Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Band
2:
Siebtes Kapitel: Einheit und Widerstreit der
Zwecke (S. 307-426)
Die Einheit der sittlichen Forderungen als logisches Postulat
Formaler und funktioneller Monismus im Ethischen
Moralprinzip des guten
Willens. Zusammenhang der Unsittlichkeit untereinander.
Voraussetzung
subsidiärer Prinzipien seitens des Monismus
Der Endzweck. Verhältnis der Einheit der Zwecke zum Endzweck
Die Skala
der Kategorien von der Objektivität zur Subjektivität; Stellung des
Zweckbegriffs auf denselben
Erkenntnistheoretische Erörterung des
Endzwecks
Die Zweckform als psychologische und
ethische Zweckeinheit
Die Einheit der Persönlichkeit
Die psychische Einheit als
psychologischer Zusammenhang
Charakterologische Gleichmässigkeit des
Individuums; das Beharren der individuellen Form
Die Ablehnung des
psychologischen Monismus in ihrer methodischen Bedeutung
Der Konflikt der
Pflichten
Das Individuum als Schnittpunkt verschiedener Kreise
Die
Tragödie
Historische und sachliche Schichtung der Pflichten
Bedingungen
der Lösbarkeit des Widerstreites
Die Nachwirkung unerfüllter
Forderungen
Der Pflichtenkonflikt als Ergebnis der soziologischen
Entwicklung
(<307) Neben dem unzählige Male geführten Beweise von der Mannigfaltigkeit
und Unvereinbarkeit der tatsächlichen moralischen Vorstellungen steht
eine einfache logische Überlegung, die den Verzicht auf ein höchstes,
allumfassendes Moralprinzip immer von neuem unterbricht.
Alle jene äusserst verschiedenen Vorstellungen von dem, was sittlich
ist, werden doch eben unter den Begriff des Sittlichen gebracht; ja erst
unter dieser Voraussetzung erscheint ihre Verschiedenheit eigentlich als
Gegensätzlichkeit, was überhaupt nicht der Fall wäre, wenn diese
Vorstellungen sich auf ganz unzusammenhängende Gebiete verteilten und so
(<308) des Vergleichungspunktes entbehrten.
Wenn die Handlung, die in dem einen Kulturkreise als sittlich gilt,
derjenigen genau entgegengesetzt ist, die in einem anderen das gleiche
Prädikat erwirbt, so ist doch in beiden der Begriff der Sittlichkeit
wenigstens als einer formalen Forderung der gleiche; so schliesst das, was
der Chinese unter körperlicher Schönheit versteht, den Inhalt des
europäischen Schönheitsbegriffes fast völlig aus, während zweifellos
das Prädikat des Schönen an und für sich beiden das Gleiche bedeutet -,
wir dürfen annehmen, dass die ästhetischen Gefühle die gleichen sind,
die in der einen Rasse durch völlig andere Gegenstände als in der andern
ausgelöst werden.
Die Gleichheit von Resultaten fordert sogar eine Verschiedenheit der
objektiven Faktoren, wenn eine Verschiedenheit der subjektiven vorliegt. So verstehen wir prinzipiell, wie ganz dasselbe Wertgefühl sich auf
ganz verschiedenartige Eindrücke hin einstellen und dann als gleiches auf
die verschiedenen Objekte projiziert werden kann.
Nun haben wir freilich im letzten Grunde nur die Gleichheit des
sprachlichen Ausdrucks, die uns die Gleichheit der Vorstellung des
Sittlichen nahe legt, eine Gleichheit, die keineswegs nur da wo es sich um
verschiedene Sprachen handelt, einer recht erheblichen Ungleichheit des
Sinnes Raum gibt.
Trotzdem würde ich es für einen leeren und ungerechtfertigten
Skeptizismus halten, daraufhin nun zu leugnen, dass der Begriff oder das
Gefühl des Sittlichen als solchen im Grossen und Ganzen ein
übereinstimmendes auch bei denjenigen sei, die in den konkreten Inhalten,
auf die sie diesen Begriff anwenden, durchaus voneinander abweichen.
Auch wo die Analyse noch nicht zu dieser Trennung zwischen dem formalen
Begriff des Sittlichen und seinen Inhalten vorgedrungen ist, wird doch
selbst bei der schärfsten Betonung der ethischen Diskrepanzen
selbstverständlich und unbefangen vorausgesetzt, dass alles dieses
Verschiedene doch eben für sittlich gehalten wird, dass also in der
Vorstellung (<309) des Sittlichen überhaupt der Punkt liege, der der
ganzen Mannigfaltigkeit sittlicher Urteile und Zwecke gemeinsam ist.
Es ist aber ferner unbezweifelbar, dass, wenn wir hier die Vorstellung
des Sittlichen an und für sich als eine gemeinsame Form bezeichneten, die
sich mit individuell verschiedenem Inhalt füllte, diese Kategorie nur
einen vorläufigen und relativen Charakter trägt, der wohl das
Verhältnis der beiden fraglichen Elemente, nicht aber jedes derselben
für sich hinreichend bezeichnet.
Denn auch jene Form muss irgendwie inhaltlich bestimmt sein, auch sie
muss sich durch konkrete Qualitäten von Formen anderer Art unterscheiden.
Die Kategorie von Inhalt und Form ist eine der relativsten und
subjektivsten im ganzen Gebiete des Denkens. Was in der einen Hinsicht Form ist, ist in einer anderen Inhalt, und
der begriffliche Gegensatz zwischen beiden löst sich bei näherem Zusehen
sehr oft in einen bloss graduellen zwischen allgemeinerer und speziellerer
Bestimmtheit auf.
Wenn der Gefühlszustand, auf den hin verschiedene Subjekte das
Prädikat des Sittlichen' auf entgegengesetzte Handlungsweisen anwenden,
der gleiche ist, so ist dies doch nicht die rein negative Gleichheit der
Bestimmungslosigkeit, sondern dieses Gefühl bez. die daraufhin gefällten
Urteile, dass Handlungen sittlich seien, müssen konkrete Bestimmungen
enthalten, auf die hin sie vergleichbar und als gleich erkennbar sind.
Dies ist der Punkt, an den ein ethischer Monismus immer anknüpfen
wird.
Eine schwer vermeidliche Substanzialisierungsgewohnheit deutet diese
Gleichheit der Sittlichkeitsvorstellung, deren rein formaler Charakter
allerdings, wie erwähnt, nicht aufrecht erhalten werden kann, als eine
Gleichheit des Zweckes, des letzten Gesichtspunktes; denn wie anders soll
man sich die Verschiedenheit der einzelnen ethischen Inhalte bei
Gleichheit der allgemeinen Vorstellung oder Empfindung vom Ethischen
überhaupt denken, es sei denn als eine Gleichheit des Endzweckes, die
einer Unendlichkeit wahrer oder vermeintlicher Mittel Raum gibt?
Das Handeln (<310) und Wollen, um das es sich hier handelt denn auch
da Sollen ist doch ein Modus des Wollens bewegt sich ausschliesslich in
der Kategorie von Zweck und Mittel; es liegt also am nächsten, das
geschilderte eigentümliche Verhältnis der überall gleichen
Begriffsqualität des Sittlichen bei überall verschiedenen Objekten ihrer
Anwendung nach dem allgemeinen Schema der verschiedenen Wege zu dem
gleichen Ziele zu deuten und daraus Recht und Pflicht zur Aufsuchung
dieses gemeinsamen Prinzips aller sittlichen Vorstellungen herzuleiten.
Dem gegenüber hatte ich im ersten Kapitel versucht, das Sollen in eine
blosse Funktion aufzulösen.
Ist es wirklich nur eine bestimmte psychologische Art, Handlungsweisen
oder sachliche Inhalte überhaupt vorzustellen, so entgehen wir damit dem
scheinbar zwingenden Schluss: dass die Gemeinsamkeit der Sittlichkeitsidee
als solcher bei aller Verschiedenheit ihrer konkreten Anwendungen doch
auch ihrerseits nicht ohne einen konkreten Inhalt sein und erkannt werden
könnte; dass eine solche Qualifikation oder Inhaltgebung eines Wollens
aber nur von einem Zwecke ausgehen, ja eigentlich nur in der Tatsache
eines Zweckes bestehen könne; und dass deshalb Sittlichkeit trotz aller
scheinbaren Verschiedenheit ihrer Ausgestaltungen doch als solche einen
überall gleichen konstanten Endzweck haben müsste.
Fassen wir als das Gemeinsame aller ethischen Urteile das Sollen, jene
psychologische Funktion, welche sich an jedem beliebigen Inhalt
realisieren kann, so haben wir mit ihm eine Form gewonnen, welche freilich
auch an sich nicht völlig bestimmungslos ist, sondern einen qualitativ
ganz bestimmten Charakter trägt; diesen Charakter entlehnt sie aber nicht
von der Bestimmtheit eines Zieles, wie das naivere
Hypostasierungsbedürfnis es deutete, sondern von der Einheit der
psychologischen Funktion, deren Ausübung an irgend welchen inhaltlichen
Zwecken eben das Gesolltwerden dieser bedeutet.
Das Gefühl hiervon, dass die durchgehende Gleichheit des
Sittlichkeitsgefühles bei durchgehender Verschiedenheit (<311) dessen,
was man für sittlich hält, nicht aus einem höchsten gemeinsamen
Endzweck, sondern aus der Gleichheit der psychischen Funktion stamme die
den Zweck trägt - dieses Gefühl ist besonders in zwei
moralphilosophischen Vorstellungen zum Ausdruck gekommen: in der
Zurückführung der ethischen Bestimmungen und Interessen auf ästhetische
und in der ausschliesslichen Schätzung des "guten Willens" als
alleinigen sittlichen Wertes.
Die formalen Verhältnisse des Willens, d. h. der willensartigen
Vorstellungen, bewirken nach Herbart jenes unmittelbare Wohlgefallen oder
Missfallen im Zuschauer, dessen sich die populäre Denkart besonders an
den Gegenständen ästhetischer Beurteilung bewusst wird; und da der
Handelnde zugleich sich selbst anschaut, so entsteht auf diese Weise in
ihm das Urteil über Wert und Unwert seiner Handlung.
Das Sollen erhebt sich, indem die tatsächlichen, augenblicklichen
Willensverhältnisse von diesen ursprünglich und beharrlich wertvollen
Formen abweichen.
Gleichviel ob man sich mit den Herbart'schen Vorstellungen und
insbesondere mit seiner Beschreibung jener Formen einverstanden erklärt
oder nicht: sie zeigen doch jedenfalls einen Weg, auf dem die Gleichheit
des Sollensgefühles sich mit der Verschiedenheit des Gesollten vereinigen
lässt, ohne an einen über diese Verschiedenheiten hinausliegenden
letzten Zweck zu appellieren; denn die blosse Form eines Verhältnisses
gibt allerdings der völlig unbegrenzten Mannigfaltigkeit von Inhalten,
welche diese Form zeigen, Raum; und indem nun das Gefallen zum Kriterium
ihres Wertes, das Gefallen an uns selbst zum Gefühle unseres sittlichen
Wertes wird, ist ein Punkt gefunden, der allem sittlichen Handeln als
solchem gemeinsam sein kann , ohne doch einen konkreten Zweck desselben zu
fordern.
Scheinbar ist dies freilich bei jeder Gefühlsmoral der Fall, die eines
einheitlichen sachlichen Endzwecks weder als Triebfeder des Handelnden,
noch als Wertkriterium (<312) seiner Handlung bedarf, sondern für
beides subjektive Vorgänge setzt, die durch die verschiedensten
objektiven Ursachen erregbar sind.
Allein diese subjektiven Gefühlszustände sind dann eben nichts
anderes, als materiale Zwecke, die ihre vorgebliche Gemeinsamkeit gegen
die tatsächliche Divergenz der als sittlich angesehenen Handlungen nicht
aufrecht erhalten können.
Das objektiv ästhetische Interesse an dem formalen Verhalten des
Willens dagegen tritt nicht als Endzweck des letzteren selbst auf, sondern
es ist ein blosses Urteil.
Die Annäherung an den theoretischobjektiven Charakter, der der
ästhetischen Funktion im Gegensatz zu dem individuellen, subjektiv
erregten Fühlen und Wollen zukommt, ist das tiefstgelegene Moment, in dem
die ästhetisierende Ethik die formale Einheit des Ethischen mit seiner
materialen Verschiedenheit zusammenbringt.
Sobald unser innerliches Verhalten zum Sittlichen ein Urteilen ist, so
liegt allerdings in der Allgemeinheit der Urteilsform und ihre
Objektivität bedeutet ja nichts als Allgemeinheit ein Schnittpunkt auch
für die grössten Verschiedenheiten der Inhalte.
Ob dies wirklich durchführbar und mehr als ein verführerischer Schein
ist, untersuche ich hier nicht, wo ich vielmehr nur die Tendenz dieses
ethischen Denkens und ihre Beziehung zum Problem des Monismus zu markieren
habe.
- Unmittelbar und mehr im Sinne einer Tatsachenfeststellung als einer
Erklärung verhält sich zu letzterem die Betonung des guten Willens.
Wenn dem Unzweckmässigsten, Törichtsten, den sonstigen Erscheinungen
des Sittlichen Entgegengesetztesten dennoch der definitive sittliche Wert
zugesprochen wird, weil ein "guter Wille" ihm zum Grunde gelegen
habe; wenn sich die ähnlichsten Taten unversöhnlich an der Frage des
guten oder des bösen Willens scheiden; wenn die divergentesten und zwar
nicht nur nach der Seite des materialen Inhaltes, sondern auch der
charakterologischen Beschaffenheit und Sinnesart nach divergentesten
Handlungen dennoch das (<313)gemeinsame Prädikat des guten Willens
erwerben können - so erscheint die "Güte" des Willens
allerdings als eine funktionelle Qualität desselben, als eine Form seines
Verlaufs, als ein Aggregatzustand seiner, oder mit welchem Gleichnis man
auch dieses Verhältnis ausdrücken mag, für das die Sprache keine
direkte Beschreibung hat.
Das Entscheidende ist nur dies, dass der sittliche Wert des Willens
hier nicht von seinem Objekt, sondern von seiner eigenen Beschaffenheit
als der einer Funktion abhängt.
Mit der Schätzung des guten Willens als des letzten, nicht weiter
auflösbaren Elementes des Sittlichen - die Kant allerdings mehr andeutet als ausführt - war eine völlig neue, in ihrer Feinheit und
Originalität noch nicht gewürdigte Theorie in die Entwicklung der
Moralwissenschaft eingetreten.
Wie wir ein Denken etwa energisch nennen und damit einen inneren
Rhythmus desselben bezeichnen, gleichgültig, welches seine Inhalte und ob
dieselben und seine Resultate richtig oder falsch sind: so können wir ein
inneres Verhalten des Willens als einer psychischen Handlung gut nennen,
ohne in irgend einer Weise seine ausserhalb dieses bloss funktionellen
Momentes gelegenen Bestimmungen, Zwecke, Ergebnisse zu präjudizieren.
Der Inhalt eines Willensaktes verhielte sich dann zu seiner Güte wie
die Melodie eines Stückes zu seiner Tonart, die sich nicht sträubt, auch
alle möglichen anderen Melodien in der ihr eigenen Stimmung
wiederzugeben; dass der Wille gut ist, wäre ein letztes, begrifflich
nicht weiter herleitbares Quale, das sozusagen unmittelbar an ihm haftete,
wie die Temperatur an einem Gegenstande, und das - hier gilt dies
Gleichnis nicht mehr - nicht von irgend einem von ihm erfassten
Gegenstande auf ihn ausstrahlte, sondern das höchstens seinerseits auf
die Wahl seiner Gegenstände einwirkt; diese Wahl aber wäre nur
subjektiv, d. h. nur für den Einzelnen in der gegebenen psychologischen
Konstellation durch die Tatsache, dass er eben einen guten Willen
(<314) besitzt, nezessietiert, gäbe aber die volle Möglichkeit, ja
Notwendigkeit, bei einem Wechsel der Gesamtlage das beharrende
Kraftelement des guten Willens in einen völlig divergenten Entschluss
einmünden zu lassen.
Der gute Wille wäre dann, wo er auftritt, eine ebensolche funktionelle
Einheit, wie der Wille schlechthin.
- Diese Schätzung des guten Willens als des absoluten, d. h.
desjenigen Gutes, dessen Wert auf kein anderes zurückgeführt und aus
keinem einzelnen Inhalt seiner abgeleitet werden kann, würde eine
Grundlage für die folgende prinzipielle Gesinnung in ethischen Dingen
abgeben.
Die pantheistische Denkart, die vom Gefühl und von der theoretischen
Spekulation zu gleichen Rechten getragen wird, ist vielleicht auch auf das
ethische Gebiet übertragbar, bez. der Ausdruck für eine auf demselben
bereits geltende Gesinnung.
Dem Pantheismus verschwinden die Unterschiede zwischen gross und klein,
zwischen hier und dort, zwischen den getrennten Qualitäten und
Quantitäten , weil es überhaupt nur das absolute Sein gibt und dieses
immer Lind überall dasselbe ist; indem Gott gleichmässig an jedem Punkt
des Seins ist, ist allerdings jeder jedem gleichwertig; aus dem scheinbar
gleichgültigsten, begrenztesten, niedrigsten Teile der Welt leuchtet dem
pantheistisch Empfindenden die volle Göttlichkeit der Weltsubstanz
entgegen, die auch im umfassendsten und glänzendsten Objekt keine andere
sein kann.
In analoger Weise nun liesse sich die Welt des Sittlichen denken: ein
absolut einheitliches Gebilde, dessen entlegenste und unscheinbarste Teile
dennoch den Gedanken und das Wesen des Ganzen völlig adäquat zum
Ausdruck bringen.
Wie es mit ähnlichem Denkmotiv die Vorstellung der "Unsichtbaren
Kirche" andeutet, so wird hier alle erscheinende Vielheit des
Sittlichen im Absoluten vereinigt, so dass innerhalb seiner die
Unterschiede des Bedeutenden und Unbedeutenden, die Heterogenität der
Quanten und Eigenschaften verschwinden, weil an jedem Punkt das absolute
(<315) Prinzip gegenwärtig ist, dessen Einheitlichkeit keine
Unterschiede gestattet.
Jene Alleinheit, die nicht nur Zusammengehörigkeit und Verbundenheit,
sondern unmittelbare substanzielle Identität bedeutet und vermöge deren
der Pantheist im Kleinsten das All erblickt, herrscht für diese mögliche
Form des ethischen Monismus in der Welt des Guten , wenn deshalb die
Stoiker die Gleichwertigkeit alles dessen behaupten, was überhaupt
sittlich wäre, wenn sie sich Unterschiede des Grades, wie der
historischen Verhältnisse anzuerkennen weigerten, so liegt dem vielleicht
die gleiche innerste Tendenz, wie ihrem Pantheismus zu Grunde, der die
Gesamtheit der kosmischen Erscheinungen als Äusserungen des einen
göttlichen Prinzips begriff.
Für einen solchen ethischen Monismus, der die Welt der sittlichen
Werte in einen einzigen, alles Relative negierenden Inbegriff
zusammenfasst - und der allerdings mehr annäherungs- und bruchstückweise
und als letztes Denkmotiv, wie als ausgeführte Theorie vorkommt - würde
die Schätzung des guten Willens als des Moralprinzips schlechthin eine
geeignete psychologische Grundlage bilden.
Denn der gute Wille ist seinem Wesen und Wert nach unabhängig von der
Grösse oder Kleinheit, von den zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen
Diskrepanzen seiner Erscheinung, von allen Unterschieden überhaupt, die
an seinem Inhalte haften.
Wie man der metaphysischen Einheit der Welt des Seins den Ausdruck
gegeben hat, dass ein Geist sie trage, bilde, durchströme, der
ungeschieden in jedem Teile hervortrete und so keiner Verschiedenheit mehr
Raum liesse, so würde die Einheit der Welt des Sollens durch den guten
Willen dargestellt., der sozusagen das Sittliche an den sittlichen
Handlungen sei und so die Gesamtheit derselben zu einer Einheit
zusammenbände, angesichts deren das Sittliche als solches überhaupt
nicht mehr ein Vielfaches sein kann.
Das Moralprinzip des guten Willens böte die funktionelle
Einheit,(<316) die das Material für die substanzielle Einheit jenes
ethischen Monismus vorbereitete.
Wird also das sittliche Wollen als eine primäre psychologische
Funktion vorgestellt, dem Denken, Fühlen, Wollen überhaupt
gewissermassen koordiniert, so ist in ihm nun wiederum ein Punkt gefunden,
der, obgleich qualitativ bestimmt und durchaus keine leere Form, dennoch
das Gemeinsame für die Gesamtheit möglicher sittlicher Akte bildet.
Wie niemand zweifelt, dass auch sehr divergenten Willensakten wenigsten
das Wollen als Funktion gemeinsam ist, so ist dann den sittlich genannten
Handlungen jene besondere einheitliche Funktion gemeinsam, die man den
"guten Willen" nennt, und die bei aller Individualisierung oder
Verkehrtheit seiner Zwecke so sicher und unverrückt guter Wille bleibt,
wie Denken eben Denken bleibt, wenn es auch das Allerinnormalste und
Abstruseste denkt.
Auch durch diese Kreierung des guten Willens als Grundbegriffes liesse
sich die tatsächlich unbezweifelte Einheit des Sittlichen als solchen mit
der völlig mangelnden Einheit in den sittlichen Zwecken vereinigen.
- Gegenüber der Vereinheitlichung des Sittlichen in einem Zwecke des
Handelns kommen diese Versuche, das Gleiche an allen sittlichen Wollungen
in der formalen Gleichheit der sie tragenden Funktion zu suchen,
vielleicht dem wirklichen Verhalten näher.
Jener problematische höchste Zweck, den die monistische Ethik zu
bestimmen sucht, ist vielleicht, wie ich schon andeutete, nur aus der
Hypostasierung dieser Funktion entstanden.
Wie die funktionelle Verwandtschaft psychischer Vorgänge zu der
Kreierung besonderer Seelenvermögen geführt hat, so würde die
Hypostasierung hier zwar nicht einen substanziellen Ausgangspunkt, sondern
Zielpunkt der Aktion kreieren.
Liesse sich gar keine reale Grundlage für die gleichmässige Anwendung
des Begriffes Sittlichkeit in Form oder Inhalt der so bezeichneten
Handlungen selbst finden; wäre (<317) ihnen wirklich absolut nichts
gemeinsam als dieser blosse Name, so könnte man auf die Frage, wieso es
denn überhaupt zu dieser Gleichmässigkeit des Namens gekommen wäre,
etwa folgendes vermuten.
Die Schaffung des Begriffes erfolgte zweifellos auf eine durchaus
konkrete Ähnlichkeit der mit ihm charakterisierten Handlungen hin; je
weiter wir in der historischen Entwicklung zurückgehen bez. je engere
Kreise wir untersuchen, um so enger finden wir ihn an scharf
charakterisierte Handlungsweisen gebunden, desto konkreter und inhaltlich
bestimmter ist seine Bedeutung.
Die Entwicklung geht über solche Begrenzung des Begriffes hinaus,
indem sie ihn zunächst auf Handlungen anwenden liess, die zwar jene
ursprünglich allein entscheidende Qualifikation noch irgendwie tragen,
zugleich aber einen erweiternden, abschwächenden oder abbiegenden Zusatz
zu derselben.
Wenn also z. B. zuerst die unmittelbare, das Individualinteresse
einfach negierende Hingabe an den Stamm als Sittlichkeit schlechthin galt,
so erweitert sich ihr Begriff, sobald man etwa einsieht, dass eine
individuelle Freiheit den eigenen Vorteil zu verfolgen, schliesslich auch
dem allgemeinen Interesse dient; der Sittlichkeitsbegriff findet über die
ursprüngliche Enge seiner Anwendung hinaus eine fernere, die sich auch
auf gewisse nicht direkt soziale Handlungen bezieht.
Ist der Begriff für einen so erweiterten Inhalt einmal fest geworden,
so kann seine Entwicklung sehr wohl so vor sich gehen, dass gerade die
jüngeren Bestandteile seines Inhaltes mehr und mehr betont, während die
ursprünglichen entweder zugleich beibehalten oder abgestossen werden.
Schematisch dargestellt würde der Begriff ursprünglich auf
den Inhalt A angewendet werden - er erweiterte sich dann auf den Inhalt M,
der ins A + B besteht, und zwar zunächst nur wegen des in M enthaltenen A;
doch verdunkelt sich dieses Motiv im Laufe der Zeit, wie es psychologisch
tausendfach beobachtbar ist, und A und B erscheinen in ihrem Recht, auf
ihre Summe M (<318) hin a zu beanspruchen, völlig koordiniert.
Hat nun aber B auf diese Verwandtschaft hin einmal a für sich erobert,
so kann sich der gleiche Prozess ohne weiteres an einem N fortsetzen, das
aus B + C besteht, und die Anwendung von a auf C zu Stande bringen, welches
C vielleicht nicht die geringste eigene Beziehung mehr zu A hat.
So kann ein Begriff durch Erweiterung und Vermischung seines Inhaltes
gerade auf diejenigen verselbständigten Bestandteile übergehen, die zu
den ihn ursprünglich tragenden Teilen erst hinzugetreten sind -
selbstverständlich ohne seine Anwendung auf jene primären darum
verlieren zu brauchen - und die Fortsetzung dieses Prozesses kann ihn auf
eine Reihe von Inhalten anwenden lassen, deren letzter absolut nichts mehr
mit dem ersten zu tun hat.
Ich glaube, dass dieser Angliederungsvorgang z. B. auch für die
Geschichte der ästhetischen Begriffe wichtig ist. Auch in der Ästhetik hat der Einheitstrieb zu Schematisierungen der
Künste nach einem durchgehenden Prinzip geführt, das dem gemeinsamen
Namen "Kunst" einen realen Inhalt geben sollte.
Was es eigentlich sei, das die Malerei und die Poesie, die Musik und
die Plastik, die Tanzkunst und die Architektur unter den einen höheren
Begriff der Kunst bringt, ist indes durch alle monistischen Versuche der
Ästhetik nicht aufgeklärt.
Vielleicht ist dies nun so zu Stande gekommen, dass die Kunst a mit der
Kunst b Wesentliches gemein hat; b wieder mit c, aber doch nicht ganz
dieselben Eigenschaften, die es mit a verbanden, und dass sich so eine
kontinuierliche Folge herstellen lässt, in welcher es zwar vollkommen
berechtigt ist, jedes Glied mit seinem Nachbar unter eine wesentliche
Einheit zu bringen, aber für weiter von einander abstehende Glieder diese
sachliche Berechtigung wegfällt, während die gleiche Benennung derselben
sich durch die Kontinuität der Berührungen und Übertragungen
fortpflanzt.
Da derartige Prozesse auch sonst oft genug stattfinden und
psychologisch (<319) durchaus verständlich sind, so würden sie
wenigstens eine plausible Hypothese der rätselhaften Tatsache gegenüber
abgeben, dass der Begriff der Sittlichkeit auf Handlungen angewendet wird,
deren Inhalte absolut nicht mehr diejenige Gleichheit besitzen, deren es
logisch genommen zu ihrer Subsumierung unter einen und denselben Begriff
bedürfte.
- Immerhin ist nicht zu leugnen: auf dem Wege zu dem vielleicht
unerreichbaren Ziel, eine solche konkrete Gleichheit der
Sittlichkeitsinhalte und damit ein absolutes Moralprinzip zu finden, sind
die wertvollsten relativen Wahrheiten über das sittliche Leben erreicht
worden; und dass das Ziel überhaupt ein illusorisches ist, kann immerhin
nur wahrscheinlich gemacht, nie aber logisch deduziert werden.
Eben deshalb gehört die ausführliche Behandlung desselben unter die
hauptsächlichen Aufgaben einer Grundlegung ethischer Wissenschaft.
Es zeigt sich nun auch an diesem Punkte jener fast durchgehende Mangel
der Moralphilosophie: dass sie eigentlich nur das positiv Sittliche, das
sittlich Gute zu behandeln pflegt; Beschreibung, Ergründung,
Systematisierung werden an die Mängel des sittlichen Lebens nicht
gewandt, selten an die grossen Laster und noch seltener an die kleinen
Unzulänglichkeiten, wenigstens nicht in methodischer Gleichberechtigung
mit den sittlichen Gütern.
Dies hängt mit der Verwechslung ethischer Wissenschaft und ethischer
Ermahnung zusammen, hat aber gerade den Erfolg, der Ethik sozusagen das
Detail zu nehmen und sie in eine Entfernung von der Totalität ihres
Objekts zu stellen, die ihre Verwendung für praktische Zwecke erschwert.
In Bezug auf die jetzt vorliegende Frage nach der Einheitlichkeit des
Gebietes der Sittlichkeit scheint es mir nun, als ob die Laster in einem
tatsächlich engeren psychologischen Zusammenhänge unter einander
stünden, als die Tugenden es tun.
Ist die Grenze des normalen Verhaltens einmal nach der Seite der
Unsittlichkeit hin überschritten, so ist damit ein verhängnisvolles
(< 320) Präjudiz für das weitere Verhalten geschaffen, während dies
entsprechend bei dem hervorragend sittlichen Verhalten nicht der Fall ist;
und dies gibt Anweisung darauf, dass die Unsittlichkeiten eher aus einer
einheitlichen Quelle stammen, als die moralischen Handlungen.
Verlogenheit, Unzucht, Unredlichkeit, Grausamkeit u. A. hängen unter
sich und mit allen anderen Lastern psychologisch so zusammen, dass der
Übergang zwischen ihnen und ihre Verbindung äusserst leicht und häufig
ist.
Lange nicht so eng sind die Tugenden mit einander verbunden, welche
vielmehr viel isolierter auftreten.
Und dieser Zusammenhang der Immoralitäten innerhalb des Individuums
wiederholt sich in dem Verhältnis der Individuen unter einander: das
Laster wirkt ansteckender als die Tugend, die bösen Beispiele -verderben
rascher und umfassender die guten Sitten, als gute Beispiele die bösen Sitten zu bessern vermögen.
Ein sozialer Kreis, in dem Unsittlichkeit herrscht, oder der durch
einen unsittlichen Endzweck zusammengehalten ist, durch Spiel, Gaunertum,
Ausschweifungen, pflegt die in ihn Eintretenden sehr rasch als ganze
Persönlichkeiten zu demoralisieren, während die Sozialisierungen, die
sich auf Grund wohltätiger, frommer, gemeinnütziger Gesamtzwecke
erheben, ihre Wirkungen auf die ihnen Angehörenden viel mehr in
lokalisierter Weise üben, so dass die übrigen Seiten der Persönlichkeit
davon ziemlich, wenn auch vielleicht nicht vollständig, unberührt
bleiben.
Wollte man dies für eine nicht weiter bemerkenswerte Erscheinung
halten, da derjenige, der sich in einen, wenn auch nur auf einseitige
Demoralisation gegründeten Kreis begibt, schon eine ganz demoralisierte
Persönlichkeit sein müsste: so enthält dies gerade die fragliche
Behauptung; denn es setzt eben jene Totalität und Zusammengehörigkeit
der unsittlichen Tendenzen im latenten, unentwickelteren Zustande voraus,
auf die hin die besondere Anregung einer einzelnen allerdings sehr
natürlich zur vollen Entwicklung (<321) aller führt.
Wenn man sagt, dass der Teufel, dem man den kleinen Finger gibt, die
ganze Hand nimmt; wenn es nur der erste Schritt auf der Bahn des Bösen
ist, der etwas kosten soll; wenn diese Bahn allgemein mit der schiefen
Ebene verglichen wird; wenn in der religiösen und Spruchweisheit
allenthalben die verhängnisvolle, umfassende Konsequenz davon, dass man
die Sünde einmal eingelassen, betont wird - so sind dies alles Hinweise
auf die Einheit der unsittlichen Zwecke, auf ihren Zusammenhang in einem
einzigen Punkte, durch den hindurch die Erregung oder Aktualisierung des
einen sich auf alle anderen fortsetzt.
Eine derartige Einheit anzunehmen, würde für unseren methodischen
Standpunkt dennoch einen entschiedenen Irrtum bedeuten: einem
funktionellen Zusammenhänge zwischen einzelnen empirisch gegebenen
Seelenvorgängen würde ein gewissermassen substanzieller Einheitspunkt
untergelegt werden; es wäre derselbe prinzipielle Fehler, mit dem z. B.
die Volkseinheit auf eine besondere, das Ganze zusammenhaltende Volksseele
geschoben wird, während sie doch tatsächlich nur aus den
Wechselwirkungen der einzelnen Elemente unter einander besteht.
Das ist die Hypertrophie des Kausaltriebes, der sich nicht mit der
einfachen von Glied zu Glied gehenden Verursachung der Bewegungen
innerhalb eines Ganzen begnügt, sondern, die reale Vielheit derselben zu
einer ideellen Einheit zusammenfassend, für die letztere nun eine
besondere einheitliche Ursache verlangt.
So wäre die Voraussetzung einer sachlichen Einheit der
Unsittlichkeiten, teleologischer oder dynamischer Art, die man auf Grund
ihres psychologischen Verbundenseins annehmen möchte, eine
ungerechtfertigte; vielmehr muss man sich bemühen, die einzelnen
Verbindungsfäden zwischen den psychischen Ereignissen, die wir
unsittliche nennen, aufzusuchen, statt auf eine Totalursache für sie
überzuspringen, mag sie nun als Auflehnung gegen Gottes Gebot oder als
antisozialer Trieb oder als radikales (<322) Böses bezeichnet werden.
Denn eine solche Gesamtverursachung und Einheit des Unsittlichen
erspart uns nicht die Frage nach den einzelnen Ursachen, in denen sie sich
greifbar verwirklicht und die jede empirische Einzelheit mit der anderen
in Verbindung setzen; haben wir diese aber erforscht, so ist eben jede
einzelne Gegebenheit zulänglich erklärt, und die Verdopplung der
Ursachen, die das allgemeine Prinzip mit sich bringt, zeigt sich in ihrer
ganzen Überflüssigkeit für die realistische Erklärung der Ereignisse.
Für die Deutung ihres Sinnes oder als vorläufige begriffliche
Zusammenfassung kann dagegen ihr Wert bestehen bleiben.
Übrigens zweifelt gerade kein Ethiker daran, dass es unter unseren
egoistischen Trieben Konflikte geben kann, dass die Versuchungen zum
Unsittlichen so mannigfaltig und kompliziert an uns herantreten, dass
selbst der völlig Gewissenlose, der nach dem Rechtmässigen gar nicht
fragt, oft in Verlegenheit ist, welcher Versuchung, welchem Gelüst er
folgen soll, weil allen genug zu tun unmöglich ist.
In Anbetracht der formalen Gleichheit nun, mit der sich Sittliches und
Unsittliches entwickelt, in Anbetracht insbesondere dessen, dass sich die
besten wie die schlechtesten Seiten unserer Natur nur in Wechselwirkung
mit äusserer Zufälligkeit realisieren, kann offenbar nur ein besonderes
monistisches Vorurteil dem einen eine innere Einheitlichkeit aufdrängen
wollen, die unter den anderen eingestandenermassen nicht herrscht.
Den realen Grund, der die einzelnen Unsittlichkeiten in einen engeren
gegenseitigen Zusammenhang bringt, als die Tugenden ihn besitzen, wird man
wohl in den Eigenheiten der sozialen Struktur und des Verhältnisses
zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit zu suchen haben.
Bei der Erörterung derselben gehe ich von dem Begriff der sozialen
Sittlichkeit aus.
Ich verstehe unter dieser dasjenige Verhalten, an das die Mitglieder
der Gruppe im allgemeinen angepasst sind, und das, wo nicht besondere
(<323) individuelle Modifikationen einwirken, von jedem ohne weiteres
erwartet bez. vorausgesetzt wird.
Dieses normale Verhalten wird dem Einzelnen nicht als Tugend
angerechnet, das Verbleiben innerhalb desselben ist sozusagen
selbstverständlich, und die von ihm repräsentierte Sittlichkeit kann als
die des sozialen Ganzen bezeichnet werden - ungefähr wie man jemanden
noch nicht klug oder kenntnisreich nennt, wenn er das in seiner Gruppe
durchgängige Mass von Intelligenz oder Wissen besitzt, obgleich dieses
vielleicht, an anderen Zeiten und Gruppen gemessen, ein sehr bedeutendes
sein mag; oder wie jemand noch nicht glücklich heisst, der die normale,
von der gegebenen Kulturlage durchschnittlich gebotene Behaglichkeit
geniesst.
Die soziale Intelligenz, Glückseligkeit und Moral, gleichviel welchen
Inhalt und Bedeutung sie an und für sich haben, bilden das Niveau, an dem
sich erst Höhe oder Tiefe der betreffenden Qualitäten des Individuums
messen.
Das Verbleiben in dem sozialen Niveau der Moral ist noch nicht
eigentlich Tugend, während allerdings jedes Zurückbleiben hinter
demselben Unsittlichkeit ist.
Eigentliche Tugend in dem für das Individuum spezifischen Sinne wird
offenbar erst durch Steigerung ethischer Elemente über dasjenige Mass
hinaus erreicht, das die Gesamtsittlichkeit der Gruppe als das
Selbstverständliche enthält.
Diese Steigerung geht in der vorhandenen Richtung jener Elemente
weiter, sie formt höhere Potenzen von gegebenen und - im Grossen und
Ganzen - anerkannten Grössen.
Wenn eine derartige Betätigung also selbst ganz einseitig stattfindet,
so wird die Harmonie zwischen dem so handelnden Individuum und den
sozialen Forderungen bez. ethischen Zuständen im allgemeinen nicht
gestört werden; das öffentliche Interesse, in das dieser Beitrag
einmündet, wird ihn, dankbar oder nicht, in sich aufnehmen, und wenn der
Handelnde seine eigensten Lebenstendenzen in dieser einseitigen Richtung
befriedigt, so wird er angesichts des Parallelismus,(<324) der
Interessen keine Reaktion erfahren, die sein weiteres Verhalten in dieser
oder einer anderen Richtung bestimmte.
Dagegen stellt sich nun die unsittliche individuelle Tat in Opposition
zu den in der sozialen Gruppe fixierten und herrschenden sittlichen
Strömungen.
Dadurch tritt, auch wenn eine solche Tat nur eine einseitige, nur in
einem Punkte die bestehenden Ordnungen kreuzende ist, dennoch die ganze
Persönlichkeit in ein feindseliges Verhältnis zu der sozialen
Gesamtheit; diese letztere reagiert auf das Böse sehr viel schärfer und
empfindlicher, als entsprechend auf das Gute; sie weist dem Täter der
noch so sittlichen Handlung kaum je eine Stelle ausserhalb ihrer an, da er
sich ja in der Richtung ihrer Tendenzen und Forderungen bewegt, wohl aber
dem Vollbringer der unsittlichen Tat.
Will dieser sich nun nicht sofort unterwerfen und bessern und dadurch
die ganze Angelegenheit annullieren, sondern unter äusserer und innerer
Einhaltung des einmal eingeschlagenen Weges seine Persönlichkeit
behaupten, so muss er ein neues individuelles Gesamtniveau ausserhalb des
Umkreises der sozialen, normalen Sittlichkeit suchen.
Es durchbricht offenbar die Harmonie der Persönlichkeit keineswegs,
wenn jemand bei allgemeinem Verbleiben in den sozial-ethischen Formen
dieselben in einem Punkte, aber in ihrer eigenen Richtung überschreitet;
wohl aber wenn die Überschreitung in entgegengesetzter geschieht.
Denn in diesem Falle können diejenigen weiteren Gesinnungen und
Handlungsweisen, die den Umkreis der Persönlichkeit erfüllen, nicht ohne
weiteres aus dem Vorrat jener sozial-ethischen Inhalte genommen werden;
hierdurch würden die entschiedensten Widersprüche entstehen und die
Fortführung der äusseren wie der seelischen Existenz bedrohen.
Tatsächlich findet dies allerdings oft genug statt, und genug
Existenzen gehen an dem Widerspruch zwischen einer einzelnen unsittlichen
Wesensrichtung oder Tat und ihren im übrigen normalen Tendenzen zu
Grunde.
(<325) Wo aber eine entschiedene Kraft die Einheit und den
Zusammenhalt der Persönlichkeit durchsetzen will, da kooptiert sozusagen
die primäre Unsittlichkeit so viele weitere, dass eine relativ in sich
geschlossene, dem sozialen Ganzen ihrerseits als ein Ganzes
gegenüberstehende Persönlichkeit resultiert.
Der Unsittliche schwimmt gegen den Strom und braucht deshalb, ceteris
paribus, mehr Kraft als der, der sich von der Richtung desselben tragen
lässt - insbesondere mehr Intelligenz, die bei höherer Kultur die
spezifische Energie der aggressiven Unsittlichkeit bildet; daher die
Züchtung allgemeiner Intelligenz in Epochen, in denen der Widersinn
ökonomisch sozialer Einrichtungen dem Einzelnen eine an sich unsittliche
Konkurrenz als Bedingung der Lebensfristung aufzwingt.
Jener populäre Spruch: "Wer einmal lügt, muss siebenmal zu
lügen sich bequemen; denn sieben Lügen braucht's, um eine zu
beschönen" - symbolisiert treffend dieses Verhältnis; die
Schwierigkeit, eine Einzelheit aufrecht zu erhalten, die sich dem Komplex
der Gesamtsittlichkeit entgegenstellt, führt dazu, dieselbe durch andere
in gleicher Richtung laufende zu stützen und sie so ihrerseits zu einem
Komplex anti-ethischer Kräfte fortzubilden.
Dies ist zunächst in äusserlicher Hinsicht offenbar: der Trieb nach
unrechtmässiger Bereicherung fordert fast unmittelbar auch Lüge und
Grausamkeit; auf weiteren Stufen Vergesellschaftung mit anderen gleich
unsittlichen Persönlichkeiten zu Banden oder Verschwörungen,
gewissermassen einem Wachstum der Unsittlichkeit über das Mass des
Individuums hinaus, womit dann jene geschilderte individuelle
Akkumulierung der Laster sich "in grossen Buchstaben
geschrieben" wiederholt; die Prostitution - gleichviel ob wir die
einzelne Prostituierte oder die gesellschaftlichen Zustände dafür
verantwortlich machen wollen - drückt das Niveau der ihr Ergebenen in
allen anderen Richtungen tief herab usw.
Wen die Gesellschaft einmal eines einzelnen Verhaltens (<326) wegen
ausgestossen hat, dem versperrt sie überhaupt die regulären Wege zur
Lebensfreude, Selbstbehauptung, ja zur Daseinsfristung, so dass er
genötigt ist, neben den gebahnten und erlaubten Strassen her seine
Existenz und ihren Inhalt zu finden; und dies ist der Punkt, der in
unzähligen Fällen die inhaltlich ganz divergierenden Unsittlichkeiten
sich vereinigen lässt.
Der Übergang zwischen solchen äusseren Notwendigkeiten, den das
Verhältnis zwischen der Gesamtheit und dem Individuum an die einseitige
Unsittlichkeit des letzteren knüpft, setzt sich ohne weiteres in seine
Innerlichkeit fort.
Zwar ist, was die rein immanenten psychologischen Verhältnisse,
insbesondere die sekundären Gefühlsreflexe des Handelns betrifft, auch
zwischen den positiv sittlichen Impulsen ein gewisser Zusammenhang zu
bemerken.
Ein einzelnes oder einseitiges sittliches Tun schafft für den
Handelnden selbst wenigstens einen Präzedenzfall, stellt :ihn in eine
Höhe, in welche auch die übrigen Seiten der Persönlichkeit zu erheben
nun naheliegend ist, sei es als Reiz, sei es als Verpflichtung, sei es
durch jenen schwer zu beschreibenden Impuls, in dem wir uns gewissermassen
als Träger einer natürlichen Bewegung oder Schicksalserfüllung
erscheinen, deren eigentlichen Quellpunkt wir sozusagen in logischen
Notwendigkeiten ausserhalb unseres sittlichen, wie unseres
eudämonistischen Willens liegend empfinden.
Das noblesse oblige zeigt hier seine wertvollste Wahrheit: der von
einer Seite her erworbene sittliche Adel verpflichtet uns innerlich zu
weiterem Erwerbe, und so kann man in Hinsicht auf diese rein innerliche
Zusammengehörigkeit der sittlichen und vornehmen Impulse allerdings das
Sprichwort umkehrend sagen: quod licet bovi, non licet Jovi; d. h. ist
erst einmal eine gewisse sittliche Höhe errungen, so steht es uns
innerlich nicht mehr frei in einer minderwertigen Weise zu handeln, die
ohne diese Vergangenheit gar keinen Widerstand in der eigenen Seele finden
würde.
Wenn also auch nach dieser (<327) immanenten Seite hin ein gewisser
Zusammenhang zwischen den verschiedenen sittlichen Beschaffenheiten
besteht, so scheint mir doch der zwischen den unsittlichen ein
energischerer und häufiger beobachtbarer zu sein. Das Entscheidende hierfür ist wohl die in anderer Beziehung bereits
hervorgehobene Abstumpfung des Gewissens.
Für die Bestrebungen, eine Einheitlichkeit im Sittlichen bez. im
Unsittlichen zu finden, hat das Gewissen eine eigentümliche Bedeutung
durch seinen formalen Charakter, in Folge dessen es an die verschiedensten
Handlungen die gleiche und doch keineswegs schematische, sondern durchaus
konkret fühlbare Reaktion knüpft.
Wenn wir den blossen Begriff der Unsittlichkeit auch als einen leeren
ablehnen mögen, weil kein einziges reales Attribut aufzufinden ist, das
allen als unsittlich bezeichneten Handlungen gemeinsam wäre, so scheint
in der Gleichheit der psychischen Reaktion, die wir Gewissen nennen, ,
allerdings eine Einheitlichkeit des Unsittlichen gewonnen.
Eben deshalb nun, weil die allerverschiedensten Taten gleichmässig
diese schmerzliche Reaktion auslösen, kann eine reziproke Wirkung
stattfinden, d.h. die von einer einseitigen Unsittlichkeit ausgehende
Abstumpfung des Gewissensgefühles kann zu einer Erleichterung auch ganz
andersartiger, von anderem Inhalt erfüllter Handlungen führen, die eben
nur eine Gewissensreaktion mit der ersten gemein hatten.
So stumpft sich selbst die Glücksempfindung auch gegen ganz neue
Anregungen in gewissem Masse ab, wenn bisherige Reize sie sehr erheblich
angespannt haben; oder nach der anderen Seite hin: gegen die Pflicht der
Diskretion wird man auch in bisher noch gar nicht dagewesenen Fällen
lässiger werden, wenn man sie früher aus niedrigen oder aus höheren
Motiven häufig verletzt hat.
Kurz, jene ganz rohe, sachlich unhaltbare Vorstellung von zerebralen
"Zentren" für die verschiedenen Vermögen, in denen die von
verschiedenen Seiten herkommenden, sie berührenden Funktionen sich
kreuzen, wie (<328) die Telegrafendrähte in einer Zentralstation -
diese Vorstellung ist als blosses Symbol, als bildlicher Ausdruck für
gewisse psychologische Tatsachen recht gut brauchbar. Sobald psychische
Vorgänge a und b, die ihrem Inhalte und Verlaufe nach sehr verschieden
sind, doch gleichartige Gefühlsreaktionen auslösen, so hat durch dieses
Mittelglied hindurch das früher stattfindende a einen Einfluss auf den
Ablauf von b; es ist, als ob sie aus einer zentralen Kraftquelle gespeist
würden, die durch ihre Inanspruchnahme durch das frühere entweder
erschöpft oder gekräftigt wird und so das spätere modifiziert.
Die Beanspruchung des Gewissenszentrums, rein bildlich gesprochen,
durch irgend eine Unsittlichkeit, scheint eine Abstumpfung desselben zu
bewirken, die dem nächsten, daran appellierenden, inhaltlich vielleicht
völlig verschiedenen Falle nicht mehr die volle Schärfe der Reaktion
zukommen lässt, und so schliesslich auch ganz neuen Reizen der
Unsittlichkeit gegenüber die innere Barriere zerstört, die die
Antizipation des Gewissensschmerzes ihnen sonst entgegensetzte. Auf diesem
Wege stellt sich eine gewisse reale Zusammengehörigkeit und Solidarität
der einzelnen Unsittlichkeiten her, die mir, empirisch betrachtet,
grösser zu sein scheint, als die der sittlichen Tendenzen.
Den beiden bisher ausgeführten Überlegungen. von der grösseren
Wahrscheinlichkeit einer funktionellen als einer teleologischen Einheit
des Sittlichen und von der stärkeren, wenngleich nur durch allerhand
Vermittlungen bewirkten, Zusammengehörigkeit des Unsittlichen als des
Sittlichen füge ich eine dritte zur Kritik angeblich gefundener absoluter
Moralprinzipien hinzu, deren Grundgedanken schon Bd. I, S. 339 angedeutet
ist.
Ein Moralprinzip pflegt nicht aufgestellt zu werden, ohne dass man die
Formung ausdenkt, die die bestehenden Verhältnisse vermöge seiner
Durchführung erhalten würden, und zwar selbst da, wo die Voraussetzung
absoluter innerer Notwendigkeit (> 329) des Imperativs gegen alle
realen Folgen seiner gleichgültig zu machen schien.
Der Gehorsam gegen die Gebote Gottes mag zwar a priori und ohne
Rücksicht auf positive, durch ihn realisierte Zustände gefordert werden;
dennoch wird in der Regel die Ausmalung dieser letzteren unternommen, um
wenigstens akzidentell zu wirken und zu zeigen, dass auch die nicht
unmittelbar religiösen Bedürfnisse in den nach Gottes Willen gelenkten
Zuständen die vollständigste Befriedigung hier oder jenseits erhielten.
Sogar Morallehren pessimistischer Provenienz, die von der Voraussetzung
einer allerschlechtesten Welt ausgehen und das tiefste Durchdrungensein
von dieser Vorstellung zum Fundamente der Sittlichkeit machen, pflegen
schliesslich auszuführen, dass es demjenigen, der nun auf diesem
pessimistischen Grunde sein Leben baute, wenigstens so gut wie, überhaupt
auf Erden möglich erginge; bei allen irgendwie eudämonistischen
Moralprinzipien ist solche Ausführung der Konsequenzen
selbstverständlich.
Wo scheinbar das Gegenteil stattfindet'. wo ein absolutes Soll
alle Rücksicht auf die aus ihm hervorgehende Verfassung der Weit abweist.
da bedarf es erstrecht der Ausmalung derselben, um an ihrer
Widersinnigkeit, mich den Begriffen des Empirismus und Eudämonismus, die
Kraft und in sich allein ruhende Würde jenes Gebotes zu zeigen.
Gerade daraus, dass das kategorische fiat justitia auf das pereat
mundus führt, soll die Unbedingtheit der Gerechtigkeitsforderung
hervorleuchten.
Die Durchführung des Moralprinzips durch seine
empirischen Folgezustände ist also ebenso dann nötig, wenn es aus der
Parallelität derselben mit unseren sonstigen Wünschen, Vorurteilen und
Idealen eine subsidiäre Stärkung erhalten, wie wenn es an ihrem
Gegensatz gegen diese seine stolze Selbständigkeit und Unbedingtheit
kennzeichnen soll. Worauf es nun hierbei für unseren Zweck ankommt, ist
dies.
Die Ausmalung von Zuständen, die unter der alleinigen
Herrschaft eines bestimmten Prinzips eintreten würden, erfolgt (<330)
tatsächlich niemals in voller Konsequenz dieser Prämisse, sondern stets
unter stillschweigender Voraussetzung und Beimischung von Elementen, die
unter der Herrschaft anderer Prinzipien gebildet sind.
Kein derartiges monistisches Prinzip rechnet mit einer
völlig ungeformten Welt, die es nun ab ovo zu gestalten hätte, sondern
stets mit einem bereits irgendwie geformten Material, das die Kräfte und
die Eigenheiten seiner bisherigen Existenz nicht einfach fortwirft, um nun
einen toten., rein passiven Stoff zu bilden, sondern dieselben in das neu
eingeführte Prinzip verweht.
Die Zustände, die die Herrschaft des letzteren
zeitigen soll, sind deshalb immer die Resultante zwischen ihm und einer
ungeheuren Anzahl realer, bereits wirksamer Kräfte, und jene äusseren
Wirkungen seiner, die teils durch ihre Erwünschtheit, teils durch ihre
Gleichgültigkeit das Recht seiner Alleinherrschaft beweisen sollen,
enthalten die unbefangen vorausgesetzten Mitwirkungen von Prinzipien ganz
anderer Provenienz.
Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass Moralprinzipien
immer nur unter der naiven, ihre andrerseits behauptete Absolutheit
negierenden Voraussetzung konstruiert werden, dass sie auf eine schon mit
bestimmten Kräften und Zuständen ausgerüstete Welt treffen und erst in
diese sich einordnend die Resultate ergeben, an denen man direkt oder
indirekt ihren Wert misst.
Die Zustände etwa, die man sieh als Folgen der
Verwirklichung eines altruistischen Imperativs ausmalt, enthalten sicher
noch ein gutes Teil weiterwirkenden Egoismus in sich und würden bei
wirklicher Alleinherrschaft jenes Prinzips wahrscheinlich in viel
geringerem Masse geeignet sein, dasselbe plausibel zu machen.
Am deutlichsten ist dies bei Maximen zu bemerken, die
sich zwar nur auf ein umgrenztes Gebiet beziehen, auf diesem aber absolute
Geltung beanspruchen.
Das liberale wie das konservative, das
individualistische wie das kollektivistische Prinzip ergänzen unbewusst
die Lücken, welche die politische Ordnung, - bei absoluter Durchführung
(<331) des einen zeigen würde, durch Entlehnungen aus dein
entgegengesetzten; und nicht anders verhält es sich mit dem
empiristischen und dem spekulativen Prinzip in der Wissenschaft, mit dem
realistischen und dem idealisierenden in der Kunst.
Zum Bau der Idealwelten nach solchen Grundsätzen wird
entweder eine zugleich erfolgende und ergänzende Mitwirkung des
entgegengesetzten als selbstverständlich vorausgesetzt.
oder es werden dazu Stücke aus der - wirklichen Welt
genommen, zu deren Zustandekommen die allerverschiedensten Kräfte ihren
Beitrag gegeben haben. Die Geschichte der Parteiungen ist überhaupt nur von
diesem Gesichtspunkte aus verständlich.
Wenn zugegeben ist, dass im allgemeinen jede Partei nur
eine der Tendenzen herausgreift und verabsolutiert, deren Zusammenwirken
eine mögliche Welt ergibt; wenn ferner im allgemeinen die Parteigegner in
Bezug auf das letzte Ziel ihres Strebens übereinstimmen -- die
politischen und sozialen in der Zufriedenheit und Kultur der Gesamtheit,
die wissenschaftlichen in der Erkenntnis der Wahrheit, die künstlerischen
in der Befriedigung des ästhetischen Triebes, die religiösen in der
Befolgung des göttlichen Willens: so wird der triviale Satz, dass in
jedem der entgegengesetzten Standpunkte doch mindestens ein Körnchen
Wahrheit stecke, wohl so gewandt werden können, dass jede Partei zur
Ausmalung des definitiven von ihr erstrebten Zustandes irgendwelche
Stücke aus dein Inventar der entgegengesetzten verwenden muss.
Nun könnte man freilich den Zweck des höchsten
Moralprinzips gerade darein setzen, unter Voraussetzung der gegebenen
Welt, deren Vergangenheit samt ihren Wirkungen man nun einmal als gegeben
hinnehmen müsse, zu der idealsten Gestaltung derselben in der Zukunft zu
gelangen, und es deshalb für ganz selbstverständlich halten, dass diese
letztere die Resultante der neu geforderten Tendenz und der von ihr
vorgefundenen Verhältnisse sei.
Allein dies rettet den ethischen Monismus doch noch
nicht.
Denn (<332) abgesehen davon, dass derselbe sich
nicht mit der relativen Bedeutung der höchsten Imperative zufrieden
gäbe, nur unter den gegebenen Umständen, nicht aber schlechthin und bei
völligem Neubau einer Welt die führende Rolle spielen zu können, so ist
selbst jene relativ durchführbare Einheit eines Imperativs dadurch
bedroht, dass das Material, mit dessen Eigenschaften und latenten Kräften
er zur Herbeiführung des vorgesetzten Zustandes zusammenwirken muss,
weder in seiner Struktur einheitlich noch in seiner Entwicklung beharrend
ist.
Nur wenn das Sein sowohl in dem Nebeneinander wie in
dem Nacheinander seiner Teile durchaus gleichartig wäre, könnte ein
einheitlicher Imperativ von ihm aus zu den Zuständen führen, deren
Würde oder sonstige Qualitäten jenen Imperativ festigen sollen; denn ein
konstantes Resultat - die schliesslichen erwünschten Zustände - lässt
sich offenbar nicht aus zwei Faktoren gewinnen, von denen der eine, der
Imperativ, gleichfalls konstant sein soll, der andere aber - die
Wirklichkeit, mit der jener zusammenzuwirken hat - durchaus variabel ist.
Vielmehr muss entweder jener Faktor gleichfalls der
Variabilität in einem die Veränderungen des letzteren stets
ausgleichenden Sinne unterworfen werden, oder man muss diesen letzteren
seinerseits als konstant annehmen.
Dies zweite ist nun tatsächlich in verschiedenen
ethischen Anschauungsweisen geschehen.
Gewisse Religionslehren stellen die gesamte bestehende
Welt als verderbt und teuflisch dar; das Prinzip des Bösen beherrsche sie
zwar in verschiedenen Ausgestaltungen, aber doch so, dass in Hinsicht des
ethischen Wertes kein Unterschied zwischen ihren Teilen oder ihren
Entwicklungsphasen anerkannt wird.
Zu einer ähnlichen Konsequenz drängt die von Kant
erwähnte, wenngleich nicht konsequent durchgeführte Vorstellung, dass
alles menschliche Wollen, insoweit es erfahrbar ist, von sinnlichen
Trieben, von der Selbstliebe gelenkt werde; als wirklich, d. h. unter der
Kategorie des Seins, die (<333) doch nur eine Kategorie der Erfahrung
ist, ist also die gesamte praktische Welt einheitlich charakterisiert.
Auf diese Weise gewinnen allerdings beide
Betrachtungsarten, die religiöse wie die metaphysische, eine besonders
entschiedene Möglichkeit der Behauptung einheitlicher Moralprinzipien.
Ist die bestehende Welt tatsächlich in sich so
gleichartig konstruiert, wie sie es vorstellen, so kann allerdings ein auf
sie einwirkender einheitlicher Imperativ zu gleichfalls einheitlichen
Endzuständen führen, deren Wert nun seinerseits denjenigen des
Imperativs beweist.
Die Prüfung des Sittengesetzes an den von ihm
schliesslich zu realisierenden Folgen und die Forderung eines
einheitlichen Charakters dieser letzteren bildet wohl das tiefere Motiv
für die ethische Tendenz, das! dem Sollen gegenüberstehende Sein
gleichfalls unter eine möglichst einheitliche Beleuchtung zu rücken.
Trotzdem nun das Seiende sowohl nach jener religiösen
wie nach der Kantischen Anschauung eigentlich schlechthin nicht sein soll,
so gewinnen beide doch ganz besondere Werte gerade aus der Verwehung des
so charakterisierten Seins mit dem hinzutretenden sittlichen Prinzip: bei
Kant entsteht daraus die Vorstellung der Pflicht, die weder von einem
schlechthin bösen noch von einem schlechthin guten Wesen gekannt wird,
und die des Verdienstes, in dem Sinne unserer Deutung desselben als des
Niederkämpfens des bösen Willens durch den guten.
Für den religiösen Anschauungskreis erhebt sich in
dieser Zweiheit der den schliesslichen Zustand konstituierenden Elemente
die Vorstellung der Erlösung und der Gnade, und zwar in jenem höheren
und feineren Sinn, in dem das göttliche Prinzip die schliessliche
Seligkeit nicht unmittelbar der Seele in den Schoss wirft, sondern ihr nur
die Kraft selbständigen Aufstrebens zu ihr verleiht.
Und in beiden Fällen werden damit unvergleichliche und
unersetzliche Werte geschaffen, höhere als ein einheitlicher Aufbau der
Welt nach dem positiven Idealprinzip sie zeigen würde. (<334)
Ohne nun behaupten zu wollen, dass die bösen Elemente
dadurch etwa auch in die Kategorie des Gesolltwerdens aufrückten, weil
sie als Bedingungen jener Werte gelten, so muss doch nach dem
Vorangegangenen anerkannt werden, dass die bedeutsamsten Werte, zu denen
selbst so einheitliche Morallehren, wie die erwähnten, aufsteigen, noch
ein Material von anderer Charakterisierung voraussetzen.
Die eigentümlichen Ideale, die diese Prinzipien
realisieren sollen, werden eben doch nicht von ihnen allein realisiert,
sondern die Wirklichkeit, an der dies geschieht, umschliesst ganz
heterogene Bedingungen, mit denen jene erst zusammenkommen müssen, uni
entweder in der Resultante mit ihnen oder in der Überwindung ihrer - die
aber doch etwas ganz anderes ist als einfache Negation - jene Werthöhen
zu erreichen.
Sehr viel umfassender geschieht dies natürlich, sobald
die ethischen Prinzipien an die Ausgestaltung der Einzelheiten gehen. Metaphysischen Grundsätzen gegenüber, die die
Wirklichkeit aus sich entwickeln wollen, ist die analoge Kritik längst
geübt worden.
Je einheitlicher und umfassender hier einerseits der
metaphysische Gedanke auftritt je mehr er andrerseits auch das Einzelnste
aus sieh zu entwickeln beansprucht - für beides mag wohl das Hegel'sche
System als entschiedenstes Beispiel dienen - desto leichter lässt sich in
der metaphysischen Deduktion die Mitwirkung von Bestandteilen nachweisen,
die einfach aus der sonstigen Erfahrung herübergenommen sind, und
ihrerseits der Auflösung, in jenes vorgeblich alleinherrschende Prinzip
sehr entschieden widerstehen.
Vielerlei recht komplizierte, natürliche wie
historische Tatsachen werden unbefangen in die metaphysische Entwicklung
resorbiert und stecken in dem schliesslichen Weltbilde, zu dem diese
gelangt und dessen so zu Staude gekommene eventuelle Wahrheit die des
transzendenten Prinzips beweisen soll.
Innerhalb des empirischen Erkenntnisfeldes findet sich
ein ähnliches Verhältnis, eine in höhere Gebiete hinaufreichende
(<335) Fortsetzung der bekannten Tatsache, dass wir an den
Gegenständen der Sinne keineswegs alles das wirklich sehen, was wir zu
sehen überzeugt sind, vielmehr fortwährende Ergänzungen der
zahlreichen, von den blossen Sinneseindrücken gelassenen Lücken
vornehmen; und zwar finden diese Ergänzungen entweder gemäss früheren
Erfahrungen oder nach Analogieschlüssen statt.
Es ist nun kein Zweifel, dass nicht nur der sinnliche
Teil unserer Welt, sondern das gesamte Erkenntnisbild derselben derartige
Lücken und Ergänzungen aufweist.
Die Vorstellung einer einigermassen in sich
geschlossenen, nach durchgehenden Prinzipien bewegten Welt würde nie zu
Stande kommen, wenn sie nur aus dem bestehen sollte, was wir wirklich
kennen und erkennen.
Es handelt sieh aber nicht nur darum, die von unserer
Erkenntnis leergelassenen Stellen nach der Analogie unserer Erfahrung
auszufüllen, sondern es tritt die folgende besondere Konstellation ein.
Jeder Unbefangene wird heute zugeben, dass es in der
Natur Kräfte gibt, deren spezifische Wirkungsweise uns noch nicht bekannt
ist; es ist eine verhältnismässig äusserst kurze Zeit, dass wir von der
Schwerkraft, von der Elektrizität, von den chemischen Kräften etwas
wissen; diese Reihe schon für abgeschlossen zu halten, liegt nicht der
geringste Grund vor, und wir dürfen wohl überzeugt sein, dass es noch
eine weitere Anzahl von Naturkräften gibt.
Allein nun ist das Eigentümliche, dass wir die
Wirkungen dieser noch unentdeckten Kräfte tatsächlich vor uns sehen, sie
stecken in dem empirischen Weltbilde, und dieses würde ohne sie gar nicht
das sein, als was es sich uns darbietet.
Trotzdem hat neben dem allgemeinen Anerkenntnis jener
Mangelhaftigkeit hier unsere Zeit so gut wie alle früheren die
Vorstellung eines relativ vollendeten, kontinuierlichen Weltbildes und
hält insbesondere da, wo die Nachprüfung des Experimentes versagt ist,
die Erscheinung für verstanden, wenn die bisher bekannten Kräfte und
Normen an (<336) aufgewiesen sind.
Unter den Begriffen von diesen Kräften indes und neben
ihnen wirken jene anderen noch unentdeckten, die also vorausgesetzt und
mitgerechnet werden, wenn man von den bekannten Kräften aus zu den
wirklichen, vollständigen Erscheinungen gelangen will.
Gewiss also halten wir, insbesondere in den
Geisteswissenschaften, -Unzähliges noch für selbstverständlich, d. h.
nicht für Äusserung einer besonderen Kraft - wie etwa die Schwere der
Körper vor Newtons Entdeckung - so dass uns die Mitwirkung desselben bei
dem Zustandekommen der Erscheinungen gar nicht weiter in den Sinn kommt;
wir halten letztere; vielmehr für erklärt, indem wir sie auf die bereits
bekannten Kräfte zurückführen, ohne zu wissen, dass sie nur die
Resultante eben dieser und jener noch unbekannten, in ihrer Wirksamkeit
unbefangen vorausgesetzten sind.
In Bezug auf den ethischen Monismus nun ist die
entsprechende Kritik noch im Rückstände.
Es wird eine wesentliche Aufgabe einer kritischen
Geschichte der Ethik sein, nachzuweisen, dass alle einheitlichen
Imperative ihre Durchführung an einem Material vornahmen, das keineswegs
durch sie allein, sondern durch das Zusammentreffen sehr heterogener
Kräfte gebildet war, so dass das Ziel, dem sie zustreben und das sie
gerade als allein gültige legitimieren sollte, tatsächlich nicht durch
sie allein, sondern durch ihre Verbindung mit sonstigen Prinzipien
realisierbar ist, die ungerechter Weise unter den Kategorien der
Selbstverständlichkeit oder des blossen Materials verborgen liegen.
Wenn die Tatsache, dass die verschiedensten
Moralprinzipien den Anspruch erheben, an einem und demselben Ziele der
Befriedigung, Erlösung und Harmonie zu münden, schon an und für sich
und ohne weitere Zergliederung gegen die monistische Tendenz der Ethik
bedenklich machen muss, so wird dieser Erfolg noch viel entschiedener
durch die vorliegende Betrachtung erreicht, die den Grund jener
Möglichkeit, auf so verschiedenen (<337) Wegen so gleiche Ziele zu
erlangen, erst angibt.
Indem jedes einzelne absolute Prinzip die Wirksamkeit
anderer stillschweigend bez. unbewusst voraussetzt, weil sie in dem
Material steckt, das jenes zur Weiterbearbeitung aufnimmt, wirken in
dieser letzteren tatsächlich eine Reihe verschiedenartiger Kräfte,
Tendenzen, Ideale zusammen - und wenn wir auf die Gesamtsumme sehen,
ungefähr wohl immer dieselben - unter denen unser Einheitstrieb nur ein
einzelnes auswählt, um es als das Moralprinzip schlechthin im Bewusstsein
voranzustellen.
_____________________
Diesen Reflexionen über den ethischen Monismus als Ganzes lasse ich
nun in diesem und dem nächsten Abschnitt einige weitere folgen, welche
sich auf die einzelnen in ihm zusammentreffenden Elemente logischer und
sachlicher Art, beziehen.
- Alle Einheit der Moral hängt am Begriffe des Endzwecks; soll sie
stattfinden, so müssen die einzelnen inhaltlich differierenden Zwecke,
die uns das unmittelbare Bewusstsein als sittlich wertvoll zeigt, als
blosse Mittel zu höheren und schliesslich zu einem höchsten Zweck
anerkannt werden.
Und dies gilt nicht nur für jenen äussersten Monismus, der in der
Moral der Feuerländer und der des Griechentums, in der Moral des
Konfuzius und der der Reformation noch die Gleichheit des Sittlichen aus
der Verschiedenheit seiner Ausgestaltungen herauserkennen will; es gilt
auch für die bescheideneren Tendenzen, die nur für den gleichen
Kulturkreis, ja die nur für ein und dasselbe Individuum eine einheitliche
Moral suchen, gleichviel ob die Einheit der daneben stehenden eine
inhaltlich andere ist oder nicht.
Die Pyramide der Zwecke, die sich zum Endzweck aufgipfelt, ist die
zusammenhaltende Form, die auch den inhaltlich divergierendsten
monistischen Morallehren gemeinsam ist.
An den Begriff des Endzwecks, (<338) mag man ihn als einen wirklich
verfolgten oder als ein sittliches Ideal betrachten, knüpfen sich nun
bekanntlich grosse Schwierigkeiten, denen analog, die den Begriff der
ersten Ursache umgeben.
Wie man meinte, dass es zu irgend einem empirisch
kausalen Geschehen nicht kommen könnte, wenn nicht eine erste Ursache da
wäre, an der die Rückfrage nach der Veranlassung der Veranlassung ihr
Ende findet, so scheint der Begriff des Zwecks überhaupt nur durch den
des Endzwecks möglich zu sein.
In einer teleologischen Entwicklung muss jeder Punkt
entweder für sich selbst definitiv befriedigen oder er muss das
notwendige Mittel zur Erreichung eines definitiv befriedigenden sein.
Der scheinbar sinnreichste Vorgang, der einen folgenden
hervorruft, wird doch erst in dem Augenblick von uns als zweckmässig
bezeichnet, in dem wir diesen folgenden entweder als einen Endzweck oder
seinerseits als Mittel für einen höher hinaufliegenden erkennen.
Nun gibt es, bloss logisch betrachtet, keine Grenze
für die Frage nach dem Endzweck; über jedem Zustand oder Geschehen, das
man in einem Augenblick als befriedigend empfindet, mit dem die Kette der
Mittel ihr letztes Glied erreicht zu haben scheint, erhebt sich im
nächsten die Frage: wozu? Die Abstumpfung des Reizes, die nicht nur der
Bestand, sondern auch schon die Idee jedes Zustandes nach einiger Zeit
erfährt, sucht eine Belebung durch ein neues Ideal, das über das schon
gewohnte hinaus als der eigentliche Zweck desselben gesucht wird; das
Bisherige erhält eine neue Bedeutsamkeit durch die des darüber gesetzten
höheren Zwecks, an der es als Mittel zu diesem partizipiert, und die ins
Unendliche dehnbare Form des Zwecks bietet dieser Tendenz eine
unerschöpfliche Möglichkeit.
Ja, nicht nur logisches Recht, sondern logische Pflicht
zu solcher Weiterführung des teleologischen Baues scheint vorhanden,
gerade wie wir in der Ergründung der Ursachen verpflichtet sind, über
jede noch so primäre hinaus die weiter zurückliegende (<339)
aufzusuchen.
Allein in dieser potentiell allerdings unendlichen
Reihe, in der jedes Glied dieselbe Frage nach rückwärts und vorwärts
stellt, wie sein Vorgänger und Nachfolger, gibt es dennoch einen Punkt,
an dem die begriffliche Gleichartigkeit der Glieder einem inneren
Unterschiede Platz macht.
In Bezug auf die Kausalreihe wird dieser Punkt durch
die Erwägung nahe gelegt, dass die Zurückverfolgung der Ereignisse auf
ihre Ursachen zugleich eine Verminderung der hervorbringenden Prinzipien
bedeutet; Kausalerkenntnis erscheint zugleich als Vereinfachung und
Vereinheitlichung des Weltbildes, und zwar derart, dass man oft genug
sogar umgekehrt die blosse Vereinigung der Erscheinungen in einen
zusammenfassenden Begriff schon als Erklärung derselben gelten liess.
Wenn nun durch immer weitere Reduktion der
Erscheinungen bez. der Prinzipien eine schliessliche Einheit erreicht
wäre, die den gesamten Verlauf der Welt aus sich entwickelt, so könnte
man allerdings auch gegen diese noch fragen, auf welche Ursache sie
ihrerseits zurückginge - dennoch erhält die Kausalfrage von diesem Punkt
an unleugbar einen anderen und weniger dringlichen Charakter.
Die Zurückführung der Vielheit auf die Einheit ist
eine wirkliche Befriedigung des Erkenntnistriebes, des Strebens nach
psychischer Kraftersparnis; die Zurückführung einer so erreichten
Einheit auf eine andere könnte dagegen gerade als Verschwendung
erscheinen, die Fortsetzung der Ursachenergründung verspricht von hier an
nicht mehr den synthetischen Gewinn, den sie bis dahin geliefert hat.
Nun ist diese kausale Vereinheitlichung des
Weltprozesses nicht nur in Bezug auf ihre empirische Verwirklichung eine
Utopie, sondern sie begegnet auch der erkenntnistheoretischen
Schwierigkeit, dass wir nach der Anlage unserer Denkkategorien aus der
absoluten Einheit heraus keine Entwicklung denken können, sondern die
Unbeweglichkeit einer solchen immer durch ein zweites Prinzip, einen
"Gegenwurf", (<340) müssen befruchten lassen, damit es zu
einem Geschehen komme.
Der Begriff der schöpferischen, göttlichen Einheit
drückt diese Schwierigkeit mehr aus, als dass er sie löst; er enthält
allerdings die Behauptung, dass es ein Wesen gäbe, das keines zweiten zur
Anregung seiner Tätigkeit bedürfe, ohne doch das Wie dieser Versöhnung
des psychischen Einheitstriebes mit der Form unseres kausalen Denkens, das
immer eine Zweiheit braucht, deutlich zu machen.
Von dieser tieferen Schwierigkeit der Kausalreihe ist
nun die teleologische frei, die im übrigen den ganz entsprechenden
Wendepunkt ihres scheinbar kontinuierlichen progressus in infinitum
darbietet.
Indem wir für das Handeln, sei es das wirkliche, sei
es du als sittlich beurteilte, nach definitiven Zwecken suchen,
vereinfacht sich die Mannigfaltigkeit seiner primären Erscheinungen; mehr
und mehr stellt sich in diesem Bemühen das, was dem unmittelbaren
Bewusstsein als Zweck erscheint, als blosses Mittel heraus, und da die
Mittel mannigfaltiger sind als die Ziele, so bedeutet das Streben, zu
immer entschiedeneren Zielen zu gelangen, eine im gleichen Masse
erfolgende Vereinheitlichung des teleologischen Gewebes.
So bewirkt das Suchen nach Endzwecken zugleich eine
Annäherung an die Vereinheitlichung der Zwecke, wenngleich das Maus
dieser Annäherung für die empirische Betrachtung der moralischen Welt so
viel Vielheit übrig lässt, dass es zur Kreierung eines absolut
einheitlichen Moralprinzips noch immer eines weiten Sprunges über die
Erfahrung in die Metaphysik hinein bedarf.
Allein nehmen wir einmal an, diese Vereinheitlichung
wäre wirklich gelungen, wir könnten nachweisen, dass alles Handeln oder
alles Sollen durch die fortgesetzte Frage wozu? schliesslich einen
durchgehendes gleichen Zweck, z. B. der Glückseligkeit, erkennen lässt:
so ist zwar auch noch diesem gegenüber die weitere Frage, wozu er denn
dienen solle, welcher tiefer gelegene Endzweck dem der Glückseligkeit die
Würde des Erstrebtwerdens verleihe, (<341) logisch gerechtfertigt.
Allein es ist nicht zu verkennen, dass auch die
Zweckfrage von diesem Punkte an eine Wendung erfährt; jenseits seiner
tritt der schematische Charakter jener Frage hervor, infolge dessen
allerdings die Unruhen und Unbefriedigungen des Lebens immer wieder in ihr
münden, aber nur wie in einem Danaidenfass.
So lange noch eine unversöhnte Mannigfaltigkeit von
Bestrebungen vorliegt, so lange ist die Vereinheitlichung derselben als
theoretisches und praktisches Problem aufgegeben, und seiner Lösung
nähern wir uns vermöge der Frage, welchem höheren und weiteren Zwecke
denn jeder zunächst sich darbietende Zweck diene.
Ist nun so mittels der Frage nach dem Endzwecke die
monistische Frage beantwortet, so ist damit dasjenige reale Moment
erledigt, das der unendlichen Kette des teleologischen Problems realen
Inhalt und steigende Bedeutung gab; bis zu diesem Punkte kann man von
einer Beantwortung dieser Frage sprechen, über ihn hinaus geht sie ins
Leere.
Man könnte freilich dem gegenüber die menschlichen
Zwecke so konstruiert denken, dass sie in ihrer Entwicklung alle durch
einen einheitlichen Punkt hindurch müssen, der ihr Hinwirken auf den
definitiven Endzweck vermittelte.
So gut die umfassenderen Zweckgebiete, deren Erkenntnis
die Mittelstufe zwischen den primären Einzelzwecken und dem einheitlichen
Zwecke bildet, verschiedenen Inhalt haben, ebenso können sie auch
vielleicht in einem höheren Stadium gleichen Inhalts sein, ohne dadurch
ihren sozusagen technischen Charakter als reale Mittel zu einem höher
gelegenen Zwecke zu verlieren.
So könnte z. B. die allgemeine Glückseligkeit
einheitlicher Zweck sein, auf den alle einzelnen Moralgebote sich
konzentrieren, während der Endzweck etwa die Steigerung des
Gattungslebens oder die Realisierung des göttlichen Willens ist, zu
welchen die Glückseligkeit nur das Mittel bildete.
Wenn so der Einheitspunkt der Zwecke nicht mit ihrem
Endpunkt zusammenfällt, könnte (<342) man doch nicht behaupten, dass der letztere nur in
einem formalen Hinausfragen über den ersteren, mit dem man sich begnügen
sollte, wurzelte.
Diese für die ethischen Prinzipienfragen sehr wichtige
Möglichkeit, die meistens konfundierten Begriffe der Einheit der Zwecke
und des Endzwecks auseinander zuhalten, wird in ihrem praktischen
Erkenntniswerte durch die folgende Überlegung eingeschränkt.
Es gibt keinen Zweck, von dem es von vornherein oder
empirisch ein für alle Mal feststünde, dass er nur durch ein einziges
Mittel zu erreichen ist; das ist die einfache Folge davon, dass die
gleiche Wirkung aus sehr verschiedenen Ursachen hervorgehen kann.
Der Endzweck also, den wir entweder wirklich entdecken
oder als einen gesollten vorschreiben, enthält gar keine Sicherheit
darüber, ob irgend eine Vorstufe seiner auch wirklich die einzige ist,
über die hin seine Erreichung möglich ist.
Daraus ergibt sich unmittelbar die Unmöglichkeit, bei
Annahme eines Endzwecks von einer unterhalb seiner gelegenen vermittelnden
Stufe mit Sicherheit zu behaupten, dass sie der unbedingt notwendige
Durchgangspunkt für jenen wäre, keinen anderen neben sich hätte und
also einzig und einheitlich wäre.
Wenn einerseits singuläre Handlungen, andrerseits ein
Endzweck gegeben ist, dem sie dienen, so kann es jederzeit neben
demjenigen Zwischenzwecke, auf den die Einzelhandlungen sich begriff lieh
vereinigen lassen und der nun seinerseits als der unmittelbare Produzent
des Endzwecks gedacht wird, noch andere gleich qualifizierte geben, weil
das Entscheidende für ihn ja der Umstand ist, dass er den Endzweck
realisiert, und diese Funktion nach dem oben Erwähnten von einer
unbeschränkten Anzahl von Kräften geübt werden kann.
Es widerspricht also prinzipiell dem aufgestellten
einheitlichen Endzweck als solchem, dass ein unterhalb seiner gelegener
Punkt der Zweckreihe, der ihn produzieren soll, dieselbe Einzigkeit habe,
wie er selbst; in dem Augenblick, wo der (<343) Vereinigungspunkt der
Einzelzwecke als Mittel zu einem höher gelegenen Endzweck erkannt wird,
rückt er auf ein Niveau, das er mit vielen möglichen anderen, die den
gleichen Zweck hervorbringen könnten., teilt.
Soll es also einen wirklich und sicher einheitlichen
Zweck geben, so kann es nur der sein, der zugleich auch Endzweck ist. Der umgekehrte Schluss dagegen kann nicht gezogen
werden; der Charakter als Endzweck, als definitiver Abschluss, der einem
Objekt des Handelns eigen ist, lässt nicht im geringsten den Schluss zu,
dass nicht neben ihm noch andere genau gleichbeschaffene bestehen.
Die Annahme, dass der absolute Zweck nur ein er sein
könne, dass die Zwecke des wirklichen oder gesollten Handelns, sobald sie
überhaupt zum Charakter des Endzwecks aufsteigen, nur in einem einzigen
münden könnten - das ist einer der verbreitetsten Irrtümer des
teleologischen Denkens.
Die tiefsten Gedankenmotive dieses Monismus liegen wohl
in Beziehungen, die man zwischen der menschlichen Zwecksetzung und dem
Verhalten der objektiven Natur annimmt.
Gegenüber der Unruhe und Zerrissenheit des
persönlichen oder psychischen Lebens erscheint die Natur in ihrer
sicheren Gleichmässigkeit, in der Unfehlbarkeit des gegenseitigen
Einflusses ihrer Kräfte als ein in sich geschlossenes Wesen, das
wenigstens in seinem Gesamtcharakter als Natur einheitlich ist.
Und eben dieser Charakter strahlt nun wieder auf den
menschlichen Mikrokosmos zurück, im Gegensatz gegen welchen er uns gerade
bewusst geworden ist; die Gesamtnatur welche die von der Einzelseele
entbehrten Qualitäten darbietet, erscheint schliesslich doch so
überwältigend, die Ausnahmestellung des menschlichen Individuums
angesichts seiner quantitativen Unbedeutendheit so ungerechtfertigt, dass
es in die Einheit und Geschlossenheit des Kosmos überhaupt einbezogen
wird und diese Eigenschaften in sich selbst zum Ausdruck zu bringen
scheint.
Das Gefühlsleben wiederholt diesen Prozess in der ihm
eigenen Tonart.
Wir fliehen zu (<344) der Natur als einem
ästhetischen Bilde, das uns die Seele ganz löst, weil es uns symbolisch,
aber für unser Empfinden hinreichend, die ganze Ruhe und
Heiligkeit, die stille, in sich befriedigte Grösse zeigt, die wir in
unserem Innern so oft vergebens suchen; sie ergänzt gleichsam die
Unzulänglichkeit des Ich.
Aber indem sie dies tut oder vielmehr, indem wir es
doch schliesslich selbst sind, die diese ergänzenden Vorstellungen und
Gefühle erzeugen, verbreitet sich die Stimmung, die ursprünglich nur in
der Natur gerade im Gegensatz zu der eigenen Seele zu liegen schien, auch
über die letztere, so dass wir tatsächlich uns selbst versöhnter,
gehobener, reiner aus der Natur zurückbringen.
Auf theoretischen wie auf praktischen Gebieten
projizieren wir oft genug den Besitz dessen, was uns fehlt, auf ein
äusseres Gebilde, um dann durch eine weiterhin gestiftete Beziehung
dieses zu uns unseren ursprünglichen Mangel zu ergänzen.
Durch diesen eigentümlich dialektischen Prozess mag
die Vorstellung von der schliesslichen. Einheitlichkeit unserer wirklichen oder wenigstens
unserer sittlichen Zwecke gestützt sein.
Dass ein absoluter Zweck, an dem das Wollen oder das
Sollen definitiv Halt macht, noch andere ganz gleich beschaffene neben
sich haben, dass es im Bereich des Praktischen mehr als ein Absolutes
geben soll, widerspricht allerdings den allgemeinen, in Spinoza zum
deutlichsten Ausdruck gekommenen Tendenzen der Philosophie derart, dass
wir fast durchgehendes, wo ein absolutes Willensziel aufgestellt wird,
seine Einzigkeit ohne weiteres vorausgesetzt finden; es scheint, als ob
die ganze Bemühung, mit der man aus den Relationen von Zweck und Mittel
zu dem unbedingten Zweck, der nicht mehr Mittel ist, aufgestiegen ist, als
illusorisch empfunden würde, wenn andere teleologische Reihen daneben
stehen, an denen der gleiche Prozess vollzogen wird, und wir so
schliesslich statt der Vielheit des Nacheinander nur eine Vielheit des
Nebeneinander (<345) haben, die um so unversöhnter ist, als sie aus
lauter für sich befriedigenden, absolut für sich seienden Wollungen oder
Imperativen besteht.
Eine Mehrheit wirklicher Endzwecke erscheint erst dann
als annehmbar, wenn man mit dem Gedanken der Subjektivität des
Zweckbegriffes wirklich Ernst macht.
Was dieselbe bedeutet, ist indes keineswegs aus den
bekannten Überlegungen, dass der Zweck nicht in den Dingen, sondern nur
in dem reflektierenden Geist läge, dass nicht die Natur, sondern nur das
Menschenleben Zwecke kannte usw., zu ersehen, bedarf vielmehr, wie ich
glaube, der folgenden Klarstellungen.
Dass der ganze Inhalt unseres Vorstellens durch die
Formen und Kräfte des vorstellenden Geistes bestimmt und in diesem Sinne
also als Ganzes subjektiv ist, muss selbst von denen, für die es als
unleugbar gilt, als eine in ihrer allgemeinen und bloss prinzipiellen Form
unfruchtbare Erkenntnis bezeichnet werden.
Sie versieht die Gesamtheit des Erkennens mit einem
neuen Vorzeichen, das das gegenseitige Verhältnis ihrer Teile völlig
umgeändert lässt, sie schwebt gewissermassen über den Dingen, ohne in
die Erkenntnis des Einzelnen irgendwie einzugreifen.
Der Unterschied zwischen Objektivität und
Subjektivität, der in den konkreten Fragen des Erkennens von Wert sein
soll, hat also nicht absoluten Sinn und hat nicht den zwischen Ding an
sich und Vorstellung zum Korrelat.
Innerhalb des Gebietes der letzteren vielmehr baut er
sich an, er ist ein Unterschied von Vorstellungen untereinander und so,
vom transzendentalen Standpunkt betrachtet, ein relativer. Hierdurch nun wird die Möglichkeit gegeben, zwischen
jenen Gegensätzen selbst ein Kontinuum vermittelnder Stufen anzunehmen.
Es ist offenbar ein Irrtum, die Kategorien unseres
Denkens in zwei scharf gesonderte Gattungen zu teilen: diejenigen, welche
das objektive Weltbild formten, und diejenigen, die zu dem so geformten
als subjektive Zutaten deutend, modifizierend oder fälschend (<346)
hinzuträten.
Die Kantische Systematik hat diese schablonenhafte
Auffassung sanktioniert; ihm waren die scharfen Grenzen innerhalb der
Erkenntnisbedingungen unbedenklich, ja erforderlich, weil er das
Vorstellen noch nicht mit vollkommener Konsequenz als Prozess, Werden,
Entwicklung auffasste, und die substanzialisierende Verfestigung
desselben, die er in der Deduktion der Verstandesbegriffe, mit
überwältigender Kraft zerschlagen hatte, in der Systematisierung seiner
Formen selbst wieder einführte.
Schon aus den allgemeinen methodischen Grundsätzen der
empirischen und entwicklungsgeschichtlichen Anschauungsweise heraus muss
man annehmen, dass zwischen den objektivsten und den subjektivsten
Begriffen oder Formen unseres Erkennens eine Skala mannigfaltigster
abgestufter Bildungen bestehe.
Die Untersuchungen des ersten Kapitels haben uns
gezeigt, dass die psychologische Verwirklichung der objektiven Wahrheit
durch eine allmähliche Entwicklung aus dem undifferenzierten Material des
Vorstellens erfolge; wenn wir diese Erkenntnis objektiv wenden, wenn wir
sie auf die verschiedenen Kategorien bin ansehen, die der einen und der
anderen Vorstellungsart zum Grunde liegen, so bedeutet sie, dass zwischen
den Formen des Vorstellens eine unbestimmbare Anzahl von Abstufungen
besteht.
So wenig die subjektive und die objektive Seite des
Weltbildes in dem wirklichen Vorstellen der Menschen scharf getrennt sind,
wie vielmehr die verschiedenen Elemente ineinander hineinreichen und jedes
Gebiet eigentlich Grenzgebiet ist: so verhalten sich offenbar auch die
Formen oder Kategorien, deren Anwendung eben das Gesamtgebiet formt, das
wir nachher in die scheinbar entgegengesetzten Provinzen der
Subjektivität und der Objektivität zerfällen.
Zwischen dem, was wir wissenschaftlich wissen und dem,
was wir wissenschaftlich vermuten, zwischen dem letzteren und dem, was wir
aus wissenschaftlich ungeprüften Gründen ahnen, zwischen diesem und
unserem Glauben, zwischen dem Glauben und dem als (<347) frei bewussten
Spiele der Imagination existieren gleitende Skalen; und erst indem wir dem
Zweckbegriff eine Stelle innerhalb dieser und zwar auf einer in der hier
markierten Richtung nach dem Ende zu gelegenen Stufe anweisen, wird das
Wesen der ihm zugesprochenen Subjektivität in der uns jetzt
interessierenden Beziehung klar.
Denn der Weg von dem äussersten Grade der
Objektivität zu dem äussersten der Subjektivität wird dadurch
bezeichnet, dass die Kategorien, die seine Stationen bilden, einer immer
grösseren Anzahl materialer Erfüllungen Raum geben.
Je objektiver eine Kategorie ist, desto mehr nähert
sich ihre Anwendung auf den einzelnen Fall dem Ideal der Objektivität,
nur eine einzige Möglichkeit der Deutung oder Erfüllung zu haben; z. B.
die wissenschaftliche Kausalität gestattet schliesslich nur eine einzige
Folge einer gegebenen Ursache, im Falle des vollendeten historischen
Wissens auch nur eine einzige Ursache einer gegebenen Folge.
Je mehr wir uns dem Gebiet der sogenannten
Subjektivität nähern, je mehr also die Färbungen oder die Kategorien
der Vermutung, Ahnung, persönlichen Stimmung die Oberhand gewinnen, desto
weniger schliesst sich eine Mehrheit von durch sie bestimmten Behandlungen
des Einzelfalles gegenseitig aus, bis etwa zu dem rein innerlichen
Gefühlserfolge persönlicher Erfahrungen hin, der für jeden Menschen und
jedes Gebiet anders abgestimmt ist.
Verstehen wir also unter der Subjektivität der
Zweckkategorie, dass sie in jener Stufenleiter der Denkarten ziemlich der
unteren Grenze zu liegt, so ist das Korrelat dazu oder ein anderer
Ausdruck dafür, dass sie von der Einheit der Erfüllung, die die obere
charakterisiert, entsprechend weit absteht.
Als je subjektiver wir den Zweckbegriff auffassen,
desto verschiedenartigere Zwecke dürfen wir neben einander anerkennen,
und zwar in der teleologischen Beurteilung der Dinge nicht weniger, als in
der Verflechtung des Zwecks in das Gewebe des persönlichen Lebens.
Die Vorstellung, (<348) dass der Endzweck nur einer
sein könnte, war aus einer gewissen Objektivation desselben, aus der Idee
hervorgegangen, dass das Leben, wie es ist oder wie es sein sollte, eine
Pyramide, einen organischen Bau, einen Mikrokosmos bilde; tiefgelegene
Motive, die man vielleicht als ästhetische bezeichnen kann, weil sie sich
in künstlerischen Bildungen am reinsten, wenn auch keineswegs
ausschliesslich äussern -hatten wohl mitgewirkt, diesen Bau herzustellen,
der die subjektiven Wirrnisse des Lebens gewissermassen zu objektiver
Gestaltung erlöste, indem er ihnen eine einheitliche, allen Zufall der
Einzelgestaltung dominierende Spitze gab.
Sobald man dagegen der Subjektivität des Zweckbegriffs
in ihre eben erörterte Folge nachgeht, liegt kein Grund vor, weshalb man
nicht diejenigen verschiedenartigen Endzwecke, die man als Produkte
subjektiver Entwicklung vorfindet, auch wirklich als solche anerkennen
sollte.
Der als einheitlich angenommene Endzweck stellt sich
freilich mit einer gewissen Färbung von Objektivität dar, die ihn den
Schwankungen und Gegensätzlichkeiten der unterhalb seiner gelegenen und
eben durch ihre Vielheit als nur subjektiv charakterisierten Einzelzwecke
entzieht; wird dieser Schein als irrtümlich, auch der höchste
einheitliche Zweck als ein subjektives Gebilde erkannt, so fällt der
Vorzug und die Begründung dahin, die die Einheit des Endzwecks vor der
Mehrheit voraus hatte und wir brauchen uns prinzipiell nicht zu weigern,
die Zweckreihen des Lebens an mehreren auseinanderliegenden Punkten
münden zu lassen, wenn und da die psychologische Tatsächlichkeit jeden
derselben mit dem Charakter gleicher subjektiver Befriedigtheit versieht,
über den auch ein monistischer Endzweck nicht hinauskönnte.
So sicher also, wenn wir überhaupt die wirklichen oder
sittlichen Zwecke zu einem einzigen vereinheitlichen, dieser der
definitive Zweck überhaupt sein muss, der seinerseits zu keinem weiteren
hinaufführen kann, so (<349) sicher gestattet umgekehrt die Idee des
Endzwecks, dass es mehrere koordinierte gebe.
Die Annahme des einheitlichen Endzwecks hat allerdings
den methodischen Vorteil, das Wunder, die alogische Willkürlichkeit, der
Endzwecksetzung überhaupt so weit wie möglich quantitativ zu
beschränken.
Dadurch, dass erst der Endzweck dem einzelnen Zwecke
des Lebens Sinn und Würde verschafft, dass er selbst aber keiner
rationalen Ableitung mehr fähig ist, bekommt das ganze Leben etwas
Irrationales, es erscheint als ein zwar in sich selbst durchaus festes und
wohlgefügtes Gebäude, das aber als Ganzes auf Sand gebaut ist.
Die Einheitlichkeit des letzten Zwecks, zu dem alles
andere in dem rationalen Verhältnis des Mittels stünde, lässt
wenigstens nur noch einen ungestützten Punkt bestehen.
Es wäre für die monistische Annahme vom methodischen
Standpunkte aus ferner anzuführen, dass die Ausmündung der wie immer
subjektiven Zwecke in einem einzigen diesem den Charakter der
Objektivität in dem Sinne verliebe, wie wir auf theoretischem Gebiet
diejenigen Vorstellungen objektiv nennen, in denen sich die Gesamtheit der
subjektiven Erkenntnisprozesse allgemein und notwendig vereinigt.
Gerade vom Standpunkt des Idealismus aus scheinen wir
in der Einheit des Endzwecks eine Objektivität für denselben wenigstens
soweit gewinnen zu können, wie der Idealismus überhaupt eine
Objektivität anerkennen kann.
Wenn objektive Wahrheit einer Vorstellung nichts
anderes bedeutet, als dass der subjektive Gedanke sie zu jeder Zeit an
derselben Stelle des Erkenntnisfeldes auffinden kann, von welcher Seite
und nach welcher Methode man sich auch ihr nähere, so wird alle zu
verlangende Objektivität eines Endzwecks dadurch geleistet, dass man ihn
immer an derselben Stelle antrifft, d. h. am Endpunkt jeder beliebigen
Zweckreihe, welche auch immer man so weit verfolgen mag.
Und wie in jenem Falle nicht ein Ansich der Dinge da
ist, mit dem der (<350) Gedanke übereinzustimmen hat, so dass seine
Allgemeingültigkeit und jederzeitige Konstatierbarkeit nur das Zeichen
dieser Übereinstimmung wäre, wie jene Eigenschaften vielmehr seine
Objektivität unmittelbar selbst sind: so würde der Idealismus der
Teleologie nicht meinen, dass das Zusammentreffen der singulären
Zweckreihen in einem einzigen Endzwecke eine Übereinstimmung desselben
mit irgend einem an sich seienden objektiven Zwecke, der ausserhalb des
menschlichen Wollens liege, erst beweise, sondern dieses Zusammentreffen,
diese gegenseitig gewährte Sicherheit aller Verkettungen des Lebens, dass
sie in diesem Punkte sich begegnen, sei eben unmittelbar die Eigenschaft
der Objektivität desselben und gewähre alle Erkenntnis- und
Gefühlsvorteile, um derentwillen man überhaupt nach der letzteren frage;
im praktischen Falle nicht weniger wie im theoretischen sei die Bedeutung
dieses Begriffes keine transzendente, sondern eine immanente.
Für die wirklich verfolgten Zwecke würde dies ebenso
gelten, wie für die sittlich geforderten; das Gesamtgebiet, dessen
Übereinstimmung in einem Punkte die Objektivität desselben gegenüber
den schwankenden, auseinanderliegenden Einzelheiten bedeutete, wird im
ersteren Falle von den psychologischen Willensvorgängen überhaupt, im
zweiten von den mit dem Zeichen des Sollens versehenen gebildet.
Wenn man diesen Gedanken auch methodologisch zugibt, so
ist sein Wert doch ganz davon abhängig, ob denn in Wirklichkeit eine
Einheit der Zwecke existiert, die über der Subjektivität der einzelnen
eine objektive Teleologie erbaut, wie auch die Objektivität auf dem
Gebiete der Erkenntnis ein blosses Problem bliebe, wenn nicht jene
Einheitlichkeit der Einzelvorstellungen wirklich stattfände, die ihr
ihren Inhalt gibt.
Dass es überhaupt einen objektiven, über die
Zufälligkeit und Schwankungen des Einzelwillens hinausliegenden Zweck des
sittlichen Wollens oder des Wollens überhaupt gibt, kann (<351)
offenbar nur erwiesen werden zugleich mit dem empirischen Nachweis, dass
dieser oder jener konkrete Zweck eben der Endzweck ist, nach dessen
allgemeiner oder prinzipieller Möglichkeit gefragt wurde; ob es einen
Endzweck überhaupt und der Form nach gibt, wissen wir mit Sicherheit
erst, wenn wir von einem bestimmten Inhalte wissen, dass er alle anderen
Inhalte in sich vereinigt.
Hier erhebt sich nun die Kardinalfrage: in welchem
realen oder idealen Verhältnis stehen die einzelnen empirischen Zwecke
zum Endzweck? Ich beschränke die Reflexion darüber auf den moralischen
Endzweck.
Auch der entschiedenste ethische Monist wird nicht
behaupten, dass im Bewusstsein der sittlich Handelnden sich ein Punkt
fände, der, Allen gemeinsam, mit dem klaren Bewusstsein erstrebt würde,
dies sei nun der eigentliche Zweck ihres Handelns und jede konkrete
Handlung, soweit sie auch ihrem nächsten Effekt nach von jeder anderen
abwiche, sei ein blosses Mittel zu demselben.
Unter diesen Umständen kann der Endzweck nur zwei
Bedeutungen haben: entweder er bezeichnet das Ziel, dem die als sittlich
empfundene Handlung in der ungestörten Entwicklung ihrer Konsequenzen
sich nähert, gleichviel ob das Bewusstsein des Handelnden von diesem
Ziele etwas weiss oder nicht; oder der Endzweck ist ein blosser Gedanke
des Beobachters und besagt nur: die als sittlich empfundenen Handlungen
verhalten sich so, als ob sie diesem Ziele zustrebten; dieses ist dann
freilich nur ein Symbol, ein an sich ideales Erkenntnismittel, aber
hinreichend, um die realen sittlichen Handlungen zu beurteilen und zu
systematisieren.
Die letztere Eventualität findet auch als praktisches,
bewusstes Moralprinzip Anwendung, z. B. in der Norm, dass selbst, wenn es
keinen Gott gäbe, wir doch so handeln sollen, als ob er existierte.
Diese Möglichkeiten nun werden von der logischen
Struktur des Zweckbegriffes gekreuzt, in Folge deren nicht nur das in
Wirklichkeit letzterreichte Glied der Zweckreihe in seiner Form als
(<352) Vorstellung die Ursache bildet, die ihr erstes Glied
hervortrieb; sondern wo es sich um moralische Zwecke handelt, verleiht
jenes Endglied der ganzen davorliegenden Reihe auch erst den Wert und die
Schätzung.
Also würde, wenn wir einen Endzweck annehmen, das
bewusste Handeln seinen Wert von einer Instanz erhalten, welche -
wenigstens in den allermeisten Fällen - ausserhalb des Bewusstseins des
Handelnden liegt.
Dies scheint überhaupt nur in der ersten von den
angeführten Möglichkeiten des Endzwecks konsequent durchführbar zu
sein.
Wenn wir einen objektiven Zweck der Welt annehmen, zu
dem die als sittlich bezeichneten Handlungen hinführen, dann kann ihr
Wert freilich von dem Bewusstsein des Handelnden unabhängig existieren,
in dem Sinne, in dem das Tun des Kärrners wertvoll ist, obgleich er
nichts von dem Plane oder Werte des Baues weiss, den er fördert.
Am unzweideutigsten wird dies in der theistischen
Anschauungsweise ausgedrückt: die Handlungen, welche dem göttlichen
Weltplane dienen, sind sittlich, wenngleich Gott seinen Endzweck selbst
nicht enthüllt, uns vielmehr in der Mannigfaltigkeit unserer einzelnen
Zwecke befangen sein lässt und uns nur das Gefühl, dass die eine
Handlung wertvoll oder sittlich sei, die andere nicht, als Wegweiser zu
dem unbekannten Ziele auf den Weg mitgegeben hat.
Es bedarf übrigens für den objektiven Endzweck, dem
die Weltentwicklung zustrebt, so viel oder so wenig der Annahme eines
persönlichen Gottes, wie es für die Annahme, die alles Sein als
Bewusstsein deutet, eines persönlichen Ich bedarf.
Dem "Bewusstsein überhaupt" als dem
erkenntnistheoretischen Subjekte gegenüber ist das psychologische Ich
entweder ein Inhalt gleich dem Du oder den Körpern, oder eine
Substanzialisierung, eine unnötig verdoppelnde Verfestigung des
allumfassenden Bewusstseins in einem Subjekt, das es trage.
Ebenso könnte man das Gesamtsein als ein
zweckmässiges, auf ein absolut wertvolles Ziel angelegtes auf (<353)
fassen, ohne dass wir dasselbe erst von einem Gotte tragen liessen.
Diese hinreichend erkannte Möglichkeit erwähne ich
hier nur, um durch die Parallele mit dem erkenntnistheoretischen
Idealismus vielleicht denkbar zu machen, dass es einen Wert gibt ohne eine
Person, die ihn empfindet, einen Zweck ohne eine Seele, die ihn sich
setzt.
Ob man diesen Gedanken vollziehen kann oder nicht,
wollte ich hier nicht erörtern, sondern nur zu seiner begrifflichen
Klärung die Analogie betonen, die zwischen dem "Bewusstsein
überhaupt" oder dem "reinen Ich" und dem individuellen Ich
einerseits, dem Zweckcharakter der Welt und Gott andrerseits besteht.
Ein einheitlicher Endzweck der Welt aber, dessen
unbedingter Wert alle ihm zustrebenden Handlungen als sittlich
charakterisierte, kann kein bloss ideeller sein, sondern muss von der
Weltentwicklung auch wirklich herbeigeführt werden.
Denn die zu zweit angeführte Möglichkeit, dass ein
bestimmter Endzweck nur ein heuristischer sei, nur ein Hilfsmittel der
Erkenntnis, die die sittlichen Handlungen so anzuordnen vermöge, als ob
sie diesem Zwecke zustrebten - diese ist durch den Umstand ausgeschlossen,
dass der Endzweck ja den Handlungen ihren wirklichen sittlichen Wert
verleihen und verbürgen soll.
Dies ist offenbar unmöglich, wenn man annimmt, dass
dieser Endzweck ein nur im Kopfe eines Beobachters bestehender ist.
Im Bewusstsein der Handelnden selbst soll er nicht
bestehen -' denn die Werte, die diese selbst unmittelbar ihren Handlungen
zusprechen, sind tausendfältig zersplitterte, von jeder Einheitlichkeit
und Gemeinsamkeit weit entfernte; liegt er aber ausserhalb des
Bewusstseins, so muss er als in irgend einer Realität bestehend
vorgestellt werden, weil ein Endzweck, der als ein rein theoretischer, mit
dem Zeichen der blossen Idealität versehener gölte, offenbar nicht den
Wert begründen kann, den man von ihm aus auf die einzelnen Handlungen
überleiten will.
Die meistens unterlassene Frage nach dem
erkenntnistheoretischen Verhältnis der als sittlich angenommenen
Handlungen zu dem als Moralprinzip aufgestellten Endzweck der Sittlichkeit
scheint mir also zu der Antwort zu führen, dass, wenn man einen
einheitlichen Endzweck des Sittlichen überhaupt annimmt, man zugleich
eine auf denselben in Wirklichkeit gerichtete Weltentwicklung annehmen
muss, weil - um es kurz zu wiederholen - der Endzweck im Bewusstsein des
Handelnden anerkannter Weise nicht liegt, ausserhalb desselben liegend
aber nur zwei Stellen findet: entweder in dem Geiste eines Beobachters
oder in der Wirklichkeit, in die die Handlungen ausmünden.
Da aber die erstere nur ideeller Natur ist und ein
realer Wert von ihr nicht ausstrahlen kann, so bleibt nur die letztere
übrig, d. h. der ethische Monismus setzt eine objektive Teleologie
voraus.
Erscheint dies als erkenntnistheoretische
Notwendigkeit, so bildet sie den gemeinsamen Unterbau für zwei einander
sehr entgegengesetzte ethische Theorien.
Zuerst des Gedankens, dass die sittliche, menschliche
Persönlichkeit der Endzweck der Welt sei.
Wo dies angenommen wird, finden wir auch ethischen
Monismus, dessen Verbindung mit der objektiven Teleologie also hier nicht
so geschieht, dass der sittliche Endzweck in eine selbständige wertvolle
Weltentwicklung eingestellt, sondern so, dass diese ihm eingeordnet wird. In umgekehrter Richtung realisiert die im engeren Sinne
soziale Moral jene Verbindung.
Mit dem Gedanken, dass das Wohl und der Fortschritt der
Gattung den einheitlichen Endzweck des sittlich genannten persönlichen
Handelns bilden, finden wir jetzt in der Regel den objektiven vereinigt,
dass die Entwicklung der Gattung natürlichen Gesetzen gemäss zu immer
grösserem Wohl, immer vollendeterer Ausbildung aufstrebe.
Neben der religiösen Moral sind diese beiden Lehren
die typischen Ausgestaltungen der Notwendigkeit, einen objektiven
Weltzweck vorauszusetzen, wenn man den Wert des individuellen sittlichen
Handelns (<355) von einem einheitlichen, also ausserhalb des
individuellen Bewusstseins liegenden Endzweck ableiten will.
Macht man sich klar, wie wenig es einerseits gelungen
ist, einen Endzweck des Handelns überhaupt oder des moralischen Handelns
aufzufinden, wie entschieden andrerseits doch der Wert der einzelnen
Handlung für uns davon abhängt, dass sie einem Zwecke dient, und wie
über jeden erreichten Zweck sich ein neuer, den Wert des ersteren
bestimmender erhebt: so liegt der Gedanke nahe, dass vielleicht die blosse
Form der Zwecksetzung einen Wert enthalten mag, den wir
missverständlicher Weise so ausdrücken oder deuten, als ruhe in einem
Endzweck seinem Inhalte nach der Wert, der auf alles zu ihm Hinleitende
ausstrahlt.
Dies ist nur eine Erweiterung der Vorstellung, dass es
nicht Werte gibt, die wir als solche wollen, sondern dass wir umgekehrt
das einen Wert nennen, was wir wollen. Diese Wertempfindung ist nun da, wo sich das Wollen
unmittelbar, ohne besondere Stationen oder Schwierigkeiten realisiert,
eine verhältnismässig schwache.
In solchen Fällen, wo es sich um direkte Befriedigung
von Bedürfnissen oder Trieben handelt, sprechen wir auch noch nicht von
Zwecken, sondern vielmehr erst dann, wenn sich eine Zwischenstufe hinter
den momentanen Zustand ein schiebt, die zum Objekte des Willens gemacht
und realisiert werden muss, ehe der auf die weitere Stufe gerichtete Wille
seine Befriedigung finden kann; zum Zweck wird das Gewollte erst dadurch,
dass sich mittlere Wollungen davorstellen.
Es scheint nun, als ob nicht nur der Zweck überhaupt
als wertvoller empfunden würde, als jene einfachen unmittelbaren
Wollungen; sondern als ob der Wert jedes Zweckes im Verhältnis der um
seinetwillen gewollten Zwischenstufen oder Mittel anwüchse.
Dies ist nicht etwa eine Inversion der scheinbaren
Selbstverständlichkeit, dass, wenn ein Zweck uns besonders wertvoll erscheint, wir auch
besonders viel Mittel für ihn zu wollen bereit sind.
Ob wir (<356) irgend etwas, dessen Vorstellung in
uns an und für sich einen Trieb erweckt, uns praktisch zum Zwecke machen,
das hängt davon ab, ob wir die Mittel, welche zu ihm hinführen,
gleichfalls wollen oder ob sie ihrerseits Nebenwirkungen haben, die uns
verhindern, sie zu wollen und damit zugleich, uns jenen Zweck zu setzen.
Je vielgliedriger nun eine Zweckreihe ist, d. h. je
mehr miteinander verbundene Wollungen sie enthält, desto mehr Wollen
steckt in ihr als Ganzem, d. h. desto wertvoller ist sie als Ganzes, und
begreiflich kondensiert sich dieser Wert in dem letzten Gliede, das sie
für unser Bewusstsein enthält und das als ihr tatsächliches Resultat
das Ganze repräsentiert, in dem Endzweck.
Weil das Zweckwollen überhaupt ein grösseres Quantum
Willen enthält als das einfache, eingliedrige Wollen, darum erscheint es
wertvoller.
Es wird von einigen Seiten angenommen, dass die
Kategorie des Zwecks es ist, deren Anwendung den menschlichen Geist am
entschiedensten von dem untermenschlichen scheidet; ebenso kann man sagen,
scheide sie ihn von dem übermenschlichen, weil von einem Gotte nicht
anzunehmen ist, dass sich erst vermittelnde Wollungen vor sein definitives
Wollen schöben ; so wird denn das Zweckwollen vielleicht am besten durch
das sonst bedenkliche Epitheton charakterisiert, dass es das eigentlich
menschenwürdige sei.
In dem Aufbau der Mittel und Zwecke, in der
Bereicherung und Bedeutung, die jeder Moment des Strebens dadurch erhält,
dass eine Reihe früherer Momente um seinetwillen da war, er selbst aber
der Träger höherer, umfassenderer Zwecke ist - darin liegt ein Wert, der
nicht allein von dem Inhalt der Zwecke, sondern auch davon unabhängig
ist, ob diese Reihen irgendwo ein Ende haben.
In der Wertung des Zweckes als solchen haben wir eine
konkrete Gestaltung jener ganz allgemeinen Ahnungen, die den Wert des
Lebens in das Streben statt in seine Resultate, in das Suchen statt in das
Finden verlegten.
Erscheint die Funktion der Zwecksetzung als an
(<357) sich wertvoll, so haben wir in ihr die schmerzlich gesuchte
Einheit der Zwecke, die der Inhalt derselben uns nicht zu gewähren
vermag.
Die Zweckreihen selbst divergieren in unversöhnlicher
Weise; gemeinsam aber ist ihnen die funktionelle Form des Zwecks und
zugleich damit erstens die Rückwirkungen dieser Funktion auf das Gefühl,
zweitens die Folgen derselben auf die äussere, von unseren Interessen
bestimmte Welt; denn welches auch die Zwecke sind, die wir in dieser
verfolgen: wenn es überhaupt Zwecke sind, d. h. gegliederte Reihen von
Eingriffen, in denen der Erfolg des einen immer zum Ausgangspunkt des
anderen wird, so ist die Folge bez. die Bedingung davon jedenfalls eine
Organisierung unserer Interessensphäre, ein Ineinandergreifen ihrer
Teile, eine Bearbeitung ihrer in dem Sinne, dass nicht nur kurze Impulse
in ihr Befriedigung finden, sondern dass sich von jedem Punkte aus
möglichst lange Bahnen geringster Widerstände eröffnen.
Wenn Schopenhauer die Funktion des Wollens überhaupt
als Einheitspunkt über die Mannigfaltigkeit der einzelnen Wollungen
gestellt hat, wenn andrerseits das formale Sollen uns als das Gemeinsame
aller sittlichen Forderungen erschien, so haben wir nun hier in der
Funktion der Zwecksetzung ein Gemeinsames für die höheren Wollungen und
Werte.
Wenn wir die teleologische Betrachtung mehr nach der
physiologischen Seite wenden, so gewinnen wir zu dieser Betrachtungsweise
eine Analogie, die in der Ausführung Bd. I. S. 183 über das Moralprinzip
des Lebensmaximums angedeutet ist.
Verfolgen wir nämlich den Bau des organischen Körpers
gemäss der Frage, wozu jedes Organ oder jede Funktion diene, und finden,
dass a die Funktion b, b die Funktion c usw. steigere, so münden wir
schliesslich den höchsten und allgemeinsten Funktionen gegenüber an der
Erkenntnis, dass sie keiner weiteren angebbaren Funktion, sondern eben der
Lebenserhaltung dienen.
In dem Sinne, in dem auch der Darwinismus von
Naturzwecken (<358) spricht, erscheint das Leben schlechthin als der
Zweck des Lebens.
Die psychologischen Zweckmässigkeiten lassen sich als
Fortsetzungen des gleichen Weges deuten; wenn wir also sagen, es käme
nicht auf das Leben als blosse Funktion an, sondern auf seine Inhalte, so
besteht vielleicht der Wert dieser Inhalte in gar nichts Weiterem, als
dass sie Mittel oder Träger einer besonderen Steigerung, Konzentrierung
oder Sicherung des Lebens sind.
Sie scheinen schliesslich selbständige, ausserhalb der
blossen Funktion des Lebens stehende und von ihr erst zufällig
realisierte Werte zu sein und zeigen so den Prozess, der sich nachher im
Einzelnen so oft wiederholt: dass die Produkte einer Entwicklung, die sich
von dieser gelöst haben, dann wieder von aussen her als Faktoren
scheinbar selbständiger Provenienz in sie aufgenommen werden.
Wie die formale Funktion des Lebens diese Inhalte als
scheinbar an sich wertvolle aufnimmt, während sie vielleicht nur
Verdichtungen eben dieser Funktion sind, so, meinte ich hier, könnte man
den Wert der Inhalte der Zwecksetzung, die materialen und deshalb einen
bestimmten Endzweck fordernden Zwecke zurückführen auf die formale
Funktion der Zwecksetzung überhaupt, die an sich als Wert empfunden
würde und denselben auf ihre Inhalte in dem Masse überträgt, in dem
diese die Funktion selbst in sich kondensieren oder fördern.
Wenn sich dem gegenüber natürlich sogleich der
Einwand erhebt, dass das Böse sich nicht weniger der Form des Zweckes
bedient, die Unsittlichkeit nicht weniger von der Zweckfunktion getragen
wird - so kann doch vielleicht das Wesen der Unsittlichkeit so
ausgedrückt werden, dass die von ihr angesponnenen Zweckreihen früher am
Ende sind, dass sie nicht jenes weite Hinausbauen eines Zweckes über den
anderen und weit über die Grenzen des Individuums und seines Lebens
hinaus aufweisen, das den sittlich genannten Zweckreihen eigen ist.
Dem widerspricht nicht unsere Bemerkung (<359) (Bd.
I. S. 76), dass der Fluch der bösen Tat sich weiter zu erstrecken pflege,
als der Segen der guten. Denn das besonders Tragische an dieser Tatsache ist
gerade dies, dass die unheilvollen Folgen des Bösen sich gewissermassen
mechanisch einstellen, sehr oft ganz ohne den Willen des Täters, ja gegen
denselben.
Dass wir in den Zweckreihen, die wir als sittlich
empfinden, nicht so leicht oder überhaupt nicht zu einem letzten Gliede
kommen, dass wir in keinem so leicht die volle Begründung seines Sollens
anerkennen, sondern mit der Frage der Sanktion des Guten immer weiter und
ins Endlose getrieben werden - das beweist gerade das grössere Quantum
von Zwecksetzung, das im Sittlichen vereinigt ist, während die
unsittlichen teleologischen Reihen viel eher für das Bewusstsein an ihren
Endzweck gelangen, an das, womit die unsittliche Absicht nun wirklich
befriedigt ist, ohne nach einem darüber hinausliegenden Zwecke zu fragen.
Wenn die Eigenheit des ästhetischen Reizes die
Ausdeutung vertrug, in der Fülle der angeregten Vorstellungen zu
bestehen, die gerade die Form des Schönen in maximalem Quantum anklingen
lässt, so besteht vielleicht der ethische Wert in der Fülle der
Zweckvorstellungen, die sich an das fragliche Gut anschliessen, sei es,
indem es ihre Krönung, sei es, indem es ihren Ausgangspunkt bildet.
Dann würde es unserem Leben seinen Wert geben, dass es
in der Form des Zweckes verläuft, wie denn die höhere sittliche
Empfindung diejenigen uns zu Teil gewordenen Güter sehr gering taxiert,
die nicht erst durch das Stadium, Zweck zu sein hindurch gegangen sind
oder an die sich nicht weitere Zwecksetzungen anschliessen.
Dies ordnet sich völlig in die allgemeine Tendenz des
modernen Denkens ein, mit ihrer Auflösung der Substanzen in die
Funktionen, des Starren und Dauernden in den Fluss rastloser Entwicklung -
eine Tendenz des Erkennens, die sicher in Wechselwirkung steht mit den
praktischen Bewegungen (<360) einer Zeit, die sich gegen alle Rudimente
überlebter, des Anspruchs auf Ewigkeit sich anmassender Zustände
richtet, und in der Lebendigkeit der Entwicklung, in der bewegenden Kraft,
die jeden im Augenblick erreichten Punkt im nächsten zu überschreiten
Willens ist, den Ersatz für die Ruhe und Sicherheit findet, mit denen
frühere, dem Substanziellen und Unveränderlichen zustrebende
Empfindungsweisen glücklich waren.
Wie das ethische Handeln, wenn auch nicht
durchgehendes, so doch in einer Reihe seiner Provinzen jetzt nicht auf
Festigung, sondern auf Verflüssigung geht, so wird vielleicht auch das
ethische Erkennen die anerkannten Werte, die man von der festen Form eines
- entweder angenommenen oder gesuchten - Endzwecks abhängig glaubte, auf
die formale Funktion des Zwecksetzens überhaupt zurückführen können.
Diese Funktion gibt dann ihren Wert an die Objekte in
dem Masse ab, in dem dieselben günstige Bedingungen für ihren Ablauf
oder ihre Kondensierung darbieten.
Alle Endzwecke wären dann nur Verfestigungen und
Hypostasierungen des teleologischen Prozesses als solchen, und die den
ganzen Verlauf der Ethik beherrschende Ahnung, dass all die unendliche
Mannigfaltigkeit der sittlichen Zwecksetzungen doch irgendwo zur Einheit
zusammengehen müsste, erfüllte sich dann in der Form der Zwecksetzung
überhaupt und in dem weiteren ihnen ebenso gemeinsamen Prozess, der den
Wert dieser Funktion auf ihren Inhalt, ihr Objekt überträgt.
Neben dem Begriffe des Endzwecks ist nun der Begriff
der Persönlichkeit zu untersuchen, wenn die Einheit der tatsächlichen
oder der sittlichen Zwecke in Frage steht.
Es ist die stillschweigende Voraussetzung des ethischen
Monismus, dass die Einrichtung der menschlichen Natur überhaupt für die
ideale Einheit ihrer Zwecke entweder die Anregung oder wenigstens den Raum
enthält.
Möge die (<361) sittliche Forderung unabhängig von
den realen Zwecken bestehen, auf die sie doch aber jedenfalls wirken muss,
oder mögen umgekehrt die letzteren ihr den Ursprung gegeben haben - in
jedem Falle steht ihre Einheit im engsten Zusammenhänge mit der Einheit
der psychologischen Zwecke.
Die grundlegende Form der letzteren kann man die
Einheit der Persönlichkeit nennen. Denn die reale wie die sittliche Einheitlichkeit des
Individuums könnte sehr wohl selbst dann bestehen, wenn der Zweck, in dem
alle Fäden der Persönlichkeit zusammenlaufen, für jede Persönlichkeit
ein anderer wäre.
Es liesse sich ein ethischer Individual-Monismus
denken, der keine Diskrepanz zwischen den einzelnen sittlichen Strebungen
des Individuums anerkennt, dieselben vielmehr sich in einem einzigen
höchsten Zweck vereinigen lässt - dagegen völlig zugibt, dass diese
letzten Zwecke für verschiedene Menschen durchaus verschieden wären und
dass die Gattung keineswegs die Einheitlichkeit des sittlichen Endzwecks
aufwiese, wie der Einzelne.
Das Umgekehrte dagegen ist wenigstens für die
ethischen Zwecke nicht denkbar; es kann keinen ethischen Gattungsmonismus
geben, der nicht auch in dem Einzelnen festzustellen wäre, weil jede
Diskrepanz innerhalb dieses zugleich eine in der Gattung ist, der er
angehört.
Deshalb ist eine gewisse Einheit der
Einzelpersönlichkeit das Minimum, das der gewöhnliche ethische Monismus
fordert, der sogar schon auf einen für alle geltenden Endzweck verzichten
will.
Wir untersuchen also jetzt die sogenannte Einheit der
Persönlichkeit, insoweit sie mittelbar oder unmittelbar einen der
Grundbegriffe aller Ethik bildet.
Mit dieser Einheit nun sind die ethischen Interessen
zunächst durch Vermittlung des Seelenbegriffs assoziiert worden. Wo eine irgendwie gestaltete Substanzialität der Seele
zum Zweck ihrer Unsterblichkeit vorausgesetzt wird, da ist das Seelenleben
auch als ein einheitliches präjudiziert.
Die substanzielle Einheit der Seele scheint unmittelbar
jenen (<362) Zusammenhang, jene harmonische Ordnung ihrer Inhalte zu
bewirken, die man eben die Einheit der Persönlichkeit nennt.
Während nun der gewöhnliche Fehler ist, dass
Verhältnisse, welche innerhalb der Vorstellungen gelten, auf das
Vorstellen als Ganzes übertragen werden - so kommen z. B. die weitaus
meisten Vorstellungen über das Wesen der Seele zustande - findet hier das
Umgekehrte statt: eine Qualität, die man der Seele als Ganzem oder als
Funktion zuspricht, soll auch das Verhältnis ihrer Inhalte
charakterisieren.
Im Gegensatz dazu aber könnten wir annehmen, der
Mensch als Ganzes sei eine Einheit, insofern er sich bewusst ist, es sei
eine Person, die alle diese Empfindungen, Vorstellungen, Strebungen
erlebt; aber in diesen brauchte deshalb ihrem Inhalte nach gar keine
Einheit zu herrschen; es könnte ein metaphysischer oder physischer Punkt
sein, von dem die Strahlen des Denkens ausgehen - aber nur dieses formale
Zusammengehören verbände sie, während sie ihrem Sinn und Inhalt nach
völlig auseinandergehen.
Die Versöhnung der inneren Konflikte, die Hoffnung
einer schliesslichen Harmonie der diskrepanten Triebe und Gedanken, die
man aus der Einheit der Person, aus dem tatsächlichen Zusammenbestehen
und Sichtreffen ihrer Elemente schöpfen möchte, beruht ganz auf jene.,
Verwechslung zwischen demjenigen, was für die Form oder Funktion gilt,
mit dem, was für den Inhalt derselben gilt.
Wir können uns denken, dass eine fortgeschrittene
physiologische Kenntnis uns die nervösen und zerebralen Vorgänge, die
die psychischen Ereignisse tragen, als ein zusammenhängendes,
verständliches, von einheitlichen Gesetzen regiertes Ganze zu zeigen
vermöchte, während die psychologischen Inhalte, die
Bewusstseinsbedeutungen jener Vorgänge, dennoch ganz unversöhnt, ohne
jede gegenseitige Berührung oder Ableitbarkeit auseinander liegen und den
heftigsten Antagonismus zeigen; und diese Möglichkeit können wir sowohl
(<363) nach der metaphysischen wie nach der psychologischen Richtung
fortsetzen.
Jenes, indem die Einheit und Einfachheit der Seele, als
wirkendes Wesen gedacht, durchaus mit der Diskrepanz ihrer Wirkungen als
Inhalten zusammenbestehen kann; dieses, indem die psychischen Vorgänge
ihrem Zustandekommen nach durchaus zusammenhängen, auseinander
verständlich sein und ein nach durchgehenden Gesetzen geregeltes
dynamisches System bilden können, während ihre Bedeutungen, ihre
ideellen Inhalte, von jener realen und relativ äusseren Einheit ganz
unabhängig sind.
Den bekanntesten Fall solcher Disharmonie bilden die
logischen Unzulänglichkeiten und Widersprüche des Denkens, von denen man
mit Recht sagt, dass sie für den Psychologen, der nur die Gesetze des
wirklichen Denkens sucht, genau gleichwertig sind mit dem wahren und
inhaltlich zusammenhängenden Denken.
Die Logik ist indes nicht der einzige ideelle
Gesichtspunkt, an dem sich Einheit oder Widerstreit der inneren Vorgänge
unabhängig von dem einheitlichen Zusammenhänge der psychologischen, sie
realisierenden Kräfte ergibt.
Sittliche, eudämonistische, ästhetische, sachliche
Forderungen treten mit ideeller Gültigkeit auf, und an ihnen gemessen
scheinen die Inhalte unseres psychischen Seins oft genug unversöhnt
gegeneinander gerichtet oder - was oft noch bezeichnender und noch
unheilbarer ist - gegeneinander gleichgültig dazustehen, während wir
zugleich einerseits die Gesetze, die diese Bewegungen beherrschen, in ein
harmonisches System einordnen, andrerseits die tatsächlichen
psychologischen Vorgänge als solche durchaus als ein zusammenhängendes,
dynamisch einheitliches Ganzes anerkennen könnten.
Diese mannigfaltigen Möglichkeiten haben nur den
kritischen Wert gegen den Schluss vorsichtig zu machen, den man leicht aus
der Einheitlichkeit, die die menschliche Persönlichkeit von irgend einer
erkenntnistheoretischen Kategorie (<364) her aufweist, auf diejenige
Einheit des Innenlebens zieht, die die schliessliche Versöhnbarkeit aller
Konflikte und gegenseitigen Fremdheiten seiner Elemente garantiere.
Was aber bedeutet denn nun tatsächlich die nicht nur
formale, sondern unter den Seeleninhalten der Persönlichkeit herrschende
Einheit derselben? Ich glaube, dass wir unter einer einheitlichen
Persönlichkeit, ganz allgemein gesprochen, eine solche verstehen, deren
einzelne Seeleninhalte miteinander in einem nach empirischen Regeln der
Psychologie begreiflichen Zusammenhänge stehen.
Wir erkennen z. B. Einheit der Persönlichkeit an, wenn
ein Mensch, der im Verhalten gegen seine Vorgesetzten sehr servil ist,
auch in seinem religiösen Leben sich knechtisch gegen das göttliche
Prinzip stellt; auch dann nennen wir einen Menschen einen einheitlichen,
wenn er den gleichen Reizen gegenüber zu verschiedenen Zeiten und unter
verschiedenen subjektiven Verhältnissen doch in gleicher Weise reagiert;
andrerseits nennen wir es aber wieder einheitlich, wenn derjenige, der
nach oben servil ist, sich nach unten hart und hochmütig zeigt, oder wenn
Jemand der Verschiedenheit der Reize auch jedes Mal in entsprechend
verschiedener Weise begegnet.
Eben deshalb brauchten die Verteidiger der
einheitlichen Seele auch nicht vor den Erscheinungen des Hypnotismus und
des sog. Doppelbewusstseins die Waffen zu strecken.
Mit zweifelloser Zuverlässigkeit wird uns von Personen
berichtet, die durch gewisse Einflüsse einen von ihrem sonstigen völlig
abweichenden Charakter annehmen, Handlungen begehen, die sie sonst
verabscheuten und deren sie sich, nachdem sie wieder in den normalen
Zustand gelangt sind, absolut nicht erinnern, an die sich aber ihr Tun
sofort und scheinbar ununterbrochen wieder anschliesst, wenn der
somnambule Zustand zum zweiten Male eintritt.
Hier sind also scheinbar zwei ganz getrennte geistige
Persönlichkeiten innerhalb eines Körpers vorhanden, die abwechselnd in
die Erscheinung treten.
Will der (<365) psychologische Monist dem gegenüber
nicht wirklich mehrere "Seelen" in demselben Körper anerkennen
und seine Behauptung von der Einheitlichkeit der Seele auf jede derselben
für sich beschränken, ohne sie auf den Komplex der zusammenhangslosen
Seelenwesen erstrecken zu wollen – so kann er hervorheben, dass diese
Veränderungen des Bewusstseinsinhaltes ja nicht von selbst eintreten,
sondern immer die Folge gewisser Einflüsse sind, die auf die Seele geübt
werden und sich nur quantitativ und in äusserlich auffälligerer Weise
von allen anderen Einflüssen unterscheiden, die die verschiedenen
Vorgänge in der Seele provozieren.
Der Umschlag der Stimmungen, die Hingegebenheit an entgegengesetzte
Eindrücke, die wechselnden Sympathien auch des normalen Lebens sind nur
niedrigere Grade jener Mehrfachheit des psychischen Verhaltens, die uns am
Somnambulen entgegentritt.
In der Psyche des Letzteren sind nur die Elemente, die Spannkräfte
derart günstig für die suggestive Einwirkung gelagert, dass das Quantum
dieser letzteren scheinbar ganz ausser Proportion mit der Bedeutsamkeit
der Folge steht.
Es bleibt also auch dieser gegenüber der Gedanke in Kraft, dass gerade
das verschieden artige Verhalten der Seele gegenüber verschiedenartigen
Veranlassungen ihre Einheitlichkeit beweise, während sie sich
fortwährend verändern müsste, um gegenüber den fortwährend
wechselnden äusseren Reizen gleichsam immer dasselbe Resultat zu ergeben.
Die phänomenalistische Verschiedenheit der Inhalte gibt deshalb nicht
weniger auf eine Einheit der Persönlichkeit Anweisung, als die äussere
Gleichmässigkeit ihrer Erscheinungen es tun kann.
Wenn uns eine Person durch allenthalben gezeigten Geiz einheitlich
charakterisiert ist, so halten wir doch eine andere für nicht weniger
einheitlich, bei der der Geiz durch gelegentliche Verschwendung
unterbrochen wird, ja vielfach wird durch solches Zusammenkommen des
begrifflich Entgegengesetzten die Persönlichkeit erst zu wirklicher
Einheit ergänzt.
Dies (<366) gilt namentlich für das Verhältnis der sinnlichen und
der vernunftmässigen Triebe in uns, in Bezug auf welches sowohl die
durchgehende Bestimmtheit des Empfindens nach einer Seite hin wie ein
gewisser regelmässiger Turnus der Bestimmtheiten den gleichmässigen
Aspekt einer einheitlichen Persönlichkeit gewährt.
Es zeigt sich also schon hier sogleich, dass ein Seeleninhalt mit jedem
von zwei weiteren, einander durchaus entgegengesetzten zusammen bestehen
kann, ohne dass die in einem von beiden Fällen behauptete Einheit des
Seelenlebens dadurch in dem anderen ausgeschlossen wäre.
Die Tendenz zu einer Entgegengesetztheit des Verhaltens wie in den
obigen Beispielen durchzieht unser gesamtes psychisches Leben: die
Färbung oder Bestrebung, die eine Provinz desselben charakterisiert, übt
eine anähnlichende Wirkung auf die anderen aus, vermöge einer Art von
Beharrungsvermögen setzt sich die an irgend einem Punkte begonnene
Bewegung in gleicher Richtung und gleichem Rhythmus auf immer weitere
fort; umgekehrt aber ist auch eine komplementäre Tendenz zu beobachten,
der zufolge der Charakter eines psychischen Gebietes sein direktes
Gegenteil auf einem anderen provoziert.
Wie das Verhalten der Individuen untereinander einerseits durch
Nachahmung und Suggestion, andrerseits durch Opposition und
Selbständigkeitstrieb bestimmt wird, so das Verhältnis der Vorstellungen
zueinander.
Die Tendenz zum Rhythmus, d. h. zur Wiederholung
gleichcharakterisierter Perioden ist wohl die gleiche, wie die zur
Nachahmung, was besonders durch die Überlegung klar wird, dass doch auch
die Bewegung der anderen Person, die wir nachahmen, dazu erst in uns als
unsere Vorstellung produziert werden muss, so dass, genau gesprochen, jede
Nachahmung eines Dritten doch Nachahmung unserer selbst ist; im Rhythmus
erhält die Selbstnachahmung gewissermassen Dauerform.
Durch das Mittelglied hindurch, dass die Handlung des Dritten nur
nachdem sie zu meiner Vorstellung geworden (<367) ist, mein Handeln
beeinflussen kann, wird weiterhin auch die Tendenz zur Abwechslung und
Komplementierung unter den Seeleninhalten wohl als dieselbe gelten
dürfen, die sich in der Lust am Widerspruch und am "anders sein als
die Anderen" äussert.
So scheint uns die Übertragung des Charakters eines psychischen
Bereiches auf den anderen ebenso verständlich, d. h. von der Einheit der
Person getragen, wie gerade die Neigung, sich für das Verhalten auf einem
Gebiet durch das völlig entgegengesetzte auf einem anderen gewissermassen
zu entschädigen.
Es ist also nicht das logische Verhältnis der Seeleninhalte, nicht
Übereinstimmung oder Widerspruch zwischen ihnen, was über das Prädikat
der Einheitlichkeit entscheidet, vielmehr die Tatsache , ob wir gewöhnt
sind, bestimmte Eigenschaften nebeneinander bestehen zu sehen.
Wenn wir von einer einheitlichen Persönlichkeit sprechen oder die
Einheitlichkeit der Seele als sittliche Forderung aufstellen, so kann nur
ein allerdings typischer Irrtum des Denkens darunter jene inhaltliche
Parallelität oder einen sachlich notwendigen Zusammenhang der
Vorstellungen verstehen, der allein auf eine jenseits des Bewusstseins
liegende substanzielle oder dynamische Einheit des Seelenlebens Anweisung
geben könnte.
Es ist dies derselbe, von mir schon öfter hervorgehobene Fehler, durch
den uns die tatsächlichen, in fortwährender Erfahrung aufgewiesenen
Zusammenhänge gewisser Dinge schliesslich als logisch notwendig
erscheinen - als ob syllogistischer Zwang den einen Begriff an den anderen
knüpfte, während in Wirklichkeit nur die Erfahrung uns dies
Zusammenbestehen der betreffenden Elemente zeigt; zeigte sie das Gegenteil
davon, so würde auch dieses schliesslich sich zu dem Anschein einer
logischen Konsequenz verdichten, wie wir denn auch wirklich sehen, dass
streitende Parteien jede von zwei scheinbar sich gegenseitig
ausschliessenden Erfahrungen als die logisch notwendige behaupten.
Genau angesehen, besteht die (<368) Einheitlichkeit der Seele darin, dass wir psychologische
Regeln kennen, nach denen wir den einen Seeleninhalt aus dem anderen
herleiten oder wahrscheinlich machen können, und so von einem zum anderen
fortschreitend alle Inhalte einer Seele als ein in sich zusammenhängendes
Gewebe begreifen.
Jene Regeln selbst aber sind ihrerseits offenbar nur kondensierte
Erfahrungen über das tatsächliche Zusammenvorkommen dieser Inhalte.
Wie sich das objektive Erfolgen aus der blossen zeitlichen Folge
herstellt oder wenigstens aus dieser seinen konkreten Inhalt gewinnt, so
das objektive Zusammengehören, die Einheitlichkeit der Inhalte aus dem
blossen zeitlichen Beieinandersein.
Es kann dabei ruhig zugegeben werden, dass es zur Vereinigung derselben
einer apriorischen Funktion bedürfe; worauf es hier ankommt ist nur, dass
diese sich ausschliesslich mit dem konkreten Inhalt füllt, den die
Erscheinungen in der Zeit, nicht aber mit solchem, den der logisch
begriffliche Zusammenhang ihr bietet.
Kant sagt einmal, einen Gegenstand erkennen, bedeute nichts anderes,
als in dem Mannigfaltigen seiner Anschauung Einheit bewirken.
Ebenso aber kann man wenigstens in Bezug auf die Seele umgekehrt sagen,
ihre Einheit bedeute, dass wir von dem Mannigfaltigen ihrer Inhalte
Erkenntnis, Verständnis gewinnen, d. h. dieselben nach Regeln aufeinander
zurückführen können.
Mangels jeder tiefer dringenden Kenntnis der realen Kräfte indes, die
die psychischen Erscheinungen verknüpfen, bleibt uns als Inhalt dieser
Regeln nur das beobachtete zeitliche Verhältnis empirischer
Seelenvorgänge.
In demselben Sinne ist auf die fundamentale transzendentale Tatsache
aufmerksam zu machen, dass die Einheit eines Objekts oder ihr Gegenteil
sich keineswegs aus dem blossen Aneinanderhalten seiner Qualitäten oder
Stadien ergibt, sondern immer eines besonderen für sie apriorischen
Urteils bedarf; dieses Urteil hat das Mass der Verschiedenheit in den
Erscheinungen auszusprechen, (<369) welches nicht überschritten werden
darf, solange das Subjekt noch als eines und dasselbe, als Einheit
bezeichnet werden soll.
Denn die Vorstellung, es sei noch immer dasselbe Ding, das sich nur
geändert habe, findet offenbar in sich selbst keine feste Grenze gegen
die Vorstellung, es sei ein anderes Ding. Bald ist es die äussere Form, bald eine Qualität, bald eine Relation,
bald das Erfüllen einer Raumstelle usw., dessen Beharren oder
Nichtbeharren darüber entscheidet.
Der Chemiker bezeichnet einen Stoff noch als denselben, wenn eine
Formwandlung ihn für den Laien längst als einen ganz anderen erscheinen
lässt.
Von welchem Quantum qualitativer Änderung ab uns die Identität des
Objekts aufgehoben erscheint, darüber entscheidet nicht die isolierte
Erfahrung über dasselbe, sondern ein an die Erfahrung herangebrachtes
Urteil.
Wenn man sagt: der Gegenstand a hat sich geändert – so liegt darin
ein dreifacher intellektueller Vorgang; erstens die Erfahrung, eine
Änderung hat stattgefunden; zweitens die weitere Erfahrung, neben
derselben hat eine Beharrung stattgefunden; drittens das einer ganz
anderen Erkenntniskategorie zugehörige Urteil: das Beharrende ist dem
Veränderten gegenüber das Wesentliche, das eigentliche Subjekt.
Dem letzteren Urteil muss ein subjektiver Massstab des Wertes oder der
Wägung zum Grunde liegen. Die Urteile über die Einheit der menschlichen Seele oder einzelner
Provinzen ihrer können nur auf dieselbe Weise zu Stande kommen.
Wenn wir, sobald überhaupt nur irgend ein Wechsel innerhalb des
fraglichen Komplexes stattfindet, doch noch von einer Einheit seiner
sprechen, so ist die Grenze objektiver Erfahrung überschritten und die
ausserhalb der Dinge selbst liegende Wert- und Quantitätserwägung tritt
in ihre Rechte: ob die beharrenden teile gegenüber den wechselnden zu
betonen sind und also ein in den verschiedenen Stadien mit sich
identisches Wesen anzunehmen ist, oder ob das vom Wechsel ergriffene
Teilquantum das wesentliche ist, so (<370) dass man von dem Ersatz des
früheren Wesens durch ein neues spricht.
Der Zweck dieser Erörterungen liegt in der Einsicht, dass die
Einheitlichkeit der menschlichen Seele, aus der man die logisch-reale
Einheit ihrer Zwecke so oft direkt oder vermittelt gefolgert hat, selber
nicht in einer begrifflichen Einheit ihrer Inhalte besteht; vielmehr
bedarf es einerseits eines ganz jenseits dieser letzteren stehenden, an
sie erst herangebrachten Apriori, um sie in einheitliche oder
wesensverschiedene abzuteilen; andrerseits, da die Synthese der
entgegengesetzten Inhalte die Einheit und Verständlichkeit der
Persönlichkeit nicht aufhebt, da dies vielmehr erst dann eintritt, wenn
die Divergenzen das Mass des für gewöhnlich Beobachteten überschreiten,
so ist die Einheit der Seele offenbar nur der Name für das empirisch
normale Zusammenbestehen ihrer Inhalte, das zu der Vorstellung einerseits
der logischen Koinzidenz derselben, andrerseits einer dieser zum Grunde
liegenden, mehr oder weniger substanziellen Einheit auswächst.
Der einzelne Mensch zeigt indes noch eine andere, sein gesamtes Wesen
umfassende Einheitlichkeit in sich, die weder in einem logisch
systematischen Zusammenhang seiner Seeleninhalte, noch in der
psychologischen Begreiflichkeit und Entwicklung des einen von diesen aus
dem anderen besteht.
Ich meine jene überhaupt nicht in Begriffe zu fassende Färbung der
gesamten Vorstellungswelt, die den individuellen Menschen als solchen
charakterisiert und jede seiner Äusserungen als so ihm zugehörig
kenntlich macht, wie man ihn am Klange der Stimme erkennt, welches auch
die einzelnen ausgesprochenen Worte seien.
In dem Kapitel über den kategorischen Imperativ erwähnte ich schon
die Erscheinung des gleichmässigen Rhythmus, den die Lebensäusserungen
einer Person auf ihren verschiedenen Gebieten tragen.
Neben dieser formalen Einheitlichkeit aber steht noch eine mehr
materiale, eine hellere oder dunklere, schlaffe (<371) oder gespannte,
ausgeglichene oder vibrierende Tönung des Ganzen; einen Ausdruck für
diese finden wir höchstens mittels jener ganz dunklen symbolischen
Assoziationen, wie sie sich etwa, auf anderem Gebiet, zwischen Tönen und
Farben herstellen.
An und für sich ist die Eigenart jeder Persönlichkeit etwas
Unvergleichbares, und eben dieser Unvergleichbarkeit ihrer als eines
Ganzen entspricht die Gleichmässigkeit, mit der sie jeden einzelnen ihrer
Inhalte in jener besonderen, nur ihr eigenen Weise färbt, und so, ganz
unabhängig von aller begrifflichen Übereinstimmung oder psychologischen
Begreiflichkeit der Inhalte selbst, ihrer Gesamtheit einen einheitlichen
Aspekt verleiht; und es liegt auf der Hand, wie sehr alle Beziehungen der
Menschen unter einander, alle Interessen und Lebensreize des Einzelnen
innerhalb der Gesellschaft durch diese Tatsache bestimmt sind, welches
Interesse also die Ethik daran hat, diese charakterologische Einheit des
Individuums zu untersuchen; um so mehr, als sie doch auch eine Hinweisung
auf die Einheitlichkeit der Ziele zu enthalten scheint, zu denen sich die
Persönlichkeit sittlicher Forderung gemäss entwickeln soll.
Was diese, die Individualität der Person ausmachende Färbung ihres
Gesamtinhalts nicht durch jenes psychologische Verständnis erschöpft
sein lässt, dessen Gelingen uns soeben die ihr zugesprochene Einheit zu
garantieren schien - ist das Folgende.
Ich habe schon in anderem Zusammenhänge erwähnt, dass die Kenntnis
sämtlicher Naturgesetze absolut nicht zur Bestimmung irgend eines
wirklichen Ereignisses zureichen würde, wenn nicht ein vorhergehender,
bestimmt qualifizierter Zustand als Tatsache gegeben wäre, auf den nun
die Gesetze angewandt werden können, die aus ihm jeden späteren
entwickeln.
Ein Anfang, der in sich schon irgendwie charakterisiert ist, muss
gegeben sein, um dem einen Naturgesetz vielmehr als dem anderen einen
Angriffspunkt darzubieten.
Dieser Anfang selbst (<372) wieder ist nicht aus den Naturgesetzen
herzuleiten, vielmehr ist in jedem Augenblick der genetischen Forschung
irgend ein Punkt der letzte, der, als Realität gesetzt, nun den
Naturgesetzen Anwendung gewährt und den sie zu den momentan gegebenen
Ereignissen hin entwickeln; von einem anders charakterisierten
Ausgangspunkt her würde eben derselbe Komplex von Gesetzen auf völlig
andere Folgezustände geführt haben.
Dies ist offenbar nun auch das Verhältnis der psychologischen Gesetze
zu den psychischen Zuständen.
Die ersteren, angenommen selbst sie wären Gesetze im Sinne der
physikalischen, würden doch die Unbedingtheit ihrer Anwendung mit der
völligen Unfähigkeit bezahlen, aus sieh heraus die qualitative
Bestimmtheit des Ausgangspunktes konstruieren zu lassen, auf den
einwirkend sie dann die weiteren psychischen Vorgänge und
Beschaffenheiten hervorbringen.
Wären uns deshalb auch sämtliche Gesetze der Vorstellungsverbindung
und -entwicklung bekannt, so würden sie uns weder dazu verhelfen,
überhaupt eine bestimmte Seelenverfassung noch die individuellen
Charakterisierungen der einzelnen herzuleiten, wenn nicht irgendwelche
bestimmten Seeleninhalte gegeben wären, die von jenen Gesetzen
aufgenommen und weitergebildet werden und deren Verschiedenheit es
bewirkt, dass die Einwirkung der gleichen Gesetze doch schliesslich so
sehr verschiedene Gesamtresultate hervorbringt.
Alle Reduktion der Erscheinungen auf einander, alle gesetzliche und
verständliche Verbindung zwischen ihnen, die sie als Teile eines
einheitlichen Ganzen auftreten lässt, setzt also eine ursprüngliche
Gegebenheit voraus, eine von den Bewegungsgesetzen der Vorstellungen
vorgefundene qualitative Bestimmtheit, die aus diesen Gesetzen nicht
abzuleiten ist, sondern unter deren Voraussetzung erst ein gesetzliches
und charakterisiertes Ganzes zustande kommt.
Diese Notwendigkeit eines auf psychologischem Wege nicht
konstruierbaren -Anfanges aller psychologischen Entwicklung, zugleich mit
(<373) dem entscheidenden Einfluss desselben auf die Qualität des
Gesamtseelenzustandes ruft die Vorstellung wach, dass die in der
durchgehenden Färbung und Stimmung des Seeleninhaltes bestehende Einheit
der Persönlichkeit doch nicht in der zuvor behandelten Deutung aufgeht,
wonach wir der Persönlichkeit nur daraufhin und insoweit Einheit
zusprechen, als es gelingt, ihre Inhalte nach psychologischen Regeln in
gegenseitige Verbindung zu setzen.
Die Tatsache selbst scheint mir unleugbar. Alle psychologischen Gesetze müssen, um sich betätigen zu können,
ein Objekt vorfinden, dessen Sein und Sosein sie selbst nicht bestimmen,
dessen Qualität indessen diejenige des Resultates ihrer Betätigung
bestimmt.
Aller Individualität d. h. aller einheitlichen Charakterisierung
mannigfaltigster Lebensäusserungen eines Menschen liegt eine
ursprüngliche, psychologisch unerklärbare Qualität zum Grunde.
Allein, was sich der Herleitung aus psychologischer Verknüpfung
entzieht, ist eben der Inhalt dieser Qualifizierung, nicht aber die
Tatsache, dass er ein durchgehender und einheitlicher ist.
Diese letztere, d. h. die Fortpflanzung der ursprünglich gegebenen
Qualität auf den Gesamtumfang des Bewusstseins, ist durchaus Sache jener
psychologischen Kräfte, die wir in den Regeln oder Gesetzen des
Seelen-lebens festzulegen suchen.
Das, worauf es uns hier ankommt: dass tatsächlich eine formale
charakterologische Einheitlichkeit unter den psychischen Äusserungen
eines Individuums herrscht, ist unabhängig davon, dass die qualitative
Beschaffenheit, die inhaltliche Bestimmtheit dieser Einheitlichkeit nicht
wieder aus denselben Kräften erklärt werden kann, die der Verbreitung
derselben, der Durchdringung alles konkreten Vorstellens mit ihr
vorstehen.
So wenig Physik und Chemie erklären, wieso es gerade diese bestimmt
qualifizierte und ursprünglich so und so gelagerte Materie gibt, wohl
aber diejenigen Gesetze entdecken können, vermöge welcher die auf
unerklärte Weise (<374) gegebenen materiellen Elemente einen durch
Wechselwirkungen zusammenhängenden Kosmos bilden: so bleibt auf der
Psychologie die Verpflichtung ruhen, die vorhandene Einheit und
Gleichmässigkeit des persönlichen Seelenlebens zu erklären - wenngleich
nicht die individuelle Qualifizierung, die in der Form dieser Einheit
auftritt.
Wenigstens scheint die methodische Forderung, mit einer möglichst
geringen Zahl von Prinzipien auszukommen, die Annahme zu involvieren, dass
nicht jeder neue psychische Akt jene Persönlichkeitsqualität von Neuem
wie durch immer wiederholte Urzeugung erhalte, sondern dass man, nachdem
sie einmal gegeben ist, nun ihr weiteres Vorkommen durch Übertragung von
dem Früheren auf das Spätere erkläre.
Im verständlich zu machen, wie dies geschehen kann, darf man wohl die
Analogie mit sozialen Körpern heranziehen; auch diese bewahren ihre
einmal erworbene, bestimmt charakterisierte Form, ohne dass man annehmen
dürfte, jede neue Generation schüfe dieselbe von Neuem.
Die Einheitlichkeit, welche eine soziale Gemeinschaft bei allem Wechsel
ihrer Mitglieder aufzeigt, ist der Beharrung der organischen Form bei dem
ununterbrochenen Wechsel ihrer materiellen Teile vergleichbar.
Eine kraftbegabte forma substantialis, die eine Existenz oder
Gültigkeit ausserhalb der Bestandteile, die in sie eingehen, besässe,
wird man für die Lösung des sozialen Problems so wenig wie des
organischen annehmen, obgleich die Beseitigung dieser Hypothese im
letzteren Falle gründlicher als im ersteren gelungen ist; indem mit
Ausdrücken wie Volksseele, der Staat als Person, sozialer Körper,
organische Einheit der Nation und ähnlichem noch gar zu leicht die
Vorstellung einer von ihren Trägern unabhängigen Form und Einheit einer
Gemeinschaft mitschwebt.
Vielmehr wird die durch Generationen hindurch bewahrte Einheitlichkeit
eines sozialen Gebildes wohl einfach dadurch zustande kommen, dass der
Wechsel der Mitglieder nie gleichzeitig mit einem Schlage (<375)
erfolgt, dass sich vielmehr in jedem Augenblicke die sozusagen noch
ungeformten Bestandteile des Ganzen in der Minderzahl befinden und dem
Einfluss und der Assimilierung seitens der älteren Generation
anheimgegeben sind.
Am unzweideutigsten tritt diese Verursachung der Formbeständigkeit
etwa bei einem stark organisierten Beamtentum auf, das Generationen lang
seine äussere und innere Einheit behält, weil offenbar immer genug im
Amte bleiben, um die neu Eintretenden zu schulen.
Die einheitliche, beharrende Form komplexer Gebilde bei dem
fortwährenden Tod und Ersatz ihrer einzelnen Bestandteile wäre
unmöglich, wenn nicht das ganz neu Eintretende sich beträchtlich in der
Minderzahl befände; die sogenannte einheitliche Idee des Wesens würde
ihre Kraft nicht zeigen können, wenn nicht die Bewegungen der Teile diese
doch eine Zeit lang in gleicher Weise bestehen liessen, von welchen
Bewegungen dann die neu Eintretenden in den gleichen Strom mitgerissen
werden; im Verhältnis zum Bestand wird immer nur ein kleiner Teil in
einer Zeiteinheit ausgesondert bez. aufgenommen.
So wird wohl auch das, was wir die Einheit der Person nennen, durch den
um- und anbildenden Einfluss zustande kommen, den der schon bestehende
psychische Status auf die Entwicklung jedes neu auftauchenden Reizes
ausübt.
Und zwar kann diese assimilierende Formung der eintretenden Vorstellung
nach den beiden Bedeutungen hin stattfinden, die sie als Glied einer
Einheit kenntlich machen: entweder, indem ihr eine Gleichheit, eine
übereinstimmende Charakteristik mit den schon bestehenden Elementen
mitgeteilt wird; oder, indem sie zwar an und für sich kein Analogon oder
Vorbild in den vorgefundenen Elementen hat, aber eine von diesen
freigelassene Stelle einnimmt oder eine sie ergänzende und stützende
Funktion ausübt, kurz einen Charakter besitzt, auf den die bereits
wirksamen Potenzen positive Anweisung geben, obgleich oder weil sie selbst
einen material verschiedenen Inhalt haben.
(<376) Diese Überlegungen präjudizieren die Möglichkeit nicht,
dass man einmal auf empirischem Wege einen Gedankeninhalt oder ein
Strebensziel finde, auf das die Gesamtheit menschlicher Betätigungen
zurückzuführen ist, sei es2 dass es als verborgene psychologische Kraft
wirke, sei es, dass es als technisch-konstruktives Prinzip gestattet, alle
realen Vorgänge in der Seele so anzusehen, als ob sie von ihm ausgingen
oder darauf hinstrebten.
Ob es wirklich ein solches Prinzip gibt, muss die Moralwissenschaft
selbst in ihrer Entwicklung, nicht aber die Kritik ihrer Voraussetzungen
ergeben.
Diese hat sich nur dagegen zu richten, dass die Existenz eines solchen
Einheitspunktes unbefangen vorausgesetzt werde.
Für die bisherige Ethik steht die Frage meistens nicht so, ob es
überhaupt eine derartige Einheit gäbe, sonder nur, welches ihr Inhalt
sei.
Obgleich die auf das letztere Problem gerichtete Bemühung das erstere
überflüssig zu machen scheint - denn angenommen, die qualitative
Bestimmtheit jener Einheit sei entdeckt, so wäre die allgemeine
Möglichkeit dieser eben damit bewiesen - so ist es doch für die ganze
Tendenz des Forschens von einschneidender Bedeutung, ob einem Komplex von
Erscheinungen gegenüber das Ob oder nur das Wie seiner Einheit fraglich
ist.
Das zeigt sich sofort in den Rückwirkungen dieser Überzeugung auf die
Behandlung der Einzelheiten.
Wo der naive anthropologische Monismus vorliegt, wird z. B. selbst
dann, wenn über den Inhalt der höchsten psychologischen oder ethischen
Einheit noch nichts ausgemacht ist, eine Neigung zu systematischer
Anordnung der Vorgänge und Potenzen herrschen.
Ferner wird die Voraussetzung der Einheitlichkeit des Menschen als
realen Wesens eine Rechtfertigung des ethischen Monismus abgeben, auch
solange jene Einheitlichkeit nur generell, formal und ohne qualitative
Bestimmung vorausgesetzt wird.
Ich erinnere endlich auf empirischem Gebiete daran, wie sehr wir uns
oft die Aufgaben der praktischen Menschenkenntnis dadurch (<377)
erschweren, dass wir den einzelnen Menschen durchaus als eine Einheit,
seine Handlungen durchaus als systematisch und teleologisch
zusammenhängend begreifen wollen.
Obgleich nämlich die ganz allgemeine Annahme einer Einheit der
psychischen Äusserungen als heuristisches Prinzip, für die Erklärung
derselben sogar durchaus nützlich scheint, so wirkt sie doch nach zwei
Seiten hindernd.
Erstens. Angesichts des Umstandes, dass jeder fremde Seelenvorgang,
selbst der am unverhohlensten geäusserte, uns immer nur durch eine
Hypothese, durch einen Schluss von dem Wahrnehmbaren auf das
Nichtwahrnehmbare zugängig ist, sind wir häufig im Zweifel, ob wir einen
unmittelbar bezeugten, mehr als Tatsache auftretenden psychischen Prozess
oder Charakterzug anerkennen oder ob wir ihn verwerfen sollen, weil er
nicht mit den sonst bekannten Charakterzügen der Person zur Einheit
zusammengeht.
In diesem Dilemma befinden wir uns nicht nur oft genug im praktischen
Leben, sondern auch in der historischen Forschung, wo die sogenannte
innere Wahrscheinlichkeit, d. h. die aus der präsumtiven Einheit der
Person folgende Ablehnung konträrer Züge manchmal gegen die scheinbar
tatsächliche Bezeugtheit derselben in Abwägung tritt.
Es liegt auf der Hand, wie leicht hier der apriorische Glaube an die
Einheit der Persönlichkeit die unbefangene Auffassung des Tatsächlichen
stören kann.
Zweitens. Da das immanente psychologische Verständnis allerdings darin
besteht, dass der Zusammenhang, also irgend eine inhaltliche Einheit
zwischen verschiedenen psychischen Tatsachen aufgezeigt wird, so scheint
die Ablehnung jeder vorausgesetzten Einheit des psychischen Wesens die
psychologische Erkenntnis eher zu unterbinden als zu fördern.
Dies ist auch richtig, so lange es sich darum handelt, dass zwei
Tatsachen auseinander erklärt werden sollen; bei blosser Zweiheit der
Vorgänge liegt allerdings alle Erklärungsmöglichkeit nur in der
Herstellung einer Einheit unter ihnen.
Wohl aber (<378) kann der Fall eintreten, dass ein dritter Vorgang
gegeben ist, dessen Verständnis man sich dadurch abschneidet, dass man
unter den beiden anderen eine einheitliche Verbindung voraussetzt.
Dies ist z. B. bei der unverbesserlichen Rückfälligkeit in
unsittliche Impulse, trotz aller dafür erlittenen Strafen, der Fall;
sobald wir zwischen dem Empfinden und dem Wollen diejenige Verbindung als
notwendig und unbedingt annehmen, auf deren normalem Funktionieren aller
präventive Zweck der Strafe beruht, so ist die erneute übermächtige
Neigung zur Handlung völlig unverständlich.
Nicht als ob sie nun wirklich verständlich würde, sobald man eine
Trennung der einzelnen Funktionen annimmt, die der einen eine
Weiterentwicklung ganz unabhängig von den Schicksalen der anderen
gestattete; allein jedenfalls wird damit ein positives Hindernis
beseitigt, das der apriorische Monismus dem Verständnis bereiten kann.
Die Klage, dass uns die Handlung jemandes unbegreiflich ist, stammt
sehr häufig daher, dass wir zwischen dem psychischen Kräftekomplex, dem
diese Handlung zugehört, und einem anderen ein festes einheitliches
Zusammengehören annehmen.
Hat sich nun der erstere zu jenem ausserhalb seiner bisherigen Inhalte
liegenden Phänomen entwickelt, während wir an der Unverändertheit des
zweiten zu zweifeln keinen Grund haben, so erscheint uns jene Entwicklung
unverständlich, nicht, weil sie an und für sich dem Charakter ihrer
eigenen Seelenprovinz widerspräche, sondern nur, weil man die bisherigen
Inhalte derselben mit der anderen, der die Handlung freilich widerspricht,
in eine einheitliche Verbindung gesetzt hat und ihr Schicksal aus dieser
Einheit nun nicht erklären kann.
Dies ist z. B. leicht der Fall, wo ein energisches Gefühlsleben neben
erheblicher Verstandeskraft besteht, und das erstere sich plötzlich zu
einer ganz unverständigen Leidenschaft steigert.
Dass wir vor einer solchen Entwicklung wie vor einem Rätsel stehen, an
dessen Lösung wir oft von vornherein verzweifeln, liegt an der (<379)
-Verbindung, die wir zwischen dem intellektuellen und dem Gefühlsleben
der betreffenden Person gestiftet haben und angesichts deren es freilich
unverständlich wäre, dass bei umgeändertem Intellekt das Gefühl eine
so entschieden unverständige Wendung genommen habe.
Ein anderes Beispiel, das mehr die nacheinander entwickelten, als die
nebeneinander liegenden psychischen Zustände betrifft, bilden die Fragen
der Versöhnbarkeit und der Verjährung.
In dem Masse, in dem man glaubt, dass alle Zustände der Person
untereinander zu einer Einheit verbunden sind - in demselben wird man auf
eine lange vergangene Tat noch die gleiche Reaktion eintreten lassen, als
wenn sie soeben geschehen wäre; denn das Wesen, auf das Hass oder Strafe
im gegenwärtigen Momente treffen, wird als das absolut identische mit dem
vorgestellt, das ehemals sündigte.
Die Negierung dieser psychischen Einheit der Person kann also ein
wichtiges Moment für die Gestaltung unserer praktischen Erkenntnisse
werden usw.
Dieser zerpflückenden Betrachtungsweise gegenüber wird man
hervorheben können, dass sie im Verhältnis zu den Tatsachen nicht
bewiesen, im Verhältnis zu den Problemen nicht beweisend ist.
Beides muss ohne Weiteres zugegeben werden; in letzterer Hinsicht hat
sie tatsächlich nur kritisch und reinigend zu wirken, nachzuweisen, wie
viel psychologische Metaphysik noch als unbefangene Voraussetzung in
der Ethik steckt, und es der Detailforschung oder wenigstens anderen
prinzipiellen Überlegungen zu überlassen, ob sie diese Metaphysik oder
ihr Gegenteil bestätigen werden.
Und was das erstere betrifft: dass die Disharmonie, die Zufälligkeit
der natürlichen und historischen Entwicklung unserer psychischen Energien
nicht besser bewiesen sei, als der Monismus, so mag dies schon wahr sein,
allein es ist dem gegenüber mit voller Entschiedenheit aufrecht zu
halten: affirmanti incumbit probatio.
Die positive synthetische Behauptung ist auf Seiten der Harmonisten,
(<380) derer, die an eine entweder schon qualitativ bestimmte oder
wenigstens formal vorauszusetzende Einheit des menschlichen Wesens und
einen sachlich notwendigen systematischen Zusammenhang seiner Elemente
glauben.
Nur dass der monistische Glaube so vielen Begriffsbildungen und
Theorien zur Voraussetzung diente und schliesslich so innig mit ihnen
verwachsen ist, dass er jetzt aus dem unbezweifelbar Feststehenden
scheinbar auf bloss analytische Weise herausgewonnen werden kann und so
die Beweislast dem Gegner, als dem Angreifenden und den gegenwärtigen
Stand Verändernden, zuschiebt - während doch offenbar nur er selbst
über das Gegebene hinausgeht, die kritische Psychologie und Ethik aber
einfach an der erscheinenden Verschiedenheit der Seelentätigkeiten
festhält, bis ihr von Fall zu Fall deren Einheit bewiesen wird.
__________________
Die Ablehnung eines höchsten Zweckes, in den alles, was man für
sittlich hält, ausmünde, kann sich auf ein doppeltes Verhältnis unter
den tatsächlichen Vorstellungen vom Sittlichen stützen: entweder auf ein
gleichgültiges, beziehungsloses Nebeneinander oder auf den positiven
Konflikt derselben.
Die Beziehungen dieser beiden Möglichkeiten zu einander sind für die
Entwicklung des monistischen Problems sehr bedeutsam.
Von den verschiedenen Systemen ethischer Interessen, die in einem
ausgebildeten Geiste nebeneinander bestehen und erhebliche
Selbständigkeit erlangt haben, wird keines aus sich heraus zu einer
prinzipiellen Vereinheitlichung mit dem anderen streben, so lange nicht
die Ansprüche dieses die Erfüllung seiner eigenen erschweren.
Eine gewisse Formierung des persönlichsten Innenlebens, die
Vervollkommnung der beruflichen Leistung, die Erfüllung der (<381)
patriotischen, familiären und Freundespflichten - alle diese -sittlichen
Interessenkreise können allenfalls aneinandergrenzen, ohne sich in einer
Weise zu schneiden, die eine besondere Versöhnung, zwischen ihnen
forderte.
Entsteht ihnen gegenüber der Wunsch, ein einheitliches, höchstes
Prinzip aufzufinden, von dem aus ihr Verhältnis als systematischer
Stufenbau erschiene, so ist dies gewissermassen von aussen an sie
herangebracht, entstammt einem Einheitstriebe von besonderer Provenienz,
oder einem einzelnen ethischen Interesse, dessen Intensität sich in dem
extensiven Bestreben äusserte, alle anderen unter seine Ägide zu
bringen, wie dies z. B. dem allgemein sozialen Triebe und noch
auffälliger dem religiösen eigen ist.
Wo nun eine Vereinigung derartiger Interessenkreise nicht gelingt, wo
sie gleichsam in verschiedenen Ebenen liegen, die keinen Punkt miteinander
gemeinsam haben, da wird sich der monistische Trieb unbefriedigter
fühlen, als bei einem positiven, wenn auch konfliktvollen Aneinander
stossen derselben.
Die Beziehungen des ethischen Monismus zum Widerstreit der ethischen
Interessen sind nach dieser Richtung hin doppelte.
Zuerst würden nebeneinanderliegende Pflichtenkreise häufig ihrem
eigenen Inhalte nach gar nicht in Konflikt kommen, wenn nicht ein
dazutretendes höheres Prinzip erst einen solchen bewirkte, indem es zu
jedem von ihnen ein besonderes, mit dem zu dem anderen unverträgliches
Verhältnis aufweist; oder das Verhältnis zweier Pflichten mag sich ruhig
und ohne wechselseitige Störung entwickeln, bis uns eine höhere Norm
bewusst wird, an der gemessen zwar keine jener für sich, wohl aber gerade
ihr gegenseitiges Verhältnis unhaltbar erscheint, so dass sie, indem eine
von ihnen zum Weichen veranlasst wird, in Konflikt geraten.
Fälle der ersteren Art müssen vielfach innerhalb der christlichen
Priesterschaft, in jenem Wendepunkt ihrer Entwicklung im 4. Jahrhundert
eingetreten sein, als der Priesterzölibat verkündet, und jeder, der die
höheren kirchlichen (<382) Ämter weiter ausüben wollte, zur
Verstossung seines Weibes gezwungen wurde.
Bis dahin hatte jene Pflichtenreihe, die Paulus selbst von dem Bischof
fordert: dass er ein guter Gatte sein, sein Haus gut führen, seine Kinder
in Gehorsam und Zucht halten solle - sich ungestört neben der entwickelt,
die sich an sein kirchliches Amt anschloss.
Indem nun die Kirche mit ihrer Forderung des Alles oder Nichts an ihn
herantrat, mussten die religiösen Pflichten mit denen des Ehegatten in
unheilbaren Konflikt geraten.
Das Wesentliche für uns ist, dass nicht die ersteren Pflichten sich
von selbst zu der Unverträglichkeit mit den letzteren zugespitzt hatten,
sondern dass die hierarchischen Interessen, die sich allmählich von dem
rein religiösen differenziert hatten, nun mit der selbständigen
Forderung, als höchstes Prinzip zu gelten, der Persönlichkeit
gegenübertraten und zu deren bisherigen Pflichten ein Verhältnis
einnahmen, das ihr ferneres Nebeneinanderbestehen unmöglich machte.
Der höchste, absolute Gesichtspunkt, der jetzt auftauchte, liess zwar
ebenso den bisherigen religiösen wie den bisherigen familiären
Pflichtenkreis gelten, aber durch sein verschiedenes Verhältnis zu ihnen
brachte er sie in einen Konflikt, in dem eines weichen musste.
Von einer anderen Seite gesehen, bildet dies geschichtliche Ereignis
ein Beispiel für den zweiten Fall: dass der Hinzutritt eines höchsten
Prinzips die bisherigen Pflichten nicht sowohl ihrem Inhalte nach
unmittelbar unverträglich macht, als vielmehr selbst in einen Gegensatz
zu dem Verhältnis tritt, das diese untereinander haben, und so, um dies
Verhältnis zu beseitigen, eine von ihnen beseitigen muss; infolge wovon
dann zwischen beiden der Streit um die Selbstbehauptung entsteht.
Das eigentliche, sozusagen politische Motiv des priesterlichen
Eheverbotes war offenbar die Erwägung, das8 derjenige, der sich dem
Dienst der Kirche widmete, diesem auch ganz und gar und ohne durch irgend
welche Sorgen und Interessen anderer Art abgezogen zu sein, angehören
sollte. (<383)
Das Verhältnis des Kompromisses also, das bisher zwischen den
kirchenamtlichen und den häuslichen Pflichten bestanden hatte, wurde mit
dem höchsten hierarchischen Zwecke, der den ganzen Menschen für sich
forderte, als inkompatibel erkannt; und die Unzulässigkeit des
Kompromisses bedeutete die Unzulässigkeit einer seiner Seiten.
Die Geschichte des Zölibats lässt uns ahnen, welche Konflikte sich
zwischen beiden Pflichtenreihen entwickelten, ehe die eine oder die andere
von ihnen definitiv wich.
Die gleiche Konfliktform würde da auftreten können, wo Gesichtspunkte
ästhetischen Charakters sich plötzlich als die beherrschenden über der
bisherigen Verträglichkeit der Pflichtenkreise erheben, und nicht sowohl
jeder der letzteren für sich, als das Verhältnis mehrerer untereinander
dem neuen Ideal widerstreitet.
Wenn also z. B. Pflichten des Berufes, der Familie, der Freundschaft,
der politischen Interessen sich bisher in ein Leben geteilt haben, zwar
ohne in Widerspruch zu geraten, aber doch so, dass das Gesamtbild der
Existenz zersplittert und unruhig erscheint, weil die verschiedenen
Ansprüche sich fragmentarisch und unsystematisch durcheinanderschieben:
so kann leicht ein irgendwoher aufgenommenes Ideal der Harmonie und
formalen Einheitlichkeit der Lebensführung jene Pflichten in die
schwersten Konflikte bringen; nicht, weil es mit jeder von ihnen an und
für sich, sondern weil es mit der Bewährungsform unverträglich ist, die
jede wegen ihres Zusammenbestehens, mit der anderen angenommen hat.
Es hängt dann von der Lebenskunst des Subjekts ab, ob es durch eine
Umlagerung der Pflichtbewährungen ohne Verlust ihres Quantums der neuen
monistischen Forderung genugzutun vermag, oder ob dies nur durch Reduktion
einiger derselben gelingt, in welchem Falle es dann zu einem um so
heftigeren Konflikt zwischen ihnen kommen kann, als jenes höchste Prinzip
vielleicht gar keine Entscheidung für eine derselben gibt, (<384)
sondern es für seine Erfüllung ganz gleichgültig lässt, an welcher die
Reduktion vollzogen werden soll.
Eine zweite, näherliegende Beziehung der monistischen Tendenz zum
Konflikt der Pflichten, insoweit er sich aus ursprünglicher
Beziehungslosigkeit derselben entwickelt, hält die umgekehrte Reihenfolge
der Momente inne.
Jenes Nebeneinander der Pflichtenkreise kann nämlich zu einem
Gegeneinander durch blosse Erweiterung derselben werden, ohne dass ihre
Zentra sich irgendwie verrücken.
Dies ist sogar einer der regelmässigsten Wege, auf dem es zu
Konflikten kommt: sittliche Interessen, die prinzipiell und von vornherein
durchaus einander nicht stören, kommen dadurch in Kollision, dass das ihm
selbst überlassene Wachstum des einen sich auf Punkte ausdehnt, d. h.
Kräfte und Mittel beansprucht, die ein anderes schon in Beschlag genommen
hat.
Aus dieser Situation heraus entsteht oft die Sehnsucht nach einem
einheitlichen Prinzip des Handelns, das als letzte Instanz zwischen den
streitenden Ansprüchen der Parteien entschiede, die doch, jede für sich,
den Charakter völliger Sittlichkeit tragen.
Während also in dem ersteren Falle ein akzeptiertes höchstes Prinzip
den Konflikt unter den bestehenden Pflichten entfesselt, führt hier
umgekehrt der unter den Pflichten selbst ausbrechende Widerstreit zu der
Kreierung eines höchsten entscheidenden Endzwecks.
Von beiden Gesichtspunkten aus erscheint der Konflikt der Pflichten als
die höhere, mit ihrer Einheit verwandtere Stufe, der sittlichen
Entwicklung, gegenüber ihrem ungestörten, aber beziehungslosen
Zusammensein.
Bevor ich dies weiter ausführe, bemerke ich, dass der Widerstreit der
Pflichten in doppelter Form auftreten kann, als logischer und als
materieller.
Unter jenem verstehe ich den Fall, dass eine Handlung ihrem Inhalte
nach von einem sittlichen Interesse geboten, von einem anderen verboten
wird, wie etwa der Antigone die Bestattung des (<385) Polyneikes durch
die Familienpietät zur Pflicht gemacht, durch die Pflicht des politischen
Gehorsams aber untersagt war.
Der materielle Konflikt entsteht dann, wenn zwei Pflichten sich zwar in
ihrem Endzwecke und ideellen Inhalte gar nicht widersprechen, jede aber zu
ihrer Durchführung Zeit, Kräfte und Mittel des Subjekts beansprucht, die
nur für eine hinreichend vorhanden sind; die eine würde also an und für
sich gegen die Realisierung der anderen nichts einzuwenden haben, sondern
macht ihr nur auf Grund der tatsächlichen Beschaffenheit des Subjekts
sozusagen technische Konkurrenz.
Man könnte jene erste Form den kontradiktorischen, diese zweite den
konträren Widerstreit der Pflichten nennen. Dass beide häufig durcheinander und ineinander übergehen werden, die
erstere sich in die mildere Erscheinung der zweiten kleiden, die zweite
sich bei längerem Bestehen zu der Schärfe der ersten zuspitzen wird,
liegt sehr nahe.
Wir behandeln deshalb beide nicht in strenger Sonderung, ausser wo sich
an diese ein besonderes ethisches Interesse knüpft.
Wird die Pflicht überhaupt erst von der Tatsache aus verständlich,
dass der einzelne Mensch in Beziehungen zu anderen Einzelnen und zu
Kreisen steht, so die Kollision der Pflichten dadurch, dass es für ihn
eine Mehrheit derartiger Beziehungen gibt, und dass die Interessen der
Individual- oder Kollektivwesen, zu denen er sittliche Beziehungen hat,
irgendwie voneinander unabhängig sind.
Indem die Handlung nun einerseits pflichtmässig geboten, andrerseits
ebenso verboten ist, kollidieren die Pflichten sozusagen nicht nur in mir,
sondern ausser mir, wenn sie auch ausserhalb meiner noch nicht den
spezifischen Charakter der Pflicht haben; die Konflikte, deren eine Seite
die sogenannten Pflichten gegen uns selbst bilden, entziehen sich
gleichfalls diesem objektiveren Aspekt nicht, da in der Pflicht gegen uns
selbst das Ich als forderndes dieselbe objektive Stellung gegen das Ich
als leistendes hat, wie (<386) irgend eine dritte Persönlichkeit.
Der Typus solcher Konflikte entsteht, indem zwei Kreise
entgegengesetzte Bedingungen zu ihrer Selbsterhaltung bedürfen und nun
ein einheitliches Subjekt Mitglied beider ist.
Dieser Gegensatz der Kreise in dem, was sie von ihren Mitgliedern
verlangen, ist keineswegs immer ein zufälliger, derart, dass jeder die
ihm wesentlichen Forderungen herausbildete, und sich dann erst ihre
gegenseitige Verneinung ergebe; sondern es bestehen vielfach Kreise
nebeneinander, deren einer sich direkt aus und in Opposition zu dem
anderen gebildet hat - um so häufiger, als dasjenige, was ursprünglich
nur als Ergänzung einer aktuellen Ordnung gedacht ist, in dem Masse, in
dem es selbst zu einem Ganzen auszuwachsen strebt, als Ganzes fast
unvermeidlich in eine oppositionelle Stellung zu jenem Bestehenden
hineinwächst.
So ist die kirchliche Gemeinschaft vielfach als Ergänzung, vielfach
aber auch als Verneinung der weltlichen Ordnung entstanden, die doch dabei
immer neben ihr bestehen blieb; so ist die höhere staatliche Organisation
an vielen Stellen in direktem Gegensatz zu dem Sippschaftsprinzip
erwachsen, ohne doch die Kraft desselben ganz aufheben zu können; so wird
in privaten Verhältnissen manche Vereinigung, von der flüchtigsten
Freundschaft bis zur Ehe, aus der blossen Sehnsucht nach einer
Lebensrichtung geschlossen, die der aus den bisherigen Verbindungen sich
ergebenden genau entgegengesetzt wäre - während eben diese früheren
Kreise da um keineswegs ihre Ansprüche und Einwirkungen auf da Subjekt
aufgeben.
Das Individuum, das an mehreren so her Kreise teil hat, gleichsam in
ihrem Schnittpunkt steht, wird den Gegensatz ihrer Richtungen in sich
fühlen, und zwar einerseits als Konflikt der Wollungen, andrerseits der
Pflichten.
Als Wollung stellt sich die Gebundenheit durch den Kreis dann dar, wenn
die Interessen desselben mit einer sehr grossen Zahl der individuellen
Triebe verschmolzen sind, so dass die Erfüllung seiner Forderungen
(<387) in der -natürlichen Entwicklungsrichtung des Subjekts liegt, und sich
derselben an und für sich kein innerer Widerstand entgegensetzt.
Dieser Charakter der Freiwilligkeit, das Gefühl, mit dem, was man
soll, zugleich dem eigensten Ich zu dienen, kann sich mit den Beziehungen
zu mehreren Kreisen so fest verbinden, dass es ihnen selbst in dem Falle
gelegentlichen völligen Gegensatzes zwischen diesen Kreisen erhalten
bleibt.
Das objektive Verhältnis, das sich hier subjektiv als Konflikt der
Neigungen zeigt, tritt als Konflikt der Pflichten oder des Sollens auf,
wenn jeder der fraglichen Antriebe sich schon an sich selbst nicht in
völliger Harmonie mit dem Interessenkreise des Subjekts befindet.
Das Sollen nimmt eine mittlere Stellung zwischen dem Müssen und dem
Wollen ein; beim Müssen stellen sich der Handlung, die schliesslich aus
einem überwiegenden Grunde doch gewollt wird, sehr starke Wollungen
entgegen, bei dem freien Wollen gar keine; bei dem Sollen eine gewisse
Anzahl, deren Überwindung das Mass des sittlichen Verdienstes angibt.
Wo die Bindung des Individuums an die Interessen eines anderen
Individuums oder Kreises, dem es zugehört, noch nicht so vollständig
ist, dass nicht persönliche Schwierigkeiten oder Gegenstrebungen sich
noch dagegen auflehnten oder wenigstens nicht noch ein allgemeines Gefühl
bliebe, als ob eine objektive Macht uns die aus jener Bindung heraus
erforderte Handlung auferlegte - da sprechen wir von Pflicht; und in dem
Fall der Entgegengesetztheit der Interessen der Kreise vom Konflikt der
Pflichten.
Das Vorkommen solchen Interessengegensatzes der Einzelnen und der
Kreise ist, wenigstens in der abgeschwächten und allgemeinen Form: dass
das Wollen und das Sollen der Menschen unendlich verschieden und
unvereinbar sei - nie bestritten worden.
Die empiristischen und skeptischen Richtungen der Ethik haben dies
sogar mit besonderem Nachdruck hervorgehoben, weil es ihnen den Mangel
eines höchsten oder absoluten Prinzip (<388) für das menschliche
Streben zu beweisen schien.
Angesichts dieser häufigen Betonung der Divergenz zwischen den
Interessen der Individuen ist es merkwürdig, dass man die
Entgegengesetztheit der Interessen innerhalb des Individuums so wenig
beachtet hat.
Die blosse Tatsache, dass der Einzelne doch, in höheren Kulturen, an
einer ganzen Reihe von Kreisen beteiligt ist, die eine relative
Selbständigkeit gegeneinander besitzen, hätte auf das Problem der
entgegengesetzten Wollungen in ihm führen müssen; und da unter die
allgemeine Funktion des Wollens auch das Sollen gehört, da dies nur ein
besonderer, aber unter die übrigen Wollungen gemischter Fall jenes ist,
so ist es von vornherein wahrscheinlich, dass unter den innerhalb des
Individuums sich bekämpfenden Interessen auch eine Reihe von solchen, die
zugleich unter die Kategorie der Pflicht gehören, sich finden werden.
Bleiben wir nun zunächst bei demjenigen Konflikt stehen, der sich aus
der Zugehörigkeit des Einzelnen zu mehreren, in ihren Interessen
entgegengesetzten Kreisen ergibt, so wird besonders ihm gegenüber das
Gefühl verständlich sein, dass der Untergang dessen, der sich im
Konflikt befindet, also der Ausgang, den dieser auf der Bühne zu nehmen
pflegt, den Konflikt und die Spannung gar nicht wirklich löst.
Die objektiven Forderungen bleiben nach dem Tode des Helden in ihrer
Unversöhntheit weiter bestehen, da die verschiedenen Kreise, die sie
tragen, dadurch nicht modifiziert werden; der Abgrund zwischen ihnen
schliesst sich nicht, nachdem dieses Opfer hineingestürzt ist.
Durch den Tod der tragischen Person wird der Knoten brutal durchhauen,
"aus der Welt geschafft", nicht sowohl gelöst, als seine
prinzipielle Unlösbarkeit anerkannt.
Eine eigentliche Austragung, des Konfliktes zwischen Familienpietät
und Staatsgehorsam findet in der Antigone nicht statt; die Gegensätze,
deren jeder doch sittliche Würde besitzt, stehen (<389) sich am Ende
der Tragödie so unversöhnt gegenüber wie am Anfang.
Eben darin, dass die Gegensätze den Tod des Helden überdauern, finde
ich das eigentlich Tragische der Tragödie, das sehr missverständlich
abgeschwächt wird, wenn man von der Befriedigung des sittlichen Gefühles
oder gar von der Herstellung der sittlichen Weltordnung spricht, die der
Untergang des Helden herbeiführen solle. Der Tod löst die tragischen
Konflikte nicht anders, als man ein Exempel damit "lösen"
würde, dass man es durchstreicht.
Daher kommt das Gefühl, das in allen derartigen Wirrnissen des Lebens
vielleicht das furchtbarste ist, dass nicht einmal mit dem Tode - dem
freiwilligen so wenig wie dem natürlichen - die Rechnung glatt aufgehen
würde, dass auch damit sozusagen in der Sache selbst nichts getan ist,
und selbst um diesen ungeheuren Preis nicht das erkauft wird" was man
eigentlich begehrt: die wirkliche Lösung, Glättung, Vereinheitlichung -
weil dieses Bedürfnis sich eben nicht nur, auf die zufällige
persönliche Lage, sondern auch auf deren verursachende Momente richtet,
und diese, nämlich die ausserhalb des Individuums gelegenen, im
Interessengegensatz befindlichen Kreise, von jener Lösung nicht getroffen
werden.
Der Eindruck eines tragischen Konfliktes resultiert übrigens nicht
nur, wenn die Interessen verschiedener Gruppen, oder ein Gruppeninteresse
mit einem Individualinteresse in Widerstreit gerät, sondern auch dann,
wenn objektive Ideale innerhalb einer Person, in der sie sich berühren,
in Gegenstrebung geraten. Ich glaube, dass hierin das tragische Motiv im Charakter Richards III.
liegt.
Warum ist das Stück eine Tragödie, die uns innerlich erschüttert,
während es doch äusserlich angesehen nur die Geschichte eines
Bösewichts darstellt, der nach Verübung zahlloser Schandtaten verdienter
Weise untergeht? Um uns zu "erschüttern", dazu braucht es, wie
der sprachliche Ausdruck schon andeutet, einer Hin- und Herbewegung
(<390) unseres Geistes zwischen zwei irgendwie entgegengesetzten
Punkten.
Es ist erforderlich, dass der scheinbar ganz einheitliche Charakter
Richards an einer solchen Zweiheit teil habe, damit er aus einem blossen
Bösewicht ein uns interessierender Held, und damit aus der
Kriminalgeschichte eine Tragödie werde.
Ich glaube, der Konflikt, die absolute Differenz besteht hier zwischen
den Idealen von Intellekt und Sittlichkeit, die sich sozusagen in
völliger Gegenbewegung in Richard treffen.
Auf jeder Seite wird die überlegene Intelligenz, die feine Abwägung
der Mittel und der Ziele, der weite, berechnende Vorblick, die tiefe
Menschenkenntnis Richards ans Licht gestellt, und indem nun in jedem
Augenblick die ebenso exzeptionelle moralische Niedrigkeit danebengestellt
wird, tritt sozusagen ein Konflikt in der Ordnung der Natur hervor, die
hier zwei ideale Energien, Intellekt und Sittlichkeit, deren Harmonie von
mächtigen Motiven des Fühlens und Denkens gefordert wird, in absolute
Gegenstrebung gesetzt hat.
Dass wir aus Richard III. nicht einfach die befriedigende Vorstellung
eines abgestraften Verbrechers mitnehmen, sondern eine tragische
Erschütterung, die nicht ganz zur Ruhe gekommen ist, auch wenn die
sogenannte sittliche Weltordnung ihr Opfer hat - das ist der Ausdruck der
oben ausgeführten Tatsache, dass mit dem Tode des Helden der Konflikt, in
dem er stand, nicht versöhnt ist.
Derselbe weist vielmehr über ihn hinaus auf die objektiven Forderungen
oder Ideale, deren Gegenbewegungen sich in ihm wie zufällig treffen; er
ist nur ein persönliches Beispiel, entweder für einen tiefgelegenen
prinzipiellen Widerstreit zwischen ihnen oder wenigstens für die
Möglichkeit, dass sie überhaupt in Widerstreit geraten können - wodurch
dann jedenfalls die von den monistischen Trieben vorausgesetzte Harmonie
der Weltordnung zerstört ist.
Und sie bleibt zerstört, auch wenn der einzelne Fall, an dem jenes
latente Verhältnis oder diese Möglichkeit in die Erscheinung trat, eine
Versöhnung dadurch (<391) erhalten hat, dass sich wenigstens die
äusseren Mächte des Seins zu Vollstreckern seiner inneren Unmöglichkeit
gemacht haben.
Das Nachwirken jenes sachlichen oder ideellen Konfliktes
charakterisiert vielleicht die tragische Bewegung im Gegensatz zu der
Empfindung des Traurigen, die das bloss Persönliche der Schicksale
begleitet - ungefähr wie, von der anderen Seite her, Kontraste und
Unzulänglichkeiten des Einzellebens, die wir noch belächeln, leicht
einen tragischen Zug erhalten, sobald sie als allgemein menschliche
vorgestellt werden.
Obgleich Dichtwerke sehr gute Beispiele für den Konflikt der Pflichten
liefern, so gilt doch ihre moralwissenschaftliche Brauchbarkeit in der
Regel nur für die Stellung des Problems, nicht für seine Ausführung,
welche keine ganz reine und unparteiische zu sein pflegt.
Wenn zwei Pflichten kollidieren, so steht meistens eine davon dem
Gemüt und Herzen besonders nahe, während die andere mehr eine objektive,
kühle Forderung repräsentiert; es ist gewissermassen das Apriori der
Poesie, die erstere als die innerlich berechtigte, die andere als ein
äusserliches, gleichsam mechanisches Gebot hinzustellen.
Dass ein solcher Unterschied der Betonung für unser Gefühl besteht,
gleichviel ob er objektiv ethischen Wert besitzt oder nicht, weist auf
eine Schichtung unserer Pflichtvorstellungen hin, die für die Frage ihres
Konfliktes von hoher Bedeutsamkeit ist.
Die Verpflichtungen nämlich, die gelegentlich in uns in Konflikt
geraten, entstammen Pflichtenkreisen, die sich nicht nur nebeneinander
entwickeln, sondern sich meistens auch nacheinander entwickelt haben.
Dadurch wird die Möglichkeit von Konflikten überhaupt nahegelegt, Die
Lebensbedingungen auch des gleichen Interessenkreises sind zu
verschiedenen Zeiten so verschieden, dass, wenn die aus einer seiner
Wachstumsepochen stammende Pflicht sich irgendwie in eine spätere hinein
erhält, es von vornherein wahrscheinlich ist, dass sie mit der in der
letzteren entwickelten (<392) Pflicht oft eine Disharmonie bilden wird.
Die Gegenwart der sozialen Kreise, innerhalb deren unsere Pflichten
liegen, werden doch von der Vergangenheit nicht nur so getragen, wie unser
irdischer Wohnplatz von den geologischen Schichten; sondern jede Gegenwart
ist zusammengesetzt aus Bestandteilen verschiedenen Alters, deren jeder
also insoweit sich unter anderen Gesamtbedingungen als die anderen
gebildet hat.
So trägt die Institution ihre einmal gewonnene Festigkeit oft mit
partikularistischem Selbsterhaltungstriebe in ganz geänderte
Verhältnisse hinein und entfaltet aus ihr heraus ihre ehemals gerechten
Ansprüche, in Kollision mit denjenigen, die unter den jetzigen
Bedingungen die gerechten sind.
Dieses historische Durcheinanderwachsen der Interessenkreise übt seine
Wirkungen aber nicht nur in der Entgegengesetztheit äusserer Forderungen,
die an uns herantreten und entweder durch Kompromisse halbe Erfüllungen
finden oder das Individuum zwischen sich zerreiben.
Vielmehr, indem sich das Müssen zum Sollen verinnerlicht, überträgt
sich der Kampf jener Ansprüche in die Seele, wo er dann erst die
eigentliche und unversöhnliche Konfliktsform annimmt, weil der
Widerstreit innerlich empfundener Pflichten sehr oft das Kompromiss nicht
kennt, mit dem man sich äusserlichen Ansprüchen gegenüber beruhigt.
Wenn überhaupt jedes Individuum in seinem Gefühlsleben sowohl wie in
seinen äusseren Verhältnissen noch die Rudimente vergangener
Gattungsentwicklungen vorfindet, wenn es, wie es tatsächlich der Fall
ist, die Erbschaft der Gattung nicht unter Abzug ihrer inneren
Widersprüche, gleichsam sub beneficio inventarii, antreten kann, so ist
es fast unvermeidlich, dass auch die unter der Kategorie des Sollens
auftretenden Impulse und Ideen in ihm in Kollisionen geraten; und zwar um
so mehr, als den praktischen Vorstellungen, die wir selbst zu gestalten
die Macht haben, überhaupt eine grössere Mannigfaltigkeit und (<393)
gleichzeitige Verschiedenartigkeit offen steht, als den theoretischen
Überzeugungen - Und doch kollidieren sogar diese letzteren, weil die
Überzeugungen vergangener Perioden als Vorurteile, unkritisierte
Tendenzen, in alle möglichen psychischen Formen verkleidet, in jede
Gegenwart mit ihren geänderten Erkenntnissen hineinragen.
Dies nun führt auf den besonderen Charakter, den die Konflikte der aus
verschiedenen Perioden stammenden sittlichen Tendenzen tragen; in Kürze
ausgedrückt stammt er daher, dass die Überzeugungen, welche
ursprünglich verstandesmässigen Wesens sind, in späteren Epochen und
nachdem das Erkennen zu anderen Inhalten fortgeschritten ist, in die
Kategorie des Gefühlsmässigen eintreten und innerhalb derselben
Dauerform annehmen.
Die Forderungen, die die momentane Lage des engeren oder weiteren
Kreises an uns stellt, sind relativ durchsichtig, begründbar und
diskutabel; je weiter dagegen die historischen Verhältnisse
zurückliegen, die eine Pflicht ausbildeten und die jetzt nur noch in
vererbten Trieben oder in zur Reproduktion gerade zureichenden Rudimenten
fortleben, desto tiefer wurzelt sie gerade in unserem Gefühlsleben, desto
mehr liegt sie nach dem unbewussten, alogischen Teil unseres Wesens zu.
Die äusseren Konflikte zwischen dem ethischen oder sozialen
Konservativismus und der Tendenz des ungebundenen Fortschritts treten dann
weiterhin äusserlich, aber auch innerlich, als solche zwischen der
gefühlsmässigen und der verstandesmässigen Lebensrichtung, oder
zwischen den Ansprüchen des Gemütes und den Ergebnissen des Wissens auf.
Dieser Dualismus, der die ganze Geschichte des sittlichen Lebens
durchzieht, ist jetzt näher zu verfolgen.
Was man auch über den Ursprung des Wissens und des logischen Denkens
vermuten mag, so viel scheint doch festzustehen, dass es ein späteres,
differenziertes, individuelleres Gebilde gegenüber den Gefühlen ist,
insbesondere denjenigen Gefühlen, die den sittlichen Handel zum Grunde
liegen. (<394)
Unsere Gefühle und Impulse steigen aus unbewussten Tiefen auf, die von
der vorgängigen Gattungsentwicklung und der Vererbung in besonders hohem
Grade abhängig sind; sie sind deshalb oft an ehemals fest gewordene
Weltanschauungen angepasst, über die das jetzige Denken hinausgekommen
ist.
Unsere Instinkte, die Bedürfnisse unserer innersten Subjektivität
haften unzählige Male an Vorstellungen gemütlicher, religiöser,
sentimentaler, sittlicher Art, die unser Verstand unwillig als überlebte
Vorurteile erkennt, und von denen wir doch nicht loskönnen. In diesem Dualismus spiegelt sich der der aktuellen und der vergangenen
Weltanschauung.
Wie im Geistesleben des Einzelnen klar bewusste und lange gehegte
Gedanken schliesslich ins Unbewusste sinken, wie sie den Charakter und die
Empfindungswelt färben und durch unzählige Umbildungen, Wirksamkeiten
und Verdichtungen, in denen ihre ehemalige bewusste Form kaum
wiederzuerkennen ist, Gefühle und Strebungen aus sich hervorgehen lassen:
so bilden sich auch in der Gattung frühere Bewusstseinsinhalte und
Erkenntnisse zu Gefühlen und instinktiven Grundlagen des Lebens um.
In diesen Nachwirkungen lebt der Glaube und die Weltanschauung unserer
Ahnen in uns fort. Das Empfinden passt sich an diese an, und während der
Anpassungsprozess noch vor sich geht und seine Resultate sich festigen,
ist das Erkennen schon weiter vorgeschritten.
Die individuelle verstandesmässige Zuspitzung und Aufgipfelung erhebt
sich über das gattungsmässige Niveau, in welchem sich der unbewusste,
gefühlsmässige Teil unseres Seelenlebens bewegt, und das, weil es immer
erst allmählich zu der Höhe jener aufsteigt, in jedem gegebenen
Augenblick hinter ihr zurücksteht.
Wäre also der Einzelne selbst in beiden Beziehungen nur ein Gefäss
der soziologischen Wirksamkeiten, so steht er doch nach beiden Seiten hin
auf ganz verschiedenen Entwicklungsstufen.
Dem Fortschritt der intellektuellen Momente wird freilich im (<395)
Lauf der Zeit auch die Lösung der instinktiven Teile unseres Wesens - von
den überwundenen geistigen Entwicklungsphasen folgen, die jene
ursprünglich bestimmten; allein dann werden andere Inhalte, welche jetzt
auf der Höhe bewusster Intelligenz stehen, in dunkle Gefühlsform
hinabgesunken sein und nun ihrerseits die Opposition des Gefühls gegen
den inzwischen weitergeschrittenen Intellekt tragen.
An diesem Punkte nun wird es klar, wieso der Konservativismus, für den
die Form des Bestehenden, Gefestigten, als solchen das Kriterium der Werte
überhaupt bildet9 sich gegen intellektuelle Fortschritte wehrt, die sich
jedenfalls von dem gefühlsmässigen und die Vergangenheit
repräsentierenden sozialen Niveau lösen.
Thukydides berichtet eine Rede des Königs Archidamos in der
Versammlung der Spartaner, die das vorliegende Verhältnis treffend
beleuchtet.
Der König führt aus, wie das unentwegte Festhalten der Spartaner an
den überlieferten Institutionen und ihrer strengen Disziplin die Quelle
ihrer Sittlichkeit und Tapferkeit wäre; all ihre Empfindungen würden
durch das Beharren bei den alten ,einfachen Vorstellungen bestimmt.
Deshalb seien sie auch vor allzu vielem Wissen auf der Hut, das nur
dazu führe, die alten Institutionen zu kritisieren und zu verachten. Dies ist für unseren Standpunkt durchaus richtig.
Die Entwicklungsstufe, die der Intellekt darstellt, negiert diejenige,
welche dem Gefühl und den instinktiven Grundlagen der Sittlichkeit
entspricht.
Deshalb erwähnt auch Archidamos als hauptsächliche Träger der
spartanischen Tüchtigkeit das Gefühl für Ehre und Schande, also eminent
soziale Gefühle, die den Wert des Individuums ganz unmittelbar an seinen
sichtbaren Wirksamkeiten für die Allgemeinheit messen und das
persönliche, kritisch intellektuelle Bewusstsein an das von jeher
festgestellte soziale Niveau binden.
Die Anklagen, denen Sokrates erlag, ruhten auf dem gleichen
Grundgedanken: man beschuldigte ihn, dass er die (<396) Söhne klüger
mache als ihre Väter seien, dass er zur Kritik der hergebrachten
Konstitution des Staates aufreize, dass er nicht den Familienzusammenhang,
sondern rationelle Gründe der Tüchtigkeit und Nützlichkeit als das
rechte Band zwischen Menschen anspreche - und alles dies wurde in die
Anklage zusammengefasst, dass er die Jugend moralisch verführe.
Die Selbstherrlichkeit des bewussten Denkens, die freie Höhe, zu der
sich mit ihm die intellektuelle Entwicklung aufgegipfelt hatte, erscheint
als sittlich verderblich, indem sie sich gegen das augenblickliche soziale
Niveau richtet, das seine Bestimmungen von einer Epoche niedrigerer
Geistesbildung zu Lehen trug.
Indem der höhere Intellekt diese überwindet und aufsaugt, erscheint
er zugleich als Zerstörer der mit ihr assoziierten Moral.
Von hier eröffnet sich auch noch ein weiterer Blick auf die moralische
Verurteilung, die die rein intellektuelle Erkenntnis so oft von kirchlich
religiöser Seite erfährt. Die Ergebung in den Glauben und die Vorschriften der Kirche bindet den
Einzelnen im strengsten Masse an ein soziales Niveau.
So falsch die sprachliche Herleitung des Wortes Religion von religere
sein mag, so gewiss gilt diese Bedeutung in sachlicher Hinsicht.
Aber indem die Religion die Menschen von einheitlichem Ausgangspunkt
aus und zu einheitlichem Ziele zusammenbindet, muss der objektive
Vorstellungskreis, an den sie ihre Normen knüpft, ein relativ niedriger
sein, weil er auch dem geistig Tiefststehenden aus der Gemeinde zugängig
sein muss.
Bei allen sonstigen Schwierigkeiten und Unverständlichkeiten des
Dogmas pflegt doch das Fundament der von der religiösen Sittlichkeit
geforderten Handlungen bei allen Religionen aus einfachen und wenigstens
scheinbar leicht verständlichen Sätzen zu bestehen.
Dem gegenüber bedeutet der intellektuelle Fortschritt eine wenigstens
formale Loslösung des Einzelnen aus dem religiös-sozialen
Vorstellungskreis; er ist Individualisierung und gibt dem Einzelnen einen
Vorsprung (<397) vor den übrigen, eine auf sich selbst ruhende
Stellung über der Majorität.
Es liegt auf der Hand, wie viele Konflikte auch innerhalb des
Individuums durch diese Schichtung von Sozialem und Individuellem, von
gefühlsmässigen Antrieben und verstandesmässigen Überzeugungen
entstehen müssen, um so mehr, als beide Seiten des Gegensatzes sowohl als
subjektives, eudämonistisches Wollen, wie als sittliches Sollen, wie als
objektive Zwecke jener früher angedeuteten Art auftreten, die ihre
Realisierung als innere, aber gewissermassen unpersönliche Notwendigkeit
empfinden lässt, als die Aufgabe, die im Weltplan auf uns kommt.
Aus je abstehenderen historischen Epochen die Inhalte unseres Sollens
stammen, desto ferner scheinen sich auch gleichsam die Seelenprovinzen zu
stehen, die sie realisieren, und desto unversöhnter und ohne
gegenseitigen Berührungspunkt entwickeln sie sich nebeneinander.
Dies tritt namentlich da hervor, wo sich die bewusste Intelligenz auf
das praktische Handeln richtet, und ein ganz anderes für richtig halten
muss, als das, was der Charakter und die instinktiven Triebe gleichzeitig
realisieren.
Wir mögen überzeugt sein, dass das selbstlose Handeln unvergleichlich
höheren Wert hat, als das egoistische - und handeln doch egoistisch; wir
sind davon durchdrungen, dass die geistigen Freuden viel dauerndere,
reuelosere, tiefere sind als die sinnlichen - und jagen doch wie blind und
toll hinter diesen her; wir sagen uns tausendmal vor, dass der Beifall der
Menge weitaus durch den von ein paar Einsichtigen aufgewogen wird - und
wie Viele, die dies nicht nur sagen, sondern aufrichtig glauben, lassen
nicht hundertmal diesen im Stich um jenes willen! Wo diese merkwürdige
Diskrepanz zwischen der Theorie und der Praxis des Lebens vorkommt, ist
sie vielleicht so zu erklären, dass der praktische Charakter auf ältere
Vererbungen zurückgeht als der Intellekt.
Der tiefere und im letzten Grunde entscheidende Zug des Willens weist
(<398) auf sehr früh in der Gattung ausgebildete Strebungen hin, wie
seine Festigkeit, seine Unbewusstheit, die in ihm stattfindende
Übereinstimmung sehr Vieler, in den verschiedenartigsten Verhältnissen
Befindlicher beweist.
Jedenfalls nun waren die früheren Epochen, in denen jene
charakterologischen Tendenzen sich bildeten und zweckmässig waren, wie
man auch über ihren ethischen Wert letzter Instanz im Verhältnis zu der
unseren urteilen mag, roher, impulsiver, unindividueller als diejenigen,
die den Intellekt, dieses späteste Produkt der organischen Entwicklung,
züchteten; und selbst das, was in ihnen nützlich und sittlich war, wird
unter geänderten Verhältnissen oft den Charakter wechseln, z. B.
polygamische Neigungen, die zu einer Zeit entstanden sind, als Polygamie
die sozial angemessene Eheform war, werden, ohne eine inhaltliche
Änderung erfahren zu haben, unsittlich wirken, sobald sie auf ein
Mitglied der inzwischen monogamisch gewordenen Gesellschaft vererbt
werden.
Durch ein weiteres Mittelglied hindurch stellt sich diese Begründung
der häufigen Disharmonie zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir
selbst darüber urteilen, so dar.
Das intellektuelle Gesamt- und Durchschnittsniveau der Gruppe ist, wie
ich mehrfach erwähnte, ein relativ niedriges; das geistige Leben, das
jeden am ununterbrochensten und unvermeidlichsten umgibt, das die
frühesten und sichersten Eindrücke auf ihn macht, ist jenes
intellektuelle Minimum, das den Gemeinbesitz der Gruppe bildet, und über
das sich dann erst die Verfeinerungen und Steigerungen des Geisteslebens
in grösserer oder geringerer Individualisierung und Isolierung erheben.
Nun wiederholt sich der Entwicklungsgang der Gattung insoweit am
Einzelnen, als auch dieser von dem Befangensein im Gefühls- und,
Willensmässigen, das die frühsten Bewusstseinsepochen charakterisiert,
sich erst allmählich zu umfassender intellektueller Funktionierung
entwickelt.
Dies mit dem soeben Gesagten zusammengenommen ergibt, dass der Einzelne
in der Zeit, in der seine Gefühls- und Willenstendenzen,(<399) also
die Bestimmungen seines praktischen Charakters, sich bilden, von relativ
niedrigen geistigen Eindrücken umgeben und beeinflusst ist.
Es ist von vornherein wahrscheinlich, dass diese Grundzüge des Willens
und des sittlichen Wesens oft schon völlig fest geworden sein werden,
wenn die Entwicklung des höheren Intellekts beginnt; zu welchem Inhalt
dieser auch gelangen mag, er wird dann nicht mehr immer im Stande sein,
jene praktischen Willensrichtungen, die sich unter ganz anders
charakterisierten theoretischen Beeinflussungen gebildet haben, zur
Konformität mit den höheren individuellen Einsichten der späteren Zeit
umzugestalten.
Dass in der einzelnen Lebensfrage uns die richtige Einsicht zu spät
kommt, d. h. nachdem wir schon falsch gehandelt haben, das ist sehr oft
nur die singuläre Folge davon, dass uns im Ganzen des Lebens die Einsicht
zu spät kommt, d. h. dass die feineren und tieferen intellektuellen
Eigenschaften sich erst einstellen, wenn der niedrigere und primitivere
soziale Geist, der uns in der Bildungsepoche unserer eigentlich
produktiven und Charakterkräfte umgab, diese bei Vielen längst
unappellierbar festgelegt hat.
Wir verstehen eben darum auch die umgekehrten, freilich selteneren
Fälle, in denen das sittliche Wesen eines Individuums reiner,
konservativer, hingebender ist, als es seinen theoretischen Überzeugungen
entspricht, die dem Skeptizismus oder dem absoluten Egoismus ergeben sind.
Denn jener Bezirk durch die Gruppe verbreiteter Überzeugungen, die in
der Sprache, der Religion, den Sitten, in den Institutionen und den
Objekten des täglichen Lebens niedergelegt sind und die frühesten
Epochen der Bildung beeindrucken, enthält neben unzulänglichen und
niedrig primitiven Bestandteilen doch einen Kern einfacher, geradliniger
Sittlichkeit.
Wo die Beanlagung des Individuums gerade zur Aneignung dieser neigt, da
wird die in einer späteren Epoche darüber gelagerte Schicht formal
höherer, intellektueller Überzeugungen die Richtung des Gefühls- und
Willenslebens (<400) so wenig mit sich konform gestalten können, wie
in dem ersteren, inhaltlich umgekehrten Falle.
Deshalb macht eine derartige Sittlichkeit, die durch einen gleichzeitig
in der Theorie vorhandenen Skeptizismus oder frivolen Egoismus
hindurchschlägt, auch immer den Eindruck des Einfachen, Unreflektierten,
aus den tieferen, noch unkomplizierten Schichten der Seele Aufsteigenden.
Nachdem die praktischen Interessen die Anregung zur Bildung
theoretischer Inhalte gegeben haben und in niedrigeren Verhältnissen
diesen auch noch immer an Höhe der Ausbildung überlegen sind, findet von
einem gewissen Punkte der Kulturentwicklung an diese Umkehrung des
Verhältnisses statt, dann nämlich, wenn der Einzelne sich in seiner
Bildung weit über das soziale Niveau erhebt.
Indem das letztere dann denjenigen Teil seines Intellekts bestimmt, der
sich mit der Formierung seines Charakters gleichzeitig bildet, ist dem
individuellen Intellekt die Möglichkeit gegeben, bei fortschreitender
Geistesbildung eine Stufe zu erreichen, auf die der Charakter dann nicht
mehr mit gleicher Schnelligkeit nachkommen kann.
Dass dieser Dissens unserer Wesensbestandteile, der sich aus der
Ungleichzeitigkeit ihrer Entwicklung ergibt, als Konflikt innerhalb des
Sollens empfunden wird, wird insbesondere durch das eigentümliche
Verhältnis nahegelegt: dass die intellektuellen Funktionen zwar,' indem
sie die später ausgebildeten sind und sich über die mehr instinkthafte
Geistesverfassung erheben, gegenüber dem sozialen Niveau und der
Allgemeinheit primärer Triebe den Charakter der Differenziertheit und
Individualisierung tragen - dass aber andrerseits, ihrem Inhalte nach,
gerade sie ,den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, auf überpersönliche
Richtigkeit machen, während das Gefühl- und Willensleben der
persönlichste, unmittelbare Teil der Persönlichkeit sei.
Durch diese Doppelstellung, die sowohl den dunkleren, gefühlsmässigen,
wie den klareren, verstandesmässigen (<401) Teilen unseres Ich eigen
ist, und die jedem von beiden die Voraussetzung für gelegentliche
Beanspruchung des Primates gewährt, entstehen jene häufigen Konflikte,
in denen wir einerseits in dem "dunklen Drange" und in dem, was
wir uns etwa noch von "kindlichem Gemüt" bewahrt haben, die
rechten Führer des Handelns zu besitzen glauben, andrerseits doch eine
Verpflichtung zur logischen Konsequenz, zur Dirigierung des Lebens gemäss
der bewussten Intelligenz und der objektiven Inhalte des Wissens fühlen.
Wenn wir von dieser Wendung der Konfliktsfrage in die intimsten
Entscheidungen der Lebensführung nun wieder auf den Ursprung der
kollidierenden Pflichten aus sozialen Kreisen, die von entgegengesetzten
Interessen bewegt sind, zurücksehen, so kann man diese Kreise
gewissermassen nach drei Dimensionen zueinander ordnen: im Nacheinander,
Nebeneinander und Übereinander.
Von den beiden ersteren Verhältnissen von Kreisen ist die
Möglichkeit, in dem Einzelnen, in dem ihre Ansprüche sich schneiden,
Konflikte zu bewirken, hinreichend klar.
Unter dem Übereinander von Kreisen verstehe ich nun dasjenige
Verhältnis, in dem der eine Kreis den anderen als den untergeordneten
einschliesst: die Menschheit als Ganzes den Verband des Staates, der Staat
den Familienkreis; oder der Berufsverband als Ganzes den einzelnen Bezirk,
dem der Einzelne unmittelbar angehört, und dieser wieder etwa das
besonders enge Verhältnis zu dem einen oder anderen Mitglied dieses
Bezirkes usw. Während nun die beiden vorhergenannten Verhältnisse Formen
des Aussereinander von Kreisen sind, und so die gegenseitige
Gleichgültigkeit ihrer Ansprüche von vornherein deren Auswachsen zu
gelegentlichen Konflikten nahe legt, scheinen umgekehrt jene
übereinandergebauten Kreise in dem Verhältnis der Zusammengehörigkeit
zu stehen.
Die früheren Konflikte kamen dadurch zustande, dass ein Individuum
Mitglied zweier Kreise war, die, an sich einander fremd, sich in ihm
(<402) schnitten; hier ist nun der eine Kreis schon ein Bestandteil des
anderen, und damit gehört der Einzelne nicht sowohl zwei Kreisen, als
demselben Kreise, dem übergeordneten, zweimal an: einmal unmittelbar und
dann als Mitglied des engeren, der in jenem eingeschlossen ist.
Indem er nun der Forderung des einen von diesen genügt, dient er
jedenfalls in irgend einem Masse auch dem anderen, da jede Förderung des
Teiles mittelbar auch eine des Ganzen ist, jede Förderung des Ganzen auch
dem Teile zugute kommen muss.
Wenn sich dennoch zwischen den so gelagerten Kreisen Konflikte
innerhalb der Einzelperson geltend machen, - wenn sich etwa die
Geschwisterpflicht gegen die allgemeine Familienpflicht, die letztere
gegen die patriotische, diese gegen die Menschenpflicht überhaupt erhebt
- so müssen sie nicht nur in der Praxis besonders schwer zu schlichten
sein; sie stellen auch, da die Praxis schliesslich nach einem allgemeinen
gefühlsmässigen Überschlage der sittlichen Gewichte zu entscheiden
pflegt, eine der kompliziertesten Aufgaben der Moralwissenschaft dar, die
die teleologischen Begründungen dieser entscheidenden Gefühle zur
Klarheit zu bringen hat.
Die besondere Schwierigkeit in beiderlei Beziehung liegt bei diesen
Konflikten darin, dass es gar nicht in Frage steht, ob man überhaupt dem
einen oder ob man dem anderen Kreise dienen solle; sondern da man
tatsächlich mit jeder der Handlungen, deren Forderungen kollidieren,
beiden Kreisen dient, handelt es sich um quantitative Abwägungen: ob das
Minus an unmittelbarem Dienste, das etwa die eine Seite der Alternative
bedeutet, durch das Plus an mittelbarem Dienste ausgeglichen wird; ob eine
Handlung, die einem von beiden Kreisen unmittelbar nützlich ist, nicht
durch ihre Nebenerfolge für den anderen die Förderung jenes wieder
aufhebt; ob, in den Wechselbeziehungen zwischen den grösseren und den
kleineren Kreisen, die letzteren mehr als blosse Elemente der massgebenden
ersteren, oder diese mehr als bloss technische (<403) Zusammenfassungen
der konkreten und allein wertvollen individuelleren Gebilde anzusehen sind
usw.
Da das Ineinander der Kreise jeder Tat gleichgerichtete Wirkungen auf
beide verschafft, so kann eben nur das Quantum derselben fraglich sein,
und derartige Fragen sind ausserordentlich viel diffiziler als andere, bei
denen es sich um ein qualitatives, generelles Entweder - Oder handelt.
Die Reduktion von Problemen auf Quantitätsfragen erleichtert dieselben
erheblich, wo objektive Massstäbe und Messmöglichkeiten vorhanden sind,
erschwert sie aber ebenso, wo dies nicht der Fall ist.
Gegenüber der Feinheit der Abwägungen des blossen Mehr oder Weniger
sind die Konflikte zwischen den Interessen ganz getrennter Kreise,
zwischen denen ein einfaches Ja oder Nein, Rechts oder Links, in Frage
steht, relativ grob und primitiv.
Um so ungeeigneter erscheint demnach der Vorschlag, alle Konflikte von
Pflichten überhaupt auf ein nach quantitativen Gesichtspunkten
aufgestelltes Schema zu reduzieren, und nun aus der gegenseitigen Stellung
der Pflichten innerhalb dieses Schemas unmittelbar das Verhältnis ihrer
Wichtigkeit und Würde abzulesen.
Diese Lehre konstruiert Pflichtgebiete von verschiedener Ausdehnung -
das individuelle, das soziale, das humane -, und bestimmt nun, dass im
Konfliktfalle diejenigen Normen zu bevorzugen seien> in denen ein
allgemeineres Pflichtgebot zum Ausdruck kommt, oder die in ein
umfassenderes Gebiet mit ihren Wirkungen hineinreichen.
So plausibel im ersten Augenblick ein derartiger Entscheidungsgrund
sein mag, der von dem einfachen und durchgreifenden Gedanken ausgeht, dass
die Vielen wichtiger sind als die Wenigen und dass die Pflichten
eigentlich nicht mehr kollidieren könnten, sobald man die Differenzen in
dem Quantum ihrer Beziehungen einmal festgestellt hätte - so plausibel
dies scheint, so wenig ist es auf die Dauer haltbar.
Denn es vernachlässigt neben dem Quantum der Extensität völlig das
Quantum der (<404) Intensität, das sich mit jenem kreuzt.
Wenn jene Reduktion des Wertes der Pflicht auf die Teilnehmerzahl des
von ihr berührten Kreises auch selbstverständlich die Voraussetzung des
ceteris paribus macht, d. h. nur bei gleicher Intensität der Wirkung auf
alle Mitglieder die Zahl derselben zum Kriterium setzen will, so ist damit
für den häufigsten und schwierigsten Fall keine Entscheidung getroffen:
dass nämlich die Intensität der Wirkung mit ihrer Extensität
konkurriert; wie haben wir zu entscheiden, wenn eine Handlung, die auf
Wenige, aber auf jeden von ihnen sehr stark wirkt, ebenso als Pflicht
auftritt wie eine gegenteilige, die auf Viele, aber auf jeden von ihnen
sehr schwach wirkt? Hier lässt uns jenes Kriterium vollkommen im Stich;
es gilt nur, wo das Intensitätsmoment auf beiden Seiten völlig gleich
ist, also überhaupt aus der Berechnung ausgeschaltet werden kann; die
leiseste Ungleichheit in ihm lässt sofort beide Seiten einander völlig
inkommensurabel erscheinen.
Dies eben macht Pflichtenkonflikte so oft unheilbar, dass wir keinen
Massstab besitzen, durch den die Intensität der Wirkung unseres Handelns
objektiv vergleichbar würde mit der Extensität derselben.
In einer Reihe solcher Fälle trifft tatsächlich das sogenannte
sittliche Gefühl mit grosser subjektiver Sicherheit und scheinbarer
Feinheit der Abwägung seine Entscheidungen. Allein an dieser Tatsache eben beginnt die Aufgabe der
Moralwissenschaft, welche zwar nicht zu prüfen hat, ob solche
Entscheidungen absolut genommen richtig sind oder nicht, wohl aber zu
erforschen, auf welche Momente innerer unbewusster Abwägung hin sie
erfolgen.
Tatsächlich aber steht sie hier noch einem völligen Geheimnis
gegenüber.
So wenig die Philosophie schon den Massstab aufzuzeigen vermochte, nach
dem das eudämonistische Empfinden die Intensität des Lust oder
Schmerzgefühles gegen seine Dauer abwägt, so wenig weiss sie - selbst
die Kenntnis und Unzweideutigkeit (<405) des definitiven sittlichen
Wertes vorausgesetzt - das Verfahren zu bestimmen, nach dem wir die
Intensität seiner Verwirklichung gegen deren Extensität abmessen.
Bei dem Versuche vielmehr, dies Verfahren ins Bewusstsein zu erheben,
greifen wir, gemäss der Beschaffenheit unseres Erkenntnissvermögens,
immer nach der Vorstellung eines quantitativen Mehr oder Minder, das aber
jenen gemeinsamen Massstab voraussetzt, der hier gerade fehlt, und dessen
Fehlen Anweisung darauf gibt, dass unsere innerlichen Entscheidungen durch
Kräfte hervorgebracht werden, die sich in den Kategorien unseres
erkennenden Bewusstseins nicht adäquat ausdrücken lassen.
Wie sich die Extensität und die Intensität der Wirkung bekämpfen,
das zeigen mit besonderer Schärfe jene Konflikte, bei denen die eine
Pflicht eine ganz untergeordnete und äusserliche ist.
Wenn ein gleichgültiger Besuch uns mitten in der wichtigsten Arbeit
stört, so sind wir fast nie gegen ihn so kurz angebunden und
rücksichtslos, wie es seiner Unwichtigkeit und der Wichtigkeit des
Vorhabens, von dem er uns abhält, angemessen wäre.
Oder wenn wir die Mittel zur Erfüllung einer sehr wichtigen Pflicht
etwa nur auf Kosten einer Verletzung des äusseren Anstandes, vielleicht
gar der Schamhaftigkeit gewinnen können, so werden die meisten Menschen
sieh eher jener Pflicht entziehen, als dass sie die des Anstands
übertreten.
Diese überwiegende Betonung von Pflichten, die doch ihrem positiven
Inhalte nach uns kühl lassen und mit den wesentlichen Lebenszwecken keine
direkte Berührung haben, ist nur erklärlich durch die ausserordentliche
Ausdehnung des Kreises, dessen allgemeine Lebensform sie bilden.
Es kommt dazu, oder ist vielmehr der Ausdruck davon, dass gerade die
weitesten Kreise oft die stärkste Exekutive besitzen., was insofern
begreiflich ist, als der Kreis, für den ein gewisses Verhalten nützlich
ist, um so weniger Widerstand in der Festsetzung der Zwangsbestimmungen
für dasselbe findet, je weniger er noch von (<406) einem grösseren,
ihn majorisierenden Kreise umschlossen ist.
Es ist eine triviale Wahrheit, dass die leiseste Verletzung des
äusseren Anstands oft sehr viel schwerer heimgesucht wird, als die
tiefste und schlimmste Sünde. Die drohende Strafe verschärft begreiflich den Konfliktfall, ja, indem
sie in die eine Waagschale geworfen wird, verschafft sie dieser häufig
erst jene Äquivalenz mit der anderen, die eben den Konflikt ausmacht.
Zugleich aber wird seine Lösbarkeit durch die Verschiedenheit der
Sanktionen erschwert, die seine beiden Seiten tragen und diese immer
unvergleichbarer, das Übergewicht der einen immer schwerer feststellbar
machen.
Derartige Komplikationen treten hauptsächlich zwischen der Sitte und
der individuellen Sittlichkeit auf und werden noch weitet verschärft,
wenn der Einzelne den Unsinn und die Unzweckmässigkeit einer Sitte
einsieht, während die Allgemeinheit noch an ihr festhält.
Dann findet nämlich oft schon ein sekundärer Konflikt innerhalb der
einen Seite statt" indem die Sitte ihrem Inhalte nach von der
sittlichen Überzeugung zurückgewiesen, ihre Bekämpfung gefordert wird,
während man andrerseits weiss, dass dieses Törichte und Schädliche doch
bei der Masse noch mit wahrhaft sittlichen Gütern eng assoziiert ist,
dass der Angriff auf jenes auch diese erschüttern würde.
Gerade das Ineinanderwachsen der sittlichen Begriffe, in dem die
Kontinuität historischer Entwicklung ihren ethischen Wert zeigt, kann
durch die Stütze, die einer dem anderen gewährt, zu den schwersten
Konflikten Veranlassung geben, sobald sich in einem Individuum die
Überzeugung von der sachlichen Verwerflichkeit des einen bildet.
Die bloss formale Tatsache, dass eine bestimmte Vorstellung nun einmal
in die Hierarchie der sittlichen Ideale aufgenommen ist, verleiht ihr
vermöge der Assoziationen aller dieser untereinander eine wahrhaft
ethische Bedeutung, die oft weit über ihren inhaltlichen Wert hinausgeht
und sich nicht sowohl während ihres Bestandes als in dem Augenblick ihres
Erschütterwerdens (<407) zeigt.
Das nächstliegende Beispiel bildet hier die religiöse Aufklärung.
Wenn religiöse oder auch nur kirchliche Sitten eine Stelle in dem
Pflichtenkodex erlangt haben, so spielt sich ein eintretender Konflikt
derselben gegen individuelle Überzeugungen vom Sittlichen nicht nur
zwischen den Inhalten von beiden ab; möge also - um ein möglichst
einfaches Beispiel zu wählen - die Pflicht des Kirchenbesuchs etwa mit
der Pflicht kollidieren, einem Kranken Gesellschaft zu leisten oder diese
einzig freie Zeit zur Vervollkommnung der Bildung zu benutzen - so ist der
Konflikt keineswegs damit abgetan, dass man sich von der überwiegenden
Wichtigkeit der letztgenannten Pflichten sozusagen für das Heil der
eigenen Seele überzeugt.
So mag man entscheiden, wenn man rein rationalistisch die Pflichten
ihrem isolierten Inhalte nach gegeneinander abwägt.
Befindet man sich aber etwa in einer Lage, in der das eigene Beispiel
solcher Entscheidungen auf andere Personen wirkt, oder ist man überhaupt
der Meinung, dass das Verhalten eines Individuums von Einfluss auf das
Schicksal der Institution ist, so gewinnt die Pflicht des Kirchenbesuchs,
die in jenem auf das Innere des Ich beschränkten Konflikt sich als das
Wertlosere herausgestellt hat, eine neue Bedeutung durch die Überlegung,
dass diese kirchlichen Sitten bei Unzähligen noch mit der wirklichen,
innersten Sittlichkeit aufs engste assoziiert sind und dass der Gesamtbau
derselben vielleicht ins Schwanken gerät, wenn man diesen einen Stein
lockert.
Nur ein sophistisches oder ein oberflächliches Denken in ethischen
Dingen kann meinen, dass derartige Lagen, sozusagen durch das sittliche
Bewusstsein dividiert, ohne Rest aufgehen müssten.
Dass die unzähligen, aus den mannigfaltigsten historischen Situationen
entstandenen Inhalte des Sollens eine latente Einheit besässen, die man
nur zu ermitteln brauche, um alle konträren und kontradiktorischen
Widersprüche zwischen ihnen zu versöhnen, ist eine der naiv
metaphysischen (<408) Voraussetzungen der bisherigen Ethik, in denen
sie ihre Verwandtschaft mit der Religion zeigt.
Angesichts der fortwährend sich kreuzenden Ansprüche, die unter dem
Rechtstitel des Sittlichen an den Einzelnen gestellt werden; angesichts
des sehr berechtigten Zweifels, ob nicht gerade Vertiefung des sittlichen
Empfindens uns noch viel mehr Konflikte zum Bewusstsein bringen würde, an
denen die rasche Praxis des Tages notgedrungen vorüberempfindet -
angesichts dieser Umstände ist die vorausgesetzte prinzipielle
Lösbarkeit der Pflichtenkonflikte eine der ärgsten Vergewaltigungen, die
die Wirklichkeit je von Seiten der Philosophie erfahren hat.
Welches methodische Recht hat denn überhaupt die Ethik, gegenüber dem
tatsächlich gefühlten Konflikt der Pflichten die blosse Vorläufigkeit
und schliessliche Reduzierbarkeit desselben zu behaupten? Jede Behauptung,
die -vermöge des blossen Denkens gewonnen ist, muss etwas sich gegenüber
haben, an dem sie ihre Wahrheit beweist.
Auch die Logik wäre, wie ich schon früher betonte, ein leeres Spiel
des Intellekts, wenn sie nicht die sinnlichen Bilder der Dinge sich
gegenüber hätte; was übrigens durchaus nicht ausschliesst, ja sogar
voraussetzt, dass auch diese letzteren psychologische Vorgänge sind und
dass vielleicht zu ihrem Zustandekommen schon jene logischen Normen als
Apriori mitgewirkt haben.
Sobald aber diese Normen zu besonderen Sätzen differenziert sind und
ihre selbständige Wahrheit behaupten, ruhen sie auf der Voraussetzung
einer ihnen gegenüberstehenden Erfahrungswelt, in der die mit ihrer Hilfe
gewonnenen Denkergebnisse sich realisiert finden und mit der diese
konfrontiert werden können.
Mit den Normen, die die ethische Theorie aufstellt, kann es sich nicht
anders verhalten.
Auch sie müssen eine Wirklichkeit des sittlichen Empfindens sich
gegenüber haben, und diese muss sich mit den Forderungen decken, die sich
auf Grund der Prinzipien entwickeln.
Diese Wirklichkeit kann nun entweder ausserhalb oder innerhalb des
Ethikers (<409) selbst liegen. Im ersteren Fall findet also Sein
Prinzip an der tatsächlichen sittlichen Empfindung der Anderen sein
Kriterium, und dann ist die Behauptung eines einheitlichen, alle Konflikte
lösenden Endzwecks einfach dadurch dementiert, dass ungelöste Konflikte
tatsächlich empfunden werden.
Jene Behauptung kann dann nur eine Prophezeiung für einen zukünftigen
Stand der Dinge bedeuten; denn wollte sie sagen: die Konflikte wären
lösbar, wenn die betreffenden Individuen nur wollten, oder wenn sie nur
die erforderliche Einsicht besässen - so wäre das erstere ein
Richterspruch, zu dem gar keine Kompetenz vorliegt, während das zweite
darauf hinausläuft, die fraglichen Diskrepanzen als solche der blossen
Mittel zu höheren Zwecken abzuurteilen;
denn nur in diesem Fall kann der Intellekt einen Einfluss darauf haben,
der ihm den definitiven Zwecken gegenüber, welche ausschhesslich Sache
des Willens sind, ganz versagt ist.
Und diese Reduktion ist gleichfalls eine völlig willkürliche, da die
hier allein entscheidende Tatsache, dass Jemand nun einmal bestimmte
Handlungen als definitive sittliche Forderungen empfindet, gerade in Bezug
auf das innerliche ethische Problem völlig gleichgültig dagegen ist, ob
diese Handlungen objektiv blosse Mittel zu einem höher gelegenen Zustande
sind.
Nimmt man aber die zweite Eventualität an: dass diejenigen ethischen
Einzelforderungen, die als objektives Material die Richtigkeit des
prinzipiellen ethischen Denkens beweisen müssen, innerhalb des Ethikers
selbst liegen, so kann die Behauptung eines ethischen Monismus, wenn sie
keine blosse ethische Selbstbiographie sein will, nur den imperativischen,
moralisierenden Sinn haben: ihr sollt euch dieses und dieses Ziel setzen,
wodurch dann die Entscheidung zwischen allen kollidierenden Forderungen
sich von selbst ergeben wird; ihr sollt euer sittliches Empfinden zu dem
ausbilden, was ich selbst als einheitliches Ziel der Sittlichkeit
empfinde.
Dies ist indes nur Sache der praktischen Reformer und hat mit der Ethik
(<410) als Wissenschaft nichts mehr zu tun.
Dieser praktische Sinn, in dem das ethische Prinzip sich die ethische
Tatsächlichkeit erst selbst schaffen soll, also auf diese Weise
allerdings mit ihr übereinstimmen kann, ist demnach der einzige, in dem
man von einem Monismus als Lösung aller Pflichtkonflikte sprechen
dürfte.
Das fortwährende Durcheinandergehen der reinen Erkenntnis und der
praktischen Direktive im Ethischen kann allein den täuschenden Glauben
veranlasst haben, als trage die wirklich bestehende Sittlichkeit latent
oder unter ihrer Oberfläche schon jene konfliktfreie Einheitlichkeit, die
doch nur durch einen völlig neuen Aufbau der Sittlichkeit von den
Fundamenten aus und unter Ausscheidung aller bis jetzt herrschenden
historischen Zufälligkeit der Idealsetzung herbeigeführt werden könnte.
Von allen Wissenschaften befindet sich allein die Ethik noch in diesem
niedrigen Zustand der Undifferenziertheit zwischen Theorie und Praxis,
nachdem selbst die Theologie sich davon frei gemacht und die Medizin in
dieser Sonderung schon so weit gegangen war, dass man schliesslich
energisch betonen musste, ihr Endzweck liege doch nicht in der Diagnose,
sondern in der Therapie.
Der Monismus der Ethik, der nur ein einziges absolutes Ziel aller
Sittlichkeit anerkennt, ist weit entfernt, für sich allein schon allen
Konflikt der Pflichten bannen zu können.
Ein solcher höchster und letzter Wert muss vielmehr zu diesem Behufe
noch zwei weitere Bedingungen kooptieren: erstens müssen die Mittel zu
ihm völlig unzweideutig erkennbar sein, zweitens muss der Grundsatz:
ultra posse nemo obligatur - vollständige, auch innerliche Gültigkeit
besitzen.
Wenn nämlich das erstere nicht der Fall ist, so kann alle innere
Sicherheit über den eigentlichen Endzweck des Sollens uns nicht völlig
vor dem Konflikt innerhalb des Pflichtgefühles bewahren; denn dann würde
bald diese, bald jene Handlung mit dem Anspruch auftreten, jenen Zweck zu
vermitteln, und wir würden zwischen (<411) entgegengesetztesten
Impulsen genau so ratlos stehen wie jetzt, wenn auch jeder von ihnen
seinen Charakter als Pflicht nicht mehr in sich selbst, sondern von jenem
zu Lehen zu tragen behauptete.
Wäre nun aber auch diese Schwierigkeit dadurch gehoben, dass wir ganz
genau wüssten, ob und in welchem Masse jede Handlung sittlich ist, d. h.
der obersten sittlichen Einheit dient, so würde ohne die zweitgenannte
Bedingung noch immer ein Konflikt entstehen können, nämlich zwischen
zwei sittlich gleichberechtigten, d. h. gleichmässig den obersten Zweck
vermittelnden Handlungen, die aber gegenseitig im konträren oder
kontradiktorischen Gegensatz stehen.
Denn wenn die Aufforderung zur Handlung von beiden Seiten mit der
gleichen sittlichen Betonung an uns herantritt, so wird alle theoretische
Überzeugung von ihrer Gleichwertigkeit die notgedrungen hintangesetzte
nicht völlig in ihrem Ansprüche an uns auslöschen; der Impuls zu ihr,
der ursprünglich nicht schwächer als der zu der anderen war, wird
dadurch, dass von anderer Seite dasselbe Quantum von Förderung des
Endzwecks geleistet wurde, psychologisch nicht ohne weiteres als
befriedigt empfunden werden.
In wie hohem Masse dies der Fall sein würde, wenn nicht eine völlige
Umbildung unserer sittlichen Empfindungsweise im Sinne der
Unverantwortlichkeit für das Unerfüllbare einträte - denn jetzt begeht
unser Gefühl eben oft genug den logischen Widerspruch, uns noch über das
Können hinaus zu verpflichten - das zeigt sich recht an der Nachwirkung
unerfüllter, wenngleich sekundärer Forderungen.
Man mag einen Pflichtenkonflikt entscheiden wie man will, sogar mit der
festen Überzeugung, dass die vorgezogene Seite die bei weitem wertvollere
ist, die andere mit vollem Recht hintangesetzt wird: diese zurückgesetzte
verliert darum ihren Anspruch und ihre Wirkung nicht vollkommen, sondern
erzeugt, aller Überzeugung von ihrer relativen Inferiorität zum Trotz,
ein Nachgefühl von (<412) sittlicher Schuld.
Mit der Erkenntnis der ersteren als der wichtigeren geht die Rechnung
noch nicht glatt auf; oft genug wenigstens hat die einzelne Pflicht einen
selbständigen Anspruch gewonnen, die Appellation, die sie bei
Zurückweisung desselben an die Instanz des Gewissens richtet, tritt
sozusagen selbsttätig ein und bleibt selbst bei ihrem Zusammentreffen mit
einer sehr viel wichtigeren, ihr entgegengesetzten, nicht aus.
Dies ist fast der schärfste Ausdruck, den die Unversöhnbarkeit der
Pflichtengegensätze gewinnen kann, dass nicht einmal nach ihrer, durch
die subjektiv und objektiv begründete Rangordnung der Pflichten
erfolgenden Entscheidung das sittliche Gefühl immer und vollständig
befriedigt ist.
Wenn zwei physische Kräfte kollidieren, so kann zwar die Wirkung, die
der einen bei ungestörter Wirksamkeit zukäme, aus dem sichtbaren
Resultat völlig verschwinden ; dennoch übt sie die ihr eigene Kraft
derart, dass auch jenes schliessliche Gesamtphänomen ohne sie nicht so
wäre, wie es ist, Von zwei kollidierenden Pflichten dagegen verschwindet
nach der geschilderten Entscheidung die geringere tatsächlich vollkommen
aus der resultierenden Tat, bleibt völlig ohne Einfluss auf die
Entscheidung, und wirkt deshalb innerlich um so entschiedener und
bohrender weiter, da sie sich nicht in die Verwirklichung ausleben kann.
Der folgende Fall, der in anderer Beziehung bereits in der
Moralphilosophie Verwendung gefunden hat, gibt hierfür ein klares,
wenngleich an der Oberfläche liegendes Beispiel. Die Stärke einer modernen Armee beruht grossenteils auf der besonderen
Standesehre, die innerhalb des Offizierkorps gezüchtet wird.
Die Ehre des Ganzen trägt und hebt jeden Einzelnen, dieser umgekehrt
weiss sich für die Ehre des Ganzen verantwortlich, und durch diese
Wechselwirkung entsteht ein Zusammenhalt der Einzelnen, eine Festigkeit
der Bindung an die Inhalte des Ehrbegriffes, die für die Zwecke des
Militärs von unvergleichlichem Nutzen ist.
Nun gerate ein Offizier (<413) in Kriegsgefangenschaft und gebe sein
Ehrenwort, nicht zu fliehen. Es biete sich ihm die Gelegenheit zur Flucht und zwar so, dass er den
Seinigen eine höchst wichtige, vielleicht über den Ausgang des Feldzuges
entscheidende Nachricht bringen kann.
Er tut dies unter Bruch seines Ehrenwortes, indem er die Pflicht,
seinem Vaterlande in dieser Weise zu dienen, für eine höhere erachtet,
als die Bewahrung seiner persönlichen Ehre.
Ein ähnlicher Fall soll in einem Kriege dieses Jahrhunderts
vorgekommen sein, und die Kameraden jenes Offiziers sollen sich, unter
voller Anerkennung seiner sittlichen Tat, doch geweigert haben, ihn wieder
in ihr Korps aufzunehmen; es ist höchst wahrscheinlich, dass sie damit
nur eine Empfindung objektivierten, die sich auch im Gemüte jenes
Offiziers fand, die Empfindung, dass die verletzte Ehrenpflicht darum
nicht ausgeglichen sei, weil es eine noch höhere Pflicht war, um
derentwillen sie verletzt wurde.
Dieser Fall ist deshalb so bezeichnend, weil beide Pflichten nur Stufen
zu einem einzigen höchsten Ziel waren, dem Heile des Vaterlandes.
Nur um seinetwillen muss jene Straffheit des Ehrbegriffs aufrecht
erhalten werden, die dem Offizierkorps die Aufnahme des Wortbrüchigen
verbietet; nur um seinetwillen aber geschah der Wortbruch; und es ist
sogar kein Zweifel, dass die letztere Tat viel näher an den Endzweck
herankam, als jene Ehre.
Und dennoch wirkt nun die sittliche Verpflichtung zu dem, was dem
Endzweck nur mittelbar diente, weiter fort, zum Trotze dessen, was ihm
ganz unmittelbar diente. - Dies ist, wie ich schon erwähnte, ein vergleichsweise roher und
äusserlicher Fall.
Wie das zarte Seelenproblem wohl möglich ist, dass man sich die Liebe
zu Jemandem aus dem Herzen reisst, gerade aus Liebe zu ihm, so zwingen uns
die Komplikationen des Lebens hundertfach, die Sittlichkeit hintanzusetzen
um der Sittlichkeit willen, und zwar, ohne dass man nun leicht und frei
und heiter weiterschritte, sondern mit lange nachwirkendem Bewusstsein,
dass man (<414) vielleicht zwar das Sittliche getan, aber ein
Sittliches jedenfalls unterlassen habe.
Das Spezifische dieser Situation ersieht man recht in ihrem Vergleich
mit dem Konflikt zwischen Pflicht und Egoismus.
Ist dieser einmal zu Gunsten der ersteren entschieden, ist der
Versucher vertrieben, so pflegt das Befriedigungsgefühl des guten
Gewissens auch sehr schnell das Bedauern über den entgangenen
egoistischen Genuss im Bewusstsein herabzudrücken, während der höheren
Pflicht, gerade weil sie mit der niederen doch verwandt ist, keinen
absoluten Gegensatz gegen sie bildet, das Entsprechende nicht gelingt.
Die Tatsache des Konflikts als Ganzes tritt nun ihrerseits in einen
Widerspruch ein; während der Konflikt nämlich einerseits als ein
provisorischer Zustand empfunden wird, von dem aus man zu dem definitiven
der Ausgleichung zu streben habe, während er das Aneinanderprallen der
Gegensätze zeigt, dem ihre Versöhnung als der höhere, entwickeltere
Zustand gegenübersteht - sehen wir andrerseits, dass er gerade ein
Produkt der höchsten Entwicklung ist, und dass er sich in dem Masse
erhebt, in dem die Seiten des sittlichen Organismus sich differenzieren
und verselbständigen.
Der allgemeine Fortschritt also, der ihn beseitigen müsste, wenn er
wirklich ein niederes, zur Aufhebung in ein höheres bestimmtes Stadium
wäre, führt gerade dazu, ihn häufiger und schärfer zu machen.
Alle Gegenbewegungen innerhalb des Kulturprozesses kommen hier zu
Worte, wo ihre Kreuzung im Einheitspunkte des Ich in Frage steht. Die primitive Einfachheit der Gruppe weicht einer innerlichen
Mannigfaltigkeit, und zwar durch das Zusammenwirken der Arbeitsteilung und
der quantitativen Ausdehnung der Gruppe.
Dies letztere ist sehr wichtig, weil es die Möglichkeit gewährt,
Genossen für seltene und individuellere Interessen zu finden und so
selbst um solche einen Kreis sich krystallisieren zu lassen, der den
Einzelnen trägt und ihm Rechte und Pflichten zuspricht.
(<415) Eine derartige Bildung neuer Kreise findet nicht nur durch
ein Wachstum der ursprünglichen Gruppe im Sinne der Mitgliedsvermehrung
statt, sondern durch Verbindung mit ausserhalb stehenden Gruppen, mit
denen eine partielle Interessenverbindung gestiftet wird, so dass der neu
entstandene Kreis das Zusammengehörige aus einer ganzen Anzahl sonst
getrennter Gruppen zusammenschliesst.
Der Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Produktion und des Handels legt,
schon im Mittelalter, eine neue Linie durch die kommunalen Gemeinschaften,
und bildet einerseits Zunftverbände, andrerseits Gesellenzünfte und
niedere Gesellenverbände.
Die einzelnen Bürger greifen über den kommunal abgegrenzten Kreis
hinaus und schaffen einen neuen, um ein sachliches Zentrum gruppierten,
der ein Wollen und Sollen, oft in vollem Gegensatz zu ihren
ursprünglichen Bindungen, auf sie ausstrahlt.
So zog die Renaissance die Grenzlinie zwischen Gebildeten und
Ungebildeten durch bisher ganz getrennte Kreise gleichmässig hindurch,
die geistige Produktion und Konsumtion liess eine ganz neue Gruppierung
aus dem Material der alten entstehen, und setzte das Individuum sehr oft -
z. B. in sozialer und in künstlerischer Hinsicht - in scharfen Konflikt
mit diesen früheren, denen es aber dennoch weiter angehörte. Man kann direkt sagen, dass die
allgemeine Kultur sich in dem Masse verbreitert und vertieft, in dem erstens die
Interessen und Betätigungstendenzen des Individuums und der Individuen
sich vermannigfaltigen, und in dem zweitens jedes dieser Interessen sich
einen Kreis genossenschaftlichen Anschlusses schafft.
Dieses Aufwachsen immer neuer Kreise auf sozialem, religiösem, intellektuellem, geselligem, beruflichem
Gebiete, die die bisherigen in den mannigfaltigsten Winkeln durchsetzen,
bald die grossen Gruppen in kleinere zerlegen, bald die kleineren
amalgamieren, jetzt der geistigen Gemeinschaft physisch Getrennter
sozusagen einen Körper verleihen, jetzt der Gleichheit materieller
Interessen einen (<416) höheren sittlichen Hintergrund geben - dies
hat die kompliziertesten Folgen für das Ganze der Lebensführung.
Zunächst nämlich erhält die Persönlichkeit eine unvergleichliche
Stütze darin, dass ihr für jede Seite ihres Wesens, für ihren Beruf wie
für ihre Liebhabereien, für ihre politische Überzeugung wie für ihren
Bildungstrieb, für ihre Mildtätigkeit wie für ihren Sparsinn
genossenschaftliche Anlehnungen geboten sind.
Die enge Bindung an enge Kreise, die dem Individuum früherer Zeiten
einen Rückhalt und mancherlei Vorteile bot, löst sich mehr und mehr; die
selbständige moderne Persönlichkeit, inmitten der ungeheuren Ausdehnung
der umgebenden Gesellschaft und einer Internationalität aller
Beziehungen, die längst nicht mehr durch die Grenzen des Erdteiles
eingeschränkt ist, fällt der früheren Verfassung gegenüber einer
gewissen Vereinsamung anheim und entbehrt mehr und mehr der einengenden,
aber stützenden Heimatlichkeit; in jener Herstellung von Kreisen und
Genossenschaften aber, die jedem Interesse, jeder Neigung eine besondere
Anlehnung gewähren, liegt nun die Ausgleichung dafür.
Der Mensch als ganzer ist allerdings isolierter als je, der Totalität
seines Wesens fehlt der Halt, den die primitivere Sozialform ihm verlieh;
dafür aber haben die einzelnen Teile und Elemente seiner gesonderte
Anlehnung in gesonderten Gruppenbildungen gefunden; es ist noch gar kein
Beispiel besonderer Häufung, wenn Jemand innerhalb seines Berufes
verschiedenen Verbindungen angehört, Mitglied eines wissenschaftlichen
Vereins und Reserveoffizier ist, im Ehrenamt einem kommunalen Kollegium
zugehört und ausser alledem einen geselligen Verkehr besitzt, der sehr
verschiedenartige soziale Schichten berührt.
Während einerseits alle diese soziologischen Formungen sich aus
persönlichen Interessen entwickeln, steigern sie andrerseits
begreiflicher Weise die Kraft, Bewusstheit und Selbständigkeit derselben;
der Rückhalt an gesonderten Sozialgebilden gibt ihnen selbst eine
(<417) differenzierte Stellung, eine relative Unabhängigkeit von den
anderen - ungefähr wie innerhalb eines Familienkreises das Band zwischen
den einzelnen Mitgliedern sich lockert, jeder dem anderen gegenüber
selbständiger wird, wenn er an einem Kreise ausserhalb der Familie die
Verkörperung seiner wesentlichen Interessen gefunden hat.
Nun kann man sagen, dass diese Kreuzung der mannigfaltigen Kreise in
dem Einzelnen erst seine Individualität als solche recht herausbildet. Als Angehöriger eines einzigen Kreises ist er insoweit von allen
anderen Genossen desselben nicht unterschieden.
Seine Stellung wird in dem Masse charakterisierter und individueller,
in dem er im Schnittpunkt von immer mehren, gegenseitig unabhängigen
steht, weil es mit jedem neuen immer unwahrscheinlicher wird, dass gerade
diese selben sich noch einmal in einem Einzelnen treffen.
Die Vielheit der Sozialisierungen gibt ihm so die Unvergleichbarkeit
und Individualisierung wieder, die die einzelne Sozialisierung an und für
sich ihm zu rauben schien.
In jedem einzelnen Kreise tritt er nun den Genossen mit seiner ganzen
Bestimmtheit durch das, was er noch ausserdem ist, gegenüber, was ihn
denn nicht nur objektiv, sondern auch für sein subjektives Gefühl als
markierte Persönlichkeit, als in sich abgeschlossenes Ich hinstellt.
Hier zeigt sich also das eigentümliche Verhältnis, dass die
Differenzierung der sozialen Kreise, vom Kulturfortschritt ebenso getragen
wie sie ihn trägt, einerseits offenbar zu immer häufigeren Konflikten
Veranlassung geben muss, weil die Kreise immer von einander werden,
andrerseits gerade die unabhängiger Individualisierung, d. h. die scharf
charakterisierte Persönlichkeit, herausarbeitet, die an der Fülle ihrer
Betätigungen sich ihrer Einheit bewusst wird.
Auf diesem Wege wird der Konflikt geradezu zur Schule, in der sich das
Ich bildet.
Je einheitlicher wir das Leben zu gestalten, in je engere Beziehungen
wir seine Seiten zu setzen suchen, je tiefer wir jeden äusseren Anspruch
in die Tiefe des Ich (<418) einzuführen oder aus ihr zu begründen
streben - desto konfliktvoller muss das Leben werden.
Es ist nur eine halbe Wahrheit, dass die Gedanken leicht beieinander
wohnen, während die Dinge im Raume sich hart stossen; mit gleichem Rechte
kann man umgekehrt sagen, dass die Dinge sich nie im Sinne eines Kampfes
stiessen, jedes vielmehr vermöge der Undurchdringlichkeit der Materie
seinen Raum unverlierbar bewahre, während das eigentliche Verdrängen,
das Dorthinwollen, wo der Andere ist, nur den Geistern und den Elementen
innerhalb des Geistes zukomme.
In dem niederen Bewusstsein, das ganz von dem Eindruck des Augenblicks
ausgefüllt ist, wird es so leicht weder zu einem energischen Ichgefühl,
noch zu einem Konflikt kommen; erst jene Vertiefung des Denkens und
Fühlens, die jeden Eindruck und jede Forderung auch in ihre mittelbaren
Beziehungen verfolgt, sie nach ihren Ursachen und Folgen aneinander hält,
betont dadurch einerseits die einheitliche, verknüpfende Kraft des Ich,
und schafft bez. erkennt andrerseits damit eine Unzahl innerlicher
Konflikte, die demjenigen ganz entgehen, der sich nur dem primären
Eindruck der Dinge hingibt, ohne ihm selbsttätig in seine Verzweigungen
und Wurzeln nachzugehen.
Wenn man sich dennoch in der Alltäglichkeit des Lebensverlaufes
verhältnissmässig weniger Konflikte von Pflichten bewusst wird, so ist
das nicht sowohl ein Zeichen dafür, dass sie nicht vorhanden sind, als
dafür, dass man über das Kompromiss nicht hinausdenkt, zu dem die Praxis
uns zwingt. Kompromiss aber ist noch nicht Versöhnung.
Es kann auch eine Art Anpassung an den Widerstreit der Pflichten
stattfinden, die ihn zwar keineswegs für das Bewusstsein beseitigt, aber
doch die praktische Reaktion, die auf seine Beseitigung geht, abstumpft;
dies kann sich dahin entwickeln, dass raffinierte Naturen in solchen
sittlich konfliktvollen Situationen einen besonderen Lebensreiz finden.
Auch bleibt der Widerstreit innerhalb des Sollens vielfach (<419)
sozusagen in einer ideellen Sphäre bestehen, aus der er nur gelegentlich,
entweder in besonders akuten Fällen oder bei besonders erhöhter
Sensibilität des Subjekts, in die psychologische Wirklichkeit
hinabsteigt.
Die Gegenwart bietet mit ihrer Verbreitung des sozialen Interesses, dem
allmählichen Erwachen des sozialen Gewissens, ein lebendiges Beispiel
beider Bedingungen.
Tatsächlich werden uns jetzt Konflikte zwischen sozial-sittlichen
Forderungen und anderen, die wir doch gleichfalls noch für sittlich
halten müssen, bewusst - Konflikte, die schon lange bestanden, sich auch
schon lange geltend machten, deren ganze Schwere man aber durch irgend ein
billiges Kompromiss - Mildtätigkeit, Vertrauen auf göttliche Lenkung,
Pflichterfüllung im engsten Kreise, Glaube an die Harmonie der Interessen
- unter der Schwelle des Bewusstseins hielt.
Dass es aber zu diesem Konflikt jetzt gekommen ist, beweist eine
ausserordentliche Höhe der moralischen und der intellektuellen Kultur.
In dem Masse überhaupt, in dem die Interessen des Ich sich
differenzieren und jede derselben mit einem Kreise verschmilzt, der dem
Individuum, während er es fördert, Pflichten auferlegt, -in dem Masse
wandelt sich der Konflikt zwischen Egoismus und Pflicht mehr und mehr in
einen Konflikt zwischen Pflichten.
Und während der ethische Monismus, der nicht zugleich absoluter
Pessimismus ist, annehmen muss, dass die Zahl der Konflikte sich immer
verringere, ist eher eine Steigerung ihrer vorauszusehen: durch die
objektive Vermehrung und Komplizierung der Kulturbeziehungen, von denen
der Konflikt von vornherein wahrscheinlicher ist als die Harmonie, weil
die Dinge auf viele Weise divergieren, aber nur auf wenige oder eine
einzige harmonieren können - wie durch die subjektive Verfeinerung und
Vertiefung des Empfindens und Denkens, das sich der latenten Ansprüche
der Verhältnisse und Menschen jedenfalls in rascherer und fühlbarerer
Progression bewusst (<420) wird, als es sie zu versöhnen weiss.
Man kann die soziologische Entwicklung, im allergröbsten Umriss,
folgendermassen vorstellen.
Zuerst finden wir einen Zustand totalen Gegensatzes zwischen den
Gruppen, von denen jede für sich völlig abgeschlossen ist und in sich
selbst keine kollidierenden Unterabteilungen und Individuen zeigt; am
Beginn der Geschichte ist zwar nicht homo homini lupus, aber respublica
reipublicae.
Dies ändert sich, indem einerseits die Schroffheit und apriorische
Feindseligkeit der sozialen Totalgebilde untereinander gemildert wird,
andrerseits innerhalb jedes einzelnen stärkere Individualisierung seiner
Elemente und damit Konkurrenz und Kollision unter diesen, wenn auch in
äusserlich friedlichen Formen, auftritt.
Damit ist die innere Situation des Individuums völlig verändert.
Der Urzustand gestattet ihm Einheitlichkeit und Ungebrochenheit der
Tendenzen, da die Kollisionen totale sind, d. h. zwischen ganzen Stämmen
und Gruppen stattfinden, so dass der Einzelne ganz für die eine und ganz
gegen die andere verpflichtet ist.
Indem nun aber unter Abschwächung der Konkurrenz nach aussen diese im
Innern der Gruppe entsteht, wird sie zugleich in die Seele des Einzelnen
hineingetragen, der nun oft genug für beide Parteien engagiert sein mag.
Indem der Gegensatz sich jetzt innerhalb eines immerhin
zusammengehörigen Ganzen abspielt, rücken sich seine Elemente
gegenseitig näher, es entsteht das Doppelverhältnis einer Gegnerschaft
bei gleichzeitiger Verbundenheit und damit für den Einzelnen die
Möglichkeit, gleichzeitig für und gegen eine Tendenz verpflichtet zu
sein.
Auch von diesem sozialgeschichtlichen Standpunkt aus erscheint die
Wahrscheinlichkeit vermehrter Pflichtenkonflikte als ein Accidenz der
fortschreitenden Entwicklung.
Der eigentliche, tragische Konflikt ist der, welcher bei gleichzeitiger
Zusammengehörigkeit der kollidierenden Tendenzen oder Mächte
stattfindet; einerseits also im Individuum, das die feindlichen Ansprüche
in sich (<421) vereinigt und so jeden von ihnen als seinen eigenen
empfindet; andrerseits in dem grossen sozialen Kreise, der die kämpfenden
Sondergruppen und ihre Forderungen als Teile seiner Ganzheit einschliesst
- weshalb denn ein Bürgerkrieg viel tragischer ist als ein
internationaler und Konflikte innerhalb der Familie viel erschütternder
als zwischen ganz getrennten Parteien.
Geht nun die Kulturentwicklung auf die Stiftung immer neuer und
vielfach verschlungener Verbindungen, durch die sie die Einheitlichkeit
primitiver Sozialisierung ersetzt, so fügt sie also den Steigerungen des
Gegensatzes die Steigerung der gleichzeitigen Bindungen hinzu und vermehrt
so nicht nur den Konflikt überhaupt, sondern auch seine Vertiefung und
Tragik.
Man könnte sogar vermuten, dass diese Entwicklung sich in gleicher
Richtung weiterbewegt, dass der Konflikt, der von den Totalgruppen
angehoben und sich auf die Teilgruppen fortgesetzt hätte, schliesslich
nach Versöhnung dieser nur noch innerhalb des Individuums bestehen
bliebe.
Dies wäre freilich nicht mehr durch direkten, kontradiktorischen
Widerstreit seiner Pflichten möglich, da ein solcher nur durch den
Gegensatz zwischen verpflichtenden Kreisen entsteht, wohl aber könnte es
jener mehr materielle Konflikt sein, der bei voller inhaltlicher Harmonie
verschiedener Verpflichtungen durch die Beschränktheit des Individuums in
Bezug auf Zeit und Kraft entsteht.
Es lässt sich ein insoweit ausgeglichener Sozialzustand denken, dass
die einzelnen Interessenkreise nicht mehr unter sich, sondern nur in dem
Individuum kollidieren, das sich jedem widmen möchte, dies auch ohne
inneren, logischen Widerspruch könnte, aber es wegen der Beschränktheit
seiner physisch-psychischen Kräfte nicht im Stande ist.
Dies würde sogar eine sehr hohe Stufe der Moral bedeuten; es setzt die
unbedingte Macht des sittlichen Anspruchs, die unbedingte Nachgiebigkeit
der Seele ihm gegenüber voraus.
Wie man die wirkliche Gültigkeit eines Prinzips erst dadurch
feststellen (<422) kann, dass man es an allen überhaupt in Frage
kommenden Problemen probiert, obgleich man weiss, dass es alle doch nicht
lösen wird; wie man den möglichen Umfang der eigenen Kraft nur kennen
lernt, wenn man ihr mehr als das direkt Erfüllbare zumutet; so gelangt
man zu dem Maximum gesamtsittlicher Betätigung offenbar nur, wenn man den
einzelnen Anspruch gewissermassen als einen absoluten vorstellt und ihn
dann erst gerade soviel beschränkt, wie sein Zusammenbestehen mit
anderen, unter dem gleichen Aspekt auftretenden und deshalb mit jenem
kollidierenden es nötig macht.
Das relative Mass, in dem wir jeder Pflicht schliesslich nur genügen
können, ist uns a priori nicht bekannt; deshalb müssen wir es als ein
absolutes setzen und es rückschreitend eingrenzen, weil wenn wir es von
vornherein als relativ setzen, wir nie sicher sein können, ob wir es
nicht mehr als nötig beschränkt haben.
So kann man sagen, dass, wer nie einen Konflikt von Pflichten
durchgemacht hat, sicherlich nicht die Ansprüche der Dinge bis ins Letzte
durchempfunden hat; und kann vielleicht hinzufügen, dass die soziale
Evolution die Gruppen und Kreise immer mehr vom Konflikt entlastet, um
ihn, für absehbare Zeit, an dem Einzelnen haften zu lassen, in dem er
sich in genauer Proportion zu seiner steigenden Bereitwilligkeit den
sittlichen Ansprüchen gegenüber entfalten muss.
Ist der Konflikt so in dem Innern des Individuums lokalisiert, so
scheint die Entwicklung allerdings über ihn als Konflikt der Pflichten
insoweit hinausführen zu können, als sie dahin strebt, wie ich früher
betonte, die Pflicht allmählich in ein einheitliches Wollen umzubilden,
das ohne den Zwangscharakter der Pflicht, gern und gleichsam von selbst
von der Seele produziert wird.
Am Endpunkt dieser Evolution scheint also, wie wir es in einer Reihe
naheliegender Fälle schon jetzt konstatieren können, der Konflikt des
Sollens durch einen solchen des freien Wollens ersetzt zu werden.
Dass dies (<423) in weiterem Umfange eintritt, ist indes deshalb
unwahrscheinlich, weil gerade der Gegensatz, den nun jede der so
ausgebildeten Wollungen an einer anderen findet, auch sie in sich nicht zu
jener Einheitlichkeit und Geradlinigkeit gelangen lassen und den leiseren
oder stärkeren innerlichen Dualismus, der dem gegenüber die Pflicht als
solche charakterisiert, lebendig erhalten wird.
Ich habe den Konflikt der Pflichten mit relativer Ausführlichkeit und
am Schlusse dieser Erörterungen behandelt, weil kein Problem der Ethik
bisher so vernachlässigt worden ist, wie dieses, und weil gegenüber den
Apotheosen, in die viele monistische Moralphilosophien ausmünden und die
aus Wirklichkeitsschilderung, frommen Wünschen und Zukunftshoffnungen,
nicht immer in reinlicher Scheidung, komponiert sind, die deskriptive
Ethik durchaus zu betonen hat, dass die tatsächliche Entwicklung viel
eher auf den steigenden Konflikt der Pflichten als auf deren
Vereinheitlichung Anweisung gibt.
Die Deutungsversuche des ethischen Lebens haben sich in einer
eigentümlichen Form entwickelt.
Die Prozesse, die durch das Sollen oder die sittlichen Werte positiv
oder negativ bestimmt werden, hat man in eine Vielheit allgemeiner
Begriffe auseinandergelegt, die als gesonderte Wesenheiten auftraten, und
hat damit eine völlig falsche Vorstellung von den ethischen Handlungen
erzeugt, die tatsächlich aus einem Kontinuum mannigfaltigster, ineinander
verschlungener Elemente bestehen.
Unter Begriffe wie Egoismus und Altruismus, Glückseligkeit und
Vernunftmässigkeit, Persönlichkeit und Freiheit, Verpflichtung und
Charakter, Naturgemässheit und Religiosität usw., hat man das sittliche
Leben sozusagen aufgeteilt" und einerseits eine beschreibende,
andrerseits eine kausal erklärende Charakteristik des ethischen Handelns
durch sie herzustellen gesucht.
In den hier vorliegenden Untersuchungen habe ich nun zu zeigen
versucht, dass jeder dieser ethischen Grundbegriffe eine Anzahl
heterogener (<424) Inhalte und Bedeutungen einschliesst, dass sie teils
rohe Zusammenfassungen der Erscheinungen, teils blosse Namen für
dieselben sind, welche vermöge der im Platonismus typisch gewordenen
Täuschung als ihre erklärenden Ursachen auftreten.
Die Konstruktion der ethischen Welt aus ihnen hat im Verhältnis zu
einem wissenschaftlichen Verständnis derselben keinen grösseren
Erkenntniswert, als die Lehre von den vier Elementen im Verhältnis zur
modernen Chemie.
Der Charakter der ethischen Allgemeinbegriffe - dass sie keine realen
und einheitlichen Kräfte bezeichnen sondern eine Mannigfaltigkeit solcher
nach zufälligen Berührungspunkten oder nach dem Eindruck auf ein
urteilendes Subjekt zusammenfassen - dieser Charakter erklärt einerseits,
wie man zur Beschreibung und Idealsetzung des Sittlichen jedes beliebige
Verhältnis der Harmonie, Identität oder Gegensätzlichkeit jener
Begriffe konstruieren konnte; er fordert aber nun andrerseits, dass die
Moralwissenschaft zu der Beschreibung der wirklichen Vorgänge des
sittlichen Lebens vorschreite, wie Geschichte und Statistik, Sprach- und
Rechtsvergleichung, empirische Psychologie und Besitzlehre sie allmählich
ermöglichen werden.
Es wurde kürzlich eine Enquête in einigen deutschen Städten
angestellt, um den Einfluss der Beschäftigung der Schulkinder mit
Kegelaufstellen, Hausieren, Austrägereien usw. auf ihr Verhalten in der
Schule und ihre Fortschritte zu ermitteln; obgleich die Resultate sehr
unerfreuliche waren, haben die kommunalen Organe, die die Enquête
veranlassten, von einem generellen Verbot dieser Kinderbeschäftigungen
abgesehen, um den Erwerb der betr. Familien nicht zu sehr zu schädigen.
Dass die genaue Darstellung einer solchen Enquête und ihres Schicksals
einen tieferen wissenschaftlichen Einblick in das Verhältnis von
Intellektsbildung und persönlicher und sozialer Sittlichkeit gewährt,
als die tiefsinnigsten prinzipiellen Erörterungen, die mit diesen
abstrakten Begriffen als solchen operieren, ist mir unbezweifelbar.
Die (<425) Geschichte der englischen Fabrikgesetzgebung, belehrt uns
besser über das Verhältnis von Egoismus und Altruismus, als die
scharfsinnigste Zergliederung dieser Begriffe; und die Beziehungen
zwischen Religion und Sittlichkeit werden durch keine noch so sinnige
philosophische Konstruktion so geklärt werden können, wie durch eine
ethnologische Untersuchung über die gegenseitige Beeinflussung ihrer
ursprünglichsten Formen.
Durch die Anwendung jener allgemeinen Begriffe, die, nach gewissen
hervorstechenden, aber immer einseitigen Qualitäten der Handlungsweisen
gebildet, als Ursachen dieser letzteren gelten, wird das sittliche Leben
für seine kausale Erklärung und Darstellung gleichsam in eine Reihe
gesonderter Provinzen geteilt.
Sie werden das Schicksal der alten Temperamentenlehre haben, die sich
schliesslich der Wahrheit nicht entziehen konnte, dass in jedem Naturell
alle Temperamente vereinigt sind.
Alle jene Begriffe: Schuld und Verdienst, Selbstsucht und
Selbstlosigkeit, Glücksstreben und objektive Zielsetzung,
Vernunftmässigkeit und Sinnlichkeit, relativer und absoluter Wert - sind
aus jeder Handlung herauszuanalysieren, jede ist aus ihnen gemischt, wie
und weil auch jeder von ihnen eine grosse Anzahl sehr mannigfaltiger
Elemente, und Beobachtungen in sich vereinigt.
Werden diese zusammenfassenden und deshalb gegen einander isolierten
Begriffe aufgelöst, werden die einzelnen Elemente des sittlichen Lebens,
nach seiner psychischen, historischen und sozialen Seite, und ihre realen
Verbindungen aufgezeigt, so wird wahrscheinlich eine sehr viel
entschiedenere Einheit des Gebietes hervortreten.
Denn einmal wird sich dann zeigen, dass die ihrem Eindrucke nach
verschiedenartigsten Handlungen doch aus den gleichen Elementen kombiniert
sind; und zweitens werden die begriff lieben Zusammen- Entgegensetzungen
zwischen jenen ethischen Allgemeinheiten durch die zwischen ihren relativ
einfachen Teilen herrschenden, jeden mit jedem (<426) verbindenden
Gesetzlichkeiten psychologischer und soziologischer Art ersetzt werden -
gerade wie man die Einheit und reale Verwandtschaft der organischen Welt
erst erkannt hat, indem man die alten Artbegriffe beseitigte, deren jeder
eine Anzahl von Lebewesen, unter unbilligem Übersehen ihrer
Verschiedenheiten, vereinheitlichte, während die Arten selbst
gegeneinander, unter unbilligem Übersehen ihrer Gleichheit, als Produkte
gesonderter Schöpfungsakte isoliert wurden.
Und wie man diese Zersplitterung der natürlichen Welt dadurch zu
versöhnen suchte, dass man in dem Begriff Gottes ihr eine ideelle Einheit
überbaute, so hat man die Gegensätze und Isolierungen, die sich in der
Bildung allgemeiner ethischer Begriffe ergaben, durch den Begriff des
einheitlichen Endzwecks gutzumachen gesucht.
Diese Vereinheitlichung ist nicht weniger gewalttätig als jene Setzung
getrennter Elemente.
Wie in praktisch-sozialen Verhältnissen sich ein umfassendes Ganzes
erst dann aus den Sondergruppen primitiver Sozialisierung herstellt, wenn
das Individuum, dein diese frühere Form Gewalt antat, zu vollem Recht und
Ausbildung gelangt: so werden im ethischen Erkennen diejenigen allgemeinen
Gesetze, die das sittliche, bez. das soziale und religiöse Leben der
Menschheit vielleicht als eine zusammenhängende, umfassende Entwicklung
aufzeigen können, sich jedenfalls erst herausstellen, wenn den einzelnen
historischen Tatsachen der inneren und äusseren Sittlichkeit die
speziellste und individualisierendste Untersuchung zu Teil geworden ist.
Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Vorworte
Band 1:
1.
Kapitel: Das Sollen
2.
Kapitel: Egoismus und Altruismus
3.
Kapitel: Sittliches Verdienst und sittliche Schuld
4.
Kapitel: Die Glückseligkeit
Band 2:
5.
Kapitel: Der kategorische Imperativ
6.
Kapitel: Die Freiheit
7.
Kapitel: Einheit und Widerstreit der Zwecke
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