sah nicht ein, weshalb es uns als notwendig gelten
solle, dass B auf A folgt, d. h. wieso es mit dem Sachgehalt von A begründet
ist, dass sich B daran ansetze.
Der eigentliche Grund davon ist, dass seine
ausschließlich auf die Zeitfolge eingestellte Betrachtung es zu dem Subjekt
A, als einem abgeschlossenen Sachgehalt, überhaupt nicht kommen lässt.
Ist aber diese Abschließung und Eigenzentrierung einmal
an A und B vorgenommen, so sucht man durch die Notwendigkeit, mit der B sich
an A schließen soll, den ununterbrochen einheitlichen Zusammenhang des
Geschehens wieder herzustellen.
Da man aber die Kontinuitätsform, die diesen Zusammenhang
trägt, zuvor gesprengt hat, so gelingt dies nicht, sondern der Riss zwischen
der Notwendigkeit und der Wirklichkeit bleibt bestehen, den Hume gefühlt
hat.
Man mag das auch so ausdrücken, Kausalität fordert die
sondernde Umgrenztheit ihrer Träger, weil sie eine Relation ist.
Wenn es nichts Getrenntes gibt, ist sie sinnlos, denn
dann gibt es nichts zu verbinden.
Und entsprechend sinnlos ist es - die Metaphysik hat das
oft betont - an das Ganze des Daseins, als Einheit betrachtet, die
Kausalforderung zu stellen.
Freilich hat man das in der Regel von außen her
begründet: da das Ganze ja alles, was man als wirklich denken kann,
einschließt, so habe es nichts außer sich, wovon es als Wirkung abhängen
könnte.
Es ist aber ebenso gut von innen her zu ermessen: Die
Einheit des Ganzen bedeutet eben die grenzenfreie Kontinuität des
Geschehens.
Denn sie ist nur funktionell zu denken.
Dass sie als ruhende Substanz Einheit sei, mag als
metaphysische Spekulation oder mystische Schauung gelten; sobald man sich
aber in der Ebene des Empirischen mit seinen unzähligen Verschiedenheiten
und Gegensätzen hält, kann ich mir unter einer starren Einheit des Ganzen
nichts Rechtes denken.
Dass Goethe und eine Welle des indischen Ozeans, der
Hermes des Praxiteles und die Flamme in meinem Ofen eine Seinseinheit
ausmachen, bleibt mir ein bloßes Wort.
Dagegen, dass die Strömung des Weltprozesses all diese
Erscheinungen gestattet, dass seine in kontinuierlicher Zeugung bestehende
Einheit nicht durch solche herausgehobenen Unterschiede zerbrochen wird, -
scheint mir ein durchaus vollziehbarer Gedanke.
Und dann wäre schon der Ausdruck unzutreffend, dass
dieser Prozess die Grenzen der Dinge aufhöbe, verschwimmen ließe.
Denn dazu müssten diese Grenzen doch zuvor bestehen, was
sie doch nur tun, wenn unsere sekundäre Betrachtungsweise sie der Einheit
jener Strömung entrissen und in die begriffliche Festigkeit eines Umrisses
gebannt hat.
Fassen wir nun diese Einheit als Ganzheit, so kann man
allerdings aus dem oben betonten Grunde nicht nach ihrer Ursache fragen.
Da das Ganze keine hat und bei dieser Einstellung noch
keine »Teile« bestehen, so ist auch innerhalb des Ganzen kein Platz für
Kausalität, sondern erst in der Schicht der gesondert betrachteten Elemente.
Es scheint mir unbezweifelbar, (obgleich es nicht
beweisbar ist), dass die Kontinuität des Weltgeschehens nirgends ein so
deckendes Einzelbeispiel oder Symbol, einen so unmittelbaren Ausdruck
findet, wie in dem, was ich vorhin als den seelischen Prozess bezeichnete.
Mag er durch Zustände von Bewusstlosigkeit unterbrochen
werden- insoweit er besteht, ist das Lebensgefühl überhaupt, das ihn
zunächst repräsentiert, ein absolut stetiges.
Wenn an ihm Schwankungen der Intensität beobachtbar sind,
so sind sie doch nie durch jene scharfen Grenzen getrennt mit deren Setzung
die eine Periode und die andere sich in sich zentral zusammenschließt und so
die eine als Ursache, die andere als deren Wirkung zu bezeichnen wäre.
Hier liegt in der Tat jenes absatzlose Fließen vor und
gestattet nicht die - gleichnisweise gesprochen - atomisierende Sonderung,
die dann wieder durch die Kausalität in nachträgliche Einheit gebunden wird.
Zwischen Ursache und Wirkung kann kein zeitliches
Intervall liegen, der Kausalprozess kann nicht zeitlich sein.
Wenn ich ein Glas zur Erde werfe, dass es zerbricht, so
nenne ich meine Wurfbewegung die Ursache des Bruches.
Allein in Wirklichkeit bewirkt sie nur, dass der
Gegenstand mit einer gewissen Energie versehen wird, oder auch, dass er sich
in dem Augenblick, der meiner Handhabung mit ihm folgt, an einer anderen
Raumstelle als in meiner Hand befindet.
Sein Verhalten in dem nächsten Augenblick seines Weges
zur Erde ist darum schon nicht mehr meine Wirkung, sondern die seines
vorangegangenen Verhaltens, das aber zwischen diesem jetzigen und meiner
Aktion liegt.
Dass er auf die Erde aufschlägt, ist die Wirkung des dem
unmittelbar vorangehenden Zustandes und meine Handbewegung ist dafür völlig
gleichgültig geworden.
Zwischen Ursache und Wirkung, wenn wir mit ihren
Begriffen Ernst machen, kann kein zeitlich ausgedehntes Geschehen liegen,
weil dann die Ursache sich nur auf den ersten Moment dieses
Zwischengeschehens, die Wirkung nur auf seinen letzten beziehen würde.
Da nun das Geschehen überhaupt kontinuierlich ist, also
zwischen je zwei angebbaren Momenten immer noch eine Zeit liegt, so ist der
Begriff von Ursache und Wirkung damit unvereinbar.
Er gilt nur bei einem irrealen Auseinanderrücken beider;
in der Umbildung in diese Schicht ist er legitim, innerhalb des
unmittelbaren Geschehens nicht.
- Es kann auch zwischen Ursache und Wirkung keine leere
oder als leer anzusehende Zeit liegen, denn dann würde die Ursache ja an
deren oberer Grenze aufhören und die Wirkung an ihrer unteren von neuem, aus
dem Nichts, einsetzen.
Ursache und Wirkung müssen also zeitlich zusammenfallen,
sind nicht zu unterscheiden, d. h. existieren nicht als Ursache und Wirkung.
Was wir Ursache nennen, ist eine Formung des absoluten
Weltgeschehens, die als Durchgangsstation für die nächste, welche als deren
Wirkung gilt, dasteht.
Es gibt nur das stetig flutende Geschehen, das in jedem
Augenblick ein Wirklichkeitsstadium hat, welches man als die Wirkung alles
vorangehenden Geschehens ansehen kann; aber man kann nicht das unmittelbar
vorangehende Stadium als eigentliche und zulängliche Ursache ansprechen.
Weil die absolute Kontinuität die Kausalität aufhebt und
das seelische Leben absolute Kontinuität ist (vielleicht nur seiner Idee
nach?), darum kann dieses Leben das Bewusstsein der Freiheit haben.
Auch das Weltganze als Einheit ist kontinuierlich (sonst
wären es mehrere Welten) und darum ist das Weltganze frei, aber nicht seine
gegeneinander diskontinuierlichen Stücke. 2
»Die primäre Kausalität ist die Notwendigkeit der
zeitlichen Aufeinanderfolge der Wirklichkeitstücke.« Hessen, Ind. C.
3
Wenn es also keine »Stücke« gibt, so gibt es auch keine Kausalität.
III
Der Begriff der Freiheit ist bei den Kynikern und
Kyrenaikern der gleiche.
» Es ist nicht der Begriff eines bestimmten Anteils an
einer durch den Staat verkörperten Herrschaftsgewalt, sondern der einer
persönlichen Unabhängigkeit von jeder besonderen Staatsordnung.« Kaerst,
Geschichte des Hellenismus I (zweite Auflage), Berlin 1917, Seite 88.
Dialektik der Freiheit: Freiheit geht sofort (oder schon
als solche) in die Beherrschung anderer über.
Sobald diese aber da ist, ist es mit der Freiheit vorbei,
der Herrscher ist von seinen Dienern abhängig, der Herr der Sklave seiner
Sklaven.
Die Freiheit des Menschen hat ihr Symptom darin, dass er
den andern die Freiheit gibt.
Ein Tyrann ist nicht frei. Es besteht ein tiefer
Zusammenhang zwischen der eigenen Freiheit und der der anderen.
Dass jeder nur soviel Freiheit haben soll, wie mit der
Freiheit aller verträglich ist, wendet dies nur ins Normative und mehr
Aeußerlich-Praktische.
Kann man frei sein auf Kosten anderer? Oder vielleicht
grade nur auf Kosten anderer (Nietzsche)? Gibt es ein Freiheitsquantum, nach
der jeweiligen sozialen und inneren Gesamtlage bestimmt, das nur
gleichmäßiger oder ungleichmäßiger verteilt werden kann?
Freiheit als Bedürfnislosigkeit, Unabhängigsein von allen
Wunschbarkeiten.
Zuhöchst im buddhistischen Mönch.
Dass er dabei nichts leistet, ist kein Einwand; denn das
will er ja gerade; jedes Wirken, auch das herrscherliche, macht uns
abhängig, mindestens doch davon, ob sein Erfolg eintritt oder nicht.
Entscheidend aber ist, dass damit die Weltstellung des
Menschen verschoben wird.
Wir sind nun einmal Geschöpfe des Kosmos und in ihn
verwebt, und dass wir seiner bedürfen, ist eine unerlässliche Form unseres
Zu-ihm-Gehörens (womit durchaus kein Naturalismus oder Materialismus gemeint
ist).
Es ist ein verquerer Stolz nichts bedürfen zu wollen, es
ziemt sich, dass wir uns in diese zugewiesene Weltstellung schicken.
Freiheit des Willens ist noch nicht vollkommene Freiheit.
Wo Wille ist, da muss noch etwas überwunden werden (sonst
bedürfte es keines Willens), da herrscht noch nicht unser Sein in Reinheit
und Absolutheit.
Auch die überwundene Hemmung ist noch Hemmung; darum ist
das Moralische nicht der Sitz der letzten Freiheit.
Wenn Freiheit bedeutet, dass das Leben des Ich
schlechthin nur von dem Ich selbst gelebt wird, von seiner Wurzel her, deren
einheitliche Triebkraft keine Spaltung und Gegenstrebung kennt, so kann das
in diesem Sinn freie Leben überhaupt nicht durch den Willen hindurch
kanalisiert werden, sondern spricht in Liebe und Hass (es ist das, was die
eigentliche »Gnade« in der empfangenen Liebe ausmacht, das von dem Willen
des Liebenden ganz unabhängige), in den unüberwindbaren letzten
Überzeugungen, in den unmittelbaren Instinkten.
Innere Freiheit heißt: Gebundenheit durch die Sache -
nicht durch etwas, was außerhalb ihrer oder außerhalb der direkten Linie
zwischen mir und ihr liegt.
Vollkommene Objektivität ist vollkommene Freiheit.
Andererseits aber ist Freiheit doch die äußere und innere
Gestaltung der Dinge nach der Persönlichkeit des Gestaltenden.
Ist sie der Beweis für die legitime Vieldeutigkeit des
Objekts? Oder der Punkt, an dem Subjektivität und Objektivität ihren
Gegensatz verlöschen?
Freiheit, definiert Mill, wäre das Bewusstsein, dass man
hätte anders handeln können.
Dies ist der reine Zirkel, denn das »Können« heißt ja gar
nichts anderes als die Freiheit zu diesem Anderen zu besitzen.
Die Stoiker beschränken das Leben auf den Punkt, wo der
Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit hinfällig wird, weil an ihm kein
Gegensatz von Seele und Welt mehr besteht.
Der Vollendete lebt aus demselben göttlichen Sein heraus,
das nichts außer sich hat, was seine Freiheit beschränken könnte.
Freiheit als Wesen des Geistes mag darin wurzeln, dass
die Inhalte des seelischen Prozesses, das wirklich Bewusste, keine kausale
Energie besitzt, dem Geschehen, dem Prozesse überhaupt entgegen ist.
Es gibt immer etwas zu wenig Freiheit in der Welt, grade
wie etwas zu wenig Nahrungsmittel.
Was der eine hat, muss (von einer Schwelle an) dem
anderen genommen werden.
Wenn ich freie Bahn haben will, müssen andere mir Platz
machen.
Hier liegt die Bedeutung der Freiheit: Man kann nicht
schlechthin »frei« sein, das gibt keinen Sinn, man muss frei von etwas sein.
Und die Freiheit des Menschen bedeutet, dass er von jedem
angebbaren einzelnen Naturgesetz frei ist, da dies sich immer nur auf Teile
seines Gesamtseins bezieht, dieses Gesamtsein sich aber nicht in Teile
restlos auseinanderlegen lässt, sondern als Einheit eine Form, Schicksal,
Entwicklung hat, für die es kein Gesetz gibt.
Dass das Individuum eine Einheit, eine nicht
zusammensetzbare Totalität ist (bzw. soweit es das ist), macht es von jedem
Naturgesetz unabhängig.
Der Mensch kann sich so verhalten oder er kann sich ganz
anders verhalten - er bleibt ein Selbiger.
Dies ist die Grundkategorie, die sich uns als Freiheit
spiegelt, als »Möglichkeit«, sich so oder so zu verhalten.
Während jedes andere Wesen durch Anderswerden ein anderes
wird, bleibt der Mensch dabei derselbe, hat also die Freiheit, sich so oder
so zu verhalten, ohne sich zu ent-ichen. Aber dies ist die objektive
Freiheit des Andersseins, nicht die subjektive des Sich-anders-entscheidens.
Schließlich aber Reflexionssache? Dass der Mensch das
wagende Wesen ist, hängt mit seiner Freiheit solidarisch zusammen.
Wer determiniert ist, kann nichts wagen, auch wenn sein
Benehmen äußerlich diesen Charakter zeigt.
Von der anderen Seite her: erst im Wagnis offenbart sich
die Freiheit.
Wenn sie, in einfachstem Schema, die Wahl zwischen zwei
Wegen bedeutet, so enthält der Augenblick der Entscheidung das Wagnis: ob
der eingeschlagene Weg wirklich der wertvollere ist.
Denn wäre das von vornherein so sicher, dass der andere
überhaupt nicht in Frage kommt, wäre dessen Wert derartig nichtig, dass auf
ihm keinesfalls etwas zu gewinnen wäre, wüsste man das Übergewicht des einen
im Entscheidungsaugenblick mit absoluter Gewissheit, so würde eine Freiheit
der Wahl gar nicht in Funktion treten.
Die Forderung, dass wir frei sein
sollen, ist ein
logischer Zirkel.
Denn nur ein freies Wesen kann etwas sollen.
Metaphysisch aber drückt er nur aus, dass Freiheit und
Sollen hier eines und dasselbe sind.
Zusammenhang der Freiheit mit dem Prozess-Inhaltproblem.
Notwendigkeit kann nur im Prozess liegen, also in dem
ganzen nicht-seelischen Geschehen, weil in ihm Prozess und Inhalt nicht
geschieden sind.
Wo aber der Inhalt in Eigenbedeutung besteht, weil er mit
dieser in einer andern Kategorie als in der der Wirklichkeit steht, ist er
jenseits der Notwendigkeit.
Denn notwendig kann nur ein Wirkliches sein, da sie eben
Notwendigkeit des Wirklichwerdens ist.
Indem ich den Vorstellungsinhalt als solchen vorstelle,
hat er eine ideelle Festigkeit angenommen, die ihn dem Prozess als einem
kontinuierlich fließenden entzieht.
(Zu erwägen, dass die strenge Kontinuität die Kausalität
aufhebt.) Indem der Inhalt die Doppelstellung hat: sowohl als seelischer
Prozess wirklich zu sein, wie eine geschehensfreie Geltung (nicht Wahrheit!)
zu besitzen, die auch in dem Prozess enthalten ist und gespürt wird,
erscheint hiermit ein nicht Notwendiges verwirklicht, d. h. eine Freiheit.
Die Freiheitsbehauptung bei Kant ruht darauf, dass er die
Willensbestimmung durch den terminus ad quem ablehnt, dass ihm das Wollen
als Begehren nicht nur als unethisch erscheint, sondern dies deshalb tut,
weil es gar kein eigentliches oder »reines« Wollen ist; denn der Gegenstand,
durch den es bestimmt wird, ist eben »Gegenstand« (vertreten durch das
sinnliche Verhältnis zu ihm) und nicht das Wollen selbst.
Sobald wir etwas wollen, sind wir nicht frei, nicht mehr
ganz wir selbst.
Aber dies ruht freilich auf jener Voraussetzung, dass das
sinnliche Verhältnis zum Gegenstand dasselbe sei, wie der Gegenstand selbst;
denn dieser bestimmt uns doch im genauen Sinne nicht, von ihm geht keine
Attraktion aus, sondern von einem Reizgefühl, das schließlich doch auch in
uns selbst entspringt.
Um über diese Schwierigkeit hinwegzukommen, muss Kant
dekretieren, dass nur »die Vernunft« unser eigentliches Ich ausmache,
wodurch das Sinnliche in die Dimension des Gegenstandes, des Nicht-Ich
geschoben und die Bestimmung durch das Sinnliche also zur Unfreiheit wird.
Freilich könnte man die Vernunft auch als ein Nicht-Ich
ansehen, indem sie der Vertreter eines schlechthin Überpersönlichen ist;
womit auch das Bestimmtwerden durch sie Unfreiheit wäre.
Das Leben ist in der immanenten Abfolge seiner Momente
(vielleicht) notwendig verknüpft; die Inhalte sind, als Welten, jeweils in
sich logisch und sachlich verknüpft.
Aber voneinander sind diese Verknüpftheiten unabhängig,
in Hinsicht auf die andere ist jede frei.
Nun würde die Schwierigkeit, das Wirkliche mit dem Wert
zu verbinden, vielleicht nicht bestehen, wenn überhaupt nur eine Wertart zu
verwirklichen wäre.
Wäre das wirkliche Dasein, soweit wir aktiv an ihm
beteiligt sind, nur dem Guten zugängig, so könnte es eben tale quale unter
der Kategorie des positiven Wertes betrachtet oder in sie transponiert
werden, und es würde keiner Freiheit bedürfen; ebenso wenn es nur unter die
negative Wertform rücken, wenn es wertmäßig nur böse sein könnte.
Weder Engel noch Teufel bedürfen der Freiheit.
Aber dass die menschliche Wirklichkeit sowohl gut wie
böse sein kann, das scheint ihre Geschlossenheit in noch ganz anderer Weise
zu zerreißen, das fordert noch ein Prinzip außer der Wirklichkeit und dem
Wert.
Dieses bewegliche, vermittelnde Glied ist
verantwortlich für Wert und sein Gegenteil.
In ihrer logischen Struktur sind Freiheit und
Notwendigkeit nur negativ zu charakterisieren: Freiheit dadurch, daß
etwas Anderes als das Wirkliche möglich ist, Notwendigkeit
dadurch, daß ein Anderes nicht möglich ist.
Wenn beide positiv sein sollen, müssen sie
Gefühle sein, mit denen wir das Wirkliche durchdringen. Alle
Notwendigkeit logischen Sinnes ist ja nur eine relative; die absolute
ist nicht nachweisbar.
Dennoch fühlen wir sie und aller Nachweis
könnte bestenfalls auf die Entstehung dieses Gefühles führen.
Daher kommt es, daß logisch zwingende Beweise uns
dennoch oft nicht überzeugen.
Nur als Erlebnisse haben Freiheit und
Notwendigkeit einen positiven Sinn.
Beide weisen auf Vergangenheit und Zukunft hin,
sind Gegensätze sowohl zur Gegenwart, die die Form aller Wirklichkeit
ist, wie zur Zeitlosigkeit, die auch nur ein ideell Wirkliches
bezeichnet.
Die Griechen waren das Volk der Gegenwart und der
Zeitlosigkeit, darum wußten sie nichts von Freiheit und Notwendigkeit.
Die µoira, die
eiµarµenh
und die Zyklik des Weltprozesses waren Tatsachen, durch die andere
Tatsachen bestimmt wurden, höchstens Grenzbegriffe, mit denen sie sich
der Schranken der Gegenwartswelt dunkel bewußt wurden.
Ist »Notwendigkeit« eigentlich noch etwas anderes
als Nicht-anders-sein-können, Nicht-anders-gedacht-werden-können?
Kommen wir über diese dürftige Negativität ihres
Sinnes hinaus? Gibt es Notwendiges als Positives?
Oder ist nur das Sein positiv und Notwendigkeit
entstünde, indem wir uns das Sein (das eben nicht notwendig ist) auch
als anderes denken können und nun die Verneinung eben dieses letzteren
Notwendigkeit heißt?
Dann wäre Notwendigkeit durch die Freiheit des
Geistes bedingt.
Der prinzipielle Fehler ist, daß man Freiheit als
einen - mindestens als Problem - einfachen oder eindeutigen
Begriff voraussetzt.
Daher die unsinnig verschiedenen, scheinbar
äquivalenten Lösungen.
Die Kantische Antinomie ist doch schon ein Hinweis
auf die Mehrheit seiner Bedeutungen, und zwar schon seines
metaphysisch-ethischen Sinnes für sich.
Er ist ein Sammelname wie Kunst, und es ist sehr
zweifelhaft, ob man ein sachlich Gemeinsames, das diese Namengleichheit
begründete, auffinden kann.
Vielleicht nicht einmal sehr wichtig.
Doppelte Bedeutung der Freiheit: Freiheit von
etwas, und Freiheit, weil nichts da ist, wodurch man gebunden ist und,
infolgedessen, wovon man frei sein könnte.
Beide sind etwas völlig Verschiedenes.
Die Totalität des Seins ist frei im zweiten Sinne,
und entsprechend alles, was ihr, wenn auch abgeschwächt, analog ist; die
individuelle Seele, das Kunstwerk.
Aber zugleich kommt auch der andere Sinn von
Freiheit fortwährend für die Seele in Betracht, und die Verwechslung und
das Durcheinandergehen beider ist der Grund von Konfusion und
Ratlosigkeit.
Die Erörterung des Freiheitsproblems kann nur die
zwei Erörterungen umfassen: wovon man frei ist und wozu man frei ist.
Ohne diese Relationen ist Freiheit etwas so Nichtiges, wie wenn man den
Ort eines Punktes suchen wollte, für den es kein Koordinatensystem gibt.
Da es unendlich viele Dinge gibt, von denen man
frei sein kann, so gibt es auch unendlich viele Freiheiten. Die Freiheit
von etwas generell anderem ist auch eine generell andere Freiheit.
Vielleicht ist dies die generell notwendige
Erkenntnis: dass es gar nicht Freiheit überhaupt gibt, sondern eine
Freiheit zu etwas und von etwas Bestimmtem.
Fussnoten
1
Das Wissen, das, obwohl es sich seiner
durchaus als Wissen bewusst ist, die Frage nach seiner Sicherheit oder
Unsicherheit gar nicht in sich einfließen lässt, ist eine häufigste und
ganz generelle Tatsache, die nur von der wissenschaftlichen
Erkenntnistheorie nicht in Betracht gezogen wird - begreiflicherweise, da
diese nur die wissenschaftliche Erkenntnis zu ihrem Gegenstand zu machen
pflegt.
Für die Wissenschaft sind ihre Inhalte nur nach der
Seite ihres Erkanntwerdens von Bedeutung und sie hat deshalb ein primäres
und niemals auszuschaltendes Interesse an dem Sicherheitsgrade ihres
Erkennens.
Für das Wissen aber, das nicht um des Wissens willen,
sondern durch die Lebensverflechtung, das Interesse an seinen Inhalten als
solchen, seine inneren und äußeren Ergebnisse gesucht wird, steht es
anders.
Begrifflich angesehen musste freilich auch hier die
erste Frage sich auf die Gewissheit richten und diese den Wert des Wissens
bestimmen.
Allein diese logische Frage wird - außer in einzelnen
Fällen, in denen aber auch nicht das Interesse des Wissens als solchen,
sondern ein anderweitiges sie herbeiruft - hier nicht gestellt, sondern
das Bild eines Seins, einer Qualitätsbestimmung, einer Relation erzeugt
sich, hinsichtlich des Gewissheitsproblems sozusagen noch undifferenziert,
als hätte es vom Baum der Erkenntnis nach ihren logisch-theoretischen
Erfordernissen noch nicht gegessen; der Vorstellungsprozess macht
diesseits der Frage nach Sicherheit oder Unsicherheit halt, und dies ist
nicht eine psychologische Unzulänglichkeit, eine Unbewusstheit oder eine
Vernachlässigung, die nicht sein sollte, sondern jenes Problem der
Sicherheitsskala muss aus einer ganz anderen geistigen idealen Ordnung
erst an dieses einfache Wissen herangebracht werden und liegt mit seinen
unendlich abgestuften Beantwortungen überhaupt nicht in dessen eigener
Entwicklungslinie.
Ist aber die Frage überhaupt erst einmal als
prinzipielle aufgeworfen, so macht ihre logische Selbstverständlichkeit
und Unentbehrlichkeit es uns Schwer, wieder von ihr abzusehen und uns
bewusst sozusagen in den erkenntnistheoretischen Unschuldszustand
zurückzuversetzen, in dem freilich das weit überwiegende Quantum unseres
Wissens sich bewegt.
Insbesondere verbirgt sich uns diese Beschaffenheit
seiner durch den Zwang der Sprache, dieses in Hinsicht der Sicherheit noch
naive Erkennen ebenso auszudrücken, wie das durch die erkenntniskritische
Frage hindurchgegangene und als kategorisch erkannte.
Allein dieses Schicksal, einen in bestimmter Hinsicht
undifferenzierten Inhalt sprachlich ebenso zu bezeichnen, wie eine der
gegensätzlichen Färbungen, in deren Alternative er dann nach geschehener
Differenzierung gestellt ist - dieses Schicksal ist unserer Geistigkeit
vielfach nicht erspart.
Ich erwähne nur einen Fall, der auch inhaltlich nicht
ganz ohne Beziehung zu dem vorliegenden ist.
Vom verneinenden Urteil hat man behauptet, es setze das
bejahende voraus, sei ein Urteil über ein Urteil; »S ist nicht P« bedeute:
»es gilt nicht, es darf nicht angenommen werden, dass S P sei.« Ich glaube
nicht, dass dies die richtige Deutung ist, vielmehr dass das bejahende und
das verneinende Urteil zwei gleich ursprüngliche Setzungen, zwei parallele
und nur entgegengesetzte Beziehungsarten zwischen S und P sind.
Freilich liegt ihnen der logischen Struktur nach das
Urteil S ist P zugrunde, aber nicht als bejahendes, sondern als rein
formale ideelle Verbundenheit von S und P, vor der differenzierenden
Frage, ob diese Verbindung gültig oder ungültig ist.
Anders ausgedrückt: Verbindung heißt hier zunächst nur
Beziehung in dem weitesten Sinn, in dem sie die Verbindung im engeren
Sinne und die Getrenntheit einschließt; denn auch Getrenntheit ist doch
ein Bezogensein, etwas ganz anderes als einfache Fremdheit und
gleichgültiges Nebeneinander.
jenes formal fundamentale S ist P kommt in der Praxis
hauptsächlich nur als Schulbeispiel vor.
Wenn man die Satzform rein als solche erläutern will
und sich dazu dieses Urteils bedient, so kommt dabei eben absolut nicht in
Frage, ob es inhaltlich gültig oder ungültig ist, es hat genau die
Dignität eines einzelnen Begriffs, dessen logischer Sinn davon nicht
betroffen wird, ob er innerhalb oder außerhalb der Welt des Seins stehe.
In dem Satz, der das negative Urteil umschreiben soll:
Es ist nicht wahr, dass S P ist - ist der abhängige Satz von dieser in
bezug auf Richtigkeit indifferenten Qualität und erreicht eine
differentielle erst durch den Hauptsatz; so dass auch der bejahende Satz S
ist P entsprechend umschrieben werden muss: es ist wahr, dass S P ist und
erst so zu seiner Bedeutung als bejahender gelangt.
Dass man nicht diese weder bejahende noch verneinende
Satzart ins Auge gefasst hat, als man erkannte, dass die logische Struktur
des verneinenden Urteils die Form habe: es darf nicht geglaubt werden,
dass S P sei, - dass man diesen letzteren vielmehr schon für einen positiv
bejahenden hielt, dessen Bejahungsqualität erst durch den Hauptsatz wieder
rückgängig gemacht wird, - das liegt, wie ich glaube, wesentlich daran,
dass man für jenes vordifferentielle Urteil keinen anderen sprachlichen
Ausdruck hat, als für das schon bejahte.
Ob der Satz S ist P jene oder diese Bedeutung hat, ist
ihm selbst in seiner grammatikalischen Form nicht anzusehen, und so konnte
diese, die man eben als »bejahende« im positiven, den Inhalt als gültig
setzenden Sinne anzuwenden gewohnt ist, sich vor die andere schieben, die
sich als noch unentschiedenes Material gleichmäßig der positiven wie der
negativen Qualifizierung bietet.
Ich meine natürlich nicht, dass diese Satzart eine
ideelle Hilfskonstruktion des gleichen Wesens ist, wie jenes naiv
praktische Erkennen, das sich innerhalb seiner eigenen und ursprünglichen
Kategorie der Frage nach seinem Sicherheitsmaße nicht stellt.
Weil aber dieses Erkennen sich sprachlich von
demjenigen nicht unterscheiden lässt, das, nach herangebrachter Frage und
Entscheidung, positiv als sicheres, in ausdrücklichem Gegensatz zu dem
ungewissen, gemeint ist, - so sollte eine Analogie nur das hierin gelegene
typische Schicksal unseres Geistes dartun: dass ein Inhalt aus einer
einheitlich umfassenden, innerlich ungeschiedenen Formung heraus in zwei
polar entgegengesetzte Formen übergeht, von denen die eine ihren
sprachlichen Ausdruck (vielleicht auch noch andere Beziehungen) mit jener
undifferenzierten teilt und dadurch die Klarheit über das Wesen dieser
letzteren leicht hintanhält.
Dieser Primärcharakter unseres Wissens könnte eher
Zweifeln begegnen, wenn sich seine Form nicht auf anderen Gebieten
wiederholte und damit auf eine ganz prinzipielle Bestimmtheit unserer
Entwicklung hinwiese.
Das Leben erzeugt und benutzt gewisse Funktionen oder
Formen, die seinem Verlauf zunächst ganz unmittelbar einhaften - diesem
einfach vorwärtsdrängenden Verlaufe, den man nachträglich in
Triebmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zerlegen mag, ohne mit diesen Begriffen
sein Wesen zentral oder erschöpfend zu treffen.
Es handelt und erkennt, es liebt und hasst, es schafft
und zerstört, und bewegt sich damit eben nur in den tausend
Wellengestalten seiner unmittelbaren Strömung.
Sobald nun diese Aeußerungen einmal da sind, erfasst das
Bewusstsein sie noch von anderer Seite als von der des Lebens her, dessen
Innerlichkeit sie heraufgetrieben hat und trägt und dem sie so
gewissermaßen abstandslos aufliegen.
Von Bedeutungskategorien her, deren wesentlichste
vielleicht der »Wert« ist, erhalten sie Einrangierungen,
Verflochtenheiten, Beleuchtungen, die in der Regel in polare aber graduell
vermittelte Gegensätze auseinander treten.
Nun sind sie schön oder hässlich, subjektiv oder
objektiv, sittlich oder unsittlich, großartig oder unwesentlich, gesichert
oder problematisch.
Dass sie diese Einstellungen erfahren, ist zwar auch
wieder eine Lebensfunktion, allein ihrem eigenen Sinne nach, dem
inhaltlich damit gemeinten nach, stehen sie in einer anderen Schicht, nun
nicht mehr in der des einfachen Daseins, in der sie dem unmittelbaren
Leben zugehörten oder es ausmachten.
In den Verläufen der Praxis oder der Gefühlsbewegungen
entsteht eine Vorstellung in uns und bestimmt unser Verhalten, als ob sie
(so müssen wir es von den nachträglichen Kategorien her ausdrücken) wahr
wäre.
Sehr oft ist sie es nicht, allein keineswegs immer
verhindert dies sie, ihren Dienst in diesen Zusammenhängen zu tun.
Auch die Entscheidung, ob sie subjektiv oder objektiv
sei (was mit der zwischen irriger und richtiger ja nicht zusammenfällt),
liegt der Vorstellung in ihrer primären Vitalität fern.
Diese Entscheidung kann ihr natürlich abverlangt
werden, aber sie ist ihr nicht immanent, in der Struktur ihrer
Unmittelbarkeit nicht aufzufinden, so primär sie auch für die
metaphysische oder wissenschaftliche Reflexion überhaupt sei.
Der künstlerisch schöpferische Drang der Menschen lebt
sich unzählige Mal in Gebilden aus, die - wie Goethe schon bemerkt hat -
sich lange Zeit hindurch dem Kriterium der »Schönheit« noch nicht stellen,
ohne für jetzt jenem Drange weniger zu genügen, an die aber sehr vielfach
der aufwachsende Schönheitsbegriff seine positiven Inhalte anpasst.
Unser Handeln geht in weitestem Umfang als eine Art
Naturereignis vor sich, in einem Jenseits von Gut und Böse, das freilich
ein völlig anderes ist, als wenn es eine besondere Stellungnahme nach
eingetretenem Bewusstsein dieser Polarität bedeuten soll.
Denn ich muss wiederholen, dass es sich nicht um ein
Beiseiteschieben, aus Absicht oder Flüchtigkeit, dieser Kategorien
handelt, auch nicht um einen synthetischen Standpunkt, der das
Entgegengesetzte in eine höhere Einheit aufhebt, sondern um einen vor
Analyse und Synthese überhaupt gelegenen.
Darum vielmehr, dass die vom Leben erzeugten und es
bildenden Inhalte innerhalb seiner prinzipiell anderen Charakters sind,
als nach ihrer Einstellung in die Ordnung der Ideen.
Ob metaphysische Weltanschauung auch diesen Gegensatz
noch übergreift, ob sie die Idee aus dem Leben oder das Leben aus der Idee
zu entwickeln vermag, ob es vielleicht der höchste Begriff Gottes sei, den
Schnittpunkt oder den gemeinsamen Quell beider Ordnungen darzustellen -
das braucht hier nicht erörtert zu werden.
Nur dieses schlichte Dasein der Inhalte in der Form des
Lebens sollte klar werden, das in seiner Gesamtheit erst auf den Zusatz
einer ideellen Kategorie hin in jene Entscheidungen auseinandergeht, in
seiner Einzelheit sich auf einen bestimmten Punkt an oder zwischen den
Polen begibt.
Auf welchen, ist freilich kein Zufall, aber nicht in
ihr selbst, sondern in dem Verhältnis angelegt, das erst nach dem
Auftreten der Kategorien zwischen dieser und ihr in Frage kommen kann.
Die hier, wie gesagt, nicht behandelte Beziehung
zwischen Leben und Idee bringt es mit sich, dass bestimmte Vitalinhalte
als Genuss und von vornherein für den einen Pol der kategorialen Reihen
mit Beschlag belegt sind; an dem sozusagen positiven begreiflicherweise
dann, wenn das Leben an dem Punkt ihrer Erzeugung besonders konzentriert
und einheitlich ist.
Die von seiner quantitativ und dauernd mächtigsten
Strebung erzeugte Vorstellung wird in der Regel als die wahre, das die
große Lebensintensität bergende Gefühl als letzte ästhetische Instanz, die
vitale Unerlässlichkeit eines Wollens wird ihm sittliches Recht zu
verschaffen suchen.
Dies gilt natürlich nur mit vielen Ausnahmen, allein
oft genug, um sich als gewisser Instinkt und im Sprachgebrauch zu
verfestigen.
Und dies ist das allgemeine geistige Grundverhältnis,
dem, mit einer leicht einzusehenden Modifikation, unser theoretischer Fall
zugehört: dass die lebensmässig erforderte und erzeugte Vorstellung, vor
die Entscheidung Sicher oder Unsicher gestellt, ohne weiteres als sicher
gilt und funktioniert.
Dass der Inhalt solchen Vorwissens, objektiv angesehen,
immer unsicher ist und die Möglichkeit eines ganz überraschenden Verlaufes
bietet, ist eine darüber gesetzte Reflexion, die natürlich hier und da
auch in das Vorwissen selbst eintritt, aber sozusagen nur seinen
Aggregatzustand, aber nicht seine prinzipielle Bedeutung modifiziert.
Und eben diese prinzipielle Bedeutung leidet unter der
objektiven Unsicherheit seines Inhalts sowenig, wie das Entsprechende an
dem Gedächtnis geschieht.
2 Zu Freiheit: Das indiv. Gesetz, S. 130,
131, 146 und 147 nach dem Druck in Logos Bd. IV (1913) S. 117ff. [GSG 12,
S. 431, 432, 450, 451, 452]; nach dem Druck in »Lebensanschauung, vier
metaphysische Kapitel« (1918), S. 220 und 221 [GSG 16, S. 402, 403, 404].
3 Individuelle Kausalität, Studien zum
transzendentalen Empirismus von Dr. Sergius Hessen, Ergänzungsheft Nr. 15
der Kant-Studien, Berlin 1909, S. 79.