Georg Simmel: Der platonische und der moderne Eros
ex: Georg Simmel: Fragmente und
Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dr. Gertrud Kantorowicz.
München: Drei Masken Verlag 1923, S. 125-146.
Die Geschichte der Philosophie zeigt die eigentümliche
und nicht gerade zum Stolz berechtigende Tatsache, dass sie ihren eigenen
Anspruch auf die Tieferwertung des Lebens an einer Reihe der wichtigsten und
fragwürdigsten Lebenselemente unerfüllt gelassen hat.
Sie belehrt uns nicht - außer in gelegentlichen
Bemerkungen - über den Begriff des Schicksals, nicht über die rätselvolle
Struktur dessen was wir »das Erleben« nennen, bis zu Schopenhauer sogar
nicht über den tiefen Lebenssinn von Glück und Leiden, insoweit er moralisch
bedeutsam ist.
Am meisten vielleicht hat sie von den großen vitalen
Mächten die Liebe vernachlässigt - als wäre diese eine Art Nebensache, nur
wie Abenteuer der subjektiven Seele, unwürdig des Ernstes und der strengen
Sachlichkeit philosophischer Bemühung.
In Wirklichkeit verrät sich in der Bevorzugung des
innerlich oft behandelten Erkenntnisproblems vor dem erotischen Problem
gerade eine Subjektivität der Philosophen.
Denn da sie persönlich Menschen des leidenschaftlichen
Erkenntnisdranges, aber selten wohl des leidenschaftlichen Liebesdranges
sind, so spiegelt sich darin, dass sie fortwährend das Erkennen, höchst
selten aber die Liebe auch zum Gegenstand ihres Denkens machen, gerade ihre
subjektive Wesensart.
Würden sie ihre Aufgabe, für die man noch kein besseres
als das etwas altmodische Wort: Lebensweisheit - hat, wirklich umfassen und
also ihre Bemühungen gemäß der Mächtigkeit der Lebenselemente abstufen, so
würde sich das Gewicht dieser Bemühungen in der überraschendsten Weise an
die Frage nach dem seelischen, schicksalsmäßigen, metaphysischen Sinn der
Erotik heften müssen.
Der einzige der großen Philosophen,
der sich die Frage
nach dem seelischen, schicksalsmässigen und metaphysischen Sinn der Erotik gestellt und aus letzten Tiefen heraus beantwortet hat, ist Plato.
Denn Schopenhauer, den man neben ihm allein nennen
könnte, hat nicht eigentlich nach dem Wesen der Liebe, sondern der
Sexualität gefragt.
Plato aber sah, dass die Liebe eine absolute Lebensmacht
war, und dass ein Erkenntnisweg deshalb durch sie hindurch zu den letzten
Idealen und den metaphysischen Potenzen führen müsse, zu all den Stellen,
an denen das erlebte Leben überhaupt diesen Potenzen verhaftet ist.
Freilich sind die Kurven und die Endpunkte dieses Weges
andere, als die vom modernen Menschen begangnen - auch wenn sein
Ausgangspunkt, die unmittelbare subjektive Tatsache des Liebesgefühls
nicht den gleichen Wandel erfahren hätte.
Um so entscheidender aber zeichnet ihre philosophische
Deutung den Unterschied zwischen den letzten Absichten des griechischen, in
Plato aufgegipfelten Geistes und denen, die das Gesetz des modernen Geistes
vorschreibt.
Der Grieche schaut sein Weltbild gemäß der Idee des
Seins, des einheitlichen wirklichen Kosmos, dessen in sich geschlossene
Plastik er als göttlich verehrte.
Auch wo sein Denken ihn auf die Weltprinzipien der
Bewegtheit, der Relativität des Dualismus führte, bestimmte doch das feste,
allbefassende, selbstgenügsame und anschauliche Sein die letzte Form und die
letzte Sehnsucht seiner geistigen Weltgestaltung.
Seit dann das Christentum die Bedeutung der Menschenseele
ins Unendliche gesteigert und alle Daseinswerte in dem einen persönlichen
Gott gesammelt hat, der der Welt gegenübersteht - seitdem ist die feste
Abgerundetheit des Kosmos zerrissen, der in jedem Teile als einfach
daseiender wertvoll und göttlich war.
Das Dasein ist zwischen den beiden Polen: die Seele und
Gott ausgespannt oder eigentlich von ihnen eingesogen, und die
Gottesvorstellung brauchte nur im Lauf der Jahrhunderte ihre ursprüngliche
Macht zu verlieren, damit die Seele sozusagen allein übrigbliebe; was dann
im modernen Idealismus, für den die Welt nur als Vorstellung innerhalb eines
sie anzeigenden Bewusstseins besteht, reinste Aussprache gewinnt.
Dass so die Seele eine ursprüngliche Produktivität
besitzt, liegt dem theoretischen Bewusstsein des Griechen fern - so
unermesslich produktiv auch ihre Wirklichkeit war.
Dazu war dies Denken zu sehr dem lebendigen Sein des
Kosmos verhaftet, in dessen Einheit die Seele wuchs, zu unbedingt lebten sie
an der anschaulichen Festigkeit des Objekts, um dem Subjekt ein unabhängiges
Schöpfertum zuzutrauen.
Indem damit eben der Gegensatz von Subjekt und Objekt,
Ich und Welt noch der späteren Entschiedenheit entbehrt, ist auch die
praktische Wendung dieses Gegensatzes: Egoismus und Altruismus weniger
schroff, sei es, dass ein naiver Egoismus seiner überhaupt nicht bewusst
wird, sei es, dass das Ich sich von dem Allleben, von kosmischen und idealen
Notwendigkeiten getragen fühlt.
Dies ist die unterste Schicht der Züge, aus denen sich
die Charakteristik der platonischen Ethik gegenüber der modernen
entwickelt.
In scheinbarem Widerspruch gegen die ungebrochene, die
Wirklichkeit und ihren göttlichen Sinn zusammenschließende Einheit des
griechischen Weltbildes - einem Widerspruch, dessen Lösung hier nicht
erfragt wird - hat Plato allen Wert und alle eigentliche Realität der Dinge
in das Reich der Ideen verlegt, das heisst der metaphysischen Substanzen, die das
metaphysische Gegenbild unserer Begriffe von den Dingen, die Träger der
Wahrheit über sie sind.
Bedeutung und Wert kommt dem Irdischen nur zu, insoweit
ein Strahl jenes Reiches an ihm aufleuchtet und jedes Element dadurch an
seiner andern, absoluten Natur, wie unvollständig auch immer, teil hat.
In einem Mythos, in dem wir die Mischung von ernsthaftem
Glauben und dichterischer Phantastik wohl nie klar durchschauen werden, lässt
Plato die Seele in ihrer vorirdischen Existenz jenes Reich bewohnen - einem
alten Traum der Menschheit seine klassische Form gebend - und dass sie nach
ihrem Sturz auf die Erde die irdischen Wesenheiten erkennen und dass sie sie
lieben kann, verdankt sie der dunklen, aber doch merkbaren Erinnerung an
jene himmlischen Urbilder, deren schwacher Abglanz jeweils auf den irdischen
Einzelheiten ruht.
Wenn nun - wie es für Plato selbstverständlich ist - die
Schönheit eines Menschen uns veranlasst ihn zu lieben - zunächst seine
Körperschönheit, dann aber etwas schüchterner zugegeben auch die seelische
-, so ist es, weil er in uns die Erinnerung an die einst geschaute Idee der
Schönheit, an das Urbild des Schönen überhaupt wachruft, zu dem wir von
unserer Präexistenz hienieden eine ewige Sehnsucht in uns tragen.
Die Schönheit, von allen Ideen die einzig sichtbare,
führt die Idee überhaupt in das Irdische hinüber, die Liebe führt auf der
gleichen Straße das Irdische zur Idee hinauf.
Hier sind, wie in einem Brennpunkt alle Züge gesammelt,
die uns das Besondre des Platonischen Geisteswesens auszumachen scheinen.
Zunächst das Eingestelltsein des Blicks auf die feste skulpturhafte Substanz.
Für uns ist das Schön-Sein eine Eigenschaft des Menschen,
eine Relation der Teile seiner Erscheinung, vielleicht eine symbolische
Auswirkung seines innerlichen Lebens, vielleicht sogar nur die Reaktion, die
er im Bewusstsein des Anschauenden aufruft.
Für Plato muss sie selbst ein Gegenstand sein, sie muss
wie eine Substanz angeschaut werden können, um Wirklichkeit und
Weltbedeutung zu haben.
Und da sie an dem empirischen Menschen so nicht besteht,
so muss die Seele sie eben zuvor in solchem plastischen, greifbar seienden
Eigenbestand geschaut haben; der schöne Mensch ist nur die empirisch
notwendige Vermittlung, um die Erinnerung daran aufzurufen.
Denn an ihm ist die Schönheit etwas Entstehendes und
Vergehendes, zudem nie in absoluter Vollkommenheit Vorhandenes.
Wenn er also auch die Leidenschaft bis zu ihrem höchsten
Grade entflammt, so gilt sie doch nicht eigentlich ihm; sondern die Liebe
der höheren Menschen bedarf des dauernden, plastisch sichtbaren und in sich
geschlossenen Gegenstandes.
Weil aber die irdische Welt diesen nicht bietet, so ruft,
wobei er aber doch dem
p a a u t a
r e i verhaftet bleibt, der schöne Mensch die
Liebe nicht hervor, weil er schön ist, sondern weil von jener
substantiellen, in ihrer Reinheit und Substantialität erschauten Schönheit
ein Strahl auf ihn gefallen ist und auf ihm weilt.
Der dynamisch vitale Charakter des modernen
Lebensgefühls, und dass es sich uns als eine Art der Lebensbewegtheit
darstellt, bei aller Beharrung und Treue doch in dem stetigen Fluss
aufgegangen und ihrer immer neu sich gebärenden Rhythmik folgsam - dies
widerstreitet dem auf die Substanz und ihre Umrissewigkeit gerichteten Sinn
der Griechen.
Die große Aufgabe des modernen Menschen: das Ewige als
etwas zu begreifen, das dem Flüchtigen unmittelbar einwohnt, ohne dass es
durch seine Verpflanzung vom Transzendenten auf den irdischen Boden etwas
einbüßt -, ist ihm noch durchaus fremd.
Dies hängt ersichtlich mit dem
hervorgehobenen Unterschied des griechischen gegen das moderne Denken zusammen: dass
jenes ein viel geringeres Bewusstsein von der Produktivität
der Seele enthält.
Denn Seele, wie wir sie fassen, heißt: ein fortwährendes
Schöpfertum üben.
Der Grieche muss sich sozusagen mit all seiner
tatsächlichen Geistesmacht und Selbständigkeit immer an etwas halten.
Dass sein Lebensgefühl durch das
Eingesenktsein in den Kosmos bestimmt ist, äußert sich darin, dass der Geist
jenes Denkens und Fühlens unvermeidlich dem gegebenen Dasein irgendwie
gegenübertritt, dass er mit diesen Funktionen nun aber immer nur ein
Gegebenes erfasst oder nachbildet, allenfalls umformt.
Der seelische Gehalt stellt sich dem Griechen dar, als von
einem Daseienden her bezogen, nicht von der Seele selbstschöpferisch
erzeugt.
Von hier aus gesehen, erwächst für Plato die Theorie der
Wahrheit und die der Liebe in genauer Parallelität.
Wahrheit ist ihm ein - wenn auch in bestimmtem Verhältnis
zur Wirklichkeit stehendes Eigenprodukt unserer Erkenntniskraft, die
allgemeinen Begriffe aber, die die Wahrheit tragen, nicht selbstgeschaffene
Gebilde aus dem Erfahrungsstoff; sondern sie sind nur wiedererweckte
Erinnerungen, die die Seele im Unbewussten bewahrte, seit sie in ihrer
Präexistenz ihre metaphysischen Gegenbilder, die Ideen, gleichsam die
Wahrheit in Substanz, geschaut hat.
Und so ist ihm die Liebe ihm kein freier Akt der Seele, zu
dem sie zwar von außen angeregt wird, der aber unberechenbar und
unbezwingbar nur aus ihrer innersten Stimmung und Kraft erstünde, sondern
sie ist eine Art logischer Notwendigkeit, die jene Schauung der reinen
Schönheit ihr auferlegt, sobald deren einstmaliges Gegebensein ihr beim Anblick
einer irdischen Erscheinung der sozusagen ein Teil oder ein Reflex jener
absoluten Schönheit augenscheinlich einwohnt, wieder auftaucht.
Darum ist es immer nur der Anblick der Schönheit, der
Liebe erzeugt, und der bedeutsame umgekehrte Fall entgeht ihm, der das
Geheimnis der Liebe in einer weit tieferen Schicht erfasst: dass wir
denjenigen schön finden, den wir lieben - und der freilich nur durch eine
Spontaneität, ein schöpferisches Selbstleben des Liebesaffekts denkbar ist.
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Auf Plato selbst nun zurückkommend, so bricht die aktive
Kraft, die sein Bild des Liebeserlebnisses im Fundament vermissen ließ, doch
gleichsam am andern Ende irgendwie durch.
Dem griechischen Empfinden nicht widersprechend, dem
späteren modernen Menschen schwer nachfühlbar, war der Gegenstand der
platonischen Liebe nicht die Frau, sondern der Jüngling.
Wir dürfen dabei freilich nicht ohne weiteres an eine
Form denken, die unter unser Strafgesetz fällt.
Vielmehr hält sich die Beziehung, wie Plato sie in ihrer
Vollkommenheit denkt, nicht nur diesseits dieser Grenze, sondern auch, wo
sie sie überschreitet, wird das sinnliche Element von dem geistigen in einer
Weise resorbiert, durchdrungen und gehoben, dass die Beziehung in ihrer
Gesamttendenz eine geistig idealische, wenn auch für uns noch immer höchst
fremdartige bleibt.
Wie die Verhältnisse in Griechenland nun einmal lagen,
musste gerade jene metaphysische Begründung der Liebe, ihre Gleichsetzung
mit der Sehnsucht nach einem schlechthin Übersinnlichen, Nurgeistigen -
gerade sie musste als ihren geeigneten Gegenstand den Mann erscheinen
lassen.
(Ausdrücklich sagt Aristophanes von den Männerliebhabern:
»Nicht aus Schamlosigkeit handeln sie so; nein, ihr Mut, ihre Mannhaftigkeit
liebt ihresgleichen«.) Denn ihm war die höhere Vergeistigung eigen - man
denke daran, wie die fortwährende gymnastische Pflege und Ausbildung des
männlichen Körpers auch diesen vergeistigen, ihn zum Ausdruck der
Willensenergie, der Gefühlsweise, der ganzen inneren Beschaffenheit machen
musste, während die heutige durchgängige Verhülltheit, die allen Ausdruck
auf das Gesicht konzentriert, und die fast durchgängig auf Reinlichkeit
beschränkte Pflege den Leib als einen nur noch materiellen, in sich
gleichgültigen Erdenrest mitschleppen lässt.
Die Fähigkeit des abstrakten Denkens, die dem
platonischen Menschen überhaupt den Weg zu den höchsten Wertgebieten bahnt,
fand er nur bei Männern, nur sie konnten ihm Weggenossen sein.
Und es ist einer der tiefsten Züge des griechischen
Wesens in seinem Gegensatz zum modernen, dass sich ihm die Verbindungen
zwischen den Menschen vor allem auf der Gleichheit des Seins, der
Gemeinsamkeit der Ziele gründet, statt - wie es die neuere Welt mehr und
mehr herausgearbeitet hat - auf der gegenseitigen Ergänzung des
Verschiedenen.
Das in gewissem Sinne unserer Liebe ähnliche
Freundschaftsgefühl der Griechen (da es auf Gegenseitigkeit und
Individualität beruhte), setzte die Gleichheit der Freunde voraus.
Der Gedanke, dass noch in der Freundschaft die männliche
und die weibliche Struktur angedeutet sei, liegt ihnen fern.
Auch soweit ein hellenisches Nationalbewusstsein
existierte, scheint es sich vielmehr auf die Gleichheitsmomente der Stämme,
als auf die aus der Verschiedenheit sich ergebende Einheit gestützt zu
haben.
Hier liegt ein entscheidendes Motiv der seelischen
Struktur, das ebenso die Männerliebe der Griechen mindestens ermöglichen
half, wie es sie dem späteren Menschen fernrückt.
Dass das Ewig-Weibliche den immer strebend sich
bemühenden Mann hinanzieht, dass ihm, wie Goethe es von sich gesteht, die
Frauen das einzige Gefäß waren, in das er seine Idealität hineingießen könne
- das ist ungefähr das Gegenteil von dem, was der platonische Mensch,
vielleicht was der typische Grieche überhaupt empfand.
Aber man begreift, dass die sozusagen praktische Seite
dieser Liebe - immer nur als die des Älteren zum Jüngeren gedacht - auf
Erziehung ging, darauf, den Liebling auf die höchste geistige und
persönliche Stufe zu heben, sich in ihm den Genossen im Streben zur Idee
heranzuziehen.
Alle Aktivität und Produktivität, von der seelischen
Wurzelschicht des Gefühles selbst ausgeschlossen, verpflanzte sich in diese
pädagogische Bestrebung.
Sie und wohl die Selbstgenügsamkeit des Gefühles als
solche erfüllte den Sinn dieser Liebe, die deshalb in ganz anderer Weise als
die moderne vor Sentimentalität geschützt war.
Alle Heftigkeit der Liebesleidenschaft, die sich in der
Schilderung Platos malt, gilt dem Überpersönlichen der Idee
des absolut Guten und Schönen, die sich in der Person des Geliebten
gewissermaßen zufällig und immer fragmentarisch verirdischt hat.
Es ist, als ob diese Deutung auf ein höchstes
Vernunftmäßiges hin, auf die Idee, die das Gegenbild unserer rationalen
Begriffe und durch sie zugängig ist, das Irrationale der Leidenschaft
rechtfertigen sollte.
Das Entscheidende von der modernen Empfindung
Geschiedene ist, dass die erotischen Strahlen das geliebte Individuum nur
passieren, ihren Brennpunkt aber oberhalb seiner haben.
Plato bezeichnet die Liebe als einen »Dämon«, das heisst als
ein Wesen, das zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen vermittelnd, ihre
Berührung bewirkt.
Während für uns die Liebe nur zwischen Menschen vermittelt,
verlegt er, auch während sie dieses letztere tut, eben das vermittelnde
Moment aus ihnen heraus in die Beziehung zum Überindividuellen.
Das letzte Ziel ist das Erblicken der Schönheit
selbst, die Liebe ist nur der Gehilfe der
s u n e r g o V dazu.
Und darum kann Plato weiter lehren, dass der vollendete
Erotiker an keiner individuellen Schönheit halt mache, sondern in der einen
die gleiche Schönheit erkenne wie in dem zweiten und jedem anderen und dass
es deshalb sklavenhaft und töricht sei, das Gefühl ausschließlich an einen
einzelnen schönen Menschen zu binden; in das »große Meer der Schönheit«
überhaupt wird er seine Liebe ergießen.
Ihm liegt fern, was uns als die definitive Höhe der Liebe
erscheint: dass sie gerade nur diesem unvertauschbaren Wesen gilt, dass
auch, wo äußere Schönheit sie entzündet, es gerade nur diese individuelle
Geformtheit ihrer ist, und dass, wenn sie dies einmal getan eine objektiv
gleich große uns nicht zugleich erotisch berührt.
Für uns ist die Schönheit der Individualität und die
Individualität der Schönheit eine untrennbare Wirkungseinheit, und was uns
am tiefsten von Plato trennt, ist, dass ihm Individualität und Schönheit
ablösbar sind und gerade die Liebe den Trennungsschnitt zwischen ihnen
führt; dass sie die Schönheit ergreift und die Individualität draußen lässt.
Die Entwicklung, die der Platonismus in der Renaissance
gefunden hat, sucht mit seiner metaphysischen Natur den Individualismus zu
verknüpfen, in dessen Zeichen die Renaissance gesiegt hat.
Auch hier wird eine vor der irdischen gelegene Existenz
der Wesen vorausgesetzt - sei es, dass der geliebte Mensch damit in einer
Vollkommenheit, Bedeutung und Reinheit leuchten soll, für die die nur
empirische Erscheinung keinen würdigen Ausdruck hergibt, sei es, dass sich
in einer jenseitigen Begegnung das Fatum der irdischen verzeichnet.
So sagt Petrarca über das Porträt der Laura von Simone
Memmi - so Michelangelo von der geliebten Frau.
Jetzt ist es also nicht mehr die allgemeine Idee der
Schönheit, die in jenem »überhimmlischen Raume« erblickt wird, sondern der
individuelle Mensch selbst: nicht mehr die Überhöhung der Persönlichkeit zu
einem unindividuell Allgemeinen wird von Plato entlehnt, wohl aber die der
irdischen Form zu einer transzendenten.
Zweifellos ist dies eine gleichsam mittlere Vorstellung,
die zu unserem, in die konkrete Individualität sich einwurzelnden
Liebesbegriff überführt.
Was auch diesem von Plato noch vererbt ist, ist das
Gefühl: in der Liebe lebe etwas Geheimnisvolles, jenseits der zufälligen
individuellen Existenz und Begegnung, jenseits des sinnlich aktuellen
Begehrens, jenseits auch der bloßen Gemütsbeziehungen.
- Sakrament der Ehe -. Freilich hat die Metaphysisierung
hiermit gerade nur die historisch-soziale Form ergriffen.
- Weil dem rationalen Denken Platons die Individualität
als etwas Unsubstantielles, All-Zuflüchtiges erschien, alle an sie
gehefteten Innenereignisse als freischwebende Willkür, meinte er jenem
Gefühl nur durch gänzliche Enthebung aus ihrer Sphäre genugzutun, durch das,
was uns gerade als Verflüchtigung der Liebe in ein Allgemeines erscheint.
Dennoch in dem letzten Fundament unseres Instinktes sind
auch wir dieser Gesinnung nicht untreu geworden.
Auch wir spüren in der Liebe eine metaphysische,
irgendwie zeitlose Bedeutung - nur dass wir uns nicht auf die einfache Art
des plastisch substantialistisch denkenden Griechen mit ihr dadurch abfinden
können, dass wir sie in einem jenseits ihres unmittelbaren Erlebnisses
lokalisieren.
Es meldet sich vielmehr auch hier das große Problem des
modernen Geistes: für alles das, was dem Sinne nach über die Gegebenheit der
Lebensphänomene hinausgeht, in ihnen selbst den Platz zu finden, statt es in
ein auch räumliches Außerhalb zu verlegen.
- Ding an sich - Michelangelo - Nietzsche - das Leben
enthält das, was mehr als Leben ist.
Keine Synthese des Endlichen und des Unendlichen, sondern
gewachsene Einheit des Lebens. -
In jenem Überindividuellen lag - das verkennen wir nicht
- ein Wert, eine Erlösung, ein Halt, worauf wir keineswegs verzichten.
Die Bemühung, dies ohne metaphysische Hypostasierung zu
retten, wendete sich zunächst an das Gattungsleben: dieses führe das
Individuum über sich hinaus, mache es zum Mitträger einer unendlichen
Entwicklung, in der die Impulse der Liebe ein Glied ihrer Kette an das
andere fügen.
(Ein neuerdings häufiges Motiv: Gattung, Gesellschaft als
Drittes oder Vermittlung zwischen Abstrakt-Allgemeinem und
Konkret-Individuellem.) Allein so zweifellos damit die Erotik der Enge des
Einzeldaseins entrückt wird, so genügt dies doch nicht.
Denn gerade in der von diesem Einzeldasein als solchem
gegebenen und genommenen Tiefe liegt ein Akzent, ein Definitives, der durch
seine gliedmässige Einstellung in eine darüber hinwegflutende
Gesamtentwicklung nicht er setzt werden kann.
Wie uns im Sittlichen das »individuelle Gesetz«
vorschwebt, die strenge Normierung des individuellen Verhaltens, das wir
doch nicht mehr in einen abstrakt allgemeinen Imperativ können einfangen
lassen - so muss es auch etwas wie ein individuelles Gesetz der Erotik geben;
in der unvergleichlichen Beziehung unvergleichlicher Individuen liegt eine
Bedeutung, die ganz auf sie beschränkt ist und doch ihr Oberflächenphänomen
überragt - nicht von einer allgemeinen Idee der Schönheit, des Wertes, der
Liebenswürdigkeit dominiert oder gerechtfertigt, sondern eben nur von der
Idee dieser individuellen Existenzen und ihrer Vollendetheit.
Und wenn wir sagen, dass dies jenseits ihres flüchtigen
Einzeldaseins wäre, so ist das jenseits nur eine unvollkommene Bezeichnung
der Form, in der es der individuellen Ausschließlichkeit dieser Liebe
einwohnt.
Ich betonte vorhin die Grunddifferenz: dass die
Schönheit, für uns eine Eigenschaft des Menschen, dem Wechseln und dem
Vergehen seines Lebens unterworfen, dem platonischen Denken zu einer
Eigenexistenz, einer im metaphysischen Sinne greifbaren Substanz wird.
Sieht man von dieser Übersteigerung ab und achtet auf die
Rolle, die die Schönheit noch unterhalb ihrer spielt, so mag man den oben
gemeinten Unterschied so ausdrücken: für die platonische Deutung heftet sich
die Liebe an eine benennbare Eigenschaft ihres Gegenstandes, an die
Schönheit, die als streng allgemein, in allen ihren Ausgestaltungen gleich
gedacht wird.
Uns aber liegt ihr letztes Geheimnis gerade darin, dass
es überhaupt keine einzelne Eigenschaft ist, die für sie haftbar ist - wie
es zuhöchst Meister Eckhardt in Bezug auf Gott ausdrückt: wir dürfen ihn
nicht lieben, weil er diese und jene Eigenschaften habe, sondern schlechthin
nur, weil er eben sei.
Mögen die Eigenschaften eines Menschen noch so wertvolle
sein, das Gefühl geht auf die dahinterliegende Einheit und Ganzheit und
zeigt seine Macht gegenüber allen liebeweckenden (nur die Brücke zu jener
Totalität bildenden) Einzeleigenschaften darin, dass die Liebe den Fortfall
all dieser überlebt; eine Möglichkeit, die freilich auch Plato in
fragmentarischer Weise andeutet, damit aber aus der Konsequenz seiner
Deutung der Liebe herausfällt.
Man hat viel von der Mystik in Platos Visionen der Erotik
gesprochen.
Das tiefste Mysterium unseres Weltbildes aber, die
Individualität - diese nicht zu analysierende, aus nichts anderem
herzuleitende, unter keinen höheren Begriff zu bringende Einheit,
hineingesetzt in eine sonst unendlich zerlegbare, berechenbare, unter
allgemeinen Gesetzen stehende Welt - diese Individualität gilt uns als der
eigentliche Brennpunkt der Liebe, die freilich gerade damit in die dunkelste
Problematik unseres Weltbegriffes gegenüber der rationalen Helligkeit der
platonischen Motivierung verflochten wird; und gerade sie wird von Plato
sozusagen übersprungen und an ihre Stelle das klare fassliche Verhältnis der
Seele zu dem Allgemeinen, qualitativ Bezeichenbaren der anschaulichen - wenn
auch nur in transzendenter Vision ganz anschaulichen Idee gesetzt.
Diese negative Bedeutung der Individualität ist das
definitiv Scheidende zwischen der platonischen und der modernen Erotik.
Auf sie führen alle die großen Motive hin, die sich
Platos Liebeslehre unterbauen, von ihr zweigen alle Bestimmungen ab, die
dieser Lehre ihre Färbung geben.
Unter ihnen steht obenan das für uns Erstaunlichste: dass
für diese Liebe die Gegenseitigkeit gar kein entscheidendes, innerlich
wesentliches Element ist.
Es kommt hier zum Ausdruck, dass die Griechen keinen
reinen Relationsbegriff haben.
Es entgeht ihnen, dass die Liebe die im Subjekt
bestehende Seite eines Verhältnisses ist.
Als Gegenseitigkeitsverhältnis ordnete man sie in die
Freundschaft (j i l i a ) ein.
Ferner deutet Plato an, dass auch in dem Geliebten ein
gewisses Maß von Gegenliebe wie durch Ansteckung oder Dankbarkeit entsteht,
aber dies ist nur akzidentiell und ohne Bedeutung für die Erotik des
Liebenden selbst; deren Kraft und Art ist von Erwiderung unabhängig und
mildert die Einsamkeit ihrer Selbständigkeit nur, indem sie sich dem Reich
der allgemeinen Ideen verknüpft.
Aber die Idee, der diese Liebe eigentlich gilt, liebt
nicht wieder und so auch nicht ihr irdischer Repräsentant, an dem die Liebe
die erste Station macht.
Das einzigartige Wertverhältnis, das sich aus Liebe und
Gegenliebe baut, kommt für Plato nicht in Betracht, und dass der platonische
Sokrates die Behauptung: der schöne Jüngling täte besser, mit dem
Nicht-Liebenden, nur Begehrenden, wenn auch nicht im bloß sinnlichen Sinne
Begehrenden, in Beziehung zu treten, als zu dem leidenschaftlich Verliebten
- dass er diese Behauptung überhaupt ausführlich behandelt, wenn auch um sie
entrüstet zu widerlegen, das ist für uns etwas kaum noch Nachfühlbares.
Der griechische Eros ist ein Habenwollen, freilich auch
in dem edleren Sinne, an dem Geliebten ein Gefäß für ideale Belehrung und
sittlich höher bildende Kultivierung zu haben.
Darum kann ihm die Liebe der mittlere Zustand zwischen
Haben und Nicht-Haben sein; folgerichtigerweise müsste sie also mit dem
Haben erlöschen.
Wollten wir aber seiner Fixierung der Liebe vor dem Haben
die tiefere Deutung geben, dass ihm das »Haben« als ein unerreichbares, wie im Unendlichen liegendes Ziel erschien, so
wäre dies irrig.
Indem der modernen Liebe das eigentliche Ziel die
Gegenliebe ist, der alles Andere nur als Sekundäres und Akzidentielles
folgt, hat erst sie erkannt - das heisst es ist die Folge der Erkenntnis - dass
in dem andern etwas Ungewinnbares ist, dass die Absolutheit des
individuellen Ich eine Mauer zwischen Mensch und Mensch aufrichtet, die
selbst der leidenschaftlichste Wille beider nicht niederlegen kann, und die
alles eigentliche »Haben«, das mehr sein will als Tatsache und Bewusstsein
des Wiedergeliebt-Werdens, zu einer Illusion macht.
Dies ist das Ergebnis erst jener letzten Vertiefung und
Individualisierung des Ich-Gefühles; damit ist eine Wurzelung in sich selbst
und eine Abgeschlossenheit mit sich selbst erreicht, an der das
»Haben«-Wollen zum Widerspruch und zum Greifen ins Leere wird.
Wenn wir nun aber daraufhin an der
aller Erwiderung unbedürftigen Selbstherrlichkeit der Liebe, wie überhaupt
an den Griechen, einen Egoismus empfinden - während das »Wenn ich dich
liebe, was geht's dich an?« nur bewusste Resignation, also gerade das
Gegenteil von Egoismus bedeutet, so ist dies dennoch eine von dem modernen
Begriff her begangene Ungerechtigkeit.
Der platonische Erotiker fühlt sich dem Reich der Idee so
eingewachsen, dass die Grenzen seines Ich ihre Schärfe darin auflösen, so
dass sein Ich-bezügliches Begehren noch jenseits der Exklusivität steht, mit
der aus dem späteren Ich-Begriff der ihm entsprechende Egoismusbegriff
hervorgeht.
Und wie der Geliebte hier nicht als Individuum geliebt
wird, sondern als der Bote der überindividuellen Schönheit, so wird auch der
Liebende selbst entindividualisiert, weil seine Liebe, wie ich zeigte, nicht
aus der schöpferischen Persönlichkeit kommt, sondern aus seinem ehemaligen
Erblicken der Idee des Schönen.
Objekt wie Subjekt sind nur Gefäße der Idee.
Offenbar muss die Liebe erst dieser Sphäre außerhalb
beider entrissen sein, jedes Ich erst seinen an ihm selbst bestimmten
sicheren Umriss gefunden haben, damit die Liebe sich gleichsam auf der
kürzesten Linie zwischen ihnen bewege und die Liebe deshalb ihre Sehnsucht
nur an der Gegenliebe stillen könne.
Und schließlich offenbart sich jene eigentümliche
Indifferenz zwischen dem Ich und dem, was über das Ich hinausreicht,
unverkennlich an Platos großer Deutung der Liebe als des Begehrens nach
Unsterblichkeit.
Es ist die Sehnsucht des reifgewordenen Menschen, zu
zeugen-ein göttlicher Akt, mit dem der Sterbliche sich Unsterblichkeit
erwirbt.
Nichts anderes als diese Leidenschaft, über den Tod
hinaus zu dauern, sei die Liebe zu unseren Kindern. Nicht anderes jene
"Erziehung" des geliebten Jünglings, durch die wir ihn zu dem höheren Wesen emporformen, das nun im tiefsten Sinne
unser mit ihm erzeugter Nachkomme ist, unser eigenes Weiterleben, unser
eigenes fortzeugendes Reifen.
Wir seien aber so eingerichtet, dass nur das Schöne uns
erregt, mit ihm oder in ihm zu zeugen, dem Hässlichen gegenüber aber unsere
Natur sich dessen weigert.
Darum gilt unsere Liebe dem Schönen, das heisst nicht
eigentlich ihm, sondern jetzt dem eigenen Weiterleben - sei es durch die
Erzeugung körperlicher Nachkommen, sei es, dass wir in die schöne Seele
eines Jünglings unsere besten Gedanken und Impulse hineinbilden.
Zu diesem Bekenntnis Platos hat die grenzenlose
Ruhmbegierde des Griechen den Treffpunkt hergegeben, in dem die auf das
eigene Ich und die auf das reine Ideal gerichteten Strebungen sich treffen:
er will im Gedächtnis der Menschen unsterblich sein, aber er will es auf
Grund des inneren Wertes seines Denkens und Tuns, den der Erzeugte
weiterträgt.
Und wenn Plato zuvor die liebende Anbetung des Schönen damit
rechtfertigt, dass er sie gleichsam nach der einen Ewigkeitsdimension sich
strecken lässt, nach der zeitlosen Idee der Schönheit - so nun nach der
anderen, nach dem ewigen Fortleben in der Erinnerung und Höherentwicklung
der Menschen.
Der abgeklärte etwas abstrakte Charakter der früheren
Begründung wird hier auf einmal von einer Strömung persönlichsten Lebens
durchblutet.
Jetzt verlassen wir uns nicht selbst, wenn die Liebe zum
Schönen uns fortreißt, sondern über die Schwelle unseres zeitbegrenzten
Lebens nehmen wir uns selbst mit.
Aber so wenig hier wie dort erkennt er die Liebe
zum Individuum als Urphänomen an; auch dieser Affekt macht nicht Halt an dem Individuum,
dessen Schönheit ihn entzündete.
Denn während diese dort nur die Richtung
anzeigte, in die unser letztes Streben geht, ist es hier das Gefäß, in dem
unsere besten Kräfte sich sammeln, um zur Frucht entwickelt, den
Weg der Unsterblichkeit zu gehen.
Man hat viel von der Mystik in
Platos Visionen der Erotik gesprochen.
Das tiefe Mysterium unseres
Weltbildes aber, die Individualität -, diese nicht zu analysierende, aus
nichts anderem herzuleitende, unter keinen höheren Begriff zu bringende
Einheit, hineingesetzt in eine sonst unendlich zerlegbare, berechenbare,
unter allgemeinen Gesetzen stehende Welt - diese Individualität gilt uns als
der eigentliche Brennpunkt der Liebe, die freilich gerade damit in die
dunkelste Problematik unseres Weltbegriffs verflochten wird, und gerade sie
wird von Plato sozusagen übersprungen.
Weil seinem rationalen Denken die
Individualität als etwas Unsubstantielles, Allzuflüchtiges erschien, alle an
sie gehefteten Innenereignisse als freischwebende Willkür, meinte er der
Liebe nur durch gänzliche Enthebung aus jener Sphäre genug zu tun, durch das
was uns gerade als Verflüchtigung der Liebe in ein Allgemeines
erscheint.
Dennoch, dem letzten Fundament
seines Instinkts sind wir auch nicht untreu geworden.
Was dem modernen,
in die konkrete Individualität verwurzelten Liebesbegriff von Plato
vererbt ist, ist das Gefühl: in der Liebe lebe etwas Geheimnisvolles
jenseits der zufälligen Existenz und Begegnung, jenseits des sinnlich
aktuellen Begehrens, jenseits auch der blossen Gemütsbeziehung.
Auch wir spüren in der Liebe
eine metaphysische, irgendwie zeitlose Bedeutung - nur dass wir uns
nicht auf die einfache Art des plastisch substantialistisch denkenden
Griechen mit ihr dadurch abfinden können, dass wir sie in einem Jenseits
ihres unmittelbaren Erlebnisses lokalisieren.
Es meldet sich vielmehr auch
hier das grosse Problem des modernen Geistes: für alles das, was dem
Sinne nach über die Gegebenheit der Lebensphänomene hinausgeht, in ihnen
selbst den Platz zu finden, statt es in ein auch räumliches
Ausserhalb zu verlegen.
Keine Synthese des Endlichen und
des Unendlichen, sondern gewachsene Einheit des Lebens.
Das Leben enthüllt das, was
mehr als Leben ist.
In jenem Ueberindividuellen lag
- das verkennen wir nicht - ein Wert, eine Erlösung, ein Halt, worauf
wir keineswegs verzichten.
Wie uns im Sittlichen das
"individuelle Gesetz" vorschwebt, die strenge Normierung des
individuellen Verhaltens, das wir doch nicht mehr in einem abstrakt
allgemeinen Imperativ können einfangen lassen - so muss es auch etwas
wie ein individuelles Gesetz der Erotik geben; in der unvergleichlichen
Beziehung unvergleichlicher Individuen liegt eine Bedeutung, die ganz
auf sie beschränkt ist und doch ihr Oberflächenphänomen überragt - nicht
von einer allgemeinen Idee der Schönheit, des Wertes, der
Liebes-Würdigkeit dominiert oder gerechtfertigt, sondern eben nur von
der Idee dieser individuellen Existenzen und ihrer Vollendetheit.
Immerhin, auch diese einfachere, sozusagen menschlichere
Motivierung der Liebe, übersieht das Irrationale, das wir in der
Individualität als letzte Instanz der Erotik fühlen, und indem sie das
zwischen Liebendem und Geliebtem sich spannende Gefühlsverhältnis zum bloßen
Durchgangspunkt einer, sei es ins Metaphysische, sei es in die
Unsterblichkeit sich auswachsenden Bewegung macht, gewinnt die Liebe die
verstandesmäßige Färbung, die jedem Verhältnis von Mittel und Zweck eignet.
Wenn die visionäre Leidenschaft und der aus den letzten
Seelentiefen hervorbrechende Schwung, mit dem Plato all dieses verkündet,
darüber täuschen und den Schwung seiner Erotik der unseren nähern will, so
zeichnet sich doch gerade an diesem Punkte die Sonderung, die sein ganzes
Geisteswesen dem unseren fernstellt.
Denn mag er die Liebe deuten oder die Erkenntnis: immer
ist es die unpersönliche Energie der Seele, die begrifflich begreifende
Vernunft, aus der heraus ihr Leben sich erhöht und durch die sie sich mit
der Welt der wahren Realität wie der Werte verbindet.
Aber dass er an dieser eben entdeckten Wunderkraft der
logischen Vernunft ihre Rechtsgrenzen noch nicht sah, zu deren immer noch
nicht gesicherter Bestimmung Jahrtausende gehörten - das ließ ihm diese
Entdeckung zu dem unerhörtesten Rausche werden, den die Geschichte der
Philosophie bietet.
Um die apollinische Klarheit des kühlen Denkens tanzte
das dionysische Glück dieses unerhörten Machtgewinnes der Seele, dass sie
sich bewusst geworden war, mit ihrem begrifflichen Denken das Wesen der
Dinge zu erreichen.
Die Geburt des wissenschaftlichen Denkens, das so vieles
von der Religion zu verdrängen bestimmt war, wurde mit grösster Weihe
begangen, die vernunftmäßige Ausdeutung der Liebe entband jene
übervernünftige Begeisterung, die uns nur von der Liebe selbst - eben weil
wir sie als Urphänomen verehren - auszustrahlen scheint.
Dass aber damit auch die subjektivste und individuellste
aller Leidenschaften in die Richtung des rational-metaphysischen Sinnes
geleitet ist und dieser Sinn erst mit der Überwindung solcher ungeheuren
Spannung ganz inthronisiert sein konnte - darin liegt die Bedeutung der
Erotik für Platos Weltbild.
Platos große Denkmotive sind von der Geistesgeschichte zu
unendlicher Fruchtbarkeit aufgenommen worden.
Dies aber kann die altgewordene, differenzierte, unnaive
Menschheit nicht mehr aufbringen: die Welt in ihrer Wirklichkeit und in
ihrer Liebe, in ihrem Sinn und ihren Gemütswerten in einen logischen Bau
abstrakter Begriffe und ihnen analoger metaphysischer Wesensarten zu
verwandeln und dies als das tiefste Glück des Gemütes zu empfinden, aus dem
logischen Denken jene Erschütterungen und ahnungsvollen Beziehungen zum
Grunde der Dinge zu schaffen, die spätere Zeiten gerade nur durch die Abkehr
von dem bloßen Denken gewinnen können, durch die Spaltung zwischen logischer
Struktur und lebendem und fühlendem Dasein, dessen Unmittelbarkeit weder in
die platonischen noch in unsere Begriffe aufgeht, sondern nur in seiner
eigenen Tiefe erlebt werden kann.
Fussnote
1 Ein tiefer, hier nicht verfolgbarer
Zusammenhang verbindet dies Gerichtetsein auf die seinshafte
Substantialität mit der metaphysischen Überzeugung von der Einheit dieses
Seins, die alle Individualität und Gesondertheit der Erscheinungen zu
etwas eigentlich Unwirklichem macht.
Wer an die Substanz glaubt, insbesondere an die
einheitlich-metaphysische -, kann sich die Beziehung der Dinge nur als
Einheit mit ihnen denken und wir werden sehen, wie solche Ablehnung alles
letztinstanzlich Individuellen den entscheidenden Abstand zwischen
platonischer und moderner Erotik stiftet.
An einer Stelle des Symposion freilich scheint diese
griechische Tendenz umzubiegen: in mythologischer Spielform wenigstens
deutet Aristophanes an, dass jedem einzelnen Menschen jeweils nur ein
bestimmter einzelner als Geliebter von jeher zugewiesen wäre und die
erotische Sehnsucht jeden antreibt, bis er diesen einen unersetzbaren
findet.
Hier spricht wohl ein Gefühl dafür, dass das
ausschließende Füreinandersein zweier Wesen in ihrer individuellen
Bestimmtheit den Kern der Erotik ausmache.
Allein hier bestätigt einmal in Wirklichkeit, und nicht
nur als billige Ausflucht, die Ausnahme die Regel, denn nun kann dieser
Grieche sich das ideelle erotische Angewiesensein zweier Individuen
aufeinander nicht anders denken, als dass diese beiden - so verkündet sein
symbolisches Märchen - in einer früheren Existenzform ein einheitliches
Wesen gebildet haben; darauf, dass sie einst ein substantielles Sein
waren, bevor die Eifersucht der Götter sie zu zweien auseinander schnitt,
geht ihre ganze Sehnsucht zurück, darauf, dass sie in diese verlorene
Seinseinheit wieder zurückschmelzen wollen, geht ihre ganze Liebe hin.
Auch der in der Rede des Aristophanes hervorbrechende
Instinkt für die Individualität, der zugleich eine gewisse Auflösung des
festen Seinsideals in einen Prozess des Schauens, Sich-Suchens,
Sich-Findens zu verkünden schien, wagt doch nicht, den griechischen
Fußpunkt in der Einheit der Substanz und der Geschlossenheit des
unindividuellen Seins zu verlassen.
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