Universität Zürich Soziologisches Institut der Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser

 
presents: Georg Simmel Online

  Sociology in Switzerland   Georg Simmel Online G.Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft

 

Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe

Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93

Band 1: Drittes Kapitel: Sittliches Verdienst (S. 213-292)

Der Kampf gegen die Versuchung als Bedingung des Verdienstes

Die Askese

Die schöne Seele

Der Wert der Gesinnung

Die Umbildung des Unsittlichen in Sittliches

Zurechenbarkeit der Gefühle

Der Übergang vom Triebe zur Tat

Der Antrieb zum Guten als Bedingung der Schuld

Gegenseitige Bedingtheit von Verdienst und Schuld

Der Charakterbegriff

Substantialisierung des Sittlichen und Unsittlichen

Folgerung für den Freiheitsbegriff

(<213) Der Sprachgebrauch verbindet mit dem Begriff des Verdienens den der Tätigkeit und der Bemühung.

Ein verdientes Geld ist von dem geschenkten, ererbten, zufällig gewonnenen durch das Moment des Kraftaufwandes scharf unterschieden, für den es das Äquivalent bildet.

Freilich scheint das Verdienen einen doppelten Sinn zu haben: man verdient dasjenige, was man wirklich als Lohn erhält; man verdient aber auch dasjenige, was man zu erhalten würdig wäre, wenn man es tatsächlich auch nicht erhält.

Indessen ist diese letztere Bedeutung offenbar nur ein Abkömmling der ersteren; indem in der Mehrzahl der Fälle der soziale Kreis auf eine bestimmte Tat mit einem bestimmten Entgelt an Lust oder Schmerz antwortete, heftet sich an die Hat an und für sich die Vorstellung einer gewissen Dignität.

Wenn ich z. B. sage, dass ich meine Ehre noch besitze, wenngleich die öffentliche Meinung sie mir abgesprochen hat, so bedeutet dies, dass in anderen Fällen jemand, der das Gleiche wie ich (<214) getan hat, die äussere Ehre nicht verloren habe oder dass, wenn mein Handeln unverfälscht und durchsichtig aufgedeckt werden könnte, mir die gesellschaftliche Ehre erhalten bliebe; immer ist es die Erfahrung von dem wirklichen Sichentsprechen von Tat und Verdienst, welche auch für die Fälle ihres tatsächlichen Auseinanderfallens die Beziehung zwischen ihnen stiftet.

So ist das Verdienst gewissermassen die Rückseite, das Korrelativ des Sollens, es bedeutet, dass Andere mir gegenüber etwas tun sollen, bedeutet den Anspruch an die Ordnung der

Dinge, mir etwas zu gewähren, nachdem ich etwas zum Vorteil ihrer getan habe.

Dies eben ist der Begriff des sittlichen Verdienstes; die reale Entlohnung, die der sozial nützlichen Tat zu folgen pflegte, ist in ihm vergeistigt.

Das sittliche, ideale Verdienst bedeutet, dass man des realen Verdienstes würdig ist.

Aber weil doch das wirkliche Verdienst, d. h. das Erhalten einer Entlohnung für die Tat es ist, woraus der Begriff des sittlichen Verdienstes entsprang, so gilt für ihn das gleiche Charakteristikum, das wir anfangs von jenem hervorhoben.

Schon das Wort Verdienst weist darauf hin, dass damit keine Eigenschaft der Tat gemeint ist, welche sozusagen in ihr selbst verbleibt und sie ohne Beziehung auf ein anderes, ohne Heraustreten aus ihr selbst charakterisiert.

Es wird mit der Tat eben etwas anderes »verdient.« Auch dies gibt Anweisung auf die Auffassung, dass die verdienstvolle Tat und ihr Lohn nicht von einander unabhängige und erst in synthetische Verbindung zu setzende Begriffe sind, sondern dass man gewisse Taten, auf die von Seiten der Gesamtheit mit Lohn reagiert wurde, verdienstvolle nannte.

Ganz entsprechend hat man das Verbrechen juristisch definiert als eine mit öffentlicher Strafe belegte oder strafgesetzwidrige Handlung.

Die tatsächlich eintretende soziale Reaktion schafft ursprünglich diese Kategorien; erst später heften sie sich an die Qualitäten des Handelns selbst, auf die hin jene eintraten, und bezeichnen die Tat, auch wenn jene Reaktion tatsächlich nicht stattfindet.

(<215) Es gibt glückliche Lagen, in denen der unausweichliche Gang der Dinge oder die Verfolgung eigenen Vorteils uns die Mühen der Tugend abnehmen und die sittliche Handlung sich in höherem Masse als die Frucht darstellt, die die Gunst harmonischer Verhältnisse uns in den Schoss wirft, als dass es einer besonders auf sie gerichteten Bemühung bedurft hätte.

In solchem Falle pflegen wir gerade hervorzuheben, dass es hier »weiter kein Verdienst« gewesen sei, das Rechte zu tun.

ist demnach ein bestimmter Aufwand von Kraft erforderlich, damit es zum Verdienst komme, so setzt dies einen Widerstand voraus.

Denn Kraft wird nur da aufgewendet, wo ein Widerstand zu überwinden ist.

Wie wir ein kriegerisches Verdienst dann nicht zugestehen, wenn der Feind schwach und kraftlos war, so sittliches nicht, wenn es keinen Feind zu überwinden gab.

Dieser Feind kann aber offenbar nur die Versuchung zu der entgegengesetzt gerichteten, zur unsittlichen Tat sein.

Denken wir uns den Zustand einer paradiesischen Idylle, in dem gar keine unsittlichen Triebe, keine wilden Leidenschaften, keine Versuchungen zu frevelndem Egoismus vorhanden sind - wer würde da von Verdienst sprechen? Von Leuten geringerer Bildung, aber von tiefem sittlichem Gefühl habe ich es aussprechen hören, die Sündenlosigkeit Jesu flösse ihnen keine besondere Bewunderung ein, da er ja als Gott gar nicht in die Versuchung zu sündigen gekommen sei.

Der feine Takt, der sich in der Mythenbildung der Völker ausspricht, hat, um auch dies Wertmoment in ihrem sittlichen Ideal nicht zu vermissen, die Versuchungsgeschichte Jesu konstruiert.

Die völlige Ergebung in seinen sittlichen Beruf erhebt sich erst über einer Überwindung und Zurückweisung von Antrieben, die doch offenbar ein Mass von Reiz, von Möglichkeit, ihn für sich zu gewinnen, nicht von vornherein können von sich ausgeschlossen haben.

Auch die Buddhisten lassen ihrem Heiland einen Versucher nahen, der ihn von seiner mühseligen Bekehrerlaufbahn in die selige Ruhe des Todes (<216) locken will, ein Mythus, den die Gläubigen selbst als blosse Symbolisierung eines inneren Vorgangs in seiner Seele deuten, wie sie denn auch hervorheben, dass die Trennung von seinem Weibe und seinem Sohn, die um seiner Mission willen nötig erschien, ein Opfer war, das ihm keineswegs leicht wurde.

Von Zarathustra, an dessen Person sich sonst so gut wie keine Mythen knüpfen, wird doch wenigstens diese überliefert, dass vor Beginn seiner Laufbahn Ahriman sich ihm genähert und ihn versucht habe, statt der reinen Lehre Ahuramazdas lieber irdisches Glück und die Herrschaft des Landes zu gewinnen.

Und wenn Tertullian den Ruhm Gottes dadurch vermehrt glaubt, dass er sich bei der Schöpfung der Welt gemüht und angestrengt habe, so entspringt dies dem gleichen Gefühl.

Über den Ursprung desselben sind wir natürlich auf Hypothesen angewiesen.

Da die Forderungen der Sittlichkeit, insbesondere die sozialen Ansprüche an den Einzelnen sich nicht in durchgängiger Harmonie mit dem persönlichen Interesse vollziehen, da tatsächlich die altruistische Handlung unzählige Male nur durch Aufgeben und Niederkämpfen egoistischer Antriebe möglich war, so ist es psychologisch sehr wohl erklärlich, dass sich der Wert der positiven sittlichen Tat auch auf ihre so häufige Begleiterscheinung der Aufopferung und des Niederkämpfens entgegenstehender Unsittlichkeit übertragen hat, und dass diese schliesslich die Vorstellung des wesentlichen sittlichen Wertes um so eher auf sich ziehen konnte, als es gerade die grössten und bemerkenswertesten sittlichen Taten waren, mit denen diese Art und Ursache von Wert in hervorragendem Masse verbunden war.

Sehen wir, welche grausamen Opfer oft die wirkliche oder vermeintliche öffentliche Wohlfahrt in roheren Epochen vom Einzelnen forderte, welche Leiden der Despotismus oft grade da, wo er die Interessen des sozialen Ganzen in sich repräsentierte, über die Einzelnen brachte; sehen wir andrerseits, wie das Sittliche seinen Inhalt von dem Interesse der Gesamtheit und den von ihm auferlegten Vorschriften entlehnte: so ist (<217) es verständlich, wie sich an die Vorstellung des sittlichen Tuns ein Schatten von Schmerz, Aufopferung und Überwindung heften konnte.

Das Lebensopfer Christi und die Märtyrerzeit der christlichen Kirche müssen ganz besonders dazu beigetragen haben, solchen Handlungen, zu denen persönliche Überwindung, schmerzensvoller Verzicht auf die Reizungen des Lebens gehörte, den höchsten Grad der Anerkennung einzutragen.

Christus selbst begründet die höhere Verdienstlichkeit, die das Scherflein der Witwe gegenüber dem Opfer des Reichen hat, dadurch, dass dieser von seinem Überfluss gebe, jene aber deswegen Entbehrung und Not auf sich nehmen müsse.

Es war eine ganz neue Idee, die er durch seine Lehre und sein Leben in die Welt setzte, dass das Leiden und die Erniedrigung notwendige Durchgangspunkte für die Gewinnung der höchsten Ziele, ja sogar für die Herstellung der Mittel wären, welche uns subjektiv erst zur Gewinnung dieser Ziele dienen sollen.

Das Leiden wurde so die letzte auf Erden erklimmbare Staffel der Leiter, welche zum Höchsten führte.

Weder der Stoizismus noch der Neuplatonismus hatten dem Leiden, das sie doch auch als ein notwendiges erkannten, diese abschliessende Bedeutung gegeben.

Es war ihnen entweder etwas schlechthin Gleichgültiges, das durchgemacht werden musste, um eben seine Gleichgültigkeit oder um die Seelenkraft des Ertragenden zu beweisen; oder es war ein Durchgangspunkt, jenseits dessen man die Unzulänglichkeit des gewöhnlichen Lebens hinter sich liess, über den hinaus aber in jedem Falle ein positives, noch im Leben zu erreichendes Ideal lag.

Der Stoiker mochte hier und da mit dem Leiden kokettieren; zu jenem ethischen Wert, zu dem es im Christentum auswuchs, hat er es nicht erhoben.

Noch für die im Buche Hiob ausgedrückte Anschauung hat das Leiden zwar einen sittlichen Wert, insofern es der Prüfstein ist für die Unerschütterlichkeit des Glaubens an Gottes Macht und Gerechtigkeit; aber nur darin, nicht in seiner nach innen gehenden Wirkung liegt seine Bedeutung;(<218) nicht wegen seiner, sondern trotz seiner erhebt sich Hiob zur ethischen Vollkommenheit.

Die Demut, das Verfolgtwerden, der Tod selbst erhielten durch das Christentum eine ungeahnte ethische Weihe; indem es von vornherein die irdische Glücksfolge des Glaubens von sich abwies, vermied es die Gefahr der Kontrolle an der Erfahrung, die jeder Lehre einer diesseitigen Harmonie von Tugend und Glückseligkeit droht.

Der psychologische Prozess geht dann in derselben Richtung weiter, indem Selbstüberwindung und Schmerz im sittlichen Werte immer höher und schliesslich so hoch steigen, dass die positive Handlung, für die die Aufopferung ursprünglich nur Begleiterscheinung war, ganz zurücktritt und die Entsagung und Schmerzzufügung als sittlicher Selbstzweck, als für sich bestehendes Verdienst erscheint; dies ist der Standpunkt der Askese.

Was aber die Kirche zu der Betonung gerade des Leidens Christi bewegte, war wohl das Wissen um den viel tieferen Eindruck, den schmerzliche Vorstellungen, allen andern gegenüber, machen.

Die unvergleichliche Intensität gerade der Schmerzempfindung liess sogar zur bildlichen Einprägung des Christentums ausschliesslich Marter und Tod Jesu geeignet erscheinen.

Was weiss der ungebildete Katholik auf dem Lande anderes von Christus, als dass er der Kruzifixus ist, dessen Marterbild ihm an jeder Wegekreuzung vorgehalten wird? Kein Moment seiner Lehre oder seines Lebens macht einen so scharfen, in das Gefühl sich einbohrenden Eindruck, keines ist von so entschiedener Wirkung auf Menschen, auf die nur sinnlich einzuwirken ist, wie das Bild seiner Leiden.

Einen gleich feinen psychologischen Zug fügt die Kirche in der Forderung des asketischen Opfers diesem Interessenkreise hinzu.

Denn die Aufopferung für eine Person oder ein Prinzip hat tatsächlich die Folge, uns innerlich immer fester an eben dieses zu knüpfen.

Wenn die Mutterliebe die Veranlassung der unzähligen Mühen und Sorgen ist, die die Mutter für das Kind auf sich nimmt, so gilt doch auch das umgekehrte: diese Opfer fesseln die Mutter mehr (<219) und mehr an das Kind.

Je mehr Opfer wir für eine Sache gebracht, ein je grösseres Kapital sozusagen wir in sie gesteckt haben, desto grösser ist auch unser Interesse an ihr; indem wir unser Persönliches ihr hingeben, schmelzen wir uns gewissermaassen in sie ein, negieren die Schranke zwischen uns und ihr.

Es ist eine der wichtigsten, für das Verständnis der ethischen Vorgänge unentbehrlichsten Regeln: die Gefühle, welche Ursache gewisser Handlungsweisen sind, werden umgekehrt ihrerseits durch diese Handlungsweisen hervorgebracht, wenn diese letzteren durch irgend welche anderweitigen Motive erzeugt worden sind - eine Regel, die selbstverständlich der Bedingtheit jeder psychologischen Norm unterliegt, indem in den Grenzfällen, in denen ein Element zu extremer Form gesteigert ist, die entgegengesetzte Wirkung eintreten kann; ein allzustarker äusserer Zwang zu Aufopferungen z. B., kann zu dem Gefühl des Hasses führen.

Im Allgemeinen aber werden diejenigen Opfer, die aus äusserlicheren, egoistischen, evolutionistischen Motiven dargebracht werden, den Opfernden schliesslich auch in ein Gefühlsverhältnis zu dem, dem er sich hingibt, setzen.

Je mehr das ursprüngliche Ich seine persönlichsten Interessen einer Person oder einem Gott geopfert hat, desto geringeren Widerstand finden die Gefühlsimpulse, die ebendemselben die Gesamtheit des innern Lebens darbringen wollen.

Die Kirche handelt, wenigstens mit unbewusster Zweckmässigkeit, wie aus der Erkenntnis heraus, dass wir nicht nur die asketisch religiösen Opfer bringen, weil wir Gott lieben sondern dass wir ihn auch lieben, unser Gefühl an ihn binden, weil wir ihm - aus dogmatischen, eudämonistischen, welchen Gründen immer, - solche Opfer bringen.

Wie der Wert im wirtschaftlichen Sinne sich nach den beiden Momenten der Brauchbarkeit des Dinges und des Widerstandes, der sich seiner Erlangung entgegensetzt, bestimmt, ganz ebenso der Wert im sittlichen Sinne nach der sozialen, religiösen etc. Nützlichkeit der Tat und der subjektiven Mühsal und zu überwindenden Schwierigkeit.

Wie (<220) aber das Seltenheitsmoment eine psychologische, sachlich ungerechtfertigte Selbständigkeit derart gewinnt, dass dem Seltenen, schwer zu Erlangenden schon bloss als solchem oft ein übermässiges Interesse entgegengebracht wird, so verselbständigt sich nach den gleichen psychologischen Normen das Moment der Mühsal, des inneren Widerstandes bei den sittlichen Handlungen zu der Vorstellung einer besonderen Verdienstlichkeit.

Es hat hier nur wieder der unendlich häufige psychologische Prozess stattgehabt, der den Wert eines Endzwecks auf das zu ihm erforderliche Mittel überträgt.

Dies findet sowohl für die Werte der Lust wie für die Werte der Sittlichkeit statt.

Das Überwinden der Hemmnisse, welche die Natur unseren Zwecken entgegensetzt, ist zwar ursprünglich ein notwendiges Übel, wächst aber wie jede Kraftübung zum Selbstzweck, sei es der Lust, sei es der Sittlichkeit, aus.

Dies steigert sich z. B. bis zur Alpenleidenschaft, deren wesentlicher Reiz in dem Überwinden der natürlichen Schwierigkeit, in dem Gewinnen des eigentlich von der Natur uns Versagten auch dann liegt, wenn die schliessliche ästhetische Ausbeute höchst gering ist.

Und neben diesem Reiz findet sich bei allen Verteidigern der Alpenmanie der moralische Gesichtspunkt hervorgehoben: die Besiegung der natürlichen Hemmnisse, die Unterwerfung des rohen Widerstandes der Materie durch den Menschen sei sittlich wertvoll.

Weil sie es wirklich in andern Fällen vielfach ist, erwächst ihrer Wertschätzung eine solche Selbständigkeit, dass die Unsittlichkeit, welche in dem tollkühnen Lebensrisiko der grossen Alpenbesteigungen liegt, darüber vollkommen übersehen wird.

In ansprechender Weise hat man den Ursprung des Fastens von den religiösen Opfern hergeleitet, deren Umfang namentlich in primitiveren Verhältnissen oft persönliche Entbehrungen mit sich bringen musste; so dass durch die Assoziation zwischen diesen und dem Opfer der moralisch religiöse Wert des letzteren sich auch auf sie übertrug.

Derselbe Prozess wiederholt sich auf einer höheren Stufe.

Das christliche Fasten hat ursprünglich den Sinn, den (<221) Fastenden als den Herrscher über sein Irdisches erscheinen zu lassen, was nach verschiedener Richtung hin seine gute Bedeutung hatte, sei es, dass das Fasten die Folge der in sich versunkenen Stimmung war, welche einfach die leiblichen Bedürfnisse überhörte, sei es, dass der Geist durch solche Entsagung freier und den höheren Gütern empfänglicher gemacht werden sollte.

Allein hieraus bildete sich schon in der Zeit Tertullians ein für sich bestehender religiöser Wert des Fastens heraus.

Es wird zum unmittelbaren Gradmesser der Vollkommenheit und man behauptet, Fasten und Essen verhielten sich wie Heil und Unheil.

Mit der christlichen Virginität ist es nicht viel anders.

Für die frühere Anschauung von Paulus bis zum 4.Jahrhundert ist die Jungfrauschaft nicht an sich sittlicher oder verdienstlicher als der Ehestand, sondern befähigt nur besser zum ungehinderten göttlichen Dienste; sie erscheint nur als ein Mittel zu diesem Zweck, nicht als sittlich asketischer Endzweck.

Dass die Befreiung vom Irdischen mit seinen Sorgen und Ablenkungen, indem sie ein Vehikel der Erhebung zu Gott war, der Ehelosigkeit ihre Würde verschaffte, nicht aber die Überwindung der Fleischeslust als solche, scheint sich auch darin zu zeigen, dass die Abstinenz in der Ehe mehrfach unter die vollkommene Ehelosigkeit gestellt wird, trotzdem jene offenbar eine grössere Selbstüberwindung forderte als diese.

Es dauerte aber nicht lange, bis man über das Mittel völlig den Zweck vergass und die geschlechtliche Enthaltsamkeit und die Abtötung des Fleisches als ein Verdienst betrachtete, dessen selbständiger Wert recht aus der berichteten Erscheinung hervorgeht, dass sich christliche Jünglinge und Jungfrauen zusammen schlafen legten, ohne sich zu berühren.

Und die Entsagung und Aufopferung mag zu einem für sich bestehenden und besonderen Werte um so mehr ausgewachsen sein, als sie die gemeinsame Begleiterin von vielen inhaltlich sehr verschiedenen Handlungen sittlichen Charakters war.

Die Entäusserung von den Besitztümern und den Genüssen des Lebens erschien schliesslich als selbständiges, (<222) sittliches Verdienst, ohne dass gefragt wurde, zu wessen Gunsten und ob überhaupt zu irgend jemandes Gunsten sie geschah.

Diese Entwicklung der Askese ist an der Geschichte des indischen Pessimismus klar zu beobachten.

Lange vor dem Auftreten Buddhas hatte die indische Weltanschauung die Vorstellung des Brahman als des ewigen, glanzvollen, guten Prinzips ausgebildet.

Diesem strahlenden Phantasiegebilde gegenüber erschien alle Wirklichkeit dunkel, nüchtern, leiderfüllt.

Daraus wird nun zunächst die praktische Konsequenz gezogen, dass die Befreiung von einer solchen Wirklichkeit, der Verzicht auf sie wünschenswert und nötig ist.

Dieses Stadium ist zu einer Zeit zu konstatieren, wo von positiver Askese als absichtlicher Schmerzzufügung noch nicht die Rede ist.

Von einer solchen vernehmen wir erst später.

Der Übergang zu ihr aber war offenbar der, dass jenes blosse Sichlösen von der Welt, wenn es auch in der Hauptsache ein Sichlösen vom Schmerz zum Zweck hatte, doch zunächst auch viele Leiden, namentlich körperliche Entbehrungen mit sich führen musste, und dass dieses Akzidenz der Lebensnorm zu selbständiger Bedeutung emporwuchs, zu demjenigen, worin man dann die Erlösung selbst schon sah, obgleich es eigentlich doch nur eine Bedingung derselben und zwar negativen Charakters war.

Macht man sich dies klar, dass das sittliche Verdienst, wenn es überhaupt noch einen besonderen Sinn neben dem einfach Richtigen und Sittlichen haben soll, von dem Masse der aufgewendeten Kraft und Selbstüberwindung abhängig ist, so ist der Grund ersichtlich, aus dem der Kantischen Ethik der Vorwurf eines asketischen Rigorismus erwachsen ist.

Kant hat zwischen dem einfach Guten, Wünschenswerten, Sittlichen einerseits und dem, was man Verdienst nennt, keine genügend scharfe Grenze gezogen.

Indem er voranstellt, dass man niemandem dasjenige, was er schon selbst gern tut, die egoistische Handlung, zu gebieten braucht und dies also aus dem Gebiet der Sittenlehre als der Lehre von Geboten von (<223) vornherein ausscheidet, so bleibt ihm für dieselbe nur das, was man ungern und mit Selbstüberwindung tut.

Setzte er deshalb überall statt des einfach Sittlichen das Verdienstliche ein, so wäre alles in Ordnung.

Wenn es in Schillers klassischem Epigramm den Gewissenhaften wurmt, nicht tugendhaft zu sein, weil er den Freunden mit Neigung dient, so hätte er vollkommen Recht, wenn er statt tugendhaft verdienstvoll sagte.

Denn sittlich richtig und wünschenswert ist es durchaus, den Freunden mit Neigung zu dienen; aber ein sittliches Verdienst dabei würde in der Tat nur eintreten, wenn die entsprechenden Taten eine Überwindung entgegengesetzter Triebfedern, eine Mühsal forderten.

Und wenn Kant selbst sagt, dass sich die Macht des moralischen Gesetzes nur durch Aufopferungen kenntlich macht, so ist dieses nur richtig, aber dann auch zweifellos richtig, wenn es sich auf den Begriff des sittlichen Verdienstes bezieht.

Es ist deshalb durchaus konsequent, wenn er dem eigentlichen Begriff des sittlichen Verdienstes die Berechtigung abspricht, da das Höchste, was man überhaupt tun könne, eben nur das Erfüllen von Pflicht und Schuldigkeit sei, - weil er in den Begriff des einfach Sittlichen schon das hineinlegt, was wir verdienstvoll nennen, bleibt ihm für diesen Begriff kein spezifischer Inhalt mehr übrig.

Objektiv freilich können wir nicht mehr tun als höchstens unsere Pflicht.

Alle Unterschiede, die ein Mehr oder Minder des Verdienstes bedeuten, gründen sich auf den bei der sachlich gleichen Pflichterfüllung wechselnden Grad der subjektiven Überwindung entgegengesetzter Antriebe.

In diesem Begriff, demgemäss der Sprachgebrauch das Verdienst nur als Preis einer Mühsal zuerkennt, liegt vielleicht eine unbillige Anmassung, ein besonderes Raffinement, dessen wir noch zur Steigerung unseres Selbstgefühles zu bedürfen glauben, wie die übermässigste Anspannung der Lust in die Wollust des Schmerzes endet.

Es mag sein, dass das Gefühl von Kraft, das uns aus der Überwindung von Widerstand (<224) quillt, eine Steigerung der Persönlichkeit mit sich bringt, deren Gefühl wir selbst um den Preis, nicht mehr kämpfen zu brauchen, nicht missen möchten.

Das Hochgefühl, das in der Herrschaft über andere Menschen, ja für manche Naturen in der Knechtung und Misshandlung derselben liegt, überträgt sich hier auf das Verhältnis des Handelnden zu sich selbst.

Wie es die eigene Persönlichkeit als eine gesteigerte empfinden lässt, wenn der eigene Wille den Willen Anderer bricht und so seine Machtsphäre über diesen ausdehnt, und solche Empfindung um so leidenschaftlicher und beseligender zu sein pflegt, als sie im Kampf und gegen höchstgesteigerten Widerstand erzielt worden ist: so scheint das Besiegen eines inneren Widerstandes ein Gefühl seelischer Erweiterung und Machtstärkung mit sich zu bringen.

Nun wird dieses Gefühl freilich dadurch herabgestimmt, dass wir doch zugleich selbst die Besiegten sind.

Allein nicht nur, dass dieser Abzug durch die Projizierung des Unterlegenen in uns auf eine äussere Macht - der Versuchung, des bösen Feindes, der Sinnlichkeit etc. -gemindert wird, sondern es ist ja die gerade überragende Vorstellungsgruppe, d. h. diejenige, die als das eigentliche Ich empfunden wird, durch welche diese Besiegung anderweitiger Triebe erfolgt.

Stellen wir, wie es tatsächlich der Fall ist, die kompakte Majorität unserer psychischen Inhalte als das Ich einzelnen divergierenden Strebungen gegenüber, so werden auch die Gefühlsfolgen, die sich an unsere Verhältnisse zu andern Persönlichkeiten knüpfen, sich leicht an den gleich charakterisierten Beziehungen zwischen dem Ich und jenen Einzelheiten wiederholen.

Daher auch die nicht seltene Erscheinung, dass die Askese, also die Überwindung und Misshandlung seiner selbst, sich mit Herrschsucht und Grausamkeit gegen Andere zusammenfindet; das gleiche Gefühl, um dessentwillen diese gesucht werden, macht auch jene reizvoll, indem sie das sonst nach Aussen gerichtete Verhältnis von Herrschaft und Ausbreitung der Willenssphäre des Ich innerhalb des Ich selbst darstellt.

Auf diesem Umwege wird (225) dann auch das logisch Widersprechende möglich, dass der Schmerz an und für sich gesucht wird; denn schliesslich wird auch das Moment des sittlichen Verdienstes, dessen Erwünschtheit den Wert des Schmerzes ursprünglich begründet, ausgeschaltet und dieser Wert zu einem unmittelbaren Willen zum Leiden verselbständigt.

Auch so mag dieser Wert des Schmerzes zu Stande gekommen sein, dass jede Lebenserhaltung und Lebenserhöhung nur durch die unmittelbarsten und ununterbrochenen Kämpfe gegen Wesen gleicher Art wie gegen die übrige lebendige und tote Natur möglich war oder ist, und dass dadurch die Vorstellung entstanden ist, nur das Erkämpfte, mühsam Errungene sei wertvoll.

Und offenbar sind die Empfindungen, welche einen äusseren Kampf begleiten, denjenigen ähnlich, welche bei jenem psychischen Prozesse, den wir eben Kampf mit uns selbst und Selbstüberwindung nennen, auftreten; so stark hat diese psychologische Ähnlichkeit der Gefühlsseiten beider Vorgänge gewirkt, dass wir zur Beschreibung der einen völlig an die Worte gefesselt sind, welche den Ausdruck für die andere bilden.

Es kommt hier vielleicht auch noch das folgende soziologische Moment in Betracht.

Die Ethnologie lehrt uns, dass die abergläubischsten Vorstellungen, die haarsträubendste Logik einerseits, andrerseits die schlimmste sittliche Verworfenheit und Grausamkeit sich keineswegs bei den allertiefststehenden Naturvölkern, sondern vielmehr bei beanlagteren und solchen findet, die schon einen gewissen Grad geistiger und gesellschaftlicher Ausbildung er reicht haben.

Gerade wo eine grössere und lebhafter bewegte Anzahl von Vorstellungen auftreten, muss zunächst ein wirres Durcheinander, müssen die wildesten und ausgefallensten Komplikationen sich finden, bevor Erfahrung und Selektion einigermassen Licht und Ordnung in das Chaos gebracht haben.

Die ausschweifendsten Gedankenverzerrungen finden sich auch in der Regel nicht in den leeren Köpfen von Bornierten und Dummen, sondern bei begabteren Naturen, deren Vorstellungsfülle die tollsten Gährungserscheinungen durchmachen muss, (<226) ehe sich das Licht von der Finsternis geschieden hat.

Die Immoralität und Grausamkeitswollust jener Völker mag in ähnlicher Weise entspringen.

Da diese ganz gewiss ursprünglich nur Mittel zur Befriedigung natürlicher Bedürfnisse und Begleiterscheinungen von Kämpfen innerhalb und ausserhalb des Stammes sind, die zu selbständiger Lust aufgewachsen sind, so treten sie nur da auf, wo vielfache Kämpfe und namentlich solche mit raffinierteren Mitteln zur Lebenserhaltung nötig sind.

Wenn unserer Empfindung nach der Einzelne den Weg zur Höhe seiner sittlichen Entwicklung nur durch jene Tiefen hindurch findet, so wiederholt er damit nur das Schicksal der Gattung, ungefähr wie in den kindlichen Ungezogenheiten sich die Unsittlichkeiten und Brutalitäten der vergangenen Entwicklungsstufe unserer Art wiederholen.

Es ist vielleicht eine sehr verdichtete Gattungserfahrung über den Weg, der zu unserer Kulturhöhe nötig war, wenn wir Sünde und Versunkenheit als die notwendigen Vorstufen der höchsten Sittlichkeit ansehen, und die ganz entsprechende, wenn das Volk recht ungezogene und unbändige Kinder für die hoffnungsvollsten hält.

Besteht nun die verdienstliche Seite des Sittlichen in der Überwindung des Unsittlichen, so erhöht sie sich natürlich in dem Masse, in dem das Unsittliche in uns schon an Umfang und Festigkeit gewonnen hat.

Von diesem Standpunkt aus verstehen wir auch rein ethisch den höheren Wert, der dem reuigen Sünder gegenüber den neun und neunzig Gerechten zugesprochen wird.

Für den Standpunkt des reinen Utilitarismus ist dieser Ausspruch entweder unverständlich oder höchst pessimistisch.

Denn ist das Quantum von Lust und Leid, das für die Gesamtheit vom Einzelnen ausgeht, das alleinige Mass seiner sittlichen Beschaffenheit, so bedeutete der Wertüberschuss des reuigen Sünders über neun und neunzig Gerechte, dass jener eine Sünder mehr Unheil über die Welt bringen kann, als neun und neunzig Sittliche ihr Vorteil bringen können.

Zu dieser Höherschätzung eines (<227) Lebens, das sich aus den Tiefen der Sünde zur Sittlichkeit emporgehoben hat, mag der Wert beitragen, den wir einem schicksalsreichen, in sich differenzierten Dasein gegenüber einem solchen beilegen, das bewegungsloser und ebener hingebracht wurde.

Die Form lebhafter Bewegung, entschiedenerer Differenzierung, die uns hier einen grösseren Wert zuerkennen lässt, bewirkt vielleicht das Gleiche auch auf dem Gebiete des Moralischen.

Indes scheint die psychologische Tatsächlichkeit mit dieser ausschliesslichen Abhängigkeit des sittlichen Verdienstes von Kampf und Überwindung noch nicht ganz übereinzustimmen.

Denn wir finden auch umgekehrt, dass gerade die leicht und frei geübte Sittlichkeit eine höchste Wertschätzung geniest, dass wir oft denjenigen tiefer stellen, der zu einer bestimmten sittlichen Tat erst eine Überwindung braucht, der seine Pflicht schwer und ungern erfüllt und in jedem einzelnen Fall erst eines besonderen Aufraffens dazu bedarf.

Vielleicht aber ist auch dieser Widerspruch gegen unsern Begriff des sittlichen Verdienstes nicht unauflöslich.

Wie nämlich der Musikvirtuose das einzelne Stück nicht mehr zu üben braucht, aber nur weil er vorher so viel geübt hat, dass er nun jenes leicht vom Blatt spielt; wie die Mühen und Betätigungen auf jedem Gebiet des Handelns den Widerstand der Schwäche und Ungeschicklichkeit nicht nur für den einzelnen Fall überwinden, sondern eine allgemeine Überwindung derselben und wachsende Erleichterung für jeden künftigen Vollzug der gleichen Prozesse bewirken; wie jede Anstrengung der Muskeln nicht nur dazu dient, eine vorgesetzte Arbeit zu leisten, sondern überdies noch eine Kräftigung der Muskeln selbst zur Folge hat, die sie zu späterer Arbeit in um so höherem Masse befähigt: so hinterlässt jede sittliche Selbstbeherrschung ausser ihrer sachlichen Folge noch eine Kräftigung unseres moralischen Wesens gegenüber dem Verlangen nach dem Verbotenen, so dass der einmal gewonnene Sieg über uns selbst dem zweiten den Boden bereitet. (<228)

Psychologisch wirkt hier besonders das Vertrauen auf die eigene sittliche Kraft, das nach jeder sittlichen Handlung wächst und dann selbst wieder zum Steigerungsmomente dieser wird.

Man kann sehr vieles, wenn man nur glaubt, dass man es könne, auch den eigenen Trieben gegenüber.

Im Moralischen gibt es keine Pyrrhussiege; wie Liebe sich stärkt, wenn man um ihretwillen Opfer bringt, ganz ebenso Sittlichkeit.

Schliesslich bedarf die Überwindung des Bösen keines erheblichen Kraftaufwandes im einzelnen Falle mehr, aber eben nur deshalb nicht mehr, weil diese Überwindung so oft geübt worden ist, dass sich schliesslich das Sittliche leicht und frei und wie von selbst vollzieht.

Und wie nun die Bewunderung für den Virtuosen die gleiche bleibt, auch wenn wir wissen, dass die Ausführung des Einzelnen ihm ein Spiel ist, wie sie aber gewiss nicht vorhanden wäre, wenn die Leistung überhaupt und für jeden und von vornherein ein Spiel wäre, so ist unsere Bewunderung für den ethischen Virtuosen offenbar nur deshalb keine geschwächte, sondern eine gesteigerte, weil wir ahnen und wissen, welche Mühen und Kämpfe allein zu dieser Höhe führen.

Darum haben höchste sittliche Taten und Charaktere so oft für unser Gefühl einen leisen tragischen Zug.

Wie in jenem Falle die Kunst unmittelbar als Natur erscheint, aber nur, weil Natur allmählich in Kunst umgebildet worden ist, so erscheint im Ideale des Heiligen Sittlichkeit als Natur, erscheint so aber nur dadurch, dass allmählich alles Unsittliche aus der Natur hinweggeläutert worden ist.

Wir können dies Erwerben einer festen substantiellen Sittlichkeit durch langdauernden Kampf um sie und fortwährendes Ausüben vergleichen mit jener Veränderung der Gesichtszüge, die sich bei hässlichen Personen schliesslich einstellt, wenn sie anmutig und Iiebenswürdig sind.

Die Form der Schönheit, welche die Bewegung ihrer Züge reguliert, - denn Anmut ist fliessende Schönheit; die Linien, deren Zugleichsein Schönheit ist, beschreibt die Anmut im Nacheinander der Bewegung - festigt sich schliesslich zu einem dauernden Verhältnis (<229) derselben untereinander, das nun für immer und auch in Ruhe den Charakter zeigt, den ihnen ursprünglich nur die Bewegung gab.

Man könnte sagen, die einzelne Tat zwar sei sittlicher, wenn ein Opfer, eine Überwindung ihr vorhergeht, der ganze Mensch aber, bei dem dies noch erforderlich ist, sei unsittlicher.

Es liesse sich auch so ausdrücken, dass die Tat eine Sittlichkeit erster Ordnung besitzt und doch eine Unsittlichkeit zweiter Ordnung beweist.

Auch wirkt wohl das Seltenheitsmoment mit, das in allen Wertbestimmungen, den materiellsten wie den geistigsten, nachweisbar ist: wer oft oder stets sittlich handelt, bei dem hat die einzelne sittliche Tat nicht mehr den Wert, den sie bei seltenerer Ausführung besitzt.

Und wie der einzelnen Vorstellung hier bei gleichem Inhalte ihr Wert durch die Beschaffenheit anderer bestimmt wird, ebenso dem Individuum der seinige durch die Verfassung der sozialen Gruppe, in der es lebt.

In einer Gesamtheit von niederer Sittlichkeit wird ebenderselbe Mensch schon als verdienstvoll gelten und mehr als seine einfache Pflicht zu erfüllen scheinen, dem bei höherem Durchschnittsniveau noch gar kein besonderes Verdienst zugesprochen wird.

Wie sich im Leben des Individuums die einzelne Tat als besonders sittlich heraushebt, aber nur auf Kosten seiner sittlichen Gesamtbeschaffenheit, so beweist auch das Verdienst, das die Persönlichkeit als ganze in ihrem sozialen Kreise erwirbt, eine entsprechend tiefere Sittlichkeit dieses Kreises.

Und so können wir im Gesamtgeist von einer Sittlichkeit verschiedener Ordnungen sprechen: es kann Individuen geben, die durch die Kraft, mit weicher sie sich über die Unvollkommenheit der hergebrachten Sittlichkeit erheben, besonders verdienstlich und damit gleichsam als ein Verdienst des Gesamtgeistes, der sie hervorgebracht hat, erscheinen.

Zugleich aber erweist dies doch eine niedrigere Sittlichkeit jenes Gesamtgeistes, der bei höherer Verfassung sittliche Individuen gleichsam selbstverständlich und als normales Resultat der öffentlichen Verhältnisse aus sich hervorgehen lässt. (<230)

Es kommt ein Moment sozialethischer Prophylaxis hinzu, um die Schätzung derjenigen Sittlichkeit zu erhöhen, die ohne vorherigen und jedesmaligen Widerstand unsittlicher Triebfedern geübt wird.

Das Vertrauen darauf, dass ein Mensch das Rechte selbst dann immer tun wird, wenn sich die Lockungen des Egoismus dem entgegenstellen und der fortwährenden Überwindung bedürfen, ist ein sehr begrenztes.

Wir wissen alle zu genau, wie unsicher der Ausgang eines Konflikts zwischen Pflicht und Herzenswunsch ist, um nicht das Prädikat vollkommener Zuverlässigkeit im Sittlichen dem zu verweigern, bei dem die rechte Handlung von dem Ausgang eines so zweifelhaften Kampfes abhängig ist.

Die soziale Nützlichkeit fordert deshalb eine möglichst konfliktfreie Sittlichkeit.

Das prophylaktische Bewusstsein, das sich statt auf die Beseitigung des Schlechten darauf richtet, dessen Ursache und höher aufsteigend die Ursache seiner Ursache zu beseitigen, legt allmählich den Wert weniger auf die einzelne Tat, deren Wiederholung im nächsten Falle zweifelhaft bleibt, als auf den Impuls, aus dem sie wie von selbst hervorgeht, und der, als die allgemeine und charakterologische Ursache jener, eine grossere Gewähr für die ihm folgende Tat gibt.

So sehr auch die Sicherheit für die Gesamtheit der äusseren Taten den einzigen vernünftigen Grund abgeben kann, aus dem die innere psychologische Beschaffenheit eine soziale Wertung fordern darf, so wird dieser Ursprung der letzteren doch völlig vergessen und der sittliche Impuls als solcher, die Liebe zum Guten als blosse innere Beschaffenheit steigt ohne bewusste Rücksicht auf ihre äusseren Folgen zum Range eines höchsten Wertes auf.

Es verhält sich mit dem Werte dieser Versuchungslosigkeit, dieser Einheitlichkeit im Guten, wie mit dem Werte der Gesinnung überhaupt.

Wenn uns die einzelne Handlung gleichgültig erscheint gegenüber der Gesinnung, aus der sie hervorgegangen ist, so scheint mir dieser überwiegende Wert der letzteren nur darauf zu beruhen, dass sie uns die Garantie auch für alle andern Handlungen (<231) derselben Person gibt; nur das Moment der Quantität scheidet in dieser Hinsicht die einzelne Handlung von der Gesinnung, die sich doch als wertvolle schliesslich auch nur in einzelnen Handlungen bewähren kann.

Jene verhält sich zu dieser wie das Einzelding zum Begriff, wie der Einzelvorgang zum Gesetz, und ähnliche Reize, wie dem letzteren, haben auch der Gesinnung ihren Vorzug verschafft.

Und dann lag es psychologisch nahe, der Gesinnung, dem guten Willen einen von allen Handlungen überhaupt unabhängigen Wert zu geben, wie ihn Plato dem Begriff jenseits der Einzeldinge gab.

Hierdurch scheinen wir aber in Verwandtschaft mit jener flachen Aufklärung zu geraten, die ganz befriedigt ist, wenn sie einen höheren Begriff auf einen niedrigeren zurückgeführt hat und nicht einsieht, dass das Problem und seine Schwierigkeit nun an diesem letzteren ebenso haftet wie an dem ersteren, jenem von Kant verspotteten Empirismus vergleichbar, der seine Forschung unter Abweisung jeglicher Metaphysik ausschliesslich auf das Einzelne richtete und nur nicht sah, dass er in diesen empirischen Einzeluntersuchungen fortwährend von den höchsten metaphysischen Prinzipien Gebrauch machte.

Deshalb muss allerdings anerkannt werden, dass der Wert, der auf die innerliche seelische Verfassung gelegt wird, noch keineswegs völlig erklärt ist, wenn man ihn auf den Wert der äusseren Taten zurückführt, für die jenes Innerliche die Ursache bildet.

Denn dass diese äusseren Taten der Sittlichkeit einen Wert besitzen, mag für die populäre Anschauungsweise kein Problem mehr sein, kann aber der tieferen Prüfung keine andere Beglaubigung aufweisen, als die Wertschätzung des Seelisch-Innerlichen sie besitzt.

Dass wir auf irgend etwas überhaupt Wert legen, ist im letzten Grunde eine jenseits aller Deduktionen stehende, unverantwortbare Tatsache des Willens und wenn sich dieselbe auf subjektiv seelische Vorgänge richtet, so ist sie genau so erklärlich oder unerklärlich wie in Beziehung auf äusserliche Handlungen.

Es ist das (<232) ganz gleiche Verhältnis wie in der berühmten Frage: ob das Papiergeld definitiv an die Stelle des Metallgeldes treten könne, die die meisten Volkswirtschaftslehrer verneinen, da ja das Papier kein objektiver Wert sei und nur durch subjektive Übereinkunft, aber nicht an und für sich einen solchen repräsentiere.

Sie vergessen dabei, dass Wert überhaupt nichts Objektives ist, dass weder Gold noch Silber, weder Nahrung noch Kleidung an und für sich Wert besitzen, sondern denselben erst im subjektiven Prozess ihrer Schätzung erhalten, wie die Fälle beweisen, wo die Askese oder sonstige psychologische und soziale Umstände sie tatsächlich als wertlos erscheinen liessen oder genauer ausgedrückt, sie wertlos machten.

Es liegt deshalb kein logischer Grund vor, diese Schätzung nicht auch gegenüber einem beliebigen Stück gestempelten Papiers vorzunehmen - nicht als würde ihm damit die Eigenschaft objektiven Wertes verliehen, die es nun andern, mit solchem begabten Gegenständen gleichstellte, sondern weil auch diese durch keinen anderen Prozess als eben den des menschlichen Willens zu Werten geworden sind.

In unserem Falle ist deshalb der Beweis, der Wert der Gesinnung stamme aus dem Wert der Taten, die sie hervorruft, erstens insofern keine völlige Erklärung, als die Wertschätzung dieser letzteren selbst eine letzte ungeklärte Tatsache ist; und zweitens kein Gegenbeweis gegen die Möglichkeit, dass das Innerliche den Rang eines an und für sich seienden Wertes ebenso und zu gleichen oder besseren Rechten erhalte.

Hier sind wir allerdings an dem Punkt angelangt, wo jede historische oder psychologische Deduktion ihre Grenze findet.

Von gegebenen Zuständen und Bestimmungen leitet sie zu andern über, ohne dass der Inhalt, dessen Transformationen sie beschreibt, darum ein Problem zu sein aufhörte.

Die Gesamtheit des Gebietes, innerhalb dessen die Vorgänge ihre Träger und die Subjekte ihre Funktionen wechseln, ist für diese Einzelheiten die allgemeine Voraussetzung, aber nicht Gegenstand (233) einer Erklärung.

Darunter ist natürlich nicht die abstrakte Allgemeinheit verstanden, als besässen die Allgemeinbegriffe noch eine zu berücksichtigende Wirklichkeit jenseits der Einzeldinge; sondern nur etwa dies, dass das Leben überhaupt vorausgesetzt wird, wenn über organische Evolution gehandelt wird; oder die Möglichkeit eines Erkennens überhaupt, wenn einzelne Gegenstände erkannt werden sollen, und ähnliches.

So geben psychologische Ausführungen im Ganzen nur die Gelegenheitsursachen an, die gewisse vorhandene Kräfte entfesseln; sie beschreiben das Auftauchen und Ineinanderübergehen psychischer Funktionen, die aber ihrem Wesen nach schon vorausgesetzt werden; und die Resultate und Vereinheitlichungen, die sie auf dem psychischen Gebiet gewinnen, entstammen viel weniger zwingenden Kausalprozessen, als methodischen Bedürfnissen und analogisierenden Übertragungen aus andern Erkenntnissen.

Wenn wir deshalb die Schätzung der Gesinnung, die wir als unmittelbare Bewusstseinstatsache vorfinden, auf die Schätzung ihrer äusseren Erfolge zurückführen, obgleich diese in dem sittlichen Bewusstsein jener gegenüber ganz zurücktritt, so ist dies auch nur eine Folgerung aus dem allgemeinen methodischen und empirischen Prinzip, dass feinere, allgemeinere und geistigere Ideen am besten aus greifbareren, einzelnen und äusserlicheren Eindrücken hergeleitet werden, wenn dies auch den eigentlichen ideellen Gehalt, der von der speziellen in die allgemeinere Form übergeht, hier also das Gefühl des Wertes überhaupt, noch nicht erklärt.

Für die historische Betrachtung hat aber bei dem Verhältnis des Innern und des Äussern der Sittlichkeit die völligste Verschiebung des Wertes stattgefunden; vielleicht in keinem

andern teleologischen Prozess hat die Bedingung eines Erfolges, die noch dazu weder unbedingt nötig noch unbedingt sicher ist, den Erfolg selbst zu so völliger Nichtigkeit und Gleichgültigkeit herabgedrückt.

Wenn Kant eine zweifellos sehr verbreitete Empfindung in den Ausdruck fasst, dass nur diejenigen Taten (234) sittlichen Wert haben, bei denen das Pflichtbewusstsein einzige Triebfeder war; wenn ihm die Tat selbst, ihrem materialen Inhalte nach, sittlich ganz gleichgültig erscheint und es ausschliesslich auf den Willen, mit ihr unsere Pflicht zu tun, ankommt - so verhält sich dieses innerliche Wollen der Pflicht zum Wollen der äusseren Tat auch nur wie das Allgemeine zum Einzelnen.

Wenn eine Reihe von Handlungen, die ursprünglich aus den verschiedensten Motiven und Beziehungen hervorgegangen sind, eigne sittliche Billigung erfährt, so wird es freilich das sicherste Mittel zur Erzeugung durchgehendes sittlichen Handelns sein, dass man diese eigne sittliche Billigung zum Motiv des Handelns macht, gerade wie wir am sichersten sein können, dass unsere Hervorbringungen ästhetisch befriedigend sein werden, wenn wir keine andere Eigenschaft der Produkte als gerade nur die Schönheit uns zum psychologischen Motiv des Hervorbringens überhaupt werden lassen.

Erklärlich aber wäre der Wert einer solchen rein ästhetischen Motivierung unseres Handelns doch nur aus dem der einzelnen schönen Produkte, die aus ihm hervorgehen.

Wenn man demnach dem »guten Willen«, sei es zum Ästhetischen oder zum Sittlichen, seinen Wert selbst dann belässt, wenn er ein Hässliches oder Schädliches produziert hat, so liegt das an der relativen Seltenheit dieses Falles, grade wie das geltende Recht darum noch nicht seinen idealen Wert verliert, weil es gelegentlich einmal einen ungerechten Zustand provozieren kann.

Die Schätzung der Pflicht als innerlichen Motives, dem gegenüber die äussere Tat wertlos sei, ist nur ein aufs Praktische übertragener Begriffsrealismus.

Wie dieser eine Eigenschaft, die vielen Dingen gemeinsam war, zu einer für sich seienden substantiellen Existenz emporhob, von der nun erst die einzelnen Gegenstände wieder ihr Wesen empfingen, so hypostasiert jener Idealismus eine Seite oder Beziehung der Handlungen zu dem allein wertvollen Motiv ihrer Vollbringung, das dann jeder einzelnen Handlung erst ihre sittliche Bedeutung verliebe.

Während aber der theoretische Begriffsrealismus aus (235) einer Übertreibung der Nützlichkeit der Abstraktion hervorgeht, ist es höchst zweckmässig, unser Handeln nur dann als wertvoll darzustellen, wenn seine Pflichtseite sein einziges psychologisches Motiv bildet.

Die Sicherung der Sittlichkeit dadurch, dass die Sittlichkeit der Tat zum Beweggrund ihrer Vollbringung wird, kann eben auf zweierlei Arten geschehen: entweder indem das Handeln aus der blossen Achtung vor dem moralischen Gesetz, aus der blossen Pflicht, weil sie Pflicht ist - als höchste Würde des Menschen empfunden wird; oder so, dass alle sonstigen Motive bis zur Übereinstimmung mit der Pflicht umgebildet werden, und die Sittlichkeit, statt uns in einen Konflikt mit den eudämonistischen Trieben zu bringen, zum einheitlichen ungestörten Herzenswunsch wird.

Der Sozialismus sucht diese letztere Verfassung so zu erreichen, dass er dem Einzelnen die psychologische Möglichkeit nimmt, eine andere als die ihm beschiedene Lebenslage zu erstreben; denn wo keiner vor dem andern etwas voraus hat, werden die Bilder, die das Bewusstsein füllen, nicht leicht zu Versuchungen, und wo die Einrichtungen des Ganzen dem Einzelnen überhaupt keinen Raum gewähren, andres zu besitzen, als die einmal bestimmte Laufbahn bietet, da wird auch das Darüberhinaus- und Entgegenwünschen schliesslich absterben.

Insoweit ist der Sozialismus allerdings ein eminent kraftsparendes Prinzip; die Kräfte, die durch die Reibung der verschiedenen Triebe innerhalb des Individuums verloren gehen, macht er für andere Aufgaben frei, indem er den antisozialen unter ihnen die aus der Ungleichmässigkeit der Lebenslagen folgenden Versuchungen erspart und damit ein individuelles Gegenbild jener öffentlichen Kraftersparniss liefert, die das Aufhören der wirtschaftlichen Konkurrenz mit sich bringt.

Ein völlig durchgeführter Sozialismus samt völliger Anpassung der Einzelnen an ihn würde die grösste Gewähr dafür geben, dass das sozial Erforderliche den geringsten persönlichen Widerstand findet; der Einzelne würde (<236) dann völlig sittlich, aber völlig verdienstlos sein.

Daran, dass namentlich in den niedrigeren Beziehungen des Lebens für den Einzelnen das als Pflicht gilt, was die Allgemeinheit tatsächlich übt, sowie an der Unbedingtheit und Strenge der Pflicht haben wir schon in jetzigen Verhältnissen ein psychologisches Hilfsmittel, das uns die Möglichkeit abweichender Handlungsweise ferner und ferner rückt; wo die Handlung durch unbedingte Verpflichtung und ausnahmslose Übung so fest geworden ist, dass wir gar nicht auf den Gedanken kommen, anders zu handeln, da ist ihre Vollbringung natürlich leichter und weniger verdienstvoll, als wenn sie jenen unterstützenden Charakter noch nicht angenommen hat.

So ist z. B. ausserordentliche Höflichkeit gegen die Frauen in Nordamerika so unbedingte Verpflichtung, dass ihre Vernachlässigung undenkbar ist und ihre Ausübung zu keinem Dank verpflichtet.

Bei uns erscheint diese Höflichkeit bei weniger strengem Pflichtcharakter als etwas Freiwilligeres, das deshalb verdienstlicher und dankenswerter ist.

Freilich nur für den Einzelnen auf Kosten der Qualität des Ganzen; das ist die Tragik im Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit, dass der Reiz und das Verdienst seiner Handlung, ganz das gleiche bleibend, in dem Masse ihrer Verbreitung abnimmt.

Auch hier wird nur der Unterschied empfunden.

Die Umbildung des Naturells, in welchem ursprünglich der Trieb zum Guten wie zum Bösen gleichzeitig und gleich kräftig wirken, in ein solches, in dem das Gute schliesslich instinktiv und widerstandslos geschieht, ist von grösster Wichtigkeit.

Der Ethik wird eines ihrer feineren Probleme durch die Tatsache gestellt, dass wir oft gewisse Gefühle, Freudigkeit der Hingabe, Liebe und Dankbarkeit usw. als sittliche Erfordernisse vorstellen, während es doch scheint, als könnten Gefühle nicht sittlich anbefohlen werden; wir empfinden das Gefühl wie ein Schicksal, das sich an uns auslebt, dessen (<237)wir uns erst bewusst werden, wenn es wirklich da ist und das wir deshalb so wenig wie die Sinnesempfindung eines realen Dinges spontan hervorrufen können.

Das Widrigste zu tun kann mich sowohl ein äusserer wie ein innerer Befehl zwingen; aber weder der eine noch der andere kann mich zwingen, es gern zu tun und ein freiwillig dahin treibendes Gefühl in mir zu empfinden.

Was aber so dem Willen, auf den allein der Befehl wirken kann, unmittelbar nicht unterworfen ist, kann ihm doch mittelbar unterliegen.

Die einzelnen sittlichen Handlungen, mag sich auch ursprünglich ein noch so starkes egoistisches Gefühl gegen sie sträuben, bringen schliesslich doch eine Umgestaltung desselben mit sich.

Die durch den Willen eingeleitete Gewohnheit des sittlichen Handelns führt zu einem Zustande, in dem es keiner besonders auf den Akt gerichteten Willensenergie mehr bedarf, sondern derselbe schon auf jenen inneren Vorgang hin, den wir Gefühl oder Trieb nennen, erfolgt.

Wenn wir uns demnach moralisch berechtigt glauben, gewisse Gefühle zu verlangen, so verlangen wir damit nur einzelne, dem Willen unterworfene innere und äussere Akte, von denen wir aber wissen, dass sie nach psychologischer Gesetzmässigkeit jenes dauernde Gefühl zur Folge haben müssen; der Vorwurf, ein gewisses Gefühl nicht zu haben, trifft gerechtfertigter Weise gar nicht diesen Augenblick, sondern die vorhergegangenen, in denen es allmählich hätte erzeugt werden müssen.

Nur die Sicherheit, mit der wir den psychologischen Mechanismus als Brücke zwischen dem einzelnen, dem Gebot unterworfenen Willensakt und der allgemeinen, ihm entzogenen Gefühls- und Triebesbeschaffenheit annehmen, berechtigt uns, auch die letztere einer sittlichen Verantwortung zu unterwerfen.

Es ist das Gleiche wie wenn wir jemandem einen Vorwurf darüber machen, dass er vergessen habe, bei einer bestimmten Gelegenheit an etwas Bestimmtes zu denken.

Offenbar kann sich auch dieser Vorwurf nicht gegen den Augenblick, in dem die erforderte Erinnerung ausblieb, richten; denn immer kann nur verlangt werden, dass (<238) man nach einer im Bewusstsein befindlichen Vorstellung handle, aber nicht unmittelbar, dass man eine im Bewusstsein habe, die man eben nicht hat.

Soll jener Vorwurf einen Sinn haben, so kann er sich nur auf den früheren Augenblick richten, in dem die Vorstellung und die Pflicht, sich ihrer später zu erinnern, im Bewusstsein war; je energischer man sich das vornimmt, je tiefer man es sich einprägt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die eintretende Gelegenheit die nötige Vorstellung gemäss dem psychischen Mechanismus reproduziert.

Dieser Erfahrungssatz allein rechtfertigt jenen Vorwurf, indem er wahrscheinlich macht, dass bei ausbleibender Erinnerung auch der Vorsatz nicht kräftig genug gewesen ist; würde aber nicht das Band des Mechanismus zwischen beiden vorausgesetzt, so würde man aus dem späteren Moment kein Recht zu dem Vorwürfe schöpfen können, der nur dem früheren gelten kann.

Dieses Zurückliegen des Schuldmomentes hinter dem Augenblick der Tat, an die sich die Schuld der Erscheinung nach heftet, ist ethisch überhaupt von häufiger und wohl zu überlegender Wichtigkeit und erstreckt sich auf weit ausgedehntere und kompliziertere Verhältnisse als in dem angeführten einfachen Beispiel.

Manche zu verurteilende Tat ist unvermeidlich, wenn die Verhältnisse einmal so liegen, wie sie eben liegen, und die Verurteilung kann mit Recht nur frühere, an sich vielleicht harmloser erscheinende Handlungen treffen, von denen man indes wissen musste, dass sie von dem gesetzmässigen Verlauf der Dinge, von der Verkettung der Schicksale aufgenommen und zu Zwangslagen weitergebildet würden, in denen dann freilich die unsittliche Tat die einzig mögliche oder das geringere von zwei Übeln ist; nachdem unser Wille erst einmal die Verhältnisse gestaltet hat, gestalten dann die Verhältnisse unseren Willen.

Dies gilt ebenso für einzelne Ereignisse des Lebens wie für die sittliche Gesamtverfassung desselben, von der hier zunächst die Rede ist.

Wir wissen, dass jede Handlung einer bestimmten Richtung (<239) einen Zustand in uns zurücklässt, der ihre Wiederholung erleichtert.

Das öftere Erfolgen der gleichen Innervationsreihen bewirkt eine Verbindung zwischen ihnen, in Folge deren die Erregung des Anfangsgliedes die ganze Reihe schliesslich ablaufen lässt, ohne dass es eines auf jeden einzelnen Punkt besonders gerichteten Wollens bedürfte.

Im subjektiven Bewusstsein spiegelt sich dies als Gefühl, möglicherweise weil bei ausgedehnteren und festeren Innervationsmechanismen schon auf eine leichtere Anregung hin eine gleichsam präludirende Schwingung der ganzen Reihe eintritt, deren zentripetale Wirkung wir Gefühl nennen; die Unbestimmtheit und die dunkle Macht desselben gegenüber der einzelnen Empfindung oder Vorstellung erklärt sich aus der Fülle, der Kleinheit und namentlich der Gleichzeitigkeit der in ihm zum Knäuel involvierten Innervationsempfindungen.

Wir nennen solche Gefühle auch Triebe und fassen sie hierdurch als Ursachen der Handlung, machen uns aber dadurch einer Verwechslung des post hoc mit dem propter hoc schuldig.

Das Wirkende ist allein der Innervationsmechanismus, der nach aussen in Handlung, nach innen auf die angegebene Weise in Gefühl verläuft; da er selbst aber ausserhalb des Bewusstseins vorgeht, so ist leicht begreiflich, dass seine letztgenannte Seite als Ursache der erscheinenden Bewegungen angesehen wird; aber um so weniger kann sie das sein, als das Gefühl als solches sich mit seinem Empfundenwerden vollständig ausgelebt hat; es kann nur die Begleiterscheinung, nur der subjektive Reflex und Oberton der realen, aber nicht ins Bewusstsein tretenden Ursache der Handlung sein.

jedenfalls wird durch diese Hypothese die Berechtigung klar, Gefühle moralisch zu fordern: weil die einzelnen Handlungen den Mechanismus gründen, der die Gefühlsfolge hat, so können wir mit demselben Rechte wie jene auch diese fordern und auf ihr Ausbleiben den Vorwurf gründen, den das Ausbleiben der unmittelbar dem Willen gehorchenden Handlungen verdient.

Ginge das Gefühl immer erst demjenigen psychischen Akte voraus, an den (<240) sich Verdienst und Schuld heften, so könnte man freilich niemanden für dasselbe verantwortlich machen.

Dass dies doch allgemein geschieht, beweist, dass die Gattungserfahrung sich eines tatsächlichen Zusammenhanges zwischen dem Gefühl und dem sittlich zuzurechnenden Willen bewusst ist.

Denn die Schärfe, mit der gewisse Gefühle dem Individuum zu sittlichem Verdienst oder sittlicher Schuld angerechnet werden, ist doch zu gross, um sie allein aus der oben erwähnten sozialen Prophylaxis zu erklären.

Das Gefühl kann den niedrigsten und den höchsten Grad in der ethischen Entwicklung bedeuten; mit sittlichen Instinkten, mit dem Vorherrschen bloss gefühlsmässiger sittlicher Antriebe beginnt überhaupt die eigentlich sittliche Entwicklung des Menschengeschlechts und des Einzelnen; und dann wieder, wenn in unzähligen Versuchungen die Sittlichkeit erstarkt ist, dann dürfen wir uns ruhig dem Gefühl und Instinkt überlassen, sicher, dass diese die klare sittliche Überlegung vollgültig vertreten, weil sie aus ihr hervorgegangen sind.

Übrigens geht diese Gefühlsbildung nicht nur ontogenetisch, sondern auch phylogenetisch vor sich; im Nachkommen sind die Willensakte früherer Generationen als angeborene, gefühlsmässige Disposition verdichtet, gerade wie ihre Erfahrungen in ihm als apriorische Vorstellungen, ihre Handlungen als fest gewordene Bewegungsmechanismen erscheinen; es ist der Weg der Kultur, einerseits das früher mit extensivem Bewusstsein Geschehene zu einem wie von selbst, durch das Gefühl vermittelt, Ausgeführtem zu machen, wie andrerseits das früher aus dunklen Antrieben Hervorgegangene in das klare Licht des Bewusstseins zu heben.

Ähnlich bei dem Erkennen; nach langer Bemühung auf einem Gebiet ergeben sich schliesslich gewisse Resultate, indem unser Denken die richtigen Prämissen so schnell zusammenstellt und aus ihnen die richtigen Schlüsse zieht, dass diese mit der Unmittelbarkeit eines Gefühles auftreten; so dass auch hier die Form des dunkeln Ahnens und Vorfühlens, mit der jede Erkenntnistätigkeit als mit ihrer Wurzel anhebt, schliesslich wieder (<241) in psychologischer Beziehung ihre Blüte bildet.

Gerade was wir die Genialität des Denkens nennen, beruht auf dieser Unbewusstheit, die der naiven Ursprünglichkeit eben so eigen ist wie jener Durchbildung, die das Richtige schliesslich wieder wie von selbst findet.

Wenn wir sehen, dass der Genius besonders in künstlerischer Hinsicht Wahrheiten ausspricht und Wahres gestaltet, ohne doch persönlich die Erfahrungen gesammelt zu haben, deren der Ungeniale zu gleicher Erkenntnis bedürfte, so beruht dies vielleicht darauf, dass in dem Genius die Vererbung der Gattungserfahrungen eine besonders starke und günstig gestaltete ist.

Auch das Kind lebt ja im Wesentlichen geistig noch von den ihm als Instinkt überlieferten Errungenschaften der Gattung, und diese Beziehung mag es sein, auf Grund deren man den Genius so oft dem Kinde verglichen hat; sie mag es auch sein, die dem Kinde manchmal sittliche Instinkte gibt, die man sonst an Personen von genialer Sittlichkeit bewundert - und zwar sowohl was das sittliche Urteil wie was das Handeln betrifft.

Leichter als die Schuld, die auf dem Ausbleiben gewisser Gefühle haftet, ist diejenige zu erklären, die das Bestehen anderer begleitet.

Zunächst macht auch hier die Passivität des Gefühls und Triebes Schwierigkeiten; weil wir uns erst seiner bewusst werden, wenn es wirklich da ist, scheinen wir auch an seinem Auftreten keine Schuld haben zu können, sondern höchstens daran, dass wir ihm in unserm Handeln Folge geben; erst der Augenblick, in dem der Trieb sich in Handlung umsetzt, scheint die Geburtsstätte der Schuld zu sein.

Indes ist zunächst klar, dass, wenn wir dem Willen die Möglichkeit zusprechen, schliesslich einen Mechanismus hervorzubringen, der als Gefühl zurückwirkt, er auch ebenso einen bestehenden Mechanismus und damit auch dessen Gefühlsfolge unterbrechen und durch Wiederholung hiervon ihn schliesslich lahm legen kann.

Es ist sofort einleuchtend, dass dieses in psychologischer Hinsicht viel leichter ist als jenes.

Wir bemerken oft, dass ein starkes Gefühl durch eine einzige (242) Vorstellung unterdrückt werden kann, während zu seiner Erzeugung überhaupt eine grosse Anzahl von Faktoren erforderlich ist; um einen Menschen lieb zu gewinnen, dazu bedarf es, welcher Art die Liebe auch sei, einer grösseren Anzahl von Eigenschaften desselben; um aber ernüchtert zu werden, oft nur einer einzigen Erfahrung, dem Hervortreten einer einzigen Eigenschaft.

Das Gefühl ist immer das Ergebnis einer grossen Anzahl von Kräften und Vorstellungen unseres Inneren, woher sein ebenso dunkler wie mächtiger Einfluss stammt; und wenn nun schon im Allgemeinen das Zerstören leichter ist wie das Aufbauen, so verschärft sich dies Verhältnis in wachsenden Proportionen mit der Kompliziertheit der Gebilde, um die es sich handelt; aus je mehren und feineren Teilen ein Gebilde zusammengesetzt ist, um so schwerer ist es herzustellen, um so leichter zu vernichten.

Andrerseits muss freilich auch bedacht werden, dass jene leicht spielenden Bewegungsmechanismen sehr häufig nicht individuell, sondern als vererbte Gattungserwerbungen erlangt werden, und dass es in demselben Masse, wie sie als solche befestigter sind, dem Individuum schwerer fallen muss, sie zu durchbrechen.

Der ganzen Voraussetzung unsrer Argumentation: dass ein allmählicher Prozess der Läuterung zu jenem Zustand führe, in ~i dem auch die Versuchung und das unsittliche Triebgefühl unterdrückt ist, scheinen die Fälle jener »Erleuchtungen«,jener plötzlichen Umwandlung des Herzens durch oder ohne himmlische Gnade zu widersprechen, von der uns so viele Bekehrungsgeschichten erzählen; es kommt den Subjekten solcher Ereignisse vor, als ob mit einem Male alle Versuchungen von ihnen abfielen, als ob sie auf einmal eine innere Qualität erhalten hätten, die den unsittlichen Reizen von vornherein alle Kraft nimmt.

Die Selbsttäuschung, die hierbei vorgeht, ist entweder eine totale, die einen augenblicklichen Zustand für einen definitiven hält; oder sie beruht darauf, dass für Wirkung eines Momentes gehalten wird, was auf (<243) langer Vorbereitung beruht.

Das erstere findet hauptsächlich auf den Gebieten statt, die die Angelegenheiten des Herzens im engeren Sinne umschliessen; das menschliche Herz ist immer geneigt, seine augenblickliche Verfassung für die definitive und nun für immer beharrende zu halten; namentlich im Verhältnis zu den Frauen ist dies bemerkbar, wo eine augenblickliche Gleichgültigkeit oder irgendwie hervorgerufene Abstinenz - ebenso wie eine augenblickliche Leidenschaft - für das Subjekt selbst gar zu leicht den mit grosser Entschiedenheit verteidigten Schein des Unveränderlichen annimmt.

Was das zweite anbetrifft, so werden wir uns auch in der Psychologie den Maximen der modernen Geologie und Biologie anschliessen müssen, wonach das scheinbar Sprunghafte, Unvermittelte, mehr und mehr in langsame unmerkliche Wirkungen aufgelöst wird.

Wie in der Natur uns die Veränderungen erst sichtbar werden, wenn sie eine gewisse Grösse erreicht haben, so auch in unsrer eignen Seele.

Was die Veränderung ins Bewusstsein hebt, ist vielleicht nur ein ganz geringes Moment, und dieses allein und der Augenblick seines Eintretens erscheinen als Ursache und Zeit der Veränderung überhaupt.

So wird an dem beiderseits schwer belasteten Hebel ein kleines dazu gefügtes Gewicht an dem einen Arm zum Emporheben des andern genügen und als die Ursache desselben gelten; tatsächlich nimmt es den schon an dem gleichen Arm ruhenden gegenüber keine besondere Stellung ein, jedes gleiche Teilchen dieser übt die genau gleiche Wirkung und nur mit ihnen zusammen und ihnen koordiniert übt es die Gesamtwirkung, deren sichtbare Grösse sehr oberflächlich gerade ihm zugeschrieben wird.

Das kommt ebenso bei Veränderungen des erkennenden wie des praktischen Seelenteiles vor.

Im Augenblick höchster geistiger Erregung gehen uns oft lange gesuchte oder sogar noch gar nicht geahnte Erkenntnisse auf, die wir leicht geneigt sind, für Produkte eben dieses Augenblickes zu halten, während doch kein Zweifel ist, dass sie nur Vorstellungen zusammenziehen und ins Bewusstsein (<244) heben, die längst vorhanden waren, nur Schlüsse aus längst bereit liegenden Prämissen ziehen.

Anders wird es sich wohl auch bei jenen scheinbar in einem Moment begonnenen und abgeschlossenen Umwandlungen der Gesinnung nicht verhalten.

Dies wird uns schon aus mancher Erzählung wahrscheinlich, wo das plötzliche Ergreifen des Heils oder richtiger das Ergriffenwerden vom Heil erst nach langem Streben und Suchen in Kasteiungen und Wüstenleben, in tiefstem Sichversenken und Harren auf den erlösenden Augenblick eintrat.

Der dafür häufige Ausdruck: Wiedergeburt, führt auf die richtige Spur; auch die Geburt ist nur möglich, wenn das zu gebärende Wesen im Mutterleibe Glied für Glied herangereift ist, worauf es dann allerdings mit einem Male an das Licht der Welt, hier des Bewusstseins, tritt.

Es ist ein für die wahre Sittlichkeit tödlicher Irrtum, wenn man jene Festigung des Inneren, die den Kampf gegen jede einzelne Versuchung erspart, anders zu erlangen denkt als durch fortwährende Selbstbeherrschung, die schliesslich die Reizempfänglichkeit für das Unsittliche abstumpft.

Es ist indes unleugbar, dass, wenn so plötzlich auftretende Umwandlungen auch ohne reale Einwirkung göttlicherseits stattfinden, doch die Vorstellung, eine solche sei die Ursache, von stärkender und festigender Wirkung für sie ist, wie denn überhaupt die Wirkung des Glaubens an das Transzendente oft dieselbe ist, die wir von dessen Realität erwarteten; dass uns der Glaube geholfen hat, kann ganz unmittelbar, ohne den Umweg über eine durch ihn zum Helfen bestimmte Macht wahr sein.

Was aber die Zurechenbarkeit des Gefühls und Triebes vor allem begründet, ist der Umstand, dass beide sehr selten sogleich in vollkommener Ausbildung und Stärke in's Bewusstsein treten, sondern von geringen Anfängen aus ein verfolgbares, festzustellendes und oft langsames Wachstum bis zu dem Augenblick, wo sie in Tat übergehen, erfahren.

Spricht man nun überhaupt dem Willen die Möglichkeit zu, Triebe zu unterdrücken, so kann er schon auf den frühesten Stufen (<245) ihrer Entwicklung in sie eingreifen und auf diese Weise ihr Anwachsen zu einer angebbaren Höhe verhindern.

Je feiner der sittliche Charakter durchgebildet ist, desto eher wird der unsittliche Trieb schon in seinen Anfängen erkannt und unterdrückt.

Wenn wir also selbst jene höchste Versittlichung des ganzen Wesens ausser Augen lassen, die dem unsittlichen Triebe überhaupt keine Stätte gewährt, so wird doch verlangt werden können, dass der einzelne Trieb auf immer früheren Entwicklungspunkten entdeckt und unterdrückt werde, so dass, wenn schon nicht sein Entstehen, so doch jede zustande gekommene Grösse und Macht desselben als Schuld zugerechnet werden muss.

Der unsittliche Trieb tritt in uns als »Versuchung« auf, und die Meinung, dass sein Entstehen als Trieb der Verantwortung nicht unterliege, ist identisch mit der häufig gehörten Vorstellung, dass die Versuchung stärker als wir war, d. h. eine Übermacht besass, der zu unterliegen einem nicht als Schuld angerechnet werden kann.

Hierin liegt zunächst jener selbstschmeichlerische Irrtum, der die Versuchung als eine äussere Macht ansieht, die an uns herantritt, um ihre Kraft an der unsrigen zu messen, und es übersieht, dass sie ja diese ganze Kraft nur aus unsrem eigenen Inneren empfängt, erst in unsrem Inneren zur Versuchung wird, da ebenderselbe äussere Reiz, der für den einen die schwerste Versuchung bedeutet, den andern vollkommen kalt lässt.

Man ist so leicht geneigt, das Ich als gute oder wenigstens unschuldige Partei anzusehen, der der böse Feind, der Versucher, als eine zweite gegenübersteht, und sich für das Unterliegen damit zu entschuldigen, dass dieser eben der Stärkere war.

Wenn der Sprachgebrauch allerdings einen »Sieg über sich selbst« enthält und damit das Selbst als die von vornherein unsittliche Partei darstellt, so tut er es doch nur in diesem Zusammenhänge, in dem er zugleich den sittlichen Teil unseres Ich als den überwiegenden und siegreichen daneben setzt.

Projiziert man aber überhaupt (<246) derartige Vorgänge aus dem Inneren heraus auf äussere Momente, so müsste man konsequenter Weise auch die Tugend auf ein äusseres Wesen projizieren und im Falle sittlichen Handelns sagen: »Die Tugend war stärker als ich.« Man würde so schliesslich zu einer Anschauungsweise kommen, nach der die menschliche Persönlichkeit, als verantwortliche ganz ausgeschaltet, nur als der Kampfplatz erschiene, auf dem sich das gute und das böse Prinzip, Ormuzd und Ahriman, Gott und Teufel, mit wechselndem Erfolge bekriegen.

Statt dessen aber identifizieren wir, um uns möglichst viel Verdienst und möglichst wenig Schuld zuschreiben zu müssen, das eigentliche Ich mit dem guten Prinzip und entschuldigen sein Unterliegen mit der Stärke der Versuchung, als wenn sie ihre Stärke aus einer anderen Quelle als aus unsrem eigensten Ich schöpfte.

Allenthalben begegnet man in den Vorstellungen sittlicher Verhältnisse diesem Fehler, dass ein Teil der Willensakte von dem Ich losgetrennt und in ein Verhältnis der Entgegensetzung zu ihm gebracht wird.

Wenn die religiöse Busslehre davon spricht, dass man den eigenen Willen aufopfern müsse, um statt seiner dem Willen Gottes nachzuleben, so verkennt sie, dass dieses letztere doch nur so stattfinden kann, dass der vorgebliche Wille Gottes zum eigenen Willen des Menschen wird.

Über die Tatsache, dass nur der Wille des Ich die Handlungen des Ich leitet, kommen wir nicht hinaus und es führt zu den grössten Irrtümern, wenn man auf die Verschiedenheit und den Wechsel der Inhalte dieses Willens hin verschiedene selbständige Willen aufstellt und dasjenige, was nur ein Teil des eigenen Willens ist, diesem gegenüber zum Inhalt eines anderen und für sich seienden Willens substantiiert, der sich mit jenem nun in ein Verhältnis wie zwischen getrennten Parteien zu setzen hätte.

Abgesehen also von dieser volkstümlichen Auffassung, die die in der Versuchung liegende Schuld von vornherein abweisen will; abgesehen von der sozusagen technischen Schwierigkeit, deren Lösung ich schon andeutete: wie man denn überhaupt dem Triebe, der Versuchung (<247) als psychischer Tatsache beikommen könnte, abgesehen von all dem bleibt doch noch die Frage nach dem Mass und dem Grunde der Schuld, die schon in der blossen Versuchung liegt.

Sie löst sich durch die Überlegung, dass zwischen der Versuchung und der Ausführung der Tat ein kontinuierlicher Übergang stattfindet, und dass genauere Beobachtung es unmöglich macht, eine scharfe Scheidelinie irgendwo innerhalb der Entwicklung zu ziehen, die von dem ersten, leisen Aufsteigen der Versuchung bis zum festen Entschluss und der Ausführung der Tat leitet.

Schon rein äusserlich bemerken wir oft, dass die auftauchende Vorstellung eines Tuns den Anfang derjenigen Bewegung, welche jenes realisiert, in reflektorischer Weise mit sich bringt.

Die Vorstellung einer leckeren Speise lässt das Wasser im Munde zusammenlaufen, d. h. erzeugt die Speichelsekretion, die zum Verzehren derselben nötig ist, beim Anblick eines hassenswürdigen Menschen ballt sich die Faust - das Vorbereitungsstadium des Niederschlagens -, eine lockende Tanzmusik lässt dem Tanzliebhaber buchstäblich die Beine zucken, Vorstellungen sexueller Art erzeugen die den Geschlechtsakt selbst einleitende Reizung vasomotorischer Nerven usw. Nur dann bleiben diese Reflexe aus, wenn die betreffenden Vorstellungen als rein objektive Bilder in uns aufsteigen.

Sie treten aber unweigerlich ein, wenn die Vorstellungen nur irgendwie von einem Gefühl begleitet werden, das sie als Versuchungen bezeichnen lässt.

Der erst uns versuchende Gedanke der Tat bedeutet also schon äusserlich den ersten realen Schritt zu ihr, ganz abgesehen von der Möglichkeit, dass der physische Innervationsvorgang vielleicht überhaupt das Primäre ist, von dem das Triebgefühl erst eine Folge oder Begleiterscheinung darstellt.

Finden auftauchende Triebe keinen Widerstand, so entwickelt sich aus jenen ersten Reflexen die vollständige Tat in allmählichen Übergängen, in denen zwischen unwillkürlicher und willkürlicher Handlung nirgends scharf zu scheiden ist.

(<248) Wichtiger aber ist hier die innerliche Seite dieses Vorgangs, auf die allein und nicht auf die äussere Tat es für die Frage der Schuld ankommt.

Wenn wir auf den psychologischen Prozess achten, in dem der blosse Gedanke der Tat zum fest entschlossenen Wollen ihrer Ausführung wird, mögen nun die äusseren Verhältnisse es zu dieser kommen lassen oder nicht, so ist auch hier zwischen dem ersten und dem letzten Gliede der Reihe ein kontinuierlicher Übergang.

Und zwar ist das Wesentliche dabei dieses, dass, je weiter die Reizvorstellung sich entwickelt, der erreichte Punkt nicht nur dem Endwillen näher liegt, sondern schon ein um so viel grösseres Quantum desselben in sich enthält.

Denn nicht so ist die Entwicklung zu denken, dass die Versuchung oder der Trieb bis zu einer gewissen Grösse anwüchse, bei welcher er sich dann mit einem Schlage, wie die Mutterlauge in den Kristall, in den von ihm wesentlich verschiedenen Entschluss umsetzte oder einen solchen auslöste; sondern zwischen beiden ist nur ein gradueller Unterschied vorhanden, nur ein Mehr oder Minder ebenderselben seelischen Bewegung.

Zwischen dem Gedanken der Tat, der Versuchung zu ihr, dem noch nicht ganz gefestigten Entschlüsse, dem schüchternen, gewissermaassen probeweisen Anfang, dem schliesslichen energischen Willen, der das psychische Korrelat der Tat bildet, herrscht nirgends generatio aequivoca und sind scharfe Teilstriche so wenig zu erkennen wie zwischen der Wurzel der Pflanze und ihrem Stamm.

Die Praxis des Lebens freilich muss aus selbstverständlichen Gründen irgendwo die Grenze ziehen, von der an sie für Gesinnung und Tat gesellschaftliche und rechtliche Sühne fordert.

Allein die Rechtsprechung versucht doch mehr und mehr über die äussere Tat und den in ihr unmittelbar ersichtlichen Willen hinaus, schon die Vorstadien desselben, den Versuch und den Dolus vor ihr Forum zu ziehen.

Bei der Bestrafung des Versuches ist die Steigerung der Strafe mit der Annäherung an das Gelingen, von dem Versuch mit völlig untauglichen (<249) Mitteln an, nur so zu verstehen, dass man den durch sie bewiesenen stärkeren Dolus als Strafgrund ansieht.

Die Tat kann, äusserlich betrachtet, nur vollbracht oder nicht vollbracht, der Wille zu ihr nach der gewöhnlichen rohen Psychologie nur vorhanden oder nicht vorhanden sein; bedeuten aber die Stufen der Willensentwicklung, die zu der Tat führt, entsprechend gesteigerte Strafbarkeit, so kann dies nur aus der Überzeugung hervorgehen, dass, je näher der Wille an die wirkliche Tat herankommt, er in um so höherem Masse ihren Charakter und dessen Folgen trägt.

Verbrecher wissen es manchmal mit ausserordentlicher Deutlichkeit zu schildern, wie der Gedanke ihrer Tat allmählich Macht über sie gewann, wie die blosse Idee, irgend eine Untat begehen zu können, sich als Versuchung herausstellte, und die Versuchung immer unwiderstehlicher wurde, bis sie schliesslich in Entschluss und Tat überging und zwar ohne dass zu diesem Definitivum noch eine qualitative Wandlung des seelischen Zustandes erforderlich gewesen wäre.

Ja, gerade die letzte Vornahme und das wirkliche Tun erfolgt oft gewissermaassen mechanisch, wie in einer suggestiven Vergewaltigung durch das Vergangene, als ein nicht mehr aufzuhaltendes Weiterrollen der einmal entfesselten inneren Bewegung, die das Bewusstsein mehr mitansieht und über sich ergehen lässt, als dass es sich jetzt noch als die bewegende Kraft fühlte.

Und so fällt die Grenze auch nach der anderen Seite: schon das Versuchtwerden ist ein partielles Wollen; wer eine Speise versucht, nimmt eben etwas von ihr, und die Sünde, die uns versucht, nimmt schon einen Teil von uns hin.

Ein Gegenstand, der nicht in irgend einer Weise unsern Willen erregt, wird nicht zum Gegenstand der Versuchung, des Triebes, ihn zu erlangen.

Mit der allmählichen, ohne scharfes Absetzen erfolgenden Entwicklung des Willensprozesses bis zu seinem Endglied hängt es zusammen, dass die Lust, welche wir uns eigentlich aus der Tat folgend vorstellen, sich doch nicht ausschliesslich (<250) an sie knüpft, sondern schon den Weg zu ihr begleitet.

Im Streben und Versuchen findet eine psychologische Vorwegnahme des Zieles statt, es ist genug des letzteren in ihm, um einen Teil der eigentlich nur diesem zukommenden Lust zu erregen.

Hier gewinnen die Ausmachungen des ersten Kapitels wieder Bedeutung.

Die Vorstellung eines Objekts, so hatten wir gesehen, befindet sich ursprünglich in einem Indifferenzzustande, der erst der Bestimmung darüber harrt, ob sie eine reale oder eine nur phantastische ist.

Da Realität auch nur eine Form von Vorstellungen ist, so sind unzählige Übergänge und Mittelstufen zwischen ihr und der irrealen Vorstellung, die nur als Gedankengebilde at exochn gilt, möglich; und deshalb kann sich begreiflich die Gefühlsfolge, mit abgestuften Graden, auch an alle diese Zwischenzustände der Vorstellung, von ihrer bloss psychologischen bis zu ihrer logischen Wirklichkeit, knüpfen.

Deshalb trifft uns auch die Erinnerung an ein Geschehnis mit einem wesentlichen Teile des Affekts, der sich an die Wirklichkeit jenes heftete; Freude und Schmerz, Schreck und Bewegungsimpulse sind die Folgen auch der erinnerten Vorstellung, die doch gerade so irreal ist, gerade so sehr nur in unsrem Bewusstsein da ist, wie ihr Gedanke es vor seinem Aufsteigen in die Kategorie der Realität war.

So hört der Schmerz der Entbehrung in dem Masse auf, wie wir uns dem Ziele nähern, wenngleich materiell betrachtet noch die letzte Sekunde vor dem Haben ebensogut Nichthaben ist, wie die Momente jeder beliebigen Entfernung vom Ziel.

Aber eben jener scharfe Schnitt, jenes absolute Entweder-Oder der äusserlichen und logischen Betrachtung gilt psychologisch und für die Gefühlsreflexe nicht; die Qual des Durstes schwindet schon in dem Augenblick, wo wir den Becher an die Lippen setzen.

Und zwar ist dies dadurch erklärlich, dass doch auch das Haben, insofern es Willenserfüllung ist, nur psychologische Bedeutung hat und nur in einer gewissen Beziehung zwischen uns und den Dingen besteht.

So wenig im Erkennen die Dinge in (<251) mein Vorstellen überwandern, so wenig tun sie es im Haben; wie jenes nur eine Beziehung und Wirkung zwischen den Dingen und dem Geist ist, so auch dieses.

Die Beschränkung alles bewussten Lebens auf Vorstellungen, die Unfähigkeit des Geistes, über sich selbst hinaus das Ansich der Dinge zu ergreifen, harrt für das praktische Gebiet noch der Anerkennung und Anwendung, die sie auf theoretischem gefunden hat.

Dass der Besitz der Dinge auch nichts anderes bedeutet, wie eine gewisse Art sie vorzustellen, dass demnach auch jeder Wert einer Sache für mich auch nur in dem Gefühl besteht, von dem jenes Besitz genannte Vorstellen ihrer begleitet ist - dies ist eine Erkenntnis, die noch nicht durchgedrungen und fruchtbar geworden ist gegenüber dem naiven Realismus, der den Besitz und Genuss einer Sache in ein absolutes Haben, ein äusserlich realistisches Insicheinziehen setzt; dieser Realismus ist freilich ebenso unklar wie verbreitet, so dass man ihn nicht besser auf einen unmittelbaren und eindeutigen Ausdruck bringen kann, als den erkenntnisstheoretischen Realismus, für den Vorstellungen Dinge an sich sind.

Wenn man Leuten gegenüber, die nach grossem Besitz an Geld oder kostbaren Gegenständen streben, öfters den populären Ausdruck hört: »sie können es doch schliesslich nicht essen« - so enthält dies eine Ahnung, eine symbolische Vorstellung davon, dass bei dem Besitzen des Objekts noch immer eine ebenso unaufhebbare Grenze zwischen ihm und dem Ich existiert, wie beim Erkennen desselben.

Gerade wie wir das absolute Ich aufheben und an seiner Stelle nur einen Komplex von Vorstellungen als unsre Seele anerkennen müssen, so muss auch der absolute Besitz an Äusserlichem fallen und an seine Stelle ein blosser Vorstellungs- und Empfindungsmodus treten.

Ich halte diese Erkenntnis, die allen Besitz auf ein bloss psychologisches Phänomen, allen Wert einer Sache auf eine blosse Gefühlsfolge gewisser Vorstellungen reduziert, für sehr folgenreich und zwar nicht nur für das wissenschaftliche Verständnis, sondern auch für die Praxis; ich erinnere nur daran, (<252) wie sich der rohe Egoismus gerade an die Vorstellung des absoluten äusserlichen Besitzes heftet, und dass der Übergang vom individuellen zum Kollektivbesitz in vielen Fällen sehr erleichtert werden könnte, wenn die Einsicht erst durchgedrungen wäre, dass alle Bedeutung eines Besitzes, und sei es der persönlichste und eifersüchtig ausschliessendste, nur in dem seelischen Reflexe der Sache besteht und deshalb unzählige Male ganz derselbe bleiben würde, wenn die begleitende Vorstellung des ausschliesslichen Eigentums fortfiele - wie der Spiegelreflex eines Gegenstandes nicht darunter leidet, dass eben derselbe noch in andere Spiegel die gleichen Strahlen wirft.

Es bedarf hoffentlich nicht der Abwehr des groben Missverständnisses, als wollte ich leugnen, dass ebenso oft gerade durch das, was wir eben Besitz nennen, ganz besondere und besonders intensive Empfindungen ausgelöst würden.

Es handelt sich hier nur um die Beseitigung jener Unklarheit, der die Ausschliesslichkeit des Besitzes häufig ihren Reiz verdankt, als enthielte der Besitz noch über seine psychologischen Wirkungen hinaus oder abgesehen von ihnen irgend eine absolute Bereicherung, als könnte man sozusagen noch etwas anderes und mehr von dem Gegenstände haben als ihn empfinden.

Dadurch würde die Besitzfrage im Allgemeinen in jene höhere reinlichere Sphäre gerückt, der sie sich heute schon bei idealen Gegenständen nähert, z.B. bei Kunstwerken, deren Genuss kein wesentlich anderer ist, ob man sie persönlich besitzt, oder sie in einem Museum sieht; denn etwas anderes als ansehn kann man sie in keinem von beiden Fällen.

Ohne in die Verzweigungen dieses Gedankens weiter einzutreten, betone ich für unsern augenblicklichen Zweck nur seine Folge für den Prozess der Erwerbung eines Wertes.

Weil auch der reellste und definitivste Besitz nur in einem psychologischen Vorgang, einem Gefühl, seine Bedeutung und seinen Wert hat, darum ist verständlich, wieso die psychologischen Reflexe nicht erst bei dem äussersten Masse des Besitzes, sondern schon bei der Annäherung an dieses (<253) eintreten.

Wie das Erstreben objektiv ein mittlerer Zustand zwischen Haben und Nichthaben ist, so ist es ein mittlerer Zustand zwischen Freude und Leid.

Auch eudämonistisch leben wir auf Vorschuss und der Reiz jenes Teilbesitzes der Sache, den unsere Phantasie noch während des Strebens erwirbt, ist ebenso unleugbar wie dass die Lust des tatsächlich erreichten Zieles sehr vielfach und gerade bei den tiefsten Genüssen idealer wie sinnlicher Art die Vorstellung nicht entbehren kann, dass noch immer ein Allerletztes zu gewinnen bleibt.

Der ideell antizipierte Besitz einer Sache, während wir sie erstreben, erfüllt uns schon mit einem Teil der Freude, um derentwillen ihr realer Besitz erstrebt wird und die Hoffnung der Lust enthält die Lust der Hoffnung.

Auch einer der Reize des Spieles beruht darauf: die Handlung, welche voraussichtlich zum Gewinn führt, bringt einen Teil von der Lust des Gewinnes selbst mit sich.

Auf physiologischem Gebiet zeigt sich das Gleiche unter anderem in dem Lustgefühl, welches die sexuelle Aufregung lange vor ihrer Befriedigung begleitet, und das in seiner feinsten Zuspitzung und Vergeistigung vielleicht den Hauptreiz der Koketterie bildet, indem diese die Gewährung der Gunst nahe genug vor Augen rückt, um ein Teilchen der mit letzterer verbundenen Lust hervorzurufen.

Schon im Tierreich finden sich deutliche Beweise für die Lust, die in der Erwartung der Lust besteht und die stark genug ist, um den Genuss freiwillig hinausschieben zu lassen, wenn dadurch eine Verlängerung jenes Vorstadiums erreicht wird.

Ich erinnere an das Spiel der Katze mit der Maus, der Fischotter und des Kormorans mit dem Fische, sowie daran, dass man die allenthalben hervortretende Zurückhaltung und Weigerung des Weibchens gegenüber der Werbung des Männchens mit grosser Wahrscheinlichkeit so erklärt hat, dass dadurch eine Verlängerung des Vergnügens eintritt, das in dem sinnlichen Genuss zwar gipfelt, aber keineswegs ausschliesslich besteht.

Der Reiz gefährlicher Schauspiele, die in Zirkussen von Seiltänzern,(<254) Trapezturnern usw. der Menge mit so grossem Erfolge dargeboten werden, ist wohl hauptsächlich aus einem Rudiment der Grausamkeitswollust zu erklären.

Bei noch roherer Empfindung sättigte sich diese etwa an Gladiatorenkämpfen, von denen die Stierkämpfe gewissermaassen einen Übergang zu jenen feineren Formen des Spielens um das Leben darstellen.

Jetzt knüpft sich das Vergnügen schon an die Vorstadien des eigentlichen Grausamkeitsmomentes, das an der Vernichtung eines Menschen Wollust finden lässt, und es ist um so grösser, in je grösserer Nähe dieses definitiven Momentes sich der Vorgang begibt.

Die Erregung und Fortgerissenheit des Publikums steigert sich in dem Grade der grösseren Gefährlichkeit des Schauspiels, nimmt also mit der Höhe über dem Boden, in der die halsbrechende Produktion stattfindet, und mit dem Mangel an Sicherheitsvorrichtungen zu.

Die blosse Gefahr, die Andeutung des die Grausamkeitslust definitiv befriedigenden Ausgangs hat für die Empfindung die Stelle dieses letzteren eingenommen, und zwar mit derartiger Festigkeit, dass die Lust bei diesem selbst jetzt versagen würde.

Von dem tödlichen Erfolge eines solchen Spieles würden sich die Meisten unlustvoll abwenden, die durch die Steigerung ihres Interesses mit der Annäherung an diesen Erfolg beweisen, dass dessen Vorempfindung doch das eigentliche Lustmoment ausmacht.

- Die Vorstellung des Zieles repräsentiert also nach alledem nicht nur überhaupt psychologisch die Wirklichkeit dieses letzteren noch vor seiner Erreichtheit; sondern sie tut es so energisch, dass sie sogar diejenigen Gefühlsreflexe vorwegnimmt, die eigentlich erst die Folge des wirklich eingetretenen gewollten Ereignisses ausmachen.

Nun ist nicht zu leugnen, dass der Prozess der Willensentwicklung sich schliesslich sehr verdichtet und oft nur seine Hauptstationen im Bewusstsein kund gibt, so dass dasjenige, was eine geschärfte Selbstbeobachtung als kontinuierlichen Verlauf, allmähliche Steigerung der gleichen Energie zeigt, als Aufeinanderfolge diskontinuierlicher psychischer Momente von ganz (<255) verschiedenem Wesen erscheint.

Auch verhindert die Kontinuität der Entwicklung vom Triebe zur Tat nicht, dass die verschiedenen Strecken derselben mit sehr verschiedener Geschwindigkeit ablaufen.

Oft bleibt der Wille lange Zeit in den ersten Stadien der Versuchung stehen, um dann mit grösster Geschwindigkeit alle übrigen durchlaufend, fast plötzlich am Entschlusse zu münden.

Dann erfolgt wieder die Entwicklung der Triebe sehr schnell bis zu dem Moment unmittelbar vor dem Entschlusse, um hier Halt zu machen und lange der Kraft für diesen zu entbehren.

Manchmal geht sie auch sozusagen unterirdisch vor sich, indem der rege gewordene Trieb zum Verbotenen scheinbar von den entgegengesetzten Triebfedern überboten und das Bewusstsein nur von diesen erfüllt ist; plötzlich aber sehen wir gewissermaassen zu unsrem eigenen Erstaunen, dass wir zu der verbotenen Handlung doch entschlossen sind; das ist namentlich der Fall bei feigen und ethisch eitlen Naturen, die sich die eigene Unsittlichkeit so lange wie möglich zu verbergen lieben.

Alles dies erschwert die Einsicht, dass das scheinbar Verschiedene, das wir Versuchung, Trieb, Entschluss nennen, desselben Wesens ist; aber es macht sie doch nicht unmöglich.

Die Versuchung ist immer ein wenn auch noch unvollkommenes Wollen und unterscheidet sich durch kein Kennzeichen von dem, was wir Trieb nennen - nur dass bei ihr mehr das äussere veranlassende Moment ins Auge gefasst wird; und was den Trieb anlangt, so liegt keine Veranlassung vor, ihm ein Ich oder einen sittlichen Willen gegenüberzustellen, von dem er erst Kraft oder Erlaubnis erhielte, den zuzurechnenden Entschluss hervorzurufen.

Es genügt die viel einfachere und deshalb schon methodisch vorzuziehende Annahme, dass der Entschluss zum Unsittlichen nur ein Mehr derjenigen seelischen Energie darstellt, die die Versuchung zu einer solchen macht; die Herausbildung von jenem aus dieser erfolgt nicht durch das Eingreifen eines Willens, der nun mit einem Schlage die Verantwortung hinzubrächte, sondern ein kontinuierlicher Weg führt durch Entwicklung (<256) latenter Kräfte oder durch Hinwegfallen entgegenstehender Triebe von der Versuchung zum Entschluss, der sich rein psychisch angesehen von jener nur quantitativ unterscheidet.

Von hier muss nun auch die Entscheidung zwischen den verschiedenen Schuldbegriffen erfolgen, die sich typisch darstellen in der Frage des Dichters, ob denn Liebe schon ein Verbrechen sein könne, die er mit Nein beantwortet haben will, und in der entgegengesetzten Behauptung Jesu, dass schon der begehrliche Blick nach dem Weibe des Nächsten das Verbrechen des Ehebruchs in sich schliesse.

Mir scheint es in der Tat, als ob an dem Triebe, der als Versuchung in uns aufsteigt, ein Teil der Schuld hafte, die dem Entschlusse zur Tat zukommt, und zwar ein Teil, der nur durch quantitative Steigerung zum Ganzen wird.

Nur wenn man die Begehrung vom Entschlusse durch einen scharfen Schnitt unversöhnlich trennt, wenn statt des quantitativen Unterschieds der Willensenergie ein qualitativer gesetzt wird, kann die zweiseitige Übertreibung stattfinden, dass man die Begehrung entweder völlig von Schuld befreit oder ihr die völlige Schuld des Entschlusses zuspricht.

Sind im Einzelnen Einflüsse auf den Willen vorhanden, die seine Schuld mildern, so vermindern sie auch die Schuld des Entschlusses und der Tat.

Gibt es keine solche, so ist zweifellos auch die Versuchung und alle weiteren Stadien der Begehrung in dem Masse schuldig, in dem eben ein Wille in ihnen liegt, ohne den Versuchung nie Versuchung sein könnte.

Von Kindern, welche etwas Verbotenes getan haben, hört man oft als Entschuldigung: »Ich wollte es doch aber so gern!« Die Stärke der Versuchung soll hier als Rechtfertigung für die verbotene Tat gelten.

Und zwar mit vollem Recht, wenn der Trieb und das Verlangen gewissermaassen als objektive Gegebenheiten angesehen werden, die der verantwortbare Wille als eine besondere, aus ganz anderen Quellen als er selbst fliessende Macht vorfindet; durch eine derartige Anschauung (<257) freilich, die einen Menschen in den Menschen hineinsetzt, kann dieser nicht dafür verantwortbar gemacht werden, wenn jene Kräfte stärker sind, als er.

Erkennt man aber, dass auch schon in ihnen ein Quantum desselben Willens steckt, der mit der Tat in die Erscheinung tritt, so steht man jener Ausrede nicht mehr wehrlos gegenüber.

Nicht die Versuchung wird so gross, dass der Wille ihr nicht länger widerstehen kann, sondern der Wille selbst wächst eben zu der Höhe des Entschlusses an.

Der Bestrafte hält oft die Strafe für ungerecht, weil er, von falscher Denkgewohnheit betrogen, zu fühlen glaubt, dass er der Stärke seines Verlangens eben nicht widerstehen konnte.

Deshalb ist es für die ethische Pädagogik von höchster Wichtigkeit, dem Schüler die Stationen ins Bewusstsein zu erheben, durch welche das Verlangen gegangen ist, bevor es zu der verderblichen Grösse anwuchs und ihm nachzuweisen, wieviel von dem, was man freien Willen nennt, sowohl in der Entwicklung der einzelnen Tat wie der ganzen Seelenbeschaffenheit schon bis zu demjenigen Punkte steckt, wo man nach der falschen populären Substanziierung der Seelenkräfte erst den sittlichen Willen in das Spiel der natürlichen Triebe und Versuchungen meint eingreifen zu sehen.

Die Freiheitsfrage, in deren gefährliche Nähe sich diese Erörterung begibt, braucht doch in keiner Weise hineingemischt zu werden.

Das Mass von Freiheit, dessen man zu bedürfen meint, wenn man von Schuld und Verdienst spricht, mag zugegeben werden oder nicht; hier handelt es sich nur darum, wenn einmal Schuld und Verdienst zugestanden wird und soweit es zugestanden wird, da einen Zusammenhang und eine einheitliche Entwicklung aufzudecken, wo der Trieb nach Personifikation der Seelenvorgänge zum Schaden des psychologischen und ethischen Verständnisses eine Diskontinuität und Gegensätzlichkeit zwischen Anfang und Zielpunkt der Willensentwicklung gesetzt hat.

Von ihm war auch jener ungerechtfertigte Rigorismus ausgegangen, der die Stoiker behaupten liess, Sünde sei eben Sünde und Gradunterschiede in ihr gäbe (<258) es nicht, und der das christliche: Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich - zur Devise der sittlichen Forderung überhaupt macht.

Die ganze psychologische Unkenntnis, durch welche sich streng dogmatische Standpunkte auszuzeichnen pflegen, spricht hieraus und schafft vor allem auch in pädagogischer und praktischer Beziehung gerade das Gegenteil der beabsichtigten ethischen Wirkung.

Denn wo das leichtere und das schwerere Vergehen auf die gleiche Stufe gestellt werden, da bewirkt die aus dem grösseren Unrecht erwartete grössere Lust, dass der Abscheu vor der grösseren Unsittlichkeit sich herabmindert, ohne dass der vor der geringeren entsprechend wüchse - wie überhaupt bei der Gleichstellung höherer und niederer Stufen die bessere zu verlieren, aber die schlechtere nicht zu gewinnen pflegt.

Die unendlich kleinen Schritte, unter deren Annahme wir die reale Entwicklung der Welt verstehen, müssen wir auch in der idealen Reihe zwischen dem höchsten Gut und dem tiefsten Bösen anerkennen.

Wie sich die Individuen ihrer Sittlichkeit nach in eine Skala einordnen lassen, innerhalb deren kein Unterschied der kleinste ist, sondern immer noch feinere Vermittlungen auffindbar sind, so ordnen sich auch die einzelnen moralischen Handlungen in eine Reihe, die einen scharfen Grenzstrich nirgends erkennen lässt.

In Bezug auf sexuelle Sittlichkeit etwa führt von der züchtigsten Frau bis zur Strassendirne herab eine Stufenleiter unendlich fein und langsam abschattierter vermittelnder Erscheinungen; und dasselbe gilt für die einzelnen Äusserungen dieses Gebiets von dem ersten keuschen Anblick und Händedruck bis zum orgastischen Gewähren des Letzten.

Das starre Entweder-Oder im sittlichen Urteil entspringt der Furcht, dass jene Allmählichkeit der Übergänge den Unterschied zwischen gut und böse in seiner Bestimmtheit verwische.

Jener billige Skeptizismus, nach dem es nie zu einem Haufen Körner kommen kann, weil man, von einem Korn zu zählen beginnend, nicht anzugeben vermag, bei welcher Zahl sie zu einem Haufen werden, scheint es auch zum (<259) Guten und Bösen nicht kommen zu lassen, da der kontinuierliche Übergang zwischen ihnen nicht gestattet, dass man irgendwo definitiv sage: Hier ist das eine und dort ist das andere.

Für unseren Begriff von Schuld und Verdienst ist dem vorgebeugt.

jener Skeptizismus kann nur da wirken, wo von einer Frage des blossen Quantums die Anwendung eines bestimmten Begriffs abhängig ist.

Da allerdings wird durch die Stetigkeit bloss quantitativer Verhältnisse die Grenze für die Berechtigung jenes leicht unsicher werden.

Wäre also der oberflächliche Begriff des Verdienstes der richtige, nach dem einfach die sittliche Güte von einem gewissen Masse an seine Anwendung provoziert, so würde die Kontinuität in den Massbestimmungen keinen festen Grenzstrich für den Beginn der Verdienstlichkeit zulassen, der für uns unverkennbar da liegt, wo überhaupt die Überwindung unsittlicher Triebfedern durch sittliche festzustellen ist.

Die Schuld ist das Gegenstück des Verdienstes, der entgegengesetzte Pol der sittlichen Welt, oder anders betrachtet, die andere Hälfte derselben.

Das System der Ethik als Kompendium der sittlich geforderten Handlungen hat freilich mit Verdienst und Schuld nichts zu tun; es stellt objektiv dar, was geschehen soll, gleichgültig, ob es geschieht und wie es subjektiv geschieht.

Dieser ideale Kodex hat aber zu dem wirklichen Geschehen ein sehr ungleichartiges und schwankendes Verhältnis, welches die Realität des menschlichen Handelns bald als verdienstvoll, bald als schuldvoll erscheinen lässt.

Liefen unsere Handlungen genau so streng nach der idealen Norm der Ethik ab, wie nach der Norm der Naturgesetze, wäre der Gedanke einer Abweichung von ihnen in derselben Weise ausgeschlossen, so würde uns der Gedanke einer sittlichen Welt als Gegenstandes einer besonderen Untersuchung vielleicht gar nicht kommen.

So paradox es klingt: die einfach gute, mit der ethischen Norm von selbst übereinstimmende Tat, an der weder die Schuld einer vorhergegangenen (<260) Versuchung noch das Verdienst an der Überwindung derselben haftet, hat nur insofern ein Interesse für die Ethik, als sie in irgendeinem Verhältnis zu Taten von Schuld oder Verdienst steht; an sich ist sie ethisch ebenso gleichgültig wie die Schönheit der Rose ethisch gleichgültig ist.

Wiese das Sein nicht wechselnde Verhältnisse zum Sollen auf, so würde die Vorstellung einer besonderen Sittlichkeit so wenig entspringen, wie die Idee eines Schönen, wenn alles Seiende die gleiche ästhetische Vollendung besässe.

Es könnte nun scheinen, als ob sich klare Begriffe von Schuld und Verdienst durch die Annahme ergeben würden, dass sich das Verdienst in demselben Masse über die einfache Pflicht und Schuldigkeit erhebt, wie die Schuld hinter dieser zurückbleibt.

Allein das ist unmöglich; kein Verdienst kann sich über die Pflicht erheben, sondern es kann nur entstehen, indem die Pflicht sich psychologisch gegen entgegenstehende Willensbewegungen siegreich durchsetzt.

Damit aber scheint die Korrespondenz zwischen Verdienst und Schuld aufgehoben.

Denn das erstere kann nie mehr tun als die Pflicht, während die letztere entschieden weniger tut.

Nicht jede Pflichterfüllung enthält schon ein Verdienst, aber jede Pflichtvergessenheit enthält eine Schuld -eine Bestimmung, die uns nun in die letzten Tiefen der ethischen Fundamente führt.

So viel über diese noch unsicher und streitig sein mag, die eine Erkenntnis kann man wohl als für immer gesicherte Errungenschaft ansehen: dass von einer Verpflichtung in dem Sinne, dass ihre Verletzung eine Schuld ist, nur insoweit die Rede sein kann, als jene Verpflichtung bewusst psychologisch vorhanden ist.

Wer sich keiner Verpflichtung bewusst ist, kann sie auch nicht schuldvoll verletzen.

Denn es gibt keine Verpflichtung, sich verpflichtet zu fühlen, kein Sittengesetz, ein Sittengesetz anzuerkennen, genau so wenig wie es ein Naturgesetz gibt, das bestimmte, dass es Naturgesetze geben müsse, oder einen Beweis für die Wahrheit des Satzes, dass es eine Wahrheit gibt.

Beides, die Herrschaft von Naturgesetzen wie das (<261) Bewusstsein von Sittengesetzen sind blosse Tatsachen, deren Notwendigkeit, dort die reale, hier die moralische, nicht ohne einen logisch und sachlich unmöglichen Zirkel aus demjenigen Muss oder Soll herzuleiten ist, das sie, wenn sie einmal da sind, nun für ihre speziellen Inhalte aussprechen.

Von jedem Menschen kann nur das Handeln gemäss seiner bewussten Pflicht verlangt werden, aber nicht, dass ihm eine Pflicht bewusst sei, die es nun einmal nicht ist.

Deshalb hat Jesus auch mit vollem Recht denen Vergebung sichern wollen, welche nicht wissen, was sie tun; und dass Unkenntnis des Gesetzes nicht vor Strafe schützt, wird in scharfer Durchführung dem sittlichen Bewusstsein stets als eine Ungerechtigkeit erscheinen, die gegen den Einzelnen begangen wird und freilich aus dem praktischen Gesichtspunkte begangen werden muss, dass andernfalls dem Übeltäter ein höchst dehnbarer und schwer widerlegbarer Vorwand gegeben wäre, und dass vermittelst der durchgängigen Bestrafung und Tat dafür gesorgt wird, die Kenntnis des Gesetzes möglichst allgemein zu machen; darum aber bleibt die Ungerechtigkeit im einzelnen Falle nicht minder bestehen, die übrigens das Strafrecht durch Modifikation der Strafe bei Annahme der bona fides wenigstens gelegentlich aufzuheben sucht.

Es ist freilich eine oft gehörte und auch richtige sittliche Vorschrift, dass man die sittliche Gesinnung in sich selbst stärken und heben solle, wonach es als Pflicht erscheinen könnte, eine höhere Pflicht anzuerkennen, als man sie tatsächlich anerkennt.

Allein hierin liegt eine Unklarheit; denn ich erkenne ja die höhere Pflicht unmittelbar dadurch an, dass ich mir vorsetze, sie anzuerkennen.

Ich kann mir nur vornehmen und den Vorsatz in mir kräftigen, künftig nach höheren Idealen zu handeln, als ich sie bis zu diesem Augenblick gehegt habe, ein Vorsatz, bei dessen Ausführung ich nicht anders als bei der Erziehung eines Dritten verfahre; aber höhere Ideale zu haben, kann ich mir nicht vornehmen, weil ich sie ja im selben Augenblick schon habe.

Gehen wir von diesem Grundsatz ab, stellen wir eine (<262) schlechthin objektive Moralforderung auf, deren Nichterfüllung in jedem Falle, ganz abgesehen von dem persönlichen Bewusstsein über sie, Schuld bedeutet, so ergeben sich eine Reihe der grössten Missstände.

Zunächst der schematische Rigorismus, der notwendig bei Veräusserlichung und blosser Legalität des Handelns mündet; das notwendige Widerspiel dazu, ein Subjektivismus, der die Vorstellung einer absoluten Pflicht mit einem doch immerhin nur persönlich geglaubten Inhalt erfüllt und diesen zum Massstab der moralischen Beschaffenheit aller Andern macht; endlich die Gefahr, theoretische Irrtümer ins Gewissen zu schieben, den Mangel an Erkenntnis der Pflicht für ebenso schuldvoll zu halten wie den Mangel an Erfüllung der erkannten.

Wir müssen demnach scharf unterscheiden zwischen dem Kodex sittlicher Gesetze, den wir uns als den Inhalt eines rein normativen Sollens denken, und der Abspiegelung, welche derselbe mehr oder weniger verändert und unvollkommen im individuellen Bewusstsein findet.

Nur das Abweichen von dieser letzteren kann eine Schuld begründen.

Von hier gewinnen wir nun den Parallelismus mit unserem Begriff des Verdienstes wieder.

Wie die Erscheinung der Pflichterfüllung uns nicht nur, wie Kant meinte, die Auskunft darüber verweigert, ob sie aus Gründen der Moralität oder der blossen Legalität geschieht, sondern auch, ob sie verdienstvoll ist oder nicht; wie Verdienst nur vorhanden ist, wenn sich das Sittliche im Widerstreite gegen ein psychologisch vorhandenes Unsittliches durchsetzt, so ist von Schuld nur da zu sprechen, wo das Unsittliche entgegen einem psychologisch vorhandenen Sollen geschieht.

Dies apelliert freilich an die eigenste innere Erfahrung: die Begriffe Verdienst und Schuld sind ihrem Sinne nach vorläufig so wenig durch eine exakte Methode festzustellen, dass der Ethiker nicht viel mehr tun kann, als das eigene Bewusstsein davon möglichst klar zu analysieren.

Denn so sicher es mir scheint, dass, wenn beide Begriffe einen, eigenartigen Sinn haben und sich von (<263) den äusserlich legalen und ohne spezifisch sittliches Bewusstsein vollbrachten Handlungen unterscheiden sollen, es eben mir dieser Sinn sein kann, so lässt sich doch kein Beweis dafür führen.

Ich will aber wenigstens darauf hinweisen, dass genau wie die Mythe dem Heiligen die Versuchung unterlegt, um ihm Verdienst zusprechen zu können, sie entsprechend den Schuldigsten, Luzifer, einen gefallenen Engel sein lässt, um die Tiefe seiner Schuld an dem klarsten Bewusstsein des Rechten zu zeigen, das dem Engel aus dem Anschauen Gottes quillen musste.

Nun bat allerdings unser Schuldbegriff eine Folge, die der gewöhnlichen Auffassung widerstreitet. Gerade die grössten Scheusale und Bluthunde, die uns die Geschichte zeigt, ein Kaligula, Ezzelino, Iwan der Schreckliche, Danton sind danach In geringerem Masse schuldvoll als der Schrecken und die Empörung, die sich an ihren Namen knüpfen, schliessen lassen.

Denn in diesen Naturen war offenbar von vornherein ein so unklares Bewusstsein des Guten vorhanden, es hatte eine so geringe Kraft, dass sich das Böse sofort und ohne Widerstand zu finden ausbreiten konnte; das subjektive Bewusstsein der Sünde, das die Bedingung der Schuld ist, war bei ihnen wahrscheinlich nur in ganz unbedeutendem Masse vorhanden.

Dass wir tatsächlich dennoch einen äusserst starken moralischen Abscheu vor ihnen empfinden, ist durch den positiven Schaden erklärlich, der von solchen Persönlichkeiten ausgeht.

Äusserlich angestifteter Nutzen oder Schaden, wie er der Ursprung aller moralischen Beurteilung ist, ist uns als Urteilsgrund zu fest vererbt, die Menschheit ist zu egoistisch, um nicht mit dem Fluch höchster Schuld diejenigen zu brandmarken, die ihr grossen Schaden zufügen, -in vielen Fällen gewiss mit vollem Recht, in anderen mit geringerem.

Zudem legen wir, an ein gewisses Durchschnittsmass von sittlichem Bewusstsein gewöhnt, dasselbe von vornherein jeder Persönlichkeit unter, und das Mass, in dem sich die Tat von diesem abhebt, erscheint uns als das Mass ihrer Schuld.

Wenn wir Schuld wie Verdienst, die eine tiefere (<264) Analyse nur in dem rein innerlichen Verhältnis psychologischer Faktoren zu erkennen vermag, dennoch der Tat nach ihrer äusseren Erscheinungsseite zusprechen, so geschieht es auf die Gattungserfahrung von dem Durchschnittsquantum sittlicher und unsittlicher Antriebe hin.

Die populäre Vorstellung des Verdienstlichen (opera supererogativa, consilia im Gegensatz zu praecepta), als bedeute es mehr als die Erfüllung der Pflicht, beruht auf einer Verwechslung dieser letzteren als einer absoluten Norm, über die hinaus es keine höhere gibt, mit dem Grade ihrer durchschnittlichen Erfüllung, an welchen sich die populäre sittliche Forderung angepasst hat, und den zu übertreffen nun als ein Hinausragen über die Pflicht überhaupt erscheint.

Für unseren Begriff von Verdienst und Schuld aber rechtfertigt sich diese ihre Abmessung am Verhältnis der äusseren Taten zu einem Durchschnittsniveau derselben so, dass die mittlere Handlungsweise der Menschen die Folge der durchschnittlich vorhandenen sittlichen und unsittlichen Triebfedern ist, zwischen denen die Spannung nicht gross genug ist, um ein Bewusstsein ihres Widerstreits zu erregen.

Wo nun die Tat ihrer Erscheinungsseite nach sich von jenem Niveau entfernt, da schliessen wir, dass auch das Verhältnis der psychologischen Motoren, die ihren sittlichen Wert bestimmen, ein anderes sein wird, und können ohne Gefahr, die objektive Pflicht auf jenes Durchschnittsniveau herunterzuschrauben, es dennoch als den Nullpunkt zwischen Verdienst und Schuld ansehen.

Gewinnen wir so die Möglichkeit, unsere Abschätzung der Schuld nach dem alleinigen Massstab des bewussten entgegengesetzten Sollens mit der gewöhnlichen Auffassungsweise zu vereinigen, welche die äussere Tat und ihre sozialen Folgen zum Massstab der Schuld macht, so bleiben doch die folgenden Bedenken noch bestehen.

Wenn eine Handlung als Verdienst oder als Schuld zugerechnet werden soll, so ist dies nach dem Bisherigen nur so möglich, dass zwei Strebungen entgegengesetzten Charakters in der Seele vorhanden sind und (<265) dass das Mass von Verdienst oder Schuld, das dem schliesslichen Siege der einen zukommt, sich an der Kraft bestimmt, die die andere ihr entgegengesetzt hat und die sie hat überwinden müssen.

Darin aber liegt ein Hindernis, überhaupt zu einem angebbaren Mass von Schuld oder Verdienst zu kommen.

Denn beides kann sich offenbar nur an den Überschuss der einen Bestrebung über die andere heften, weil, soweit sie sich äquivalent sind, das Verdienst, das der einen zukommt, sittlich durch die Schuld aufgewogen wird, die sich an die andere knüpft.

So weit Gutes und Böses noch mit gleicher Kraft in unserer Seele sich gegenübersteht, ist unser Wille weder definitiv schuldvoll noch verdienstvoll.

Erst in dem Augenblick, wo das eine das andere niedergerungen hat, tritt eines von beiden ein.

Nun liegt aber auf der Hand, dass hierzu nur ein Minimum von Übergewicht des schliesslich entscheidenden Antriebes erforderlich ist, dass auch zu den besten Taten nur ein kleines Wenig von überwiegender Sittlichkeit gehört, und dass deshalb das Verdienst an denselben, wenn es sich ausschliesslich an diesem Überschuss messen soll, gar nicht als endliche Grösse erkannt werden kann.

Und hier zeigt sich denn allerdings eine Schwierigkeit, die die ganzen Begriffe von Verdienst und Schuld betrifft.

Wenn wir die falsche Hypostasierung aufheben, die Schuld und Verdienst von einem ganz besonderen, in den Mechanismus der seelischen Strebungen unverständlich eingreifenden Willen abhängig macht, welcher im einzelnen Fall nur gut oder nur böse sein könne; wenn wir vielmehr auch diese Begriffe auf Prozesse zurückführen müssen, deren Faktoren unter gleichen Gesetzen und auf gleichem Boden stehen; wenn ferner die sittliche Schätzung einer Bestrebung abhängig ist von dem Masse der Kraft, welches die entgegengesetzte, überwundene besessen: so folgt notwendig, dass auch diese letztere in der Bilanz von Schuld und Verdienst nicht einfach übergangen und ausgelöscht werden kann; dass also mit einem Wort, wo ein grosses Verdienst vorliegt, weil eine grosse Versuchung, (<266) eine starke Bestrebung zum Bösen erst überwunden werden musste, da doch auch eben deshalb eine grosse Schuld vorliegt; es ist eine sehr richtige Symbolik, nach der die Erkenntnis des Guten und des Bösen an einem Baume wächst.

Ist die Versuchung, wie ich erörterte, keine äusserlich an uns herantretende Macht, sondern wird sie erst in unsrem Innern zur Versuchung und ist sie deshalb in demselben Masse schuldvoll, in dem sie schon Macht über unseren Willen besitzt, so mischt sich diese Schuld doch zu gleichen Rechten in die Gesamtbeurteilung der sittlichen Persönlichkeit, wie die entgegengesetzte Bestrebung, die im Endresultate jene freilich überragte.

Wir haben kein Recht, denjenigen Charakter, den die Handlung durch ein vielleicht nur sehr geringes psychologisches Übergewicht des sittlichen Antriebes trägt, allein zu betonen und den fast ebenso starken unsittlichen zu vernachlässigen und nachträglich zu eliminieren.

Und ebenso umgekehrt: wenn wir angesichts der siegreichen Sittlichkeit den Feind nicht vergessen dürfen, auf Kosten dessen sie triumphierte, der aber doch als Teilinhaber derselben Persönlichkeit in deren Verdienst eine seiner Kraft entsprechende Schuld mischt, so können wir auch die sittlichen Impulse nicht übersehen, deren Bewusstsein die Schuld erst wahrhaft zur Schuld macht und ihr das Mass bestimmt nach der Kraft, deren es zu ihrer Überwindung bedurfte.

Aber eben diese sittlichen Impulse, wenn sie auch schliesslich in der Minorität bleiben, dürfen doch für die sittliche Bilanz nicht schlechthin ausgelöscht werden.

Wenn wir jemandem eine besonders hohe Schuld an seiner unsittlichen Tat deshalb zurechnen, weil wir ein besonders scharfes Bewusstsein des Rechten und besonders starke Triebe nach der guten Seite bei ihm voraussetzen, so muss doch in dem Masse, wie die Versuchung zum Guten, wenn ich diesen Ausdruck brauchen darf, seine Schuld erhöht, eben dies Moment der Sittlichkeit ihm als solches angerechnet werden.

Auch ist dies nicht so zurückzuweisen, dass das Bewusstsein der Pflicht und des Rechten (<267) in solchen Fällen ein rein theoretisches sei, das keine praktische Sittlichkeit in sich schlösse; denn wäre dies der Fall, so kann es der Verwirklichung des Bösen nicht den Widerstand entgegensetzen, den es ihr tatsächlich entgegensetzt und der die Grösse der Schuld begründet; mit Recht sagt der Sprachgebrauch von einem sittlichen Menschen, er kenne seine Pflicht, und reduziert damit den Unterschied zwischen dem Kennen und dem Ausüben derselben.

So wenig wir einen Gegenstand schön nennen können, der uns nicht wirklich gefiele, wenn auch das Moment des Gefallens im schliesslichen Gesamtgefühl gegenüber dem Gegenstand durch Momente des Missfallens überwogen werden mag, so wenig können wir ein Handeln Pflicht nennen, wenn wir nicht wirklich uns in derjenigen Weise daran gebunden fühlen, die den Inhalt des Begriffes Pflicht bildet.

Wenn die Versuchung zum Bösen kein blosses Bild ist, das in uns aufsteigt, sondern eine wirkliche Macht, die unser Handeln zu bestimmen strebt, oder richtiger, die einen Teil unseres Willens wirklich bestimmt, so können wir auch an dem Pflichtbewusstsein, selbst wenn es schliesslich das Handeln nicht bestimmt, die reale Kraft nicht verkennen, mit der es in unserem Seelenleben wirkt und die ihm unter anderen Umständen die Bestimmung über unser Handeln verschafft oder wenigstens die Kraft der unsittlichen Triebfedern zu schwächen hinreicht.

Die Umstände des Lebens stellen den Handelnden freilich oft genug vor die scharfe Alternative, das Gute wie das Böse entweder ganz zu tun oder ganz zu lassen, und in der einzelnen Tat verschwindet diejenige Triebfeder, die sich nicht hat durchsetzen können, vollkommen.

Die Tat erscheint so, als ob diese von vornherein nicht dagewesen wäre.

Wenn wir aber, unter die Oberfläche der Erscheinungen herabsteigend, die Gesamtbeschaffenheit des sittlichen Charakters prüfen wollen, so zwingt uns das Wechselverhältnis zwischen Verdienst und Schuld, indem eines immer das andere zur Voraussetzung hat, auch dasjenige Moment einzurechnen, das schliesslich zwar nicht äusserlich (<268) wirksam geworden ist, aber doch durch sein Vorhandensein dem andren, die Erscheinung hervorbringenden, das Mass seiner sittlichen Qualität bestimmt.

Wer sich höchste Ideale steckt, wird dadurch um so verantwortlicher; er unterstellt sich damit freiwillig einer höheren und strengeren Gerichtsbarkeit.

Es ist aber eben schon sittlicher, dass er sich diese Ideale steckt; die Schuld der Abweichung von ihnen wird so mehr oder weniger durch das Verdienst ausgeglichen, sie überhaupt zu haben.

Es liegt deshalb ein Teil Gerechtigkeit, aber auch ein Teil Ungerechtigkeit in der Tatsache, dass die Rache dessen, was man sittliche Weltordnung nennt, für gelegentliche Verletzungen sich am strengsten an den Menschen vollzieht, die im übrigen die sittlichsten sind - und zwar sowohl in Bezug auf Ahndung durch die Gesellschaft, wie durch das eigene Gewissen.

Durch diesen Begriff von Verdienst und Schuld, der jedes von ihnen nur durch ein aktives Verhältnis zum andern entstehen lässt, gewinnt das ganze Gebiet des Sittlichen eine ausserordentliche Bewegtheit und Belebtheit.

Die zuzurechnende Sittlichkeit erscheint nicht mehr als eine ruhende Qualität, sondern als ein Prozess; durch den Kampf der verschiedenartigen Motive, der erst im Unendlichen in die Versuchungslosigkeit des Heiligen mündet, wird sie aus dem Sein in das Werden übergeführt.

Das Gute wie das Böse hat so stets den Gegensatz bei sich, an dem es sich erweist, und selbst bei relativer Festigkeit und eindeutiger Bestimmtheit in einem derselben liegt das eigentlich sittliche Moment in (<269) den Vorgängen zwischen beiden Kräften, deren Resultat erst jene Alleinherrschaft der einen ist, wie sich denn allenthalben die Qualität eines Menschen viel mehr im Erwerben als im Besitzen, rein als solchem, zeigt.

Vielleicht wird es bei dieser Auffassung besonders klar, wie unnütz der Gedanke vom Intelligiblen Charakter, von der ein für allemal gesetzten sittlichen Bestimmtheit ist.

Das Einzige was gegeben ist, sind die einzelnen Handlungen des Menschen; gewisse innere oder in den Beziehungen zu Anderen sich herausstellende Eigenschaften derselben fassen wir zu dem Begriff des Charakters dieses Menschen zusammen; allein das ist dann ein allgemeiner Begriff, gezogen aus der Summe seiner Lebenselemente, aber nicht die hervorbringende Ursache dieser.

Und wenn man darauf erwiedern wollte, dass die Gleichheit der an ihnen hervortretenden Qualitäten doch auf eine gemeinsame einheitliche Ursache hinweise und dass man eben diese Ursache den Charakter nenne, so wäre damit zugestanden, dass Charakter nichts als der Name für etwas völlig Unbekanntes sei, ein blosses Wort, ähnlich dem Dinge an sich, aus dem wir nichts herleiten können, was wir nicht vorher aus dem empirisch Gewonnenen hineingelegt haben.

Die Erklärung für die erscheinende Gleichmässigkeit im Handeln kann doch unmöglich aus einem Begriff gewonnen werden, den man nur auf Grund der gleichmässigen Erscheinungen des Handelns konstruiert hat.

Drei typische Fehler, die unsere Erkenntnisprozesse noch allenthalben fälschen, begegnen sich in dem Charakterbegriff.

Zunächst die Neigung, die Bezeichnung für ein Problem mit seiner Lösung zu verwechseln.

Für eine gewisse Erscheinung wird eine Ursache vorausgesetzt und dieselbe, die vorläufig ein blosses x ist, mit einem Namen versehen; dieser bezeichnet insoweit also nur eine leere Stelle unseres Erkenntnisfeldes, ist nichts als ein Schema, das künftiger Ausfüllung harrt.

Allein durch den Umstand, dass ein besonderes Wort dafür geschaffen ist, wird die Vorstellung erregt, als ob der reale Inhalt dieser Ursache damit gegeben, eine sachliche, hinter dem Worte liegende Erkenntnis des Vorgangs gewonnen sei.

Das klassische Beispiel hierfür ist der Kraftbegriff.

Wenn die gegenseitige Annäherung zweier Stoffteilchen auf eine Anziehungskraft, die Reproduktion der Vorstellungen auf die Gedächtniskraft, die Lebenserscheinungen auf eine Lebenskraft als auf ihre Ursache geschoben und damit für erklärt gehalten werden, so ist dies genau derselbe Fehler, wie wenn man die Handlungen eines Menschen aus seinem Charakter (<270) als ihrer zureichenden realen Ursache herleitet.

Der Charakter ist nichts als die Hypostasierung der Annahme, dass diese Handlungen ausser ihren äusseren Veranlassungen eine innere Ursache haben müssten, nichts als die Verwechslung des Namens, den man dieser angenommenen Ursache gibt, mit ihrer Wirklichkeit.

Man könnte nun, um die Setzung einer solchen problematischen Ursache zu rechtfertigen, auf die Laplacesche Deduktion vom Ursprunge des Planetensystems hinweisen: da alle Umlaufs- und Rotationsbewegungen innerhalb unseres Sonnensystems in der gleichen Richtung, resp. fast in der gleichen Ebene vor sich gehen, so ist mit einer Wahrscheinlichkeit von vier Billionen gegen Eins anzunehmen, dass dies kein zufälliges Zusammentreffen ist, d. h. dass nicht jede der planetarischen Bewegungen eine besondere, von der andren unabhängige Ursache hat, sondern dass sie sämtlich von einer gemeinsamen Ursache ausgehen, die indes durch diesen Schluss nur gefordert, aber in keiner Weise erkannt ist.

Und das gleiche Recht scheint nun der Gedanke zu haben: da die Handlungen jedes einzelnen Menschen eine grosse Ähnlichkeit unter einander zeigen, so ist mit der höchsten Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass ein solches Zusammentreffen kein zufälliges sei, sondern dass diese Handlungen und ihre Ähnlichkeit aus einer gemeinsamen Ursache hervorgegangen wären.

Und selbst wenn diese Ursache darum noch nicht in ihrem Ansich erkannt würde, so sei doch die blosse Einsicht, dass ein solcher Zusammenhang der persönlichen Handlungen vorhanden sei, wie wir ihn durch das Wort Charakter bezeichnen, schon eine bedeutsame Erkenntnis.

Hiermit wird also ein zweites Moment eingeführt; statt der Verursachung unserer Handlungen überhaupt wird die Einheitlichkeit derselben betont.

Wie nicht die blosse Folge von Ereignissen überhaupt, sondern die Folge von Gleichem auf Gleiches uns auf die Vorstellung einer gesetzlichen Ursache und einer einheitlichen stets gleichwirkenden Kraft bringt, so entsteht die Vorstellung des Charakters nicht nur (<271) dadurch, dass jemand überhaupt handelt, sondern dadurch, dass alle seine Handlungen eine gleiche Qualität tragen; darum ist auch jemand, bei dem dies nicht der Fall ist, »charakterlos«.

Sehen wir aber näher zu, so bleibt von dieser bestechenden Analogie mit den gleichgerichteten Planetenbewegungen nichts übrig.

Denn der Laplacesche Gedanke würde offenbar keinen Wert haben, wenn nicht jene einheitliche Ursache auch auffindbar gewesen wäre; er wies auf eine hypothetische Tatsache - die ursprüngliche Einheit aller planetarischen Substanz in einem Nebelballen - hin, die im Weltbild eine ganz andre Stelle einnimmt, als die zu erklärende Erscheinung und erst in synthetische Verbindung mit dieser zu bringen ist.

Wäre es a priori unmöglich gewesen, eine solche mit selbständigem Inhalt erfüllte Tatsache zu finden, so würde unsere Erkenntnis der ganzen Angelegenheit sich doch darauf beschränken, dass jene einzelnen gleichartigen Erscheinungen vorliegen, und die Forderung einer Ursache dieser Gleichartigkeit würde ein blosses Wort bleiben.

Dagegen würde die Analogie einen realen Sinn haben, wenn etwa die Lokalisation der Psyche im Gehirn jener rohen materialistischen Annahme folgte, dass jeder inhaltlichen oder formalen Einheit seelischer Vorgänge ein einheitliches Organ im Gehirn entspräche; denn dann würde der Schluss aus einer entdeckten Einheit psychischer Erscheinungen auf eine gemeinsame Ursache wirklich den Weg zu einer Erfüllung dieser Forderung zeigen, und die Ursache bliebe, wenn nun wirklich der Herd für die Einheitlichkeit unserer Willenshandlungen im Gehirn entdeckt wäre, kein blosses Wort mehr, sondern wäre eine für sich bestehende Realität, deren Verbindung mit jener etwas wirklich Neues und Aufklärendes bedeutete.

In dem Falle der Planeten, mit einem Wort, weist die Gleichartigkeit der Erscheinungen auf eine andre einzelne Erscheinung als Ursache hin, in dem psychologischen Fall aber auf den Charakter, der nicht selbst einzelne Erscheinung ist, sondern jeder solchen zu Grunde liegen soll und (<272)deshalb nur durch falsche Hypostase einen realen, ausserhalb der erscheinenden Gleichmässigkeit liegenden Sinn zu enthalten scheinen kann.

Und hier kommen wir auf den zweiten psychologischen Fehlertypus im Charakterbegriff.

Dieser letztere kann als Beispiel für die Häufigkeit des Vorkommnisses gelten, dass man eine Erscheinung dann für erklärt hält, wenn sie mit sehr vielen andern gleichartig ist.

Das Rätsel, das eine fremdartige Erscheinung uns aufgibt, gilt den meisten Menschen für gelöst, sobald sich diese Erscheinung als andren, bekannten, homogen enthüllt, wobei es gleichgültig ist, oder richtiger, ganz jenseits des Bewusstseins bleibt, ob diese andren denn ihrerseits kein Rätsel mehr aufgeben.

Das Alltägliche ist für den durchschnittlichen Verstand kein Problem, weil er daran angepasst ist, und jeder einzelne Inhalt weist auf die Totalität der andren gewissermassen als auf einen Beruhigungsgrund für den fragenden Geist hin.

Auch hier zeigt sich die Bedeutung der Unterschiedsempfindlichkeit: nur der Abstand von dem Gewohnten und den bisherigen Anpassungen erregt das Fragebedürfnis.

Eine sehr grosse Anzahl gleichartiger Einzelheiten verdichtet sich zu einem logisch-psychologischen Gebilde, das nun jeder dazu gehörigen Einzelheit als ein Wesen andrer Art und Dignität gegenübersteht, ungefähr wie die menschliche Gattung dem einzelnen Menschen.

Dieser Zug unseres Geistes, das Einzelne durch seine Beziehung zu sehr vielem gleichartigem andren für begründet zu halten, ist der letzte Ursprung der platonischen Ideenlehre.

Es würde ganz unverständlich sein, was denn mit der Zurückführung der Einzelheit auf die Idee gewonnen wäre, da die Idee nur der substanziierte Allgemeinbegriff ist, der seinen Inhalt doch nur aus den Einzelheiten gewinnt; wir würden vor einem psychologischen Rätsel stehen, wieso Plato und so manche andre aus dem Begriffe, den sie erst aus den Wirklichkeiten zusammengebracht haben, die Wirklichkeit zu gewinnen meinten - wenn nicht dieses quantitative Moment (<273) seine Macht übte, wenn nicht die Einzelheiten, in sehr grosser und verdichteter Fülle betrachtet, wie der Begriff sie enthält, den Geist in völlig anderer Weise affizierten, wie jede Einzelheit für sich betrachtet.

Und die Idee oder der Begriff in ihrer scheinbaren Losgelöstheit und Selbständigkeit ist doch nur der Ausdruck für die psychologische Qualität der Vielheit gegenüber der Einheit, und die Beruhigung, die der Geist in der Einordnung der letzteren in die gewöhnte erstere findet, gewinnt gewissermassen substanzielle Form in der Vorstellung, dass die Idee der Ursprung und Urgrund der Einzelerscheinung wäre.

Wie nun für Plato die Idee des Schönen oder die Schönheit die Ursache des einzelnen Schönen ist, wie das einzelne Gute sein Wesen von der Idee des Guten zu Lehen trägt, obgleich diese Ideen nur die psychologischen Konzentrationen alles einzelnen Schönen und Guten sind, gerade so erscheint der Charakter als die Quelle, als Real- und Erkenntnisgrund der einzelnen Handlung, wenn er auch nur die Summe der gleichartigen einzelnen Handlungen in sich enthält, die der gerade vorliegenden völlig koordiniert sind; die Eigenschaft unseres Geistes, das Einzelne für erklärt zu halten, wenn es als Wiederholung eines gewöhnten Falles vorgestellt wird, hat auch ihm, der nur die Substanzialisierung des Gleichartigen in der Gesamtheit unserer Handlungen ist, seine scheinbar superordinierte Stellung der einzelnen Handlung gegenüber verschafft.

Dieser Mensch hat immer so gehandelt - folglich gilt die neue Handlung als »aus seinem Charakter erklärt«, wenn wir zeigen, dass sie desselben Wesens ist!

Es kommt endlich der folgende Fehler hinzu.

Die gewöhnliche Auffassung will die vermutete Beharrlichkeit einer bestimmten Eigenschaft oft mit dem Satz erweisen, dass der Mensch seinen Charakter nicht ändere - und bemerkt nicht, dass sie ja nur dasjenige am Menschen, was sich bisher erfahrungsmässig nicht geändert hat, seinen Charakter nennt, während die beobachtete Variabilität von Eigenschaften diese sofort aus dem »Charakter« ausscheiden lässt.

Es müsste (<274) aber doch erst nachgewiesen werden, dass die bisher bleibenden Seiten eines Menschen noch sonstige sachliche Beziehungen und Unterscheidungsgründe haben, die sie berechtigen, als sein Charakter oder seine Natur anderen Wesensäusserungen von ihm gegenübergestellt zu werden; andernfalls erklärt es nicht das Geringste, wenn wir die gleichartigen Handlungen zusammenfassen und sie auf einen »Charakter« schieben, dem gegenüber die Ursachen der wechselnden Handlungen zufällige seien.

Das ist der gleiche Fehler, wie ihn die Entwicklungslehre zu bekämpfen hat, wenn man gegen sie einwendet, die erblichen Abänderungen beträfen nur unwesentliche Teile.

Hier hat nun Darwin selbst auf den Zirkel aufmerksam gemacht, in dem sich die Forscher meistens bewegen, indem sie diejenigen Organe, an denen man bisher noch keine Veränderung wahrgenommen hat, für wichtige erklären.

So hat man auch Arten von blossen Varietäten durch das Kennzeichen zu unterscheiden gemeint, dass sich verschiedene Arten nicht fruchtbar mit einander kreuzen, was unter Varietäten sehr wohl möglich sei; die Sache ist nur die, dass, sobald zwei bisher als Varietäten angesehene Formen sich einigermaassen steril mit einander zeigten, sie von den meisten Naturforschern sogleich zu Arten erhoben wurden.

Aus diesem Zusammenhänge heraus wird es klar, dass die Behauptung, der Mensch ändere seinen Charakter nicht, auch in ihrer häufigen Anwendung auf den Menschen als Gattung ebenso gefährlich ist wie in der auf die Individuen, denn sie verfestigt die bisher als unverändert beobachteten menschlichen Wesenszüge in der Idee einer substanziellen, diese Stabilität hervorbringenden Ursache, gerade wie man die anscheinende Unveränderlichkeit der organischen Arten in der Vorstellung festbannte, dass einer jeden je ein ewiger Schöpfungsgedanke Gottes zu Grunde läge.

Sowie man über die bisherige Empirie betreffs der Unveränderlichkeit des menschlichen Wesens zu einem mystisch ewigen Grunde derselben fortgeht, verliert man einerseits den Blick für die wirklich vorgehenden Abänderungen, andrerseits (<275) unzählige Male den Mut und die Freudigkeit in der Einleitung einer solchen.

So kommen wir von allen Seiten darauf, dass der Charakter als ein jenseits der Flucht der einzelnen psychischen Erscheinungen stehender Urgrund derselben eine blosse Illusion ist, ein Produkt des hypostasierenden mythologischen Triebes, wie die Seele und die Seelenvermögen.

jede Bewusstseinserscheinung muss nach Regeln des beobachteten Zusammenhanges mit anderen erklärt werden, aber nicht durch Zurückgreifen auf derartige mythische Wesen, die nur durch eine täuschende Spiegelung die Willkürlichkeit, mit der sie aus dem Material der Wirklichkeit gebildet sind, und die Hohlheit verbergen können, mit der sie statt der Sache nur ein Wort geben.

Schliesslich ist die Lehre vom intelligibeln und unveränderlichen Charakter eine Folge der Ausnahmestellung, die man den ethischen gegenüber den psychologischen Vorgängen als solchen gab.

Die Ewigkeit und Unveränderlichkeit, durch die sich die sittlichen Ideale auszeichnen sollten, schien auch dem Verhältnis, in dem das Individuum zu ihnen stand, einen transzendenten, allem Wechsel entzogenen Charakter zu verleihen.

Jene Zeitlosigkeit der Wahrheit und der Naturgesetze, jene Gleichgültigkeit gegen die Zahl ihrer Verwirklichungen, kommt gewissermassen auch der sittlichen Forderung zu, ja ausdrücklich wird ihr zugesprochen, dass sie an ihrem Wesen und ihrer Würde nichts einbüsst, auch wenn sie nie verwirklicht worden wäre.

Dieses sachliche und ideale Wesen des Sittlichen färbt sein menschliches und reales Wesen ab und scheint deshalb in der Ruhelosigkeit und der inneren Gegensätzlichkeit der bloss psychologischen Vorgänge keine rechte Stätte zu finden.

Es fordert eine Heimat ausserhalb dieser, die man ihm in dem »Charakter« des Menschen gewährte, welcher immer derselbe bleiben soll, während die erscheinenden Verschiedenheiten des Handelns auf die Macht äusserer Einflüsse und Zufälligkeiten geschoben werden.

Dieser Verwechslung zwischen der ideellen (<276)Geltung und der Realität des Sittlichen, die wenigstens die Form der ersteren auch in der letzteren sehen will, diesem unklaren Hineinragen eines Intelligiblen und Ewigen in das Empirische und Fliessende arbeitet unser Begriff von Verdienst und Schuld auf das Entschiedenste entgegen, indem er die sittliche Qualität des Menschen in den fortwährenden Prozess zwischen verschieden gerichteten psychologischen Kräften setzt; sie wird damit von der Stabilität erlöst, die sie jenseits des Flusses der Dinge zu stellen und ihr so den Charakter eines rein psychologischen Ereignisses zu nehmen schien.

Ich will indes, gerade vom psychologischen Standpunkt aus, noch einen allgemeineren Gedanken betonen, der die Zerlegung des sittlichen Prozesses in mehrere Faktoren beleuchten und relativ einschränken mag.

Sehen wir einmal von der transzendentalen Wahrheit ab, dass im letzten Grunde jeglicher Gedanke nur als Erscheinung in einem subjektiven Bewusstsein lebt, so unterscheiden wir mit Recht zwischen dem relativ objektiven Verhalten der Dinge und unserer relativ subjektiven Auffassung derselben.

Als eine der häufigsten Diskrepanzen zwischen diesen beiden erscheint nun die Zerlegung von Vorgängen in eine Anzahl von Ursachen, während sie in Wirklichkeit durch viel einheitlichere Kräfte veranlasst sind.

Die vielfachen Momente, in die unser analysierender Verstand die Ereignisse auseinanderlegt, erscheinen uns gar zu leicht als reale und real getrennte Komponenten derselben; die Teile der Erscheinungen, in die wir sie durch nachträglich gezogene Grenzen zerfallen, treten uns oft als Kräfte und Wesen entgegen, die aus einem selbständigen Fürsichsein heraus jenes Ganze erst zusammensetzten.

Der Irrtum kann dabei nach zwei Seiten stattfinden, indem bei wirklichem Zusammengehen mannigfaltiger Selbständigkeiten zu einem einheitlichen Ganzen die von uns gezogenen Teilstriche nicht das objektive Gefüge der Dinge treffen, sondern dasselbe nach ihm fremden Gesichtspunkten (<277) durchschneiden; andrerseits kann objektiv eine Einheitlichkeit der Verursachung herrschen, der gegenüber die ganze kausale Analyse willkürlich und subjektiv ist.

Ich erinnere nur an die psychologischen Raumtheorien, die durch ihre Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, von der grössten Einfachheit bis zur grössten Komplikation der vorausgesetzten Ursachen, beweisen, wie viel Freiheit sogar der besonnenere Geist in der Analyse der Erscheinungen besitzt.

Auch die Sprache verführt uns in solchen Fällen leicht, z. B. bei der Bezeichnung gewisser nur mit verfeinerter Kultur auftretender Halbverhältnisse zwischen Menschen; denn sie ist im wesentlichen der Kulturlage ihrer Schöpfungsperiode entsprechend nur für entschiedene Verhältnisse gebildet und hat für jene ungewissen, schwebenden, gleichsam nur aus Obertönen bestehenden Beziehungen so wenig einfache Ausdrücke wie für die ihnen zu Grunde liegenden Gefühle.

Es bleibt uns nichts übrig, als sie als Mischungen zweier ganz andersartiger zu bezeichnen.

So wenig das Grün, das wir sehen, immer aus einer Mischung von blau und gelb hervorgegangen ist, obgleich wir es in diese Elemente zerlegen können, so wenig bestehen unsere sogenannten gemischten Gefühle wirklich immer aus den verschiedenartigen Elementen, in die sie unser analysierender Verstand nachher zerlegt und zerlegen muss, um sie einigermaassen sprachlich auszudrücken.

Ein Mischgefühl z. B. aus Freundschaft und Liebe, aus ästhetischem Wohlgefallen und ethischer Verachtung, aus Pflicht und Neigung, aus mütterlichem oder väterlichem und spezifisch erotischem Empfinden braucht gar kein Mischgefühl in dem Sinn zu sein, dass die beiden Elemente tatsächlich darin vorhanden und jedes für sich zu seiner Bildung beigetragen hat; sondern es kann ein ganz selbständiges, einheitliches Gefühl sein, ebenso wie jedes seiner scheinbaren Elemente, und nur Sprache und Denkgewohnheit zwingen uns, ein Doppelwesen daraus zu machen.

Die äusseren Ursachen können mehrfache sein, die Gefühlswirkung ihres Zusammenseins braucht sich aber nicht aus den Gefühlen (<278) zusammenzusetzen, die jeder ihrer Ursachen, wenn sie für sich allein wirkte, entspräche, sondern kann völlig sui generis sein.

Es ist dies ähnlich wie die scheinbare Mischung zweier Dialekte oder Sprachen zu einer dritten; tatsächlich beruht dies ebenso oft auf selbständig organischer Entwicklung derselben wie auf äusserlicher Mischung jener beiden, als deren Mittelglied sie sich darstellt.

Ich glaube nun, dass in der Auffassung des psychischen Prozesses, den wir in schuld- und verdienstvolle Momente auseinanderlegen, die Gefahr einer solchen Willkürlichkeit der Auffassung besonders nahe liegt.

Die sittliche Beurteilung unserer selbst wie anderer ist uns von solcher Wichtigkeit, die Kategorien derselben sind uns so gewohnt, dass wir gewiss IM nachträglich beurteilenden Bewusstsein oft solche Willensprozesse in gute und böse Teilvorgänge auseinanderlegen, in denen tatsächlich gar keine Differenzierung zwischen diesen Momenten stattgefunden hat.

Wie uns die Tatsachen des Lebens oft als Kompromiss zwischen mehreren verschieden gerichteten Maximen erscheinen, und wie wir uns dabei gewissermaassen durch eine Spiegelung täuschen lassen, die die Momente, in die man die Erscheinung nachträglich zerlegen kann, als ihre vorhergehenden realen Erscheinungsgründe zeigt: so wird die Gesinnung eines Menschen, die wir als aus Gutem und Bösem gemischt beurteilen, gewiss oft tatsächlich nicht aus beidem gemischt sein, da dies eine vorhergehende getrennte Existenz der gemischten Elemente voraussetzt, sondern es ist ein einheitlicher Prozess, den wir nur analysierend unter verschiedene Gesichtspunkte bringen.

Wie die Beurteilung des Guten und Bösen als solchen überhaupt erst Sache eines differenzierteren Intellekts ist, so findet sich auch das eigene Bewusstsein, in dem Schuld und Verdienst sich gründen, keineswegs immer von dem einen oder dem andren entschieden erfüllt, sondern oft in einem Zustande der Indifferenz, der nur Elemente und Material zu beidem enthält.

Für solche Mischzustände, gegen die wir nicht selten ungerecht sind, weil wir die Elemente, die eine nachträgliche (<279) Analyse ergibt, mit den tatsächlich bewussten verwechseln, haben wir vielfache Beispiele in der Lügenhaftigkeit.

Die Auffassung der Wirklichkeit ist bei Menschen niederer Bildung eine so wenig scharfe, das Verhältnis zwischen dem Eindruck eines Vorgangs und seiner begrifflichen Fixierung ein so lockeres, dass es selbst bei einfacheren Vorstellungen schon objektiv nicht zu völliger Klarheit darüber, was denn nun die wirkliche, vollkommene Wahrheit sei, zu kommen pflegt.

Die bekannten oft masslosen Verschiedenheiten, die die Erzählung des gleichen Vorgangs durch mehrere Augenzeugen aufweist, wiederholen sich natürlich als Unsicherheiten im Kopfe jedes einzelnen.

Die Folge hiervon und anderer noch zu erwähnender psychologischer Umstände ist, dass der Begriff der Wahrheit und der Pflicht, sich an sie zu halten, vielfach in einer gewissen Verschwommenheit bleibt, dass die Rede vieler Menschen, namentlich wenn ein persönliches Interesse ihnen eine unbewusste Tendenz gibt, in einem Zwischenzustande zwischen Lüge und Wahrheit bleibt, in dem sie sich selbst nicht recht darüber klar sind, was eigentlich das eine und was das andere ist.

Der logische Unterschied zwischen beiden, wonach jeder Satz nur wahr oder falsch sein kann, hat hier seine Schärfe verloren.

Es kommt hinzu, dass die Wahrheit uns doch schliesslich nur in der Form einer bestimmten psychologischen Konstellation zugänglich ist und dass, weil die Wirklichkeitsvorstellungen, das Logische, sich nur allmählich aus dem bloss Psychologischen herausbilden, zwischen beidem nur ein gradueller Übergang besteht, den das rohere Bewusstsein vielfach nicht bis zu Ende vollzieht.

Es bleibt vielmehr zwischen den Vorstellungen, die ihm der Leichtsinn, das Interesse, der Wunsch, dass es so sein möchte unterschieben, einerseits, und der Wahrheitsvorstellung andrerseits gewissermassen in der Mitte stehen.

Ein alter rabulistischer Advokat erwiderte, wie zuverlässig berichtet wird, auf die vertrauliche Frage eines Kollegen, ob er denn wirklich an die Argumente selber glaube, die er soeben mit so grosser Sicherheit vorgebracht (<280) habe: »Wenn Sie erst wie ich 40 Jahre lang werden Schwindelprozesse geführt haben, werden Sie selbst nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden können.« Würde man in solchen Fällen den psychischen Prozess in ein klares Bewusstsein der Wahrheit und positiven Pflicht zu ihr und in ein eben solches der Lüge und der entsprechenden negativen Pflicht auseinanderlegen und darauf Schuld und Verdienst bauen, so würde man doppelt irren, weil der psychologische Zustand für beides nicht genügend differenziert ist.

Auch die analysierende Beurteilung des eigenen Seelenlebens kann diesem Irrtum leicht unterliegen; wo eine Tat aus dem unentschiedeneren Seelenzustande heraus geschah, in dem die Ansätze von Schuld und Verdienst noch nicht weit genug entwickelt sind, um das Licht des Bewusstseins und damit erst ihr eigentliches Wesen zu empfangen - auch da wird sich dem ethischen Hypochonder das nachträgliche Bewusstsein, dass er hätte anders handeln sollen, als ein vorhergängiges spiegeln, demzufolge sich ihm dann die Tat als eine an der Stärke dieses jetzigen Bewusstseins gemessene Schuld darstellt.

Andrerseits wird ethischer Dünkel die Zufriedenheit mit einer Tat dadurch erhöhen, dass er die Möglichkeit einer anderen Handlungsweise als bewusste Versuchung vor die Tat verlegt, um dieser nachträglich ein höheres Verdienst zuschreiben zu dürfen.

Gerade weil Schuld und Verdienst sich gegenseitig voraussetzen, weil zur Schuld die Erkenntnis des Guten, zum Verdienst die Versuchung durch das Böse gehört, wird es sehr oft zu beidem nicht kommen, sondern das Bewusstsein wird in einem unklaren Zwischenzustande befangen bleiben, der erst der nachträglichen Analyse beides zu enthalten scheint.

Die Erkenntnis des Guten und des Bösen in ihrer ganzen Schärfe und als Grundlage der voll zuzurechnenden Schuld und Verdienstes ist erst der Gipfel der ethischen Bewusstseinsentwicklung.

Schon deshalb ist die scharfe Einteilung in Böcke und Schafe für eine tiefere ethische Betrachtung unzulässig.

Glaubt die Kirche dennoch aus dogmatischen (<281)Gründen einer solchen zu bedürfen, so zeigt es einen durchaus richtigen Sinn, dieselbe von so äusserlichen Tatsachen wie Taufe und Absolution ist, abhängig zu machen.

Denn bei diesen ist ein entschiedenes ja oder Nein möglich, das sofort abgeschnitten und in eine schwankungsvolle, des absoluten Resultates entbehrende Diskussion hinabgezogen wird, sobald das Kriterium ein rein innerlich ethisches ist.

Die Kluft zwischen der logischen und der psychologischen Gestaltung der Dinge zeigt hier eine typische Wirkung auf das Ethische.

Die Verfestigung der ethischen Forderung in einem bestimmten Begriff hat zur Fortsetzung oder zum Korrelat, dass jede zu beurteilende Persönlichkeit ganz innerhalb oder ganz ausserhalb der sittlichen Billigung steht.

Die Schärfe, mit der sich die Forderung als solche von allem begrifflich Abweichenden scheidet, spiegelt sich in der Entschiedenheit, mit der der Einzelne als ihr genügend oder nicht genügend beurteilt wird.

Denn man fürchtet, dass die Reinheit des Prinzips darunter leiden könnte, wenn die danach beurteilten Einzelwesen ein schwankendes, gemischtes, halbes Verhältnis zu ihm hätten; die Einheit des Prinzips einerseits, die Einheit der Persönlichkeit andrerseits scheint es mit sich zu bringen, dass sich beide nur ganz oder gar nicht decken können und ein wechselndes oder unvollständiges Mass dieser Deckung scheint die Unzweideutigkeit und schwankungslose Sicherheit jenes Prinzips zu bedrohen.

So bemerken wir, dass Frauen den Bruch der Sitte, namentlich durch Frauen, mit äusserster Härte, auf die blosse äussere Tatsache der nicht legitimierten Hingabe hin verurteilen, während sie andrerseits doch einen solchen Bruch, so lange es angeht, nicht zugeben, sondern im Gefühl, dass es die Ehre ihres Geschlechts gelte, die Handlungsweise anderer Frauen gut auslegen.

Der Zusammenhang ist eben der, dass die Sitte dasjenige Lebenselement ist, aus dem die sonst dem Egoismus des Stärkeren preisgegebene Frau Schutz und Einfluss gewinnt, und das in seiner Reinheit und Wirksamkeit (<282) am sichersten durch entschiedenen Einschluss oder entschiedenen Ausschluss der Individuen erhalten wird.

In genau gleichem Sinne haben Religionsgesellschaften und politische Parteien das Bestreben, Dissidenten noch so lange wie möglich als eigentlich zu ihnen Gehörige zu behandeln, dahin zu wirken und so zu tun, als ob sie noch in dem alten Kreise eingeschlossen wären - von dem Augenblick an aber, wo das nicht mehr angeht, sie nun auch mit der grössten Entschiedenheit auszustossen und zu perhorreszieren.

In diesen Erscheinungen geht der Begriffsdogmatismus in der Festsetzung des Moralprinzips eine Allianz mit dem praktischen Dogmatismus ein; die Schroffheit des letzteren, deren Folge und Symbol es ist, dass das Verhältnis zu einer substanziellen Äusserlichkeit das ja oder Nein der Sittlichkeit ein für allemal bestimmen soll, muss in dem Augenblick fallen, in dem weder die moralischen Qualitäten noch die moralischen Ideale als ruhender Bestand gefasst werden.

Wie der Mensch als Intellekt nur eine Summe von Vorstellungen ist, so ist er als Charakter nur eine Summe von Handlungen.

Seine Qualität als solche reicht nicht über die einzelnen Handlungen hinweg und darum ist sie immer von neuem als Resultante der mannigfaltigen und divergenten Kräfte festzustellen, aus denen überhaupt das Handeln zustande kommt.

Wie wir uns nun den Kampf und die Ausgleichung zwischen den entgegengesetzten Trieben des Näheren zu denken haben, darüber haben wir bei dem augenblicklichen Stande der Psychologie sehr wenige Anhaltspunkte.

Doch können wir jedenfalls hier und da eine jedenfalls falsche Vorstellung darüber ausschliessen.

Zu einer solchen dürfte vor allem der gebräuchliche Ausdruck verführen, die Sittlichkeit in uns kämpfte mit unserer Unsittlichkeit, oder jeder sonstige, der die Sittlichkeit und die Unsittlichkeit als Parteien ansehen lässt, deren dynamisches Verhältnis den sittlichen Prozess entschiede.

Es wird dabei gar zu leicht übersehen, dass die Sittlichkeit oder Unsittlichkeit nur in den seltensten Fällen (<283) den direkten Inhalt des Willensaktes ausmacht.

Wenn von den entgegengesetzten Motiven in uns je eines sittlich, das andere unsittlich ist, so sind dies Beziehungen oder Wertungen derselben, die keineswegs immer als bewusste Kräfte in den Kampf eintreten.

Wenn ich mich z. B. in dem Konflikt befinde, entweder an einer sozialisierenden Einrichtung mitzuarbeiten, die die Lebenslage der unteren Stände heben soll, oder ihr entgegenzuarbeiten, um gewisse persönliche Vorteile nicht aufzugeben, so ist freilich ein sittliches Motiv mit einem unsittlichen im Kampfe, allein die Schwankungen, das wechselseitige Sichverdrängen findet zwischen den sachlichen Vorstellungen dieses und jenes Tuns statt, von denen die eine überwunden werden muss, damit die andere denjenigen Grad von Intensität erreiche, den wir das wirkliche Wollen nennen; und der Ausdruck: meine Sittlichkeit streite in diesem Falle mit meiner Unsittlichkeit, macht wieder einmal aus einer nachträglichen Abstraktion eine wirkende Realität.

Meine Sittlichkeit ist ein Allgemeinbegriff, der aus meinen einzelnen sittlichen Handlungen gezogen ist, aber so wenig die hervorbringende Ursache dieser, wie etwa das Tempo meiner Bewegungen aus meiner Langsamkeit oder Schnelligkeit hervorgeht; diese letzteren sind vielmehr auch nur substanzialisierte Eigenschaften jener Bewegungen, aber nicht wirkende Kräfte.

Populärerweise wird die Sittlichkeit und die Unsittlichkeit als Seelenvermögen vorgestellt, als Potenzen, die in einem gewissen Grade vorhanden seien und aus denen dann die einzelnen entsprechenden Handlungen quellen, wie einzelne Ausgaben aus einem in bestimmter Summe vorhandenen Vermögen bestritten werden.

Ich glaube, dass der Trieb, unsere Abstraktionen zu selbständigen Wesen zu hypostasieren, uns hier einen seiner täuschendsten Streiche spielt.

Wir können die Unsittlichkeit nicht als eine Kraft ansehen, die den sonstigen realen Kräften des Seelenlebens koordiniert wäre.

Von jedem gegebenen Zustand der Seele aus leiten Gesetze der Verschmelzung und Trennung, der Erregung, der Übertragung (<284) und des Verbrauches der Kraft zu jedem anderen, während die Unsittlichkeit nie als eine dieser unmittelbaren Veranlassungen der Tat erscheint.

Es ist eine durchaus irreführende Vorstellung, dass ich gut handle, weil ich ein sittlicher Mensch bin, oder weil ein gewisses Mass von Sittlichkeit in mir ist; die Sittlichkeit ist so wenig vor der Willenshandlung in mir und bringt dann die Handlungen zuwege, wie die Eigenschaft vor der Substanz da ist, deren Attribut sie ist.

Und wenn man sagen wollte: es müsse doch eine Ursache, eine latente Kraft zuvor da sein, damit überhaupt die Handlung geschehen könne, und diese im Individuum ruhende, die sittliche Einzelheit gestaltende Ursache nenne man eben die Sittlichkeit des Individuums - so ist dies eine Selbsttäuschung.

Denn was die Sittlichkeit erst veranlasst, kann nicht selbst schon Sittlichkeit sein, so wenig die angeborenen Spannkräfte, aus denen sich später das Vorstellungsleben entwickelt, selbst schon Vorstellungen sind, was freilich in der Diskussion über apriorische, angeborene und unbewusste Vorstellungen oft genug übersehen worden ist.

Wir verstehen nach gewöhnlichem Sprach- und Denkgebrauche unter Sittlichkeit genau die gleiche Kraft oder Eigenschaft, die in den einzelnen sittlichen Handlungen als solchen erscheint, sie enthält nichts, was erst der Umsetzung bedürfte, um sittliches Handeln zu ergeben, sondern verhält sich zu diesem nur wie das Allgemeine zum Einzelnen.

Ich bin doch erst in dem Augenblick sittlich oder unsittlich, in dem ich etwas will, und bin es genau nur in dem Masse, in dem dieses aktuelle Wollen jene Eigenschaften enthält.

Die unnütze Verdopplung der Dinge, die Erbschaft der mythologisch-platonisierenden Epoche der Geistesgeschichte lässt uns die Sittlichkeit als ein relativ für sich bestehendes Wesen in uns erscheinen, als die höhere Kraft, die über den einzelnen, sozusagen über den Atomkräften der Seele stünde, so dass der psychologische Mechanismus nur das auszuführen hätte, was die dirigierende Sittlichkeit oder Unsittlichkeit anordnete.

Allein das ist der (<285) gleiche Fehler, wie wenn man über die einzelnen Wirkungen und Wechselwirkungen der organischen Zellen noch eine besondere Lebenskraft setzt oder über die Beziehungen der Individuen in einer Gemeinschaft noch eine besondere Volksseele, so dass diesen höheren Potenzen gegenüber die Wirkungen der einzelnen Teile zu Sekundärereignissen herabgedrückt würden.

Wie vielmehr Lebenskraft nichts ist, als die Summe der zwischen den kleinsten organischen Teilen sich entwickelnden, aber nicht aus ihnen heraustretenden Kräfte; wie die Volksseele ihren Inhalt nur an den Vorgängen in den Individuen hat; so gibt es auch in der Seele keine allgemeinen übergeordneten Kräfte, sondern alles Höhere, Allgemeinere ist nur Summierung oder Abstraktion, schliesst nur die durch die primären Kräfte hervorgebrachten Effekte in einem nachträglichen Begriff zusammen.

Sittlichkeit und Unsittlichkeit sind so wenig vor oder ausserhalb der einzelnen sittlichen oder unsittlichen Willensakte vorhanden, wie Hitze oder Kälte ausserhalb der heissen oder kalten Dinge.

Wenn wir also den Akt, in dem sich Verdienst und Schuld realisieren, verstehen wollen, so müssen wir die einzelnen psychischen Kräfte, die einzelnen Vorstellungen und den Grad ihres Gewolltwerdens untersuchen, während der Gedanke, dass die Sittlichkeit in uns als Ganzes in einen Kampf mit unserer Unsittlichkeit trete, nur ein abstrakter und eigentlich bildlicher Ausdruck ist.

Die Sittlichkeit mag ja nun zu einem solchen Einzelmotiv werden; dann nämlich, wenn das sittliche Handeln, wie Kant verlangt, nicht um der Sache willen, sondern ausschliesslich um der Pflicht willen eintritt; allein nicht nur, dass in der Mehrzahl der Fälle dieses abstrakte Motiv nicht wirkt, vielmehr ein einzelnes konkretes Ziel gewollt wird, sondern das Gegenstück dazu findet auch so gut wie nie statt: dass die Unsittlichkeit als solche den Inhalt des Willens bildet.

So viel unsittliche Dinge gewollt werden, sie werden doch nicht gewollt, weil sie unsittlich sind, sondern dies ist ein Nebenerfolg und oft ein bedauerter, der neben den psychologischen (<286) Triebkräften dieses Wollens steht; und wir handeln nicht schlecht, weil die Unsittlichkeit uns dazu bewegt, sondern das einzelne Gefühl, das wir uns verschaffen möchten, der einzelne Zustand, von dem wir irgend eine Befriedigung hoffen.

Die Unsittlichkeit aller dieser ist nur der Kollektivbegriff für eine ihnen gemeinsame Eigenschaft.

- Mit alledem soll nur die Vorstellung abgeschnitten werden, als ob der einzelne sittliche Akt die Wirkung einer Sittlichkeit als allgemeiner Kraft in uns wäre und als ob demnach der Erwerb von Schuld und Verdienst in einem Kampfe der Sittlichkeit als Gesamtpartei in uns mit der Unsittlichkeit als ebensolcher bestünde.

Nur die abstrakte Reflexion, die das Verhältnis von Begriffen feststellen will, darf sich der Kürze halber so ausdrücken.

Wo es auf die Erkenntnis der Wirklichkeiten ankommt, darf nur Einzelnes aus Einzelnem, jeder Vorgang nur durch Zerlegung in die einfachsten Triebkräfte erklärt werden, wie weit wir auch in der hier vorliegenden Frage noch von der genauen Erfüllung dieser Forderung entfernt seien.

Die Willensfreiheit, nach der zu fragen wir vorhin ablehnten, hat zu Erörterungen über Schuld und Verdienst vielleicht nicht die Beziehung einer Grundlage, sondern eher einer Folge.

Während es scheint, als wäre Verdienst und Schuld nur möglich, wenn wir die Freiheit voraussetzen, lässt sich wahrscheinlich machen, dass der Freiheitsbegriff in einem Deszendenzverhältnis zu jenen steht und in ihnen das Mass seiner relativen Berechtigung findet.

Alle Freiheitsvorstellung beruht darauf, dass neben dem Wirklichen noch ein Mögliches denkbar ist.

Ginge unser Vorstellen dem unausweichlich bestimmenden Lauf der Dinge einfach parallel, bewegte es sich nur in einer Abspiegelung oder ebenso sicheren Berechnung der objektiven Ereignisse, so würde es zu dem Freiheitsgedanken nicht kommen.

Allein die rein problematische Vorstellung eines anderen Geschehens, (<287) eines anderen Handelns, als das wirkliche ist, reicht als solche noch nicht zu; auch von dem Geschehen in der äusseren Natur können wir uns denken, dass es auf andere Weise verlaufe als es tatsächlich geschieht, ohne dass wir ihm doch die Freiheit, auf jene statt auf diese Weise zu verlaufen, zugestehen.

Es bedarf dazu offenbar eines positiven Anhaltspunktes, einer auf die nicht eintretende Handlung doch hinweisenden Kraft, damit sich über die blosse Denkbarkeit derselben die Vorstellung erhebe, dass sie real möglich und die tatsächlich geschehende nicht die allein mögliche und absolut notwendige Handlung sei.

Dass wir wirklich das Gute statt des Bösen hätten tun können, dass wir die Freiheit zu dem einen ebenso wie zu dem anderen besassen, würden wir nicht glauben, wenn über unserer wirklichen Handlung die Vorstellung der entgegengesetzten mit keiner grösseren Annäherung an Realität schwebte, als etwa der Gedanke, dass sich die Weltkörper auch in anderen Verhältnissen als im umgekehrten des Quadrats der Entfernungen anziehen könnten; vielmehr trägt jene Möglichkeit psychologisch schon sozusagen einen viel höheren Grad der Verwirklichung in sich.

Diesen aber erlangt sie dadurch, dass sich ausser demjenigen Antriebe, der zur wirklichen Handlung führt, noch ein solcher zu der entgegengesetzten im Bewusstsein findet, ein Ansatz zu ihr, der bis zu einer gewissen Grenze, soweit seine Kraft eben reicht, sich von jenem psychologisch so wenig unterscheidet, dass man bis dahin nicht weiss, welcher von beiden obsiegen wird.

Gewiss wird es schliesslich nur der eine ganz und der andere gar nicht, und gewiss hat die Gesetzmässigkeit des seelischen Geschehens unausweichlich auf dieses Resultat geführt; allein es ist verständlich, dass wir die logische Schärfe des Entweder-Oder psychologisch mindernd und auch das am Ende zurückstehende Wollen in Gedanken weiter ausbauend, auch diesem die Möglichkeit des Sieges zugestehen, zu deren Verwirklichung ihm nicht jedes, sondern nur ein relatives Mass von Kraft gefehlt hat; so sprechen wir doch (<288) auch von Wettbewerbern demjenigen eine höhere Möglichkeit des Sieges zu, der dem schliesslichen Sieger eine grössere Strecke lang keinen Vorsprung liess, als demjenigen, der sich überhaupt nicht vom Flecke gerührt hat, obgleich wir sehr wohl wissen, dass es nach der objektiven Bestimmtheit der Dinge dem ersteren ebenso unmöglich war zu siegen wie dem letzteren.

Die Frage ist nun die, ob es, um der Freiheit ihren Sinn zu retten, eines Ich bedarf, das zwischen den konkurrierenden Willensansätzen entschiede, gleichsam eines dritten Willens, der beide lenkend und schliesslich einem von ihnen definitiv beitretend ihm das Übergewicht verliehe und der der eigentlich freie wäre.

In diesem Falle wäre das Bewusstsein eines neben dem definitiven auftretenden Willensansatzes, dessen Sieg gleichfalls möglich erscheint, nur die ratio cognoscendi der Freiheit, während diese die ratio essendi für jenes Wechselspiel zwischen den streitenden Mächten und für seine Entscheidung wäre.

Damit aber wäre nur wieder ein Mensch in den Menschen hineingesetzt und die Unerklärtheit der erscheinenden Prozesse auf ebenso unerklärte Vorgänge in einer nicht erscheinenden Substanz übergewälzt.

Vielleicht bedarf es dessen um so weniger, wenn wir uns einmal klar machen, was denn eigentlich unter Freiheit verstanden werden kann.

Freiheit muss immer Freiheit von etwas sein; wenn ich mich frei nenne, so habe ich immer einen Zwang im Auge, den ich entweder erlitten habe oder erleiden könnte.

Wo die Freiheit nicht im Gegensatz zu einer möglichen Gebundenheit gedacht wird, hat sie überhaupt keinen Sinn.

Daher ist denn auch die sittliche Freiheit so vielfach als Freiheit vom Bösen, von der Sinnlichkeit, von unsittlichen Antrieben bezeichnet und der freie Mensch mit dem sittlichen identifiziert worden.

In der Tat empfinden wir Freiheit, und mit dem ganzen Recht, das dieser Begriff überhaupt beanspruchen kann, wenn ein besserer Trieb in uns sich von der Gewalt befreit, die ein unsittlicherer ausüben will.

Die Freiheit, als Vermögen gedacht, hat freilich nicht viel Sinn; aber als Prozess (<289) der Befreiung hat sie volle Bedeutung.

Sobald mehrere und entgegengesetzte Motive ihre antreibende Kraft äussern, ist das schliessliche Verstummen des einen eine Befreiung des anderen von ihm; dieses ist nun frei von dem Druck der Gegnerschaft, der Beeinträchtigung, die bis dahin der Entfaltung seiner eigenen Kraft im Wege stand.

Freiheit ist sowohl der ratio cognoscendi wie der ratio essendi nach Befreiung von Etwas; überall, wo wir von Befreiung sprechen, bedarf es einer vorhergegangenen Gegnerschaft, und daher ist es verständlich, wie gerade in Bezug auf das sittliche Leben bei dem häufig auftauchenden und oft schnell entschiedenen Widerstreit seiner Motive die Empfindung von Freiheit so scharf ins Bewusstsein tritt.

Freilich zeigt sich hierbei auch die optimistische Einseitigkeit derjenigen Ethiker, die die Freiheit mit der Sittlichkeit, also mit der Überwindung der Unsittlichkeit identifizierten.

Denn auch das Umgekehrte, auch der Sieg des unsittlichen über das sittliche Motiv ist eine Befreiung, er steht formal unter den ganz gleichen Bedingungen und wir können ihm deshalb nicht auf Grund eines späteren Werturteils die Einreihung in die gleiche Kategorie versagen.

Der Prozess nebst dem Gefühl, das seinen formalen Ablauf begleitet, bleibt derselbe, auch wenn er in umgekehrter Richtung und mit entgegengesetztem Erfolge verläuft.

Wie sich das erhebende Gefühl der Sittlichkeit psychologisch zugleich als ein Gefühl der Freiheit darstellt, wenn wir uns bewusst sind, dass wir uns aus den Versuchungen zum Gegenteil herausgerungen, uns von ihnen befreit haben: so ist kein Zweifel, dass ein Gefühl von Freiheit auch denjenigen erfüllt, der die Brücken zum Guten hinter sich abgebrochen, sich mit seinem Gewissen abgefunden hat und nun unbeirrt und befreit von allen Regungen von Weichheit, Rücksichten und Altruismus seinen Zielen nachjagen kann.

Die Selbstüberwindung, die der Sprachgebrauch als Überwindung des Bösen durch das Gute fasst, ist doch auch im umgekehrten Sinn die Bedingung vieler Handlungen.

Das Gewissen, (<290) sittliche Bedenken, angeerbte Moraltendenzen machen sich auch in der Seele des Bösen oft genug geltend und bedürfen einer Überwindung, ehe seine Bahn frei vor ihm liegt.

Wir vermeiden auf diese Weise eine Schwierigkeit, die jeder Identifizierung der Freiheit mit der Sittlichkeit droht.

Wenn nämlich nur der Sittliche frei ist, so ist nicht zu begreifen, wieso man für die Unsittlichkeit in irgend einem Masse verantwortbar sein könne, da doch Freiheit die Vorbedingung der Verantwortung ist.

Es scheint dann einer doppelten Freiheit zu bedürfen, einer, welche jeder Bestimmung des sittlichen Wesens vorangeht, und einer erst nachträglich als eine solche Bestimmung gewonnenen; alle jene Ethiker - und es sind viele von Kant bis Steinthal, welche die Lösung des Freiheitsproblems damit gewonnen zu haben glauben, dass sie die Freiheit zugleich als Sittlichkeit fassen - verwickeln sich in den Zirkel, eine Freiheit zu brauchen, um die Freiheit zu gewinnen, weil ihr eigentlicher Freiheitsbegriff nicht die Freiheit zum Bösen einschliesst.

Behalten wir indes den richtigen Grundgedanken bei, dass Freiheit immer Freiheit von etwas, von einem angebbaren Zwang, Druck oder Bedrohung sein muss, und wenden ihn folgerichtig auch auf den Vorgang an, in dem das Böse in uns das Gute überwindet, so bedarf es nicht mehr zweierlei verschiedener Freiheiten, wie es der Fall ist, wenn man die »eigentliche« Freiheit mit der Sittlichkeit identifiziert.

Wenn wir die Vorstellung eines wollenden Ich haben, welches die Antriebe des Guten und des Bösen gleichmässig fühlend seine Freiheit als Befreiung von einem dieser zeigte, so entsteht dieselbe nur dadurch, dass der siegende, d. h. sich vom andren befreiende Teil die Hauptsumme des Bewusstseins, also dasjenige, was wir unser Ich nennen, für sich gewinnt und nach sich bestimmt; das Übergewicht des einen über den andren kann ja eben nur stattfinden auf Grund der Gesamtlage der psychischen Verhältnisse, deren Bestimmtheit in dieser Richtung freilich erst nach dem entschiedenen Sieg und durch ihn ins Bewusstsein tritt.

Die siegreiche Partei (<291) erscheint uns dann als das eigentliche Ich, aber dieses ist in Wirklichkeit keine über den Parteien schwebende Macht, die die Entscheidung durch Geltendmachung einer in jenen selbst nicht liegenden Kraft brächte, sondern ist das Gesamtbewusstsein, welches durch das Übergewicht des einen Antriebes über den andren die Färbung und Direktive jenes angenommen hat.

Dies ist um so natürlicher, als durch die Entfernung und Befreiung von einer der herrschenden entgegengesetzten Strebung eine Einheitlichkeit in der Seele gewonnen wird, die gerade für die Vorstellung des Ich förderlich und erforderlich ist.

Nicht das freie Ich entscheidet über gut und böse, sondern der psychische Mechanismus lässt das eine das andere aus dem Felde schlagen und dies erscheint durch Identifizierung des Ich mit dem Sieger so, als ob eben das Ich sich von dem andren Triebe befreit hätte.

Verdienst und Schuld enthalten auf diese Weise unmittelbar die Freiheit in sich, statt sie vorauszusetzen.

In dem gleichen Prozess des Kampfes verschiedener Antriebe und des Sieges des einen vollzieht sich einerseits Verdienst oder Schuld, andrerseits die Befreiung vom andren.

Weder der Begriff von Freiheit noch der von Verdienst und Schuld wäre in uns aufgetaucht, wenn unser ethisches Wesen sich kampflos und gegensatzlos entwickelte.

So wenig wir der Blume Verdienst an ihrer Schönheit zusprechen oder Freiheit, so oder anders zu sein, so wenig kann die schöne Seele beides beanspruchen, in der sich das Gute so völlig selbstverständlich, durch einen so einheitlichen und deshalb unwiderstehlichen Naturtrieb vollzieht, dass der Gedanke und die Möglichkeit entgegengesetzten Handelns für sie überhaupt nicht in Frage kommt.

Indem wir Verdienst und Schuld aus der Abhängigkeit von einem über dem psychologischen Mechanismus schwebenden Ich gelöst und als ein Verhältnis innerhalb des letzteren erkannt haben, wird zugleich klar, dass das Wesen dieser Vorgänge dem Freiheitsbegriff hinreichenden Raum gewährt.

Denn darin besteht ihr Wesen, dass von zwei zu entgegengesetzten (<292) Handlungsweisen führenden Antrieben der eine sich Geltung verschafft und sich von dem Einfluss, der Ablenkung und Schwächung, die ihm seitens des andren drohte, befreit.

Sehr richtig ist schon lange erkannt, dass die Freiheit nicht ein inhaltloses, jeder Bestimmtheit entbehrendes aequilibrium indifferentiae ist; nur dies war die häufige optimistische Einseitigkeit, dass man ihr den Inhalt der Sittlichkeit gab, ohne daran zu denken, dass zur Unsittlichkeit und zur Schuld ebenderselbe Prozess, nur mit umgekehrtem Vorzeichen gehört.

Wir sind nicht frei, bevor wir uns Schuld und Verdienst erwerben, sondern indem wir es tun, gewährt uns der gleiche Akt das Gefühl der Befreiung von dem entgegengesetzten Antrieb.

Dies ist der aufrecht zu erhaltende Sinn der Freiheit, der durch den Reichtum der ins Spiel gesetzten Motive und durch die Kraft, welche ihr Streben und Gegenstreben entfaltet, in der Tat das Gefühl von Würde und Bedeutsamkeit rechtfertigt, das sich mit der Vorstellung der menschlichen Freiheit verbindet.

Auch jene täuschende Freiheitsidee, die eine andre als die wirkliche Handlung für möglich hält, entspringt wenigstens psychologisch aus der gleichen Quelle: aus dem Drange, den wir zu dieser andren empfinden, ehe es sich entschieden hat, welche die herrschende bleibt, und der gegenüber wir die subjektive Ungewissheit über den Ausgang zu der objektiven Möglichkeit eines abweichenden hypostasieren.

 

Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe

Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93

Vorworte

Band 1:
1. Kapitel: Das Sollen
2. Kapitel: Egoismus und Altruismus
3. Kapitel: Sittliches Verdienst und sittliche Schuld
4. Kapitel: Die Glückseligkeit

Band 2:
5. Kapitel: Der kategorische Imperativ
6. Kapitel: Die Freiheit
7. Kapitel: Einheit und Widerstreit der Zwecke

 


 

Editorial:

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich
Andreasstr. 15 
8050 Zürich 
Tel. ++41 55 2444012