Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser


presents:

Georg Simmel im 21. Jahrhundert
Textinterpretationen aus heutiger Perspektive

  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online Georg Simmel im 21. Jahrhundert

 

Persönliche und sachliche Kultur - Kulturelle Evolution zwischen Individualisierung  und Sozialisierung

 

Milo Rau 2000

 

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 

2. Das ‘Problem’ Simmel: Einige Überlegungen zu Methode und Stil

3. Persönliche und sachliche Kultur: Eine Lektüre

3.1 Wechselwirkung und Kulturentwicklung
3.2 Der „würdelose Zustand
3.3 Arbeitsteilung und Differenzierung
3.4 Tempo“ und „Stil“: Die „psychologische Distanzierung

4. Kulturevolution und Individualisierung

4.1 Vergesellschaftung
4.2 Die Tragödie der Kultur“ 
4.3 ‘Chancen’ des Individuums

5. Organisationen als soziale Akteure

6. Resümee

Bibliographie


1. Einleitung

Die Beschäftigung mit der formalen Soziologie Simmels - des neben Marx, Weber und Durkheim wichtigsten Begründers der Soziologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin - sieht sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert. Zum einen sorgt das an vielen Stellen unscharfe Vokabular und die methodische Vielfalt, die auf die historische Situation einer Soziologie zwischen Geschichtswissenschaft und (erkenntnistheoretischer) Philosophie zurückgeht, für einige Verwirrung.

Zum andern macht diese Vermischung von ökonomischer, ästhetischer und individualpsychologischer Perspektive zu einer umfassenden Analyse der Kulturevolution zum Zeitpunkt der frühen Moderne eine Analyse der Überlegungen Simmels unter soziologischer Perspektive schwierig: Begriffe wie Individualität, Wechselwirkung, Differenzierung, Distanzierung usw. sind jeweils gleichzeitig positiv und negativ, rein formal und zeitkritisch besetzt. Diese Problematik wird noch durch die strikt relationale Pespektive Simmels verschärft, die Individualisierung und Sozialisierung miteinander eng verknüpft denkt. Eine Untersuchung dessen, wie die ‘Chancen’ des individuellen Akteurs in einer modernen, durchrationalisierten Gesellschaft zu bewerten sind, muss also innerhalb eines komplizierten Kräfteverhältnisses gedacht werden.

Die vorliegende Arbeit versucht nun, dieses von Simmel beschriebene Kräfteverhältnis von verschiedener Seite zu beleuchten und seine Konstituierung im Laufe der Kulturevolution nachzuvollziehen. Dabei soll die Frage nach der Ausbildung, aber auch nach der Gefährdung des ‘Individuums’[1] als sozialen Sinn konstituierendes Wesen - also als ‘Akteur’ - im Zentrum stehen und innerhalb der theoretischen Ansätze Simmels diskutiert werden. Der vielleicht etwas ausschweifende Gebrauch von Fussnoten lässt sich dabei auf die Simmel eigene Vermischung seiner ‘Lieblingsdisziplinen’ (Philosophie, Soziologie, Geschichtswis-senschaft und Ästhetik) zurückführen: Der genaue Sinngehalt verwendeter Begriffe muss jeweils erst genauer definiert werden.

Die Untersuchung ist in vier Teile gegliedert: Auf eine Problematisierung der Methodenvielfalt Simmels und eine eingehende Lektüre des dieser Arbeit zugrunde liegenden Aufsatzes - Persönliche und sachliche Kultur - folgt in einem dritten Teil eine eingehende Beschäftigung mit Simmels Theorie der Konstituierung des modernen Individuums. In einem vierten und letzten Teil sollen diese Überlegungen - in Form eines kleinen Ausblicks auf die heutige Handlungs- und Interaktionstheorie - abgerundet werden.

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2. Das ‘Problem’ Simmel: Einige Überlegungen zu Methode und Stil

„Simmel besass eine Sammlung kostbaren Porzellans. Schüler berichten von einer Berliner Vorlesung vor einer grossen, in die Hunderte gehenden Hörerschaft, in welcher er über eine chinesische Porzellanschale mit einer feinen Tuschzeichnung dozierte. Er verwies dabei auf die augenblickliche Lebensbewegung des Auftragens der Tusche auf den Gegenstand und die endgültige Fixierung dieses flüchtigen Moments im Akt des Brennens, dem Akt definitiver Gestaltwerdung. Er erläuterte an dem zerbrechlichen Objekt die gespannte Ambivalenz von Liquidität und Erstarrung, von fliessender Dynamik des Lebens und statischer Verhärtung objektiver Gebilde, die sein gesamtes Denken ausmachte.“ [2]

Diese kurze, von der Sekundärliteratur gern in verschiedenen Variationen aufgenommene (und mit verschiedenen Wertungen verbundene) Anekdote umreisst in einem einfachen Bild jene methodische Eigenart, die das ganze Werk Simmels auszeichnet und eine Beschäftigung damit, wie wir zeigen werden, gleichzeitig fruchtbar, aber auch schwierig macht.

Zum einen leuchtet darin der seltsam orale, diskursive und oft vage ‘Vorlesungsstil’ Simmels auf, der auch seine zur schriflichen Publikation vorgesehenen Texte kennzeichnet und die summarische Zusammenfassung bereits eines kurzen Aufsatzes kompliziert: Seine Texte sind voller Wiederholungen und Wiederaufnahmen, voller Perspektivenwechsel und angerissenen Hypothesen. Verschiedene Begriffe werden für das gleiche soziale Faktum verwendet, oder dieses Faktum wird auf verschiedene, oft widersprüchliche begriffliche Art gefasst. Nicht zu Ende geführte Gedanken werden ‘auf später’ vertagt, um einem andern nachzugehen. Und wie in der obigen Anekdote werden Begriffskategorien vornehmlich nicht in einem ersten Schritt als theoretisches System formalisiert und erst dann mit Beispielen illustriert, sondern die Kategorienbildung folgt aus kunsthistorischen, lebensweltlichen usw. Beispielen heraus, die damit die angestrebte Kategorienbildung als ‘work in progress’ auszeichnen. Der Leser wohnt so weniger der Systematisierung der ‘faits sociaux’ zu einer Universaltheorie der (modernen) Gesellschaft bei, wie das beispielsweise Durkheim unternommen hat, sondern vielmehr einer Auslotung der Möglichkeiten und Gefahren der sozialen Existenz zwischen (chancenreicher) „Liquidität“ und („tragischer“) „Erstarrung“ des Gesellschaftsgefüges, wobei die Simmelsche Methode das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen nachzeichnet [3].

Zum andern zeigt sich in der Anekdote der weite wissenschaftliche Horizont Simmels, der ihn von einer „feinen Tuschzeichnung“ auf einer chinesischen Vase über den Umweg lebensphilosophischer Betrachtungen zu einer jener Oppositionen („Liquidität“ und „Erstarrung“) gelangen lässt, die generalisierbar und damit theoretisch fruchtbar sind. Solche Übergänge - von einem essayartig einsetzenden Text zu einem Versuch, die beschriebenen Erscheinungen zu formalisieren, von der blossen Beschreibung des modernen ‘Lebens’ zu dem Versuch einer Art Metaphysik und umgekehrt - sind die Simmel eigene Arbeitsmethode: Kunsttheorie mischt sich mit Transzendentalphilosophie, historische Anekdoten und Beispiele aus dem zeitgenössischen (Salon-)Leben mit einer pessimistischen Lebensphilosophie, Evolutionstheorie Darwinscher Prägung mit einer erkenntnistheoretischen Theorie des „individuellen Gesetzes“ [4].

Diese enge Bindung von Einzelanalyse - z. B. der „materiellen Kulturgüter“ [5] - und formalem Anspruch, diese Durchdringung verschiedener Theorieansätze [6] macht eine Beschäftigung mit Simmel wie erwähnt schwierig: Indem, in Persönliche und sachliche Kultur, die Untersuchung der Gesellschaft um 1900 zugleich unter wirtschaftlicher, kultureller, religiöser und individualpsychologischer Perspektive geleistet wird und im pessimistischen Fazit einer Art universellen Entfremdung, der Postulierung von „zwei Evolutionen“ gipfelt, lässt sich weder in Bezug auf eine qualitative (d. h. hier: akteur- oder handlungsbezogene), noch auf eine quantitative (d. h. hier: die Gesellschaft als Gesamtes betreffende) Systematisierung verdichten. Alles, so scheint es, ist miteinander verknüpft, die Ausdifferenzierung der sozialen Beziehungen gleichzeitig positiv und negativ zu bewerten. Dies wäre nicht weiter problematisch, wenn nicht darüber hinaus ein „Kulturideal“ beschworen würde, das mit Begrifflichkeiten wie „Seelenhaftigkeit“ besetzt ist und mit einem frühbürgerlichen Idealtypus (Goethe) kokettiert, dessen Uneinholbarkeit in der Moderne zwar zugestanden, aber gleichzeitig als Endpunkt der Evolution gefordert wird.

Diese Eigenart Simmels - nämlich pessimistische Zeitanalyse mit dem Begriffapparat eines fortschrittsgläubigen deutschen Idealismus zu betreiben - ist an sich widersprüchlich. Dies tut natürlich der Genauigkeit und höchsten Sensibilität der Zeitdiagnose keinen Abbruch; zugleich darf aber nicht vergessen werden, dass einem methodischen, idealistisch gefärbten Pluralismus wie dem Simmels die Möglichkeit verschlossen bleibt, die sozialen ‘Fakten’ unter rein formalen Gesichtspunkten zu betrachten, da die funktionale Abgeschlossenheit der beiden System - Gesllschaft und Individuum - zwar konstatiert, dann aber sofort wieder in ein unübersichtliches Gewebe von Wechselwirkungen aufgelöst wird. Etwas salopp gesagt liegt das methodische Problem darin, dass Simmel das Individuum als ‘Umwelt’ der Gesellschaft nicht akzeptieren will und es mit einer „Religiosität ohne Religion“, einem überzeichneten Künstlerideal und schliesslich in der Idee des Weltbürgers zu retten versucht.

Der Leser der Werke Simmels sieht sich also gleichzeitig mit einem modernen, heute auch als bahnbrechend anerkannten Soziologen und mit einer Art spätidealistischen Philosophen konfrontiert. Wie Lichtblau [7] in diesem Zusammenhang bemerkt, verstand sich Simmel in erster Linie als Philosoph, der seine Arbeit als Soziologe nur als Nebenbeschäftigung ansah, wobei ihm die von ihm geforderte Abgrenzung der beiden Disziplinen nicht immer gelang. Das Ziel der vorliegenden Arbeit soll es nun sein, den genannten Aufsatz als genuin soziologischen zu untersuchen, ohne dabei die philosophischen Implikationen aus den Augen zu verlieren [8]. Die grosse formalisierende Arbeit des Soziologen und Alltagsästhetikers Simmel soll so die kritische oder vielmehr pessimistische des Philosophen nicht verdecken, sondern die methodischen Spannungen sollen nachvollzogen und unter soziologischen Gesichtspunkten problematisiert werden.

Um der bei Simmel aus obigen Gründen sich anbietenden Gefahr der essayartigen, sprunghaften Rezeption zu entgehen, lehnt sich die folgende Untersuchung eng an Persönliche und sachliche Kultur an. Aus dieser Lektüre heraus sollen dann einige Begrifflichkeiten genauer untersucht und im Gesamtzusammenhang des Simmelschen Werks problematisiert werden.

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3. Persönliche und sachliche Kultur : Eine Lektüre

3.1 Wechselwirkung und Kulturideal

Gleich zu Beginn des Aufsatzes führt Simmel die für seine soziologische Theorie zentrale Kategorie der Wechselwirkung ein: Indem der „intelligente Wille“ im Zivilisationsprozess die „Dinge“ [9], d. h. die objektive Welt kultiviert, „leistet er seine Kulturarbeit nicht an ihnen, sondern an uns“. Die Entfaltung der „materiellen Kulturgüter“ ist so gleichzeitig Selbstentfaltung, und ebenso verhält es sich bei der Kultur insgesamt: Die Entfaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen - bis zu ihrer komplexesten Form, der Gesellschaft - entfaltet die einzelnen Individuen an sich. Es findet im Lauf des Evolutionsprozesses also ein „Werterhöhungsprozess“ [10] statt, der, indem er von den Individuen ausgehend auf die „Dinge“ wirkt, in diese selbst zurückkehrt. Der Künstler - Simmels liebstes Sinnbild des freien Subjekts - arbeitet so an der „Entwicklung des menschlichen Wesens über seinen Naturzustand hinaus“, indem er den Gegenstand seiner Kunst „zu seiner eigensten Bedeutung“ entwickelt: Die Dinge sind dabei nur die sichtbare Seite für die Entfaltung „unserer Energien“ [11].

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3.2 Der „würdelose Zustand

Diesem kurz umrissenen „Kulturideal“, aus dem das selbstgenügsame „l’art pour l’art“ wie auch entfremdete Arbeit im Marxschen Sinn als sinnlos für den evolutionären Prozess der Individualisierung ausgeklammert bleiben müssen, stellt Simmel „ein besonderes Verhältnis innerhalb der gegenwärtigen Kultur“ gegenüber, und es zeigt sich, dass sich in der Moderne die Relationen zwischen subjektiver und objektiver Welt bedeutend verschoben haben: Der Zivilisationsprozess der gegenseitigen Wertsteigerung im Verhältnis Mensch-Ding hat sich in einen andern verwandelt. Während nämlich die „sachliche Kultur unsäglich kultiviert“ ist - was die Wissenschaft, die Produktionsmittel usw. betrifft -, ist die subjektive Kultur - im Vergleich zu ihrer Blüte zur Zeit der deutschen Klassik - zurückgegangen, es hat sich ein „würdeloser Zustand“ der Kultur eingestellt [12]. Diese Diskrepanz zwischen sachlich-objektiver und subjektiver Kultur steigert sich stetig und hat, so Simmel, bereits dazu geführt, dass sich das „unmittelbare“ Verhältnis zu den Dingen in ein „symbolisches“, also rein zweckmässiges verwandelt hat. Der im Evolutionsprozess wirksame „Geist“ hat sich verobjektiviert und den Individuen entfremdet, die Individuen sehen sich einer geschlossenen „Gesamtkultur“ gegenübergestellt, die von der „Geringfügigkeit ihrer Anteile“ ebenso unberührt bleibt, „wie es irgendein körperliches Sein von seinem Wahrgenommen- oder Nichtwahrgenommenwerden bleibt" [13]. Die in die Gesellschaft ‘investierten’ Bewusstseinsinhalte haben sich vergegenständlicht, was zwar die Kulturevolution als „geschichtliche Tatsache“ sichert, sie aber gleichzeitig vom Idividuum trennt. Kurz: Die moderne Kultur ist „unwirklich“, d. h. sie bildet eine eigene, von ihren idividuellen Gliedern abgetrennte Wirklichkeit. Die von Luhmann später akribisch formulierte Theorie vom Menschen als Umwelt der Gesellschaft, als quantité négligeable gegenüber den kulturellen Kristallisationen wird hier vorweggenommen.

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3.3 Arbeitsteilung und Differenzierung

Anstatt eine Theorie abgeschlossener, interagierender Systeme zu postulieren - also das Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Kultur als Grundlage einer historischen Kulturwissenschaft, als logische Voraussetzung für Gesellschaft zu verstehen -, definiert Simmel diesen Zustand als Defizit und nennt auch sofort den Grund für diese Aberration des menschlichen Fortschritts: die Aufsplitterung der individuellen Bewusstseinsakte in ein komplexes, zweckorientiertes System der Arbeitsteilung. Während im Idealfall das Individuum - womit Simmel wieder den Künstler meint - „alle Realitätsmöglichkeiten ausserhalb des gewünschten Rahmens vernichtet“ und sich so selber als soziales Wesen definiert, wird in der modernen Kultur gewissermassen das Individuum ‘gerahmt’ und ausserhalb dieses Rahmens ‘vernichtet’ [14]. In der Spezialisierung der gesellschaftlichen Arbeitsleistung wird die objektiv produzierte Realität vom Individuum - vom „Arbeiter“ - abgetrennt, Arbeiter und Produkt sind „zwei Existenzen“, die nicht mehr im gleichen „Lebenssystem“ verwurzelt sind. Die Arbeit verliert so, durch die Konstituierung von Funktionsketten, nicht nur den Charakter des individuellen Ausdrucks, sondern sie wird etwas prinzipiell Objektives: Sie wird zu etwas, das „geleistet“ werden kann und gemäss dieser Leistung „wertvoll“ ist.

Simmels Kritik der Moderne macht aber nicht bei der Formulierung dieser prinzipiellen Entfremdung halt. Denn das Ware-Werden der Arbeit, so Simmel, ist nur ein Aspekt eines umfassenden evolutionären Differenzierungsprozesses. Dieser stellt dem Individuum die eigenen Inhalte als Objekte gegenüber, indem die Arbeit am Objekt nicht als Wertsteigerung ins Individuum zurückkehren kann. Nicht nur, dass, als quasi zynischer Ausdruck des neuen Arbeitsverhältnisses, die vom Arbeiter produzierten Objekte von diesem wieder gekauft werden müssen, sondern der gesellschaftliche Differenzierungsprozess „verkehrt die sozialen Unterschiede“ und macht sie in letzter Konsequenz bedeutungslos: Wissenschaftliche Arbeit ist genauso käuflich wie die Arbeit eines Analphabeten. Die Subjekte finden sich, als funktionalisierte Arbeitskräfte, aus allen sozialen Unterschieden herausgestellt und so jeder traditionellen Orientierung beraubt. Die gesellschaftliche „Macht“ überträgt sich auf die Dinge, die einzige Möglichkeit personaler Freiheit besteht in ihrer Geringschätzung, in der „Gleichgültigkeit“ gegenüber dem „Fetischdienst“ an den Dingen [15].

Fassen wir zusammen: Im Moment der gesellschaftlichen Evolution, den Simmel beschreibt, sind durch Arbeitsteilung und andere Differenzierungsprozesse die Kulturobjekte zu einer in sich zusammmenhängenden ‘Welt’ geworden. Diese ‘Welt’ ist funktional mehr oder weniger autonom und greift nur noch selten auf das Subjekt als Gesamtheit - die „Seele“ - zu. Traditionelle gesellschaftliche Formen - wie die soziale Schichtung usw. - sind in dieser letzten Konsequenz nur noch normativ wirksame „Gebilde“ ohne lebensweltlichen Inhalt, da es dazu lebendiger Wechselwirkung im oben beschriebenen Sinn bedarf. Die Komplexität der Gesellschaft verschafft zwar dem Individuum eine grösstmögliche Freiheit in Bezug auf Rollenwahl usw., dafür ist das Verhältnis von Individuum und Arbeit, von Individuum und Gesamtkultur kein organisches mehr, sondern ein rein symbolisch-intellektuelles. Die Kultur wächst gewissermassen nicht mehr in und durch die sinnbestimmten Handlungen der sozialen Akteure, sondern diese verhalten sich zu ihr. Das substantielle Ich hat sich in ein rein funktionales verwandelt. Der Mensch als sinnproduzierendes Wesen, so Simmels pessimistisches Fazit, ist „vernichtet“.

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3.4Tempo“ und „Stil“: Die „psychologische Dsitanzierung

Simmel differenziert im Anschluss seine These vom von der Gesamtkultur und sich selbst entfremdeten Individuum in einer genaueren Zeitanalyse. Nicht nur hat sich die objektive Gesamtkultur als solche vom Individuum gelöst, sondern diese ist in sich selbst zersplittert in voneinander unabhängige, sich nur noch reflexiv aufeinander beziehende evolutionäre Welten: Wissenschaft, Mode usw. Durch diese radikale Spezialisierung der rationalen Bewusstseins-, oder besser Produktionsakte, die sich jeweils nur auf einen verschwindenen Teil eines der Subsysteme beziehen können und ausschliesslich ihrem (Geld)-Wert nach miteinander in Beziehung stehen, ist der Mensch zum Beobachter der gesellschaftlichen Evolution geworden. Das evolutionäre „Tempo“ der Gesamtkultur ist nicht mehr lebensweltlich nachvollziehbar. „Stil“, einer der Grundbegriffe der klassischen Ästhetik und Anthropologie, ist nicht mehr die quasi-künstlerische Fähigkeit, seine Umgebung gemäss seiner Pesönlichkeit zu gestalten, sondern er ist schlicht die Wahl zwischen verschiedenen objektivierten Angeboten. Die moderne Kultur gleicht so einer Art Warenhaus, in dem die „kulturelle Fähigkeit“ darin besteht, das „Passende“ zu wählen, ohne es aber beeinflussen zu können. Das „Tempo“ des (materiellen) Fortschritts führt zu einer „psychologischen Distanzierung“ [16] des Individuums von seiner Lebenswelt, die gleichzeitig die an sich formlose moderne Lebensform erst ermöglicht. Die Wahl des „Passenden“, da reflexiv und damit der Entwicklung der Dinge nachgängig, ist nur scheinbar frei. Der Mensch sieht sich von der Objektwelt überholt [17].

Simmels Schlussfolgerung ist damit absehbar: Eine das Individuum und die Gesellschaft miteinbeziehende Untersuchung ist unter evolutionären Gesichtspunkten nicht mehr möglich, denn „Fortschritt und Stagnation können direkt nebeneinander liegen, je nachdem man die Evolution der Subjekte oder der Gebilde ins Auge fasst.“

Mikro- und makrosoziale Perspektive des gleichen sozialen Faktums können so zu entgegengesetzten Resultaten führen, aber da es Simmels erklärte methodische Absicht ist, die beiden Perspektiven miteinander zu vereinen - eben die Individualisierung aus der Sozialisierung zu erklären - muss er zu einem pessimistischen Schluss gelangen: Das Projekt ‘Aufklärung’ ist gescheitert, da sie die verschiedenen persönlichen Inhalte des Menschen nicht im Duchlauf durch die gesellschaftliche Evolution zur „Einheit“ gebracht, sondern sie von ihm abgetrennt und ihm als objektive Welt gegenübergestellt hat. Der Mensch ist von der Evolution enteignet worden, „Seelenhaftigkeit“ ist nur noch in der grösstmöglichen Abstraktion, dem „Kosmopolitismus“ [18], oder in der reinen Innerlichkeit erreichbar.

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4. Kulturevolution und Individualisierung

Wie wir im vorhergehenden Kapitel angedeutet haben, liegt der beobachtete Kulturpessimismus Simmels in der Ausrichtung seiner formalen Soziologie am Vorbild eines klassisch-bürgerlichen Kulturideals, in dem „Seele“ und „Geist“, also subjektive und objektive Evolution zusammenfallen: Die annähernd manische Beschäftigung Simmels mit Goethe und Kant, seine Begeisterung angesichts des deutschen Eroberungskriegs und die damit verbundenen Hoffnungen auf eine endlich wieder „seelenhafte“ Aufladung der zeitgenössischen Lebenswelt weisen auf eine gewisse romantisch-mythische Färbung des Simmelschen Idealbilds der modernen Gesellschaft hin. Dies hat natürlich dazu beigetragen, dass er für die unter der Vorherrschaft der Frankfurter Schule bis in die 70er Jahre marxistisch gefärbte deutsche Soziologie nichts als ein „geistreicher Entertainer“ war, der mit der „prästabilisierten Apparatur“ einer spätidealistisch geprägten „Scheinphilosophie“ [19] seine Spielchen treibt.

Genauer betrachtet liegt aber gerade in der „hemmungslosen Sensibilität [20]“, der ungeheuren Bandbreite seines Werks das eigentliche Interesse Simmels: Wurde hier doch der Versuch unternommen, mikro- und makrosoziale Perspektive miteinander zu verknüpfen, den für die Soziologie häufig konstitutiven Gegensatz von Individuum und Gesellschaft aufzulösen und eine gesamtheitliche Geschichte der menschlichen Kulturevolution zu schreiben. Dass diese seltsam verwickelte Methodologie ihr geheimes Zentrum, ihr Gleichgewicht aus einem klar umreissbaren Kulturideal bezieht - dem der ideal funktionierenden Wechselwirkung im Sinne des sozialen Akteurs als bürgerlichem Künstler, der die Gesellschaft und damit gleichzeitig sich selbst erschafft -, kann einfach festgestellt und kritisiert werden. Jede wissenschaftliche Methode ist ja per se „prästabilisiert“, einfach dadurch, dass sie eine ist, und in dieser Hinsicht kommt Simmels Methode immerhin der Vorteil zu, dass sie ständig in Arbeit war, ständig durch neue Detailanalysen aktualisiert wurde und damit ein Höschstmass an Reflexivität entwickelt hat. Die seltsame theoretische Spannung [21] und die damit verbundene rhetorische Elastizität der Simmelschen Theoriekonstruktion, die „weder eine rein atomistische noch eine rein systemische, sondern eine konsequent relationale Perspektive verfolgt (!) “ [22] erweist sich gerade in ihrer „hemmungslosen“ Verflüssigung als äusserst fruchtbar.

Die folgende Untersuchung zu einigen Grundkategorien in Simmels soziologischer Methode versucht dieser Vermengung von „atomistischer“ und „systemischer“ Perspektive zu folgen und sie nach ihrer analytischen Ergibigkeit zu befragen. Dabei sollen die beiden miteinander verbundenen Konzepte der Kulturevolution und der Individualisierung im Mittelpunkt stehen, um schliesslich zu der zentralen Frage der vorliegenden Arbeit zu gelangen: Falls die menschliche Evolution als Zielpunkt die Befreiung - im Sinn einer kreativen Wahlfreiheit - des Individuums von natürlichen, sozialen usw. Zwängen „verfolgt“, wie müssen dann in der modernen (1900) und der heutigen (2000) gesellschaftlichen Konstellation die diesbezüglichen Chancen bewertet werden [23]?

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4.1 Vergesellschaftung: Evolution als Differenzierung und Individualisierung

Der Prozess der Vergesellschaftung wird von Simmel in einer grossen Zahl von Essays und Büchern angegangen, und dies geschieht - im Bezug auf die oben gestellte Frage - unter gleichzeitig positiven und negativen Vorzeichen: Einerseits ermöglicht der Prozess zunehmender sozialer Differenzierung erst die Individualität des (modernen) Menschen, da nach Simmel Individualität auf der Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen beruht. Erst indem der einzelne Mitglied wechselnder und untereinander konkurrenzierender sozialer „Kreise“ wird, wird er sich selbst dessen bewusst, was ihn von den andern unterscheidet: Das je einmalige Rollensetting, verbunden mit der bereits ausführlich beschriebenen Distanzierung von Person und Sache lässt im einzelnen Individualität als relative Autonomie gegenüber traditionalen und dinghaften Gegebenheiten entstehen. Andererseits aber führt die hohe Komplexität sozialer Differenzierung zu Entfremdungserscheinungen, da die individuelle „Seele“ das Tempo des Kultivierungsprozesses nicht mehr nachvollziehen kann. Das Individualitätsversprechen verwandelt sich in Orientierungslosigkeit angesichts des unübersichtlichen ‘Persönlichkeitsangebots’ der verobjektivierten Kultur. Autonomie und Anomie sind so miteinander verknüpft, sie sind Komplementärerscheinungen ein und derselben Entwicklung, die eben darum von Simmel als ein ambivalentes Phänomen betrachtet wird.

4.1.1 Homogenität und Heterogenität

Doch untersuchen wir den Prozess der Vergesellschaftung genauer. Obwohl Simmels Augenmerk vor allem dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gilt, setzt seine Analyse der Entwicklung des modernen Lebensstils doch beim „Anfangszustand der phylo- und der ontogenetischen Entwicklung“ [24] ein. Hier findet sich der einzelne in einer Umgebung, die gegen seine Individualität gleichgültig ist und ihm ein Zusammensein mit denjenigen auferlegt, neben die er durch den „Zufall der Geburt“ [25] gestellt ist. Objektive Gesellschaftsform und Individuen bilden eine homogene Einheit - d. h. das Verhältnis zwischen Individuen und Institutionen und der Individuen untereinander ist unmittelbar, nicht durch symbolische Formen wie Sprache, Geld, Recht usw. vermittelt [26] -, die sich erst in Folge des Bevölkerungswachstums und der spatialen Ausdehnung der Gesellschaftsverbände in „assoziative Verhältnisse“ [27] zu einem System aus „heterogenen Kreisen“ [28] entwickelt. Die sich daraus ergebende verschärfte Konkurrenz erfordert wiederum eine Ausdifferenzierung der homogenen Gesellschaft zu einer heterogenen, arbeitsteiligen. Erst diese erzwungene Spezialisierung der Individuen in der Form der Arbeitsteilung - und hier entfernt sich Simmels Evolutionstheorie von einer simplen Variation darwinistischer Kategorien - bildet die eigentliche Individualität der Gesellschaftsmitglieder aus: Soziale Differenzierung führt zu persönlicher Differenzierung - sowohl im Sinne einer qualitativen Unterscheidung zwischen Personen als auch im Sinne verschiedener Qualitäten in einer Person. Kurz gesagt wird der einzelne erst durch die Form der Arbeitsteilung ‘erkennbar’, indem er nämlich unterschiedliche produktive Tätigkeiten wahrnimmt und sich innerhalb der Gesellschaft (selbst)reflexiv, als Schnittpunkt verschiedener „sozialer Kreise“ positioniert. Die anfängliche Homogenität der Gesellschaft (im Weberschen Vokabular: Gemeinschaft) zerfällt in heterogene gesellschaftliche Institutionen und Organisationen, zu denen das Individuum ebenfalls eine reflexive, nicht mehr emotionale Haltung einnimmt und sich dadurch selbst als gesellschaftliches Wesen identifiziert.

4.1.2 Ein relationaler Persönlichkeitsbegriff

Simmel beschreibt diesen Prozess als kompliziertes „Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung und Verallgemeinerung“ [29]: „Die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit dem Nächsten, um dafür ein neues - reales und ideales - zu den Entfernteren zu spinnen.“ [30] Nicht mehr äusserlich-konkrete, wie etwa lokale Zusammengehörigkeit, sondern abstrakt-rationale Prinzipien gemeinsamer Zwecke und Interessen entscheiden nun über die Gruppenzugehörigkeit. Die anfangs triebgesteuerten Handlungsmuster stabilisieren sich und werden innerhalb eines institutionellen Rahmens ausgebildet und internalisiert, die sozialen Beziehungen der Individuen untereinander werden, in einem Prozess der Verallgemeinerung dieser Handlungsmuster, versachlicht und funktionalisiert. Parallel zu dieser gesellschaftlichen Gerinnung von Handlungsmustern und der Auflösung von lokalen Beziehungen zugunsten „idealer“, bestimmt Simmel, vereinfachend gesagt, den Grad der Individualität anhand der Zahl von sozialen Kreisen, zu denen der einzelne gehört, der Summe der sozialen Rollen: Je vielfältiger die Kreise sind, zu denen jemand gezählt werden kann, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die gleiche Kombination gewählter Zugehörigkeiten bei anderen Personen in gleicher Weise vorkommt. Individualität ist damit als subjektive Kombination von Kulturelementen, als Positionierung innerhalb des Systems Gesellschaft gegeben. Der Persönlichkeitsbegriff wird also relational gefasst, das Individuum in eine unübersichtliche Anzahl von Zugehörigkeiten aufgesplittert, zugleich aber in dem „Erleben“ der qualitativen „Einheit“ der verschiedenen Rollen erst als ‘Person’ definiert: Das soziale Sein wird in der „individuellen Seele“ zur Einheit zusammengeführt [31].

Dieses Gleichgewicht von Objektivität und Subjektivität, von Rolle und dem Erleben dieser Rolle als subjektiv gefärbter Wahl - Simmel spricht in diesem Zusammenhang von „Berufung“, die dem Individuum durch seine personale Qualität eine bestimmte gesellschaftliche Stelle zuweist [32] - macht es möglich, dass der einzelne sich gleichzeitig als Produkt und als konstitutives individuelles Glied der Gesellschaft versteht.

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4.2Die Tragödie der Kultur

Wie ist es nun aber möglich, wird man sich fragen, dass dieser scheinbar so glatt und zielgerichtet ablaufende Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung und parallelen Individualisierung seiner Glieder zu einer derart totalen „Vernichtung“ des Menschen als Sinnproduzent führt, die wir im letzten Kapitel besprochen haben? Wie kann sich die beschriebene Chancenvielfalt des Individuums zu jener „würdelosen“ Orientierungslosigkeit verkehren, die Simmel in Persönliche und sachliche Kultur beschreibt.

4.2.1 Die Auflösung traditionaler Orientierung

Einer der Gründe liegt - als liebstes Argument des spätbürgerlichen Kulturpessimismus - auf der Hand: Die gesellschaftlich getragenen Individualisierungsprozesse bringen, als Nebenerscheinung der fortschreitenden Vergrösserung und funktionalen Differenzierung der Gesellschaftsverbände, Nivellierungsprozesse mit sich, die die Individualität sozialer Kollektive auflöst. Damit steigt zwar, wie beschrieben, die individuelle Handlungsfreiheit - traditionale Bindungen lösen sich, ethische, moralische und religiöse Normen, die an kleinere, homogene soziale Einheiten geknüpft sind, werden durchlässig -, gleichzeitig vereinsamt aber die Persönlichkeit, da sie in der modernen Gesellschaft hochgradig auf sich selbst gestellt ist. Ohne die Stützen der früheren eng geschlossenen Gruppen stellt sich das Problem der Ohnmacht des Individuums gegenüber der Übermacht einer durchrationalisierten Gesellschaft. Die von Beck später in Hinsicht auf die post-moderne Gesellschaft aufgestellte Beobachtung, „dass das, was früher wenigen zugemutet wurde - ein eigenes Leben zu führen - nun (...) allen abverlangt wird“ [33] wird hier zum Problem, das die Ausformung der „personalen Einheit“ gefährde [34]t. Die riesige Zahl von möglichen Rollen und Lebensentwürfen wird so zur Gefährdung für die Ausbildung einer einheitlichen Persönlichkeit, da Reste von traditionaler Prägung nur noch ein Defizit darstellen in einer Gesellschaft, die auf einer perfekten, persönlichkeitsunabhängigen Funktionalisierung ihrer Mitglieder beruht und diese ohne Rücksicht auf „qualitative Individualität“ in den Dienst nimmt. Das Simmelsche Konzept der „Berufung“, der Entfaltung der Person in der Gesellschaft, verkehrt sich in ihr Gegenteil: In den „Widerstand des Subjekts, in einem gesellschaftstechnischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden.“ [35] Diese Linie wurde später von den „Rechtshegelianern“ [36] weiterverfolgt, im Sinne eines radikalen, antigesellschaftlichen Subjektivismus.

4.2.2 Exkurs: Die Kategorie des „Erlebens

Der zweite und komplexere ‘Grund’ ergibt sich aus einer genaueren Synthese der bereits angestellten Überlegungen und ist deshalb schwieriger nachzuvollziehen, weil er mit der von Simmel lebensweltlich gefassten Kategorie des individuellen „Erlebens“ zusammenhängt. Diese ist soziologisch schwierig nachzuvollziehen, da, mit einem empirisch-quantitativen Ansatz, aus den Fragmenten menschlichen Erlebens kaum eine qualitative Totalität, eine zumindest formale „Einheit der (modernen) Seele“ gewonnen werden kann: Der empirische Ansatz bleibt blind für die eigentlichen Bewusstseinsakte des sozialen Akteurs, für jene kleinen, unsichtbaren Geistesleistungen, mit denen sich das Individuum in der Gesellschaft orientiert und die Garfinkel später als die „kunstvollen Praktiken des Alltagslebens“ ins Zentrum der soziologischen Forschung stellen sollte. Der sprunghafte, analogisierende, fragmentarisch-qualitative Ansatz Simmels wird in diesem Zusammenhang verständlich als Versuch, das soziale oder ästhetische Fragment als Symbol einer Totalität zu interpretieren, nämlich als Versuch aus einer Kette von Versuchen des Individuums, sich die objektive Gesellschaft als individuelle anzueignen [37]. Es geht hier also, neben einer formensoziologischen Untersuchung der evolutionären Ausformung von Gesellschaft, um eine genauere Analyse der jeweiligen individuellen Bewusstseinsakte, die nötig sind, um diese im alltäglichen Leben zu aktualisieren, schliesslich um die Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Erlebens auf die menschliche Psyche. Damit ist die Simmelsche Soziologie als eine Art qualitative Sozialforschung zu verstehen, denn, wie Frisby ausführt: „Jedes Fragment, jede gesellschaftliche Momentaufnahme schliesst in sich die Möglichkeit ein, den „ganzen Sinn des Weltganzen“ zu enthüllen.“ [38]

Diese Eigenart Simmels, Einzelnes im Ganzen, Qualitatives in Quantitaivem zu spiegeln, wollen wir im Folgenden anhand einer genaueren Analyse seiner Zeitdiagnose der modernen Gesellschaft untersuchen.

4.2.3 Die ‘moderne Gesellschaft’

Kennzeichnend für die sozialen Beziehungen der modernen Gesellschaft sind nach Simmel die Verstandesmässigkeit, die Sachlichkeit, schliesslich die Rechenhaftigkeit derselben, die er als Ausprägungen einer Herrschaft des Rationalen im Zusammenhang mit der entwickelten Arbeitsteilung und den Auswirkungen der Geldwirtschaft interpretiert [39]. Kurz gesagt führen die Manigfaltigkeit und Kompliziertheit der sozialen Beziehungen, sowie die grossen Entfernungen, die, um koordinierbar zu sein, in ein festes, unpersönliches Zeitschema [40] eingeordnet werden müssen, zur Kreation eines neuen Menschen, oder, wie Simmel es formuliert:

„Dieselben Faktoren, die so in der Exaktheit und minutenhaften Präzision der Lebensorm zu einem Gebilde höchster Unpersönlichkeit zusammengeronnen sind, wirken andererseits auf ein höchst persönliches hin.“ [41]

Simmel formalisiert diese Übertragung der unpersönlichen, rationalisierten Produktionsgesellschaft in die psychische Struktur des Einzelnen - ins „höchst persönliche“ - in den Begriffen der „Distanz“, des „Rhythmus“ und des „Tempos“ [42], dem wir bereits begegnet sind.

Der Begriff der „Distanz“ ist dabei zentral. Durch die mediale, symbolische Struktur des modernen sozialen Handelns ist das Individuum von den „Zwecken“ seiner Handlungen entfernt. Da Mittel (subjektive Arbeit) und Zweck (objektives Produkt) durch die Arbeitsteilung voneinander getrennt und nur durch das Medium ihres Geldwertes verknüpft sind, d. h. ihre Beziehung wie auch die Beziehung der Dinge untereinander nur noch symbolisch vermittelt sind und alles gegen alles getauscht werden kann, unabhängig von lokalen oder psychischen Bewertungen, erlebt sich das Individuum als von sich selbst abgetrennt: Das Individuum als Produzent und Konsument, als Angehöriger verschiedener sozialer Kreise erlebt sich nicht mehr als Einheit, da die Motivationen seiner sozialen Handlungen nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar sind. Die evolutionär notwendige Verschiebung von kurzzeitiger Trieberfüllung zu langfristiger, gesellschaftlicher Planung hat, in der durchrationalisierten Gesellschaft, in letzter Konsequenz zu einer Auflösung des subjektiven Sinns sozialen Handelns geführt. Das Individuum ist gezwungen, sich zur Gesellschaft als einer objektiven Gegebenheit zu verhalten, die natürlichen Notwendigkeiten der Urgesellschaft haben sich in soziale verwandelt. Salopp gesagt: Zwar hat die Evolution der Gesellschaft das Individuum von der Natur befreit, aber gleichzeitig dazu hat sich die Gesellschaft von der Individualität befreit. Das Individuum erlebt so sein Verhältnis zur Gesellschaft als Distanz, und dieses Erleben wird, da Individualität immer sozial vermittelt ist, ins Erleben der eigenen Person übertragen.

Verschärft wird dieser Zustand durch das, was Simmel „Rhythmus“ und „Tempo“ nennt: Einerseits ist damit die sorgfältige Abstufung der Interessen und Tätigkeiten des Einzelnen gemeint, wie sie z. B. in der modernen Produktion in Fabriken zum Ausdruck kommt und sich in die Psyche des Individuums überträgt:

„Die einzelnen Betätigungen regelmässig abwechselnd, zwischen Aktivitäten und Pausen ein festgestellter Turnus, kurz, Im Nebeneinander wie im Nacheinander eine Rhythmik, die weder der unberechenbaren Fluktuation der Bedürfnisse, Kraftentladungen, Stimmungen, noch dem Zufall äusserer Anregungen, Situationen und Chancen Rechnung trägt.“ [43]

Andererseits - und hier kippt die beschriebene ‘Entfremdung’ ins Tragische - ist damit aber der „absolute Bewegungscharakter“ [44] der modernen Welt gemeint, die vom Einzelnen als Überforderung wahrgenommen wird. Simmel konstatiert - parallel zur Erhöhung des Warenproduktion, der Vermehrung des Geldquantums und der damit notwendigen lokalen und zeitlichen Komprimierung von Geldgeschäften und Produktionsabläufen - ein Aufkommen von „fortwährenden Differenzgefühlen und psychischen Chocs“ [45]. Die „Buntheit und Fülle“ [46] des Lebens ist in seiner Unzahl von Differenzierungen und kleinsten Unterschieden, seiner totalen Beweglichkeit lebensweltlich nicht mehr nachvollziehbar. Das Gefühl des Ungenügens gegenüber einer Unsumme von nur noch symbolisch vermittelten Wahlmöglichkeiten - d. h.: Jede ‘Wahl’ hat ihren Preis, bzw. ihre damit korrespondierende Menge an Lohnarbeit - erzeugt im Individuum ein Gefühl der Labilität, der Formlosigkeit und schliesslich Orientierungslosigkeit, die sich in der Zufälligkeit sozialer Bindungen jenseits traditionaler und familiärer Bindungen spiegelt.

Die neue Persönlichkeit konstituiert sich nun als das, was Simmel „das Wesen der Blasiertheit“ [47] nennt: Diese stellt eine Art Schutzmechanismus der Persönlichkeit dar. Die Entfremdung von den Dingen und der Gesellschaft, die unübersichtliche Raschheit im Wechsel von Eindrücken wird im Desinteresse an den Dingen überhaupt, ihrer Missachtung aufgelöst. Nicht in dem Sinne, wie Simmel betont, dass sie nicht mehr wahrgenommen würden, sondern dass der „Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird“ [48]. Indem sich dieses Desinteresse gegenüber den Dingen und die Entfremung von sich selbst zuletzt auf das gesellschaftliche Leben überträgt - also der Einzelne die Beziehung zum andern als Gefährdung der ohnehin labilen Persönlichkeit erfährt und damit als „nichtig“ erachtet -, sieht sich der Einzelne von den Andern abgetrennt [49].

4.2.4 Zusammenfassung

Fassen wir zusammen: Das „Tempo“ des Kultivierungsprozesses ist für die individuelle „Seele“ nicht mehr nachvollziehbar, persönliche und sachliche Kultur haben sich voneinander getrennt, es kann von zwei Evolutionen gesprochen werden, einer objektiven und einer rückläufigen subjektiven. Das Individuum sieht sich angesichts dieser Lage in seinen Existenzmöglichkeiten beschnitten, paradoxerweise gerade dadurch, dass diese Möglichkeiten bis zum Zerreissen expansiv und diversifiziert sind und deshalb vom Individuum als zufällig, sich selbst äusserlich erfahren werden. Dieses Gefühl der existenziellen Orientierungslosigkeit bringt, als letzte Zuflucht der Individualität, eine Vereinzelung mit sich, die Simmel mit Begriffen wie „Blasiertheit“, „Desinteresse“ und schliesslich „Aversion“ umschreibt: Individualität wird hier dadurch erreicht, dass sich der Einzelne der Gesellschaft entzieht und die damit verbundenen sozialen Handlungen missachtet, um so gewissermassen seinem „würdelosen“ Zustand den Stempel der Absichtlichkeit aufzudrücken. Der Zustand des modernen Individuums ist einer der zunehmenden psychischen Ausgrenzung des Einzelnen, die mit einer physischen Eingrenzung auf eine bestimmte gesellschaftliche Position/Funktion einhergeht. Wie Simmel bemerkt, wird das psychische Innenleben der Individuen immer komplizierter, während ihre wenigen arbeitstechnischen Handgriffe immer einfacher werden. Dieses Gefühl der totalen Auswechselbarkeit als gesellschaftlisches Wesen wird psychisch im ganz und gar virtuellen Gefühl einer nicht weiter definierbaren Einzigartigkeit negiert. Der ‘Mensch’ zieht sich so in die wie auch immer besetzte Innerlichkeit zurück, er wird in letzter Konsequenz zum soziologisch nicht mehr beobachtbaren Wesen [50].

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4.3 ‘Chancen’ des Individuums

Mit einer Art Genugtuung beschreibt Simmel am Ende seines Aufsatzes Persönliche und sachliche Kultur die „Ohnmacht“, aber auch die „Feindseligkeit, mit der sehr individualistische und vertiefte Naturen jetzt so häufig dem „Fortschritt der Kultur“ gegenüberstehen.“ Die Unterwerfung des Menschen unter den ungeheuren Rationalisierungsapparat ‘Gesellschaft’ wird hier als „Ohnmacht“ verstanden, also als Machtlosigkeit, der nur mit Widerstand zu begegnen ist. Dieses seltsame Doppelverhältnis - dass nämlich die „vertieften Naturen“ oder die Subjekte, wie wir gesehen haben, erst in der Gesellschaft individualisiert werden, dies dann aber als Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein erfahren - erinnert an die Foucaultsche ‘Genealogie der Macht’: Auch dort wird das moderne Subjekt als Unterwerfungsprodukt beschrieben, die Prozesse der Individualisierung als moderne Form der Disziplinargesellschaft. Das Individuum übernimmt dabei die Zwangsmittel der Gesellschaft, internalisiert sie und spielt sie gegen sich selber aus. Bereits Simmel hat die zwanghafte, ständige Selbstanalyse des modernen Menschen, seine zu Markte getragene Übersensibilität als psychische Spiegelungen der rationalisierten Gesellschaft erkannt. Die von Foucault in Mikroanalysen untersuchten „Wahrheitsrituale“ [51] und damit: Unterwerfungsrituale der Moderne, die Verteilung der Individuen auf Funktionsstellen, die „panoptische“ [52] Organisation des psychischen und physischen Lebens, findet bei Simmel ihre Entsprechung und gipfelt in der defizitären Vorstellung eines Subjekts, das sich „nervös“ und „ohnmächtig“ aus dem Wissens- und Objektfundus der Gesellschaft das „Passende“ aussucht, und sich damit, indem es sich selbst beschreibt, von neuem der Gesellschaft ausliefert, die an seiner Individualität nur als Funktionsstelle interessiert ist.

Simmel arbeitet nun - im Zusammenhang mit der oben gestellten Frage nach den Chancen des Individuums in der modernen Gesellschaft - zwei entgegengesetzte Möglichkeiten zur Verwirklichung des Individuums aus.

4.3.1 „Vornehmheit“

Die eine Möglichkeite, die man radikalsubjektivistisch nennen könnte und oft kritisiert worden ist, zielt auf eine neue Innerlichkeit ab: Simmel beschreibt sie, in Anlehnung an das „Pathos der Distanz“ [53] Nietzsches, als „Vornehmheit“ [54]:

„Kraft und Schönheit, Denktiefe und Gesinnungsgrösse, Milde und Vornehmheit, Mut und Herzensreinheit - von einer autonomen Bedeutung, die von ihren sozialen Verflechtungen völlig unabhängig ist. Es sind Werte des menschlichen Seins und als solche von den sozialen Werten, die immer auf den Wirkungen von Personen beruhen, durchaus getrennt.“

Die „Vornehmheit“ erscheint hier als eine völlig eigendynamische Entfaltung des Individuums, die sich der Wechselwirkung von gesellschaftlicher und persönlicher Entwicklung kategorial entzieht. Gleichzeitig, und das sei hier nur angedeutet, kehrt sie den Sinn der Evolution um: Diese wird nun nicht mehr nach dem grösstmöglichen Nutzen für die Entfaltung aller betrachtet, sondern an der Entwicklungshöhe einiger Luxusmenschen gemessen. Der Nihilismus der modernen Kultur, der auf die „Distanzierung“ der Dinge vom Menschen [55], schliesslich vom Menschen von sich selber zu beobachten ist, wird gewissermassen in einer andern Distanzierung überwunden, nämlich der der „Vornehmen“ vom Sozialen überhaupt. Auf diese seltsame Nietzscherezeption muss wohl nicht weiter eingegangen werden.

4.3.2 Die Mesoebene: Zweckverbände

Die zweite Möglichkeit ist gleichzeitig komplexer und fruchtbarer und lässt sich, in ganz und gar veränderter Form, bis in die heutige Soziologie verfolgen [56]. 

Wie wir gesehen haben, basiert Simmels Zeitdiagnose auf einer Dialektik von Individualisierung und Sozialisierung, also einer Untersuchung der Ausbildung moderner Individualität im Lauf der Kulturevolution. Dabei konzentriert sich Simmel fast ausschliesslich auf die Mikro- und die Makroebene des Sozialen: Gesellschaft als Ganzes und Individuum als Ganzes. Den Mesobereich schliesst er weitgehend von seiner Untersuchung aus, nicht zuletzt als klare Abgrenzung zur Klassentheorie des Historischen Materialismus. Hypothetische Gruppenbildung und die Ableitung von gesellschaftlichen Zuständen und Veränderungen aus Gruppen, Verbänden und Klassen bezeichnet er an verschiedener Stelle als soziologisch unzulässig und „metaphysisch“ [57].

Gleichzeitig beobachtet Simmel aber - und das ist einer der wenigen Punkte, an denen sich Simmel auf den Mesobereich des Sozialen einlässt - das Entstehen von Zweckverbänden: Durch die Differenzierung der Persönlichkeit sind Assoziationen auf rein abstrakt-sachlicher Basis möglich geworden, die nur eine spezifische Rolle ihrer Mitglieder tangieren. Simmel gibt dafür das Beispiel der Aktiengesellschaften, in denen nur das jeweils investierte Geld die Gemeinschaft ihrer Mitglieder ausmacht. In gleicher Weise ist es bei einer politischen Partei ausschliesslich das politische Interesse oder - im Fall der Sozialdemokratie - die Rolle als Lohnarbeiter usw., die die Mitglieder der entsprechenden Assoziation gemeinsam haben. Simmel bezeichnet deshalb diese Verbände als „jene Organisationsart, die sozusagen das Unpersönliche an den Individuen zu einer Aktion vereinigt und uns die bisher einzige Möglichkeit gelehrt hat, wie sich Personen unter absoluter Reserve alles Persönlichen und Spezifischen“ [58] vereinigen können.

Interessant ist in dieser Hinsicht, dass sich Simmel scheinbar die Vereinigung von Individuen nur unter Beibehaltung der weiter oben beschriebenen „Reserve alles Persönlichen“ vorstellen kann: Nur so, auf rein sachlicher Ebene, ist eine gemeinsame „Aktion“, also eine zweckmotivierte Einmischung in die Gesellschaft möglich [59]. Kurz gesagt ermöglichen Zweckverbände den Individuen das, was Simmel dem einzelnen Individuum abspricht: Einfluss zu nehmen auf die „objektive Kultur“, sich am Evolutionsprozess der Gesamtkultur aktiv zu beteiligen. Dass dabei seine „Persönlichkeit“, seine „lebensweltlichen Interessen“ [60] nicht zur Geltung gebracht werden können, sondern ausschliesslich seine rein sozialen (d. h. vor allem ökonomischen), lässt der pessimistische Ansatz Simmels natürlich auch hier nicht unbetont [61].

Im Folgenden soll nun versucht werden, im Anschluss an diese zuletzt ausgeführten Überlegungen Simmels zu den Chancen des Individuums als sozialem Akteur einen weiteren, wesentlich neueren (1990) soziologischen Ansatz - Organisationen als soziale Akteure - zu untersuchen, ohne dabei die Parallelen zu Simmels Überlegungen aus den Augen zu verlieren. Es geht dabei mehr um einen abrundenden Ausblick, als um eine tiefere Beschäftigung mit Gesers Ansatz einer „soziologischen Handlungs- und Interaktionstheorie“ [62] formaler Organisationen.

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5. Organisationen als soziale Akteure

Bereits in der Einleitung betont Geser - wie in Abgrenzung zu Simmels Ausklammerung des Mesobereichs aus seiner soziologischen Theorie - dass „praktisch alle wesentlichen Ereignisse und Entwicklungen auf sozietaler Ebene im Mesobereich formaler Organisationen ihre kausale Wurzel haben.“ Zwar wird dabei explizit auf den Akteurstatus von Organisationen hingewiesen - weil die „Entwicklungen“ auf sozietaler Ebene „zwingend dem Kollektiv als Verursachungsinstanz zugerechnet werden können“, also eine Kausalität besteht, die auf einen autonomen Verursacher hinweisen -, gleichzeitig aber ein Hiatus festgestellt wird zwischen dieser „exotischen Welt von sich immer weiter ausbreitenden corporate actors“ und der „Lebenswelt“ ihrer Mitglieder, den Individuen. Geser betont hier, im Gegensatz zu Simmel, die Möglichkeit einer kausal rückführbaren Einflussnahme auf das, was Simmel Gesamtkultur nennt - aber wiederum sind dabei die Individuen nur als Mitglieder, nicht in ihrer lebensweltlichen Persönlichkeit beteiligt [63]. Die Möglichkeit der Einflussnahme ist hier nicht vom Individuum zur Gesellschaft als objektiver Totalität übergegangen - wie in Simmels pessimistischer Sicht -, sondern hat sich im Bereich von organisierten Akteuren angesiedelt. Während bei Simmel der Begriff „social actor“ eigentlich nur noch auf die Kultur als Gesamtes anwendbar ist [64] - und damit seinen Sinn verliert -, spricht ihn Geser den formalen Organisationen zu. Diese sind, da sie kein biologisches oder psychologisches System darstellen, ganz und gar durch zielgerichtete soziale Aktionen konstituiert und deshalb empirischen Studien zugänglicher als Individuen, die immer über einen ‘unsichtbaren’ Teil, das „Privat- oder Innenleben“ verfügen. Ihrer hohen systemischen Komplexität wegen bezeichnet sie Geser als „role-making actors“: Sie sind nicht, wie Simmels „würdeloses“ Individuum, gezwungen, Normen schlicht zu applizieren und sich demgemäss zu verhalten, sondern sie selbst sind befähigt, Normen zu konstituieren und sie - gegen Staat und Individuum - durchzusetzen [65]. Damit ist eine neue Gesellschaftsform entstanden, die von interorganisationellen Beziehungen geprägt ist:

„(Es) konstituiert sich eine neuartige, überraschend improvisiert anmutende gesellschaftliche Gesamtordnung, die sich dem Zugriff privatrechtlicher Normierungen (die primär auf interindividuelle Verhältnisse zugeschnitten sind) und der Steuerung durch staats- und verwaltungsrechtliche Setzungen in gleicher Weise entzieht.“

Wenn man sich nun diese neuartige, multiorganisationelle Gesellschaftsform nicht, wie Geser es tut, als Übergang des Akteurstatus’ von Individuen zu Organisationen, sondern umgkehrt von der „Gesamtkultur“ zu den jeweiligen „Kulturen“ der formalen Organisationen vorstellt, dann ergibt sich eine überraschende Parallelität zu den Überlegungen Simmels [66]. Wieder sieht sich das Individuum einem ausserhalb seines Einflussbereiches interagierenden Gesamtsystem gegenüber, wieder ist ein mehr oder weniger autonomer Rationalisierungs- und Normierungskomplex entstanden, wieder hat sich - in totaler Parallelität zu der von Simmel beschriebenen Umkehrung der sozialen Schichtung von Käufer und Verkäufer - eine Wirtschaft ausgebildet, in der „hochqualifizierte Unternehmungen“ „unbedarften Laienpersonen“ als Produzenten gegenüberstehen. Damit ist es nicht weiter verwunderlich, dass Gesers im Hinblick auf die heutigen Chancen des Individuums pessimistisches Fazit fast deckungsgleich ist mit Simmels Verabschiedung des aufklärerischen Individualisierungskonzepts:

„ (...) die moderne Gesellschaft (stellt) zunehmend eine von und für Organisationen erzeugte Sozialordnung (dar), innerhalb der die Individuen neue Strategien finden müssen, um ihre ‘lebensweltlichen’ Interessen zur Geltung zu bringen.“

Die Definition dieser Strategien, ja, der Suche danach, steht aber - solange sie nicht rechtliche Einschränkungen betreffen [67] - noch an.

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6. Resümee

Ob man nun die Konstatierung der ‘Vernichtung’ des Individuums und seine Verwandlung in ein orientierungsloses, sozial und psychisch vereinzeltes und gegenüber der „objektiven Kultur“ marginalisiertes Wesen als Folge einer spezifischen methodischen Beobachterposition - des Simmelschen Kulturpessimismus’ oder der heutigen Handlungstheorie - verstehen will, oder sie als objektive gesellschaftliche Zeitdiagnose anerkennt: Es scheint, dass der Handlungsspielraum des Individuums - eben seine Möglichkeit, seine „’lebensweltlichen’ Interessen zur Geltung zu bringen“ - in der Moderne und ihrer Folgezeit auf ein Minimum beschränkt worden ist, das für eine an gesamtgesellschaftlichen Erklärungsmodellen interessierte Soziologie nicht mehr relevant ist.

So verwundert es nicht, dass die „Lebenswelt“ des Einzelnen auf der einen und das „System“ Gesellschaft auf der anderen Seite heute mit aller Selbstverständlichkeit als zwei verschiedene Soziologien betrieben werden [68], die über verschiedene theoretische und statistische Apparate verfügen. Der ‘Abgrenzungskampf’ der frühen Ethnomethodologie - die eine dezidiert subjektive Perspektive einnahm - gegenüber der quantitativen ‘Schulsoziologie’ ist ein Beispiel dafür: Insofern lässt sich natürlich Simmels Ansatz - nämlich das Individuelle sozial, also rollentheoretisch als Überschneidung verschiedener „sozialer Kreise“ zu definieren, gleichzeitig aber das Uneinholbare des Individuellen zu behaupten - als methodische Vermischung kennzeichnen.

Heutige Soziologie muss deshalb unserer Ansicht nach - und in Hinsicht auf den Simmelschen Relationalismus - gerade diese ‘methodische Vermischung’, diese Grauzone untersuchen: Wie es dem Individuum gelingt, sich zugleich als soziales und ganz und gar unabhängiges Wesen zu verstehen. Dass es dabei nicht mehr um die „kausale“ Erklärung von gesellschaftlichen Veränderungen gehen kann, sondern höchstens um die Repräsentation des Gesellschaftlichen im Subjekt, ist klar: Aber vielleicht können gerade dadurch neue Perspektiven gewonnen werden, die uns über die ‘Chancen’ jedes Einzelnen aufklären.

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Fussnoten:

[1] Der Begriff des Individuums ist innerhalb der Arbeit noch genauer zu definieren. Etymologisch gesehen ist er natürlich schlecht gewählt, bezeichnet er doch gerade das ‘Ungeteilte’, während Simmel von der Entstehung des Individuums als Folge sozialer Differenzierungsprozesse ausgeht. Begriffe wie ‘Glied der Gesellschaft’, ‘Subjekt’, ‘der Einzelne’ usw. werden hier als deckungsgleich verwendet.

[2] Bachmaier, H., Rentsch, T.: Simmel, Georg. In: Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosphen. Zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage.

[3] Kennzeichnend dafür sind die bei Simmel häufigen binären Begriffspolaritäten: Möglichkeit-Wirklichkeit; rational-einfühlend; Wille-Seele; subjektiv-objektiv; qualitativ-quantitativ usw. Diese organische Schreibweise, die Begriffspolaritäten perspektivisch verwendet und sich gerne selbst widerspricht, lässt sich auch in der Rezeption Simmels nachzeichnen: So gilt Simmel gleichzeitig als der Verkünder der „Tragödie der Kultur“, in der die „objektive Kultur“ das Individuum an die Peripherie des kulturellen Gesamtzusammenhangs gerückt hat (Lichtblau), und als Theoretiker des „chancenreichen Individuums“, das seine Individualität erst durch die sozialen Bedingungen der Moderne zu entwickeln befähigt ist (Schroer). Dies lässt sich, wie wir zeigen werden, darauf zurückführen, dass Simmels theoretischer Zugang zum Problem der gesellschaftlichen Evolution weder bei ‘der’ Gesellschaft noch bei ‘dem’ Individuum ansetzt, sondern beide Perspektiven miteinander verbindet (Vgl. dazu den Begriff der „Wechselwirkung“, das eigentliche Herzstück der Simmelschen Methode, auf das wir zurückkommen werden).

[4] Bachmaier, H., Rentsch, T.: op. cit.

[5] Simmel, G.: Persönliche und sachliche Kultur, Handout, S. 1. Die folgenden Zitate stammen, wenn nicht anders gekennzeichnet, aus diesem Aufsatz.

[6] Aufgrund dieses eigentlich wilden Theoretisierens, das Philosophie, formale Soziologie im Stile Webers und allgemeine Kulturtheorie miteinander verbindet, hat Simmel - wie viele andere - lange Jahre unter dem Vorwurf des „Ästhetizismus“ (Lichtblau) zu leiden gehabt. Natürlich hängt dies mit der zeitgenössischen Situation der Simmelschen Soziologie zusammen, die sich ja erst, neben Geschichtswissenschaft und Philosophie, als eigenständige Disziplin etablieren musste: Die theoretischen Begrifflichkeiten Simmels sind so aus den verschiedensten Fachbereichen zusammengetragen, in erster Linie aus der (Transzendental)Philosophie und einer Art historischen Hermeneutik Diltheyscher Prägung. Das „ästhetische“ oder „metaphysische“ Vokabular ergibt sich also aus der zeitgenössichen theoriesprachlichen Situation heraus. Erst in seinem ‘mittleren Werk’ (z. B. der Philosophie des Geldes oder dem dieser Arbeit hauptsächlich zu Grunde liegenden Aufsatz Persönliche und sachliche Kultur) beginnen die werkgeschichtlichen Fäden in einer eigenständigen ‘Soziologie’ zusammenzulaufen. Das absichtsvoll spannungsvolle, ‘oberflächliche’ Theoretisieren Simmels, das sich vornehmlich an zeitgenössischen Erscheinungen (Mode, Lebensstile, Rollenmodelle, Literatur usw.) entzündet und Formalisierungen mehr anbietet als behauptet, wurde so lange Zeit nicht in seiner eigenartigen Dialektik gewürdigt, sondern als wirre Theorie des „Vielleicht“ und des „Als-Ob“ abgelehnt, die für „Gesamtprozesse“ blind bleibe, weil sie sich zu sehr auf das „Beispielhafte“, das „Künstliche“ reduziere (Adorno, Th. W.: Brief an Walter Benjamin.) - und überhaupt nicht mehr sei als ein „Spiel mit gedanklichen Zuspitzungen“ (Lukács: Die Zerstörung der Vernunft.). Dieser verkannte ‘qualitative’ Anspruch der Simmelschen Soziologie wurde so, vor allem durch den Einfluss der Frankfurter Schule, aus der soziologischen Diskussion verbannt und erst in den 60er-Jahren (praxisorientiert) wieder aufgenommen, etwa in der Ethnomethodologie.

[7] Lichtblau, K.: Georg Simmel.

[8] Dieses Problem wird von der Simmelrezeption immer wieder herausgestellt: Auf der einen Seite der Philosoph, der es, auf der Grundlage eines klassischen Kunstverständnisses, mit Ideen und Idealen zu tun hat, auf der andern der Soziologe, der eine formale Analyse der Moderne anstrebt. Gerade in den Diskussionen im Umfeld der sog. ‘Postmoderne’ wurde dieser ‘doppelte Simmel’ gern als Ausdruck der Zerrissenheit der Moderne verwendet, ohne die nötigen Abgrenzungen zu treffen, die für ein Verständnis Simmels als Soziologen (leider) notwendig sind. Vg. dazu: Weinstein, D., Weinstein, M.: Postmodern(ized) Simmel.

[9] Die von Simmel gewählten Begriffe werden, um sie von ihrer umgangssprachlichen Bedeutung abzuheben und als ‘noch zu definierende’ zu kennzeichnen, in Anführungszeichen gesetzt.

[10] Der Begriff des „Wertes“ ist bei Simmel eng gekoppelt an die Konzepte der Wechselwirkung und der Differenzierung: Erst indem sich ein „Ding“, also ein Objekt vom Subjekt als etwas „Begehrtes“ abhebt und in Bezug auf dieses Begehren wertvoll wird, differenziert sich das Begehren des Subjekts und hebt sich so vom nicht zielgerichteten triebhaften Verhalten ab. Indem also ein Ding wertvoll wird, überträgt sich dieser Wert ins Subjekt: Es entsteht sinnvolles, auf ein Objekt gerichtetes Handeln, es entwickelt sich ein ‘sozialer Akteur’. Vgl. dazu: Ebers, N.: „Individualisierung“.

[11] Natürlich gilt dies auch für die Gesellschaft als Ganzes: Da auch die Gesellschaft von Simmel als Realobjekt (und nicht als Erkenntnisobjekt) - d. h. als geformtes „Ding“ - betrachtet wird, erhalten die Individuen erst in der gesellschaftlichen Interaktion (also im gesellschaftlichen Werterhöhungsprozess) ihre reale Individualität. So wie der Künstler, um Simmels Beispiel wiederaufzunehmen, in seiner „Wirkung“ auf die Dinge wächst, so individualisiert sich der Mensch parallel zur Ausformung der Gesellschaft in Rollenmustern etc: Je feiner sich die Gesellschaft differenziert, desto feiner differenziert sich der Mensch. „Reine Individualität“ ist in soziologischen Masstäben nicht erkennbar und deshalb uninteressant: Individualität muss den ‘Umweg’ über die Gesellschaft nehmen, das Individuum ist zugleich Glied und Produkt der Gesellschaft. Individualität ist damit eine Form des Vergesellschaftetseins. Auf diese dynamische Vorstellung von Gesellschaft werden wir noch zurückkommen.

[12] Simmel gibt dafür das Beispiel der Dikrepanz zwischen virtuell vorhandener „Sprachmöglichkeit“ und der individuell aktualisierten „Umgangssprache“: Während das Deutsche zu diesem Zeitpunkt (Ende des 19. Jahrhunderts) zu den grossen Kultursprachen Europas gehört und die Universitäten des Deutschen Reiches im Bereich der (historischen) Sprachwissenschaft führend sind, hat sich die Alltagssprache zunehmend vulgarisiert. Dass diese neue, verbürgerlichte und zunehmend proletarisierte Umgangssprache ihrerseits die „Sprachmöglichkeiten“ beeinflusst - also durchaus eine Wechselwirkung zwischen Umgangs- und Literatursprache (z. B. in der naturalistischen Dramatik oder in der zu dieser Zeit aufkommenden sozialdemokratischen Pamphletliteratur) zu beobachten ist -, davon sieht Simmel in diesem Zusammenhang ab, da er sich strikt an einem klassischen Kulturideal orientiert.

[13] Diese Tatsache gilt, wie erwähnt, für die ‘Form’ Gesellschaft prinzipiell: Ihre Realität ist a priori nicht vom Wahrgenommenwerden eines Beobachters abhängig. Zwar ist die Gesellschaft für Simmel die Summe der Bewusstseinsakte ihrer Teile (also der Individuen), aber diese Bewusstseinsakte (die man sich als eine Unzahl von ständig ablaufenden Sozialisierungsprozessen vorstellen muss) sind die ganze Einheit - es bedarf keiner externen Beobachtung. Die von Simmel beschriebene „Tragödie“ besteht hier also schlicht darin, dass die Bedeutsamkeit dieser Bewusstseinsakte abgenommen hat. (Vgl. dazu Ebers, der ganz allgemein zu Simmels Gesellschaftsbegriff formuliert: „Es geht ihm um eine subjektunabhängige Wesensbestimmung des Gesellschaftlichen“.)

[14] Natürlich betrifft diese ‘Vernichtung’ nur die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Individuum und nicht die von Simmel so genannte „reine Individualität“. Da diese „reine Individualität“ soziologisch aber nicht beobachtbar ist, findet erkenntnistheoretisch tatsächlich eine ‘Vernichtung’ statt: Die von der objektiven Kultur ausgehende Festlegung des Individuums auf eine bestimmte Rolle im Gefüge der Arbeitsteilung, die Abdrängung des Individuellen ins soziologisch Unsichtbare.

[15] Freiheit als nur durch eine wie auch immer besetzte „Gleichgütligkeit“ erreichbar: Das ist wohl eine Beobachtung, die mit der von Simmel hier verwendeten Perspektive zusammenhängt, die den sozialen Mesobereich ausklammert. Denn, wie er an anderer Stelle feststellt: „Nachdem die Differenzierung der Arbeit ihre verschiedenartigen Zweige gestaltet, legt das abstraktere Bewusstsein wieder eine Linie hindurch, die das Gemeinsame dieser zu einem neuen sozialen Kreise umschliesst.“ (Simmel, G.: Die Kreuzung sozialer Kreise) Simmel hat diese moderne Handlungsfähigkeit des Individuums „in einem neuen sozialen Kreise“ am Beispiel der Frauenbewegung und der aufkommenden Sozialdemokratie untersucht. Darauf werden wir, im Zusammenhang auch einer Lektüre zweier Geser-Texte, zurückkommen. Dass aber die von der Moderne gewährleistete ‘Freiheit’ in erster Linie eine Freiheit von etwas (nämlich von traditionellen Bindungen), weniger aber eine Freiheit für etwas (eine neuartige Form der Individualität) ist, dieses Problem bleibt bestehen.

[16] Simmel, G.: Gesammtausgabe, Band 6: Philosophie des Geldes, S. 665.

[17] Simmel gibt auch Gegenbeispiele. In der Ehe z. B. bleibe die objektive Entwicklung hinter der subjektiven zurück: Die Evolution der modernen Paarbeziehung sei soweit fortgeschritten, dass sie die normativ-juristische Gegebenheit der Ehe überholt habe.

[18] Die Vorstellung des Weltbürgers taucht erst in Simmels Spätwerk explizit auf. Sie bezeichnet eigentlich die extreme Rücknahme der Forderung auf Individualität: Der Mensch schützt sich gerade dadurch vor der objektiven Welt, indem er ein Mensch und sonst gar nichts ist.

[19] Adorno, Th. W.: Henkel, Krug und frühe Erfahrung.

[20] Adorno, Th. W: op. cit.

[21] Habermas selbst weist in seinem Nachwort zu Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essays. auf diese ständigen „Orientierungsumschwünge“ in Simmels soziologischer Theorie hin, meint sich aber - wie nicht? - vom „expressivistischen Bildungsideal“ Simmels distanzieren zu müssen.

[22] Ebers, N., op. cit.

[23] Die Frage ist absichtlich naiv gestellt und einem „expressivistischen Bildungsideal“ verpflichtet, so als habe die Evolution einen Zielpunkt und sei deshalb erst in Gang gekommen. Aber es ist wohl sinnvoll, die Evolution (in einer Versuchsanordnung) als zielgerichtetes Projekt zu betrachten, dementsprechend dann die verschiedenen Zeitanalysen eingeordnet werden können.

[24] Ebers, N.: op. cit.

[25] Simmel, G.: Die Kreuzung sozialer Kreise.

[26] Anzumerken wäre hier, dass auch das Verhältnis des Individuums zu sich selber noch ein direktes, da nicht gesellschaftlich funktionalisiertes ist. Das Individuum ‘erfährt’ sich als homogen. Da aber diese Urgesellschaft in sich homogen ist, „qualitative“ Individualität aber erst durch „quantitative“ - also rollendefinierte - Inbesitznahme des Individuums durch die Gesellschaft erreicht werden kann, darf von ‘Individuen’ im Sinne Simmels eigentlich noch nicht die Rede sein.

[27] Simmel, G.: op. cit.

[28] Simmel, G.: op. cit.

[29] Ebers, N.: op. cit.

[30] Simmel, G.: Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität.

[31] Simmel hat eine komplizierte Theorie zu dieser Persönlichkeitskonstitution geliefert: Das sozialisierte Individuum ist, über seine Definition als Träger einer oder mehrerer bestimmter Rollen hinaus, „ausserdem noch etwas“ (Ebers), das die Erfahrung der Zersplitterung als Einheit ermöglicht. Simmel spricht von einem Kontinuum, dessen einer Pol die Annäherung des Aussersozialen an Null bezeichnet (Liebe, Freundschaft), dessen anderer Pol aber ein fast vollständiges Aufgehen in der sozialen Rolle, also eine Verobjektivierung der Person bezeichnet.

[32] „(...) die Vorstellung, dass für jede Persönlichkeit eine Position und Leistung innerhalb der Gesellschaft bestehe, zu der sie „berufen“ ist, und der Imperativ, so lange zu suchen, bis man sie findet.“ (Simmel, G.: Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?)

[33] Beck, U.: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften.

[34] Simmel hebt die Bedeutung der Familie hervor, da sie ihren Mitgliedern eine vorläufige - z. B. in der Rolle als Sohn - Differenzierung als Vorbereitung auf die absolute Individualität im weitesten sozialen Kreis (der Gesellschaft) ermöglicht.

[35] Simmel, G.: Die Grossstädte und das Geistesleben. Simmel nennt als Beispiele dieser Verweigerung das in der Moderne aufkommende „romantische Naturgefühl“ - also die Naturflucht in der Form bürgerlicher Landpartien, bzw. die neoromantische Besteigung von Berggipfeln -, das sich wiederum am klassischen Ideal der Naturverbundenheit orientiert.

[36] Habermas, J.: op. cit. Habermas nennt Namen wie Hans Freyer und Joachim Ritter.

[37] Der Ansatz Garfinkels - nämlich dass der Akteur die soziale Wirklichkeit gerade hervorbringt, indem er sich darin orientiert - ist von Simmel zwar im Konzept der Wechselwirkung vorweggenommen, aber so nicht denkbar. Für Simmel ist die Struktur der Gesellschaft ein soziologisches Apriori, und, im schlimmsten Fall, vom Bewusstsein seiner Teile ganz und gar unabhängig. Im Übrigen ist auch das heute beliebte Konzept der Biographiekonstruktion von Simmel zwar vorgedacht worden, aber unter andern Vorzeichen: Das „Leben“ - und darin ist Simmel ein Kind seiner Zeit - ist für ihn per se eine unauflösbare Totalität, und dieses Leben findet seine innerliche Totalität in der sog. „Seele“ - jedoch nur über den Umweg der Objektivierung (in der Gesellschaft), und darin liegt, wie wir gesehen haben, das Problem.

[38] Frisby, D. P.: Georg Simmels Theorie der Moderne.

[39] Es wäre sinnlos, den oben kurz zusammengefassten Prozess der gesellschaftlichen Evolution nach Simmel hier noch einmal nachzuvollziehen, obwohl vieles (z. B. die zentrale Bedeutung des Geldes) übergangen wurde. Die weiteren Untersuchungen konzentrieren sich deshalb auf Simmels Zeitdiagnose.

[40] In Anlehnung an Bergsons Theorie der durée unterscheidet Simmel zwischen einer inneren (individuellen) und einer äusseren Zeit, deren extremste Ausprägung die minutengenaue Koordination der Massenproduktion ist.

[41] Simmel, G.: Die Grossstädte und das Geistesleben.

[42] Simmel, G.: op. cit.

[43] Simmel, G.: Philosophie des Geldes.

[44] Simmel, G.: op. cit.

[45] Simmel, G.: op. cit.

[46] Simmel, G.: op. cit.

[47] Simmel, G.: Die Grossstädte und das Geistesleben.

[48] Simmel, G.: op. cit.

[49] Wiederum nicht in dem Sinn, als der Andere einfach „nicht wahrgenommen“ wird. Vielmehr wird der andere als Überforderung der, wie Simmel sagen würde, „Nerven“ erfahren, als zu komplex und damit zu anstrengend. Da gleichzeitig der Mensch in der modernen Massengesellschaft zu einem durch und durch quantitativen Begriff geworden ist, erscheint es angesichts der Kontingenz einer Begegnung als sinnlos, sich mit genau diesem abzugeben. Dies wird noch genauer ausgeführt.

[50] Simmel betont, dass es die Soziologie mit Realien und mit Akten (im Husserlschen Sinn) zu tun haben müsse. Wenn aber der ‘eigentliche’ Mensch gerade im Unsichtbaren, also jenseits seiner sozialen Erscheinungsformen, zu finden ist: Was ist dann die Aufgabe der Soziologie - wenn sie sich nicht am postmodernen Spiel um die „Vernichtung des Realen“ beteiligen will, oder, um es mit Baudrillard auszudrücken: „L’Homme n’a pas eu lieu“.

[51] Foucault, M.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Gemeint sind die Rituale der Selbstbezichtigung und Selbstanalyse, die Foucault v. a. anhand der Liebe untersucht, und die den Zweck haben, das Subjekt immer von neuem in die Disziplinargesellschaft einzubinden, indem eine vorgebliche Individualisierung stattfindet.

[52] Foucault, M.: op. cit.

[53] Nietzsche, F.: Götzendämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemässen. Vgl. dazu: Lichtblau, K.: Das „Pathos der Distanz“

[54] Simmel, G.: Grundfragen der Soziologie. Zitiert nach: Lichtblau, K.: op. cit.

[55] Wie erwähnt ist auch der Wertbegriff Simmels eine Funktion dieser Distanzierung: Der Aufschub des Begehrens in der Distanzierung des Objekts vom Subjekt und der daraus entstehenden Notwendigkeit der Handlung schafft erst den Wert. Wie genau der neue, nicht mehr sozial transportierte Wert in der Gesellschaft der „Vornehmen“ aussieht, darüber gibt Simmel keine Auskunft - ausser, dass es eben „Werte des menschlichen Seins sind“.

[56] Vgl. dazu: Geser, H.: Organisationen als soziale Akteure.

[57] Der Begriff „metaphysisch“ hat bei Simmel eine doppelte Bedeutung: Einerseits ist er ein Synonym für Philosophie (in Abgrenzung zur Soziologie), andererseits ist damit eine unscharfe Soziologie bezeichnet (wie z. B. der Marxismus).

[58] Simmel, G.: Philosophie des Geldes.

[59] Ein Grenzfall dieser Bestimmung würde die Frauenbewegung darstellen: Die Entscheidung, ob „weiblich“ eine eigene, ‘existenzielle’ Kategorie darstellt oder nur in einer Relation (d. h. zum Männlichen) denkbar ist, ob sie also den persönlichen, vorsozialen Kern einer Person betrifft oder nicht, das hat Simmel ganz klar im Sinne eines weiblichen Prinzips - dem „Gegensatz der Geschlechter“ - entschieden. In diesem Zusammenhang hat er sogar eingeräumt, dass die sozialen Normen bis hin zum Menschheitsbegriff von einer männlich-patriarchalischen Kulturevolution geprägt sind, d. h. dass im gesellschaftlichen Diskurs die Bestimmung „objektiv=männlich“ gilt, gleichzeitig von der Frau aber paradoxerweise verlangt wird, dass sie sich anders, eben nicht „männlich=objektiv“ verhalte. Die Frau muss gewissermassen innerhalb der Gesellschaft die durch die Rationalisierung der Arbeitsverhältnisse entstandene subjektivistische Leerstelle ausfüllen. Das Ziel der Frauenbewegung kann es demnach gemäss Simmel nur sein, neben der männlichen eine „weibliche Kultur“ zu bilden, also Objektivierungen der Kategorie „Frau“. Nach Simmel ist dies auf zwei Gebieten möglich: In der Kunst (Schauspiel usw.) und dem „Heim als Kunstwerk“. Ob Simmel der Frau die „Tragödie“ des enfremdeten Mannes ersparen will oder einmal mehr dem klassischen Kulturideal auf den Leim gegangen ist, bleibt unklar: Auf jeden Fall scheint es so, als wäre die eigentliche Aufgabe der Frau, die zurückgebliebene Evolution der subjektiven Kultur voranzutreiben. Dass es der Frauenbewegung aber schlicht um die mit bezahlter Arbeit verbundene soziale Freiheit ging, hat Simmel paradoxerweise übersehen. (Alle Zitate nach: Coser, L. A.: Georg Simmels vernachlässigter Beitrag zur Soziologie der Frau.)

[60] Geser, H.: Organisationen als soziale Akteure.

[61] Damit wird auch die Distanz klar, die Simmels Auffassung von Zweckverbänden von den heute gängigen Theorien des Kommunitarismus (also einer Zivilgesellschaft) trennt: Während bei Simmel das wirklich Individuelle nur und ausschliesslich atomistisch gefasst ist, fussen diese Theorien auf der Vorstellung einer Verankerung der Individualität in sozialen Verständigungsprozessen. Für Simmel ist die Individualität - als einziger so zu sein, wie man ist - einfach ein Apriori, und auch die ethischen und moralischen Massstäbe (Weltbürger etc.) sind letztlich metaphysisch gefasst. Seine Vorstellung der Weltgesellschaft - die dritte, hier nicht weiter untersuchte Möglichkeit der Einbringung des Individuums in die Gesellschaft - ist deshalb nicht kommunitaristisch zu verstehen. Es geht Simmel nicht darum, dass sich die Individuen auf der Grundlage ihrer gegenseitigen Anerkennung als Bürger zu einer transparenten, machtfreien Gesellschaft zusammenschliessen, in der die Evolution gewissermassen diskursiv ausgehandelt wird. Vielmehr stellt er sich diese Utopie einer Weltgemeinschaft als Gesellschaft vor, in der das Apriori das Individualität - alle Elemente sind einander ungleich - die einzige Wertungsgrundlage darstellt: Eine durch und durch liberalististische Utopie natürlich.

[62] Geser, H.: Organisationen als soziale Akteure. Alle folgenden Zitate sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, diesem Aufsatz oder dem damit korrespondierenden des gleichen Autors - Toward an Interaction Theory of Organizational Actors - entnommen.

[63] Geser beschreibt dies gewissermassen als Vorteil, weil so die einzelnen Individuen, sobald sie sich zu corporate actors zusammenschliessen, rechtlich nicht mehr haftbar sind.

[64] Simmel spricht von der „Selbstbeweglichkeit der Objekte“.

[65] Geser macht hier die Einschränkung der „Verwundbarkeit“ der Organisationen, die sich der Staat mit „jeweils spezifischen Sanktionsstrategien“ zunutze machen kann.

[66] Die Konzentration auf das Verhältnis Organisationen-Individuen ergibt sich in Gesers Ansatz aus der soziologischen Handlungs- und Interaktionstheorie: Dort gilt das Interesse in erster Linie dem Inidividuum als sozialer Akteur, und das Aufkommen der Organisationen als Ablösung der Individuen in der sozialen Interaktion bietet sich an. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Individuen bereits im Prozess der Moderne ‘entmachtet’ worden sind, dann verlagert sich bei den hier abgehandelten Verschiebung des gesellschaftlichen Role-makings die „Selbstbeweglichkeit“ der objektiven „Gesamtkultur“ schlicht auf ein System der interorganisationellen Selbstbeweglichkeit.

[67] Geser nennt vor allem rechtliche Einschränkungen der Organisationen, die auf rigorosen normativen Verhaltenserwartungen basieren. Die momentane massive ethische und gesellschaftliche Inveantwortungsnahme der Tabakkonzerne ist ein Beispiel dafür.

[68] Eine Ausnahme davon wäre vielleicht Habermas’ Theorie (oder Utopie) des „kommunikativen Handelns“, das aber trotzdem zwischen System (Gesellschaft) und Lebenswelt (des Individuums) strikt unterscheidet.

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Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
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