Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Band 1:
Erstes Kapitel: Das Sollen (S. 1-84)
Der Inhalt der Vorstellungen und die Kategorien des Seins
und des Sollens
Das Sollen als Denkmodus
Die
Beweismöglichkeit des Sollens
Psychologische Ursachen und Folgen seiner
Unerklärtheit
Das Negative seines Charakters
Das
sittlich Gleichgültige und die Absolutheit des Sollens
Tautologische
Moralprinzipien
Das Verhältnis des Sollens zum Müssen
Das Verhältnis des Sollens zur Wirklichkeit
Ethische Bedeutung
des Typisch-Sozialen
(<1) Die geistige Entwicklung der Menschheit hat eine Stufe durchgemacht,
auf der man sich keines Unterschiedes zwischen den Vorstellungen, denen
eine Wirklichkeit entspricht, und denen, die unwahr und rein
psychologische Vorgänge sind, bewusst war.
Von den Naturvölkern hören wir vielfach, dass sie den Vorstellungen
des Traumes dieselbe Wirklichkeit zuschreiben und dieselben Folgen geben,
wie denen des Wachens; dass die tollste Einbildung, z. B. die Anwesenheit
von Geistern, genau dieselbe Realität für sie besitzt, wie irgend ein
sinnlich wahrnehmbares Ding; dass sie die Vorstellung eines Menschen, die
sein Bildnis hervorruft, von der seiner wirklichen Gegenwart nicht zu
unterscheiden wissen.
Die Kulturvölker zeigen an ihren Kindern noch die gleiche Erscheinung;
es ist oft unmöglich dem Kinde klar zu machen, dass eine Wendung des
Spiels oder des erzählten Märchens, die ihm Tränen entlockt, nicht
Wirklichkeit, und dass die Puppe, die es wegen einer eingebildeten
Ungezogenheit schlägt, kein wirklicher Mensch ist; ein Kind im dritten
Jahre, zu dessen Belustigung man Papierfiguren ausschnitt, weinte heftig,
wenn eine Figur durch rasches Schneiden in Gefahr kam, ein Glied zu
verlieren; ein andres, das geträumt hatte, seine Mutter verliesse es,
machte dieser nach dem Erwachen die grössten Vorwürfe darüber.(<2)
Entsprechend tritt dieser Mangel an Unterscheidung zwischen dem
Wirklichen und dem bloss Vorgestellten bei weniger entwickelten Geistern
vergleichsweise stärker hervor; die Juristen bemerken bei ihrem Verkehr
mit den ungebildeten Klassen, dass es diesen fast unmöglich ist, die
Tatsachen und ihre Auslegungen und Phantasiegebilde auseinander zu halten.
Aber auch in den höheren Kulturkreisen sind noch genug Überbleibsel
dieser Unvollkommenheit auffindbar.
Man scheut sich etwas Böses auch nur beim Namen zu nennen, man darf
gewisse Dinge nicht einmal im Scherze sagen, offenbar weil für uns an der
blossen Vorstellung schon ein Teil Realität haftet; dass man den Teufel
nicht an die Wand malen, dass auch an der unsinnigsten Verleumdung immer
etwas daran sein soll und dass immer etwas von ihr hängen bleibt - dies
alles ist die Folge einer nicht genügend scharfen Scheidung des blossen
Gedankens von demjenigen, der zugleich die Wirklichkeit bedeutet.
Noch in der Symbolik des brahmanischen Opfers lässt die gleiche
Verschwommenheit des Denkens das gesprochene Wort als Gewissheit, die
mitschwebende Bedeutung der Sache als ihre Wirklichkeit erscheinen: »Prajâpati
schuf zu seinem Abbild das was das Opfer ist; darum sagt man: das Opfer
ist Prajâpati.«
Um was es sich hier handelt, das ist nicht der Irrtum, der das
Erzeugnis der Einbildung in das Gewand der Wahrheit kleidet und so bei
prinzipieller Klarheit über den Unterschied zwischen bloss
psychologischer und objektiv wahrer Vorstellung die Inhalte beider
vertauschte, sondern darum handelt es sich, dass bei primitiverem Denken
der Unterschied zwischen Denken und Sein nicht nur nicht in abstrakter
Weise, sondern nicht einmal tatsächlich in der Anwendung auf den
einzelnen Fall gemacht wird.(<3)
Die Vorstellungsinhalte tauchen zunächst rein als solche psychologisch
auf und es bedarf erst eines langen Differenzierungsprozesses, um sie in
wahre und unwahre, logische und psychologische zu teilen.
Überall, wo das Bewusstsein ganz und gar von einer Vorstellung
ausgefüllt ist, so dass kein Vergleich und kein reflektierendes
Zusammenhalten mit der Gesamtheit der andern stattfindet, da pflegt sie
sich auch in späteren Stadien der Geistesentwicklung noch unmittelbar als
reale darzustellen.
Darum erscheinen einem die meisten Gedanken im Augenblick der
Konzeption als wahre, darum ist der Schöpfer einer Idee, die sein ganzes
Denkvermögen ausfüllt, ihr gegenüber meistens so kritiklos, darum sind
wir meistens von der objektiven Richtigkeit von Parteimeinungen
durchdrungen, die durch die Fülle der mit ihnen verbundenen Interessen
unser Bewusstsein ganz und gar ausfüllen; selbst in der Wissenschaft ist
diese Überschätzung des eignen Gebietes ganz gewöhnlich, weil die
subjektiv-psychologische Bedeutung für uns gar zu leicht den Anschein
einer sachlichen annimmt; so, um ein weniger bekanntes Beispiel zu nennen,
zeigt die Geschichte der Tierpsychologie, dass die wirklichen Beobachter,
die sich eingehend mit der Tierwelt beschäftigt haben, die Fähigkeiten
der Tierseele fast durchgehendes überschätzten.
So gewinnt auch das erste Dogma, dem unser Studium sich hingibt und das
noch unbestrittenen Raum zur Ausbreitung in unserm Geist findet, uns so
oft zu seinen Anhängern; darum übt das Gegenwärtige, bloss weil es ein
solches ist, eine psychologische Kraft, die über seine objektive
Bedeutung oft weit hinausreicht.
Denn das Sein oder die Wahrheit ist auch nur ein Verhältnisbegriff, d.
h. die Majorität der mit einander zusammenhängenden und
übereinstimmenden Bewusstseinsinhalte nennen wir Wahrheit, gegenüber der
Minorität, und wiederholen damit im Individuellen das schon sonst
ausgesprochene Verhältnis, dass Wahrheit die Vorstellung der Gattung,
Irrtum aber die schlechthin individuelle Vorstellung wäre.(<4)
Wenn also die Enge des Bewusstseins es verhindert, dass sich neben eine
sehr mächtige Vorstellung noch andere setzen, wenn an Stelle eines
vollkommenen Weltbildes, an dem sich die Kraft, d. h. hier: die Wahrheit
einer Vorstellung erst zu messen hätte, nur diese letztere allein unsern
Geist ausfüllt, so ist sie eben für uns wahr, weil kein ihr überlegenes
Kriterium vorhanden ist.
So wenig cogito ergo sum ein Schluss ist, der von einer vorher
gesetzten Beziehung zwischen Denken und Sein abhängig wäre, so wenig
stammt der Glaube an die Realität jedes Phantasmas, den wir auf den
niedrigen Denkstufen finden, aus einem bewussten oder unbewussten
Schlusse: cogitatur ergo est.
Da vielmehr die Zweiheit: Denken und Sein, noch gar nicht als solche
aufgetaucht ist, so findet kein Prozess der psychologischen Überführung
von jenem in dieses statt, sondern für den ganz unerfahrenen Geist ist
das eine unmittelbar das andere, oder vielmehr keines von beiden, sondern
der reine sachliche Inhalt der Vorstellung übt auch die psychologischen
Wirkungen, die bei differenzierterem Vorstellen nur den mit dem Zeichen
der Realität versehenen Inhalten zukommen.
Es werden ausschliesslich praktische Veranlassungen sein, die dann
zwischen Denken und Sein scheiden lehren.
Wenn die Handlungsweisen, die von gewissen Vorstellungen ausgingen, den
gehofften Erfolg nicht erzielten, so wird sich mit diesen Vorstellungen
ein anderes Gefühl psychologisch assoziieren, als mit anderen, auf Grund
deren man seine Zwecke erreichte.
Nicht die Kategorie eines Seins liegt zu Grunde, in welche auf solche
Erfahrungen hin die Vorstellungen eingereiht oder von der sie
ausgeschlossen würden; sondern begreiflicher erscheint der Vorgang so,
dass sich auf Grund praktischer Erfahrungen von Täuschung und
Befriedigung eine Differenzierung innerhalb der Vorstellungen bildet,
deren einer Teil dann die Wirklichkeitsvorstellung, der andere blosse Idee
genannt wird; oder vielmehr mangels der Klarheit darüber, dass im letzten
Grunde ja auch die Wirklichkeit nur Vorstellung ist, heisst der eine Teil
der Vorstellungen schliesslich das Sein schlechthin, der andere das
Denken.(<5)
Das Sein ist freilich keine Eigenschaft der Dinge, denn damit sie
überhaupt eine Eigenschaft zeigen können, müssen sie schon sein;
dagegen kann man es als eine Eigenschaft der Vorstellungen bezeichnen;
indem wir einer Vorstellung das Sein zusprechen, drücken wir damit das
Vorhandensein gewisser Beziehungen derselben zu unserm Empfinden und
Handeln aus.
Die Realität ist etwas, was zu den Vorstellungen psychologisch
hinzukommt, aber nicht ursprünglich irgendwie an ihnen haftet; es ist
erst Sache späterer Entscheidung, ob wir einer Vorstellung das Sein
zusprechen oder sie als blosse, vielleicht irrende Vorstellung betrachten,
während sie bei ihrem Auftauchen einen Indifferenzzustand zwischen beiden
darstellt; der blosse Inhalt der Vorstellung, der zunächst das
Bewusstsein füllt, lässt es noch zweifelhaft, unter welche von beiden
Kategorien er gehöre.
Aber auch für den Geist, der über die Zweiheit derselben vollkommene
Klarheit erreicht hat und gerade für ihn steht der sachliche Inhalt der
auftauchenden Vorstellung noch immer am Scheidewege zwischen Sein und
Nichtsein.
Sicherlich zwar ist die Hypothese falsch, nach der ein Schluss von der
Wirkung auf die Ursache dazu gehörte, um von den blossen
Bewusstseinstatsachen zur Vorstellung einer realen Welt zu kommen.
Das ist der alte Irrtum der Projektionslehre, der durch den richtig
verstandenen Kant unmöglich gemacht sein sollte.
Es existiert nicht ein Raum ausserhalb unser, in den wir unsere
Empfindungen hineinsetzen wie Möbel in ein Zimmer; sondern die
Räumlichkeit der Dinge selbst ist gar nichts anderes, als ein Verhältnis
von Vorstellungen untereinander, eine Ordnung der Empfindungen, die nicht
ausserhalb ihrer existiert; einen Gegenstand anschauen, heisst
Empfindungen in einer Art ordnen, die wir räumlich nennen.(<6)
Ebenso ist auch die Wirklichkeit nichts was ausserhalb der
Vorstellungen derart existierte, dass diese nun erst in jene versetzt
würden; sondern eine gewisse psychologische Qualität der Vorstellungen
wird dadurch bezeichnet, dass wir diese wirkliche nennen - wenn sich diese
Qualität auch erst im Laufe der Entwicklung des Vorstellungslebens
einstellt; zusammenfassend könnte man sagen, dass die Räumlichkeit und
die Wirklichkeit der Dinge nichts andres sind, als psychische Prozesse,
die an dem Inhalt der Vorstellungen vor sich gehen.
Ebenso sicher aber ist es, dass es oft sehr mannigfaltiger Umstände
und Kombinationen als psychologischer Vorbedingungen bedarf, um die
verschiedenartigen Bestandteile der Vorstellungswelt in die Kategorie des
Seins emporzuheben.
Nachdem die Scheidung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit einmal
vollzogen ist, hat die Gattungserfahrung aus der Summe der einzelnen
Fälle die Merkmale der Scheidung festgestellt: bald durch direkten
Augenschein, bald durch logische Überlegung, bald durch Ausschluss des
Gegenteils, bald durch glaubensmässige Motive wird die auftauchende
Vorstellung als reale oder irrende beurteilt; vielerlei Brücken führen
in unserm jetzigen Vorstellen von der Gedankenwelt zu der Welt der
Wirklichkeit, auf vielerlei Quellen kann der Gedanke sich zurückleiten,
um aus ihnen das Prädikat der Realität zu schöpfen.
Zwar führen oft erst mannigfaltige Schlussreihen zu der Überzeugung,
dass eine Vorstellung Realität besitzt; allein dies bedeutet nur, dass
nun die Bedingungen zu jenem psychischen Zustand der Vorstellung gegeben
sind, den wir Wirklichkeit nennen, und dass der innerliche Vorgang, der zu
ihm führt, sich nun in dem verstandesmässigen Bewusstsein spiegelt, in
dem er natürlich die diesem eigenen Formen, hier die des Schlusses,
annimmt.
Die Beschaffenheit, weiche die Vorstellung durch die angeführten
Merkmale erhält, ist unmittelbar ihre Realität; das Sein und das blosse
Gedachtwerden einer Vorstellung sind so zu sagen nur verschiedene
Zustände derselben, oder verschiedene Lokalzeichen, welche den gleichen
Inhalt begleitend ihm verschiedene Stellen anweisen, von denen sich
dennoch keine von der andern anders unterscheidet, als durch immanente
psychologische Merkmale.(<7)
Auch in rein logischer Beziehung gewinnt die Sonderung des Inhalts der
Vorstellung von der Frage nach ihrem Sein oder Nichtsein Bedeutung.
Wir weisen jedem Begriffe seinem sachlichen Inhalt nach eine Stelle
zwischen über- und untergeordneten an, die er behält, gleichviel ob wir
ihn oft oder selten realisiert finden; wir erkennen gesetzliche
Beziehungen zwischen den Dingen an, deren Gültigkeit völlig unabhängig
davon ist, wie oft oder ob überhaupt der Verlauf der Wirklichkeit die
Bedingungen ihres Inkrafttretens darbietet; ja, alles über den einzelnen
Fall hinausgehende Erkennen, betreffe es den logischen Schematismus oder
die Naturgesetzlichkeit der Dinge, bezieht sich auf deren blossen Inhalt,
in scharfer Abscheidung von der Frage, wann und wo dieser Inhalt die
psychologische Form gewinnt, die wir Wirklichkeit nennen.
Dieses Fürsichbestehen der blossen Sachlichkeit der Vorstellung, die
ihre Bestimmung nach Sein oder Nichtsein erst von ihrem weiteren
psychologischen Schicksal erwartet, gibt auch noch anderen Bestimmungen
als der der genannten scharfen Alternative Raum.
Auch der Wille als solcher ist in der Selbstbesinnung von jedem Inhalt
abtrennbar.
Ich kann jeden Moment der Handlung, ein Stück Holz zu einem Pfeil zu
schnitzen, völlig klar und lückenlos, aber bloss theoretisch denken;
tritt das Bewusstsein hinzu, dass ich dies nun in Wirklichkeit ausführen
will, so verändert sich dadurch im Inhalt der Vorstellung nicht das
Geringste: sonst würde ich nicht eben dieses wollen.
Die bloss abstrakte Vorstellung meines Handelns unterscheidet sich nur
durch ein Gefühl von der Beabsichtigung dieses Handelns, durch ein
Gefühl, über dessen Eigenart wir in einem späteren Kapitel zu handeln
haben.
So wenig sich hundert gedachte Taler inhaltlich von hundert wirklichen
unterscheiden, so wenig auch von hundert, die durch meinen Willen wirklich
werden sollen.(<8)
Das Wollen einer Sache ist gewissermassen ein mittlerer Zustand
zwischen ihrem Nichtsein und ihrem Sein, wie es ein mittlerer zwischen
Haben und Nichthaben ist; so wenig wir es weiter erklären können, was es
denn bedeute, dass eine Vorstellung, die wir denken, ausserdem auch
wirklich ist, wie dies vielmehr nur ein Gefühl ist, das, woraus auch
immer entstanden, die Vorstellung begleitet: so wenig können wir mit
Worten sagen, was das Wollen einer solchen Vorstellung eigentlich sei;
auch dies ist nur eine gefühlsmässige Begleitung der Vorstellung.
In ganz derselben Weise ist das Hoffen ein Gefühl, welches den
objektiven Inhalt von Vorstellungen begleitet, ebenso nun auch das Sollen;
der ganz gleiche Inhalt erscheint uns einmal als wirklicher, ein andres
Mal als gewollter, als erhoffter, als gesollter.
Das Sollen ist eine Kategorie, die zu der sachlichen Bedeutung der
Vorstellung hinzutretend, ihr eine bestimmte Stelle für die Praxis
anweist, wie sie eine solche auch durch die Begleitvorstellung des Seins,
des Nichtseins, des Gewolltwerdens usw. erhält.
Ihrer Bedeutung nach zu beschreiben ist aber keine von diesen, wenn
auch vielleicht die Bedingungen, gelegentlich derer sie sich entwickeln,
und die Folgen, für deren Eintreten sie die Motive bilden; es sind
Gefühle, die durch die Ausbildung und Notwendigkeiten des Lebens
hervorgerufen, die reine Sachlichkeit des Vorstellens von Dingen und
Geschehnissen begleiten, so zu sagen die gleiche Melodie immer in
verschiedene Tonarten transponieren.
Man könnte sie sämtlich in eine phänomenologische Reihe eingliedern,
welche von der Vorstellung des Nichtseins, des blossen Gedachtwerdens zu
der der vollkommenen Wirklichkeit führt; das Wollen, das Hoffen, das
Können, das Sollen - alles dies sind gewissermassen Zwischenzustände und
Vermittlungen zwischen dem Nichtsein und dem Sein, die wir für
denjenigen, der sie nie empfunden hätte, so wenig beschreiben könnten,
wie wir zu sagen wissen, was denn das Sein oder das Denken eigentlich ist:
es gibt keine Definition des Sollens.(<9)
Wie die gleiche Materie verschiedene Aggregatzustände annehmen kann,
von dem der grössten Festigkeit bis zum gasförmigen und vielleicht dem
noch darüber hinausliegenden strahlenden, so kann auch die gleiche
Vorstellung ihren Inhalt gewissermassen in verschiedenen psychologischen
Aggregatzuständen darstellen, von der vollkommenen Realität bis zur
vollkommenen Idealität.
Das Sollen ist nur einer dieser Zustände; es betrifft Vorstellungen,
denen wir das Sein noch absprechen, oder wenigstens in so weit nicht
zusprechen, als sie eben bloss gesollt werden, und die dennoch nicht in
der Gleichgültigkeit des Nichtseins verharren.
Es ist von jedem Inhalt vollkommen abtrennbar, denn sonst wäre die
für jedes beliebige Tun anzustellende Überlegung, ob ich es soll oder
nicht, eine Unmöglichkeit.
Das Sollen ist ein Denkmodus wie das Futurum und das Präteritum, oder
wie der Konjunktiv und der Optativ; durch die Form des Imperativs hat die
Sprache diesem Verhalten Ausdruck gegeben.
Auch findet die Bestimmung des Inhalts für das Sollen auf ganz so
mannigfaltige Weise statt, wie für das Sein.
Wie durch all die oben angeführten Kriterien immer die eine Form des
Seins den Vorstellungen zugesprochen wird, so verschieden sind auch die
Mittel, auf Grund deren sie die Form des Sollens gewinnen: bald die
Realität, bald die Nichtrealität, bald der Vorteil für einen Einzelnen,
bald der für die Gesamtheit, bald der Befehl einer egoistischen
Autorität, bald gerade die Entgegensetzung gegen einen solchen.
Und wie wir uns eine ganze Welt theoretisch vorstellen können, mit
allen Gesetzen und Einzelheiten, und dann noch zu fragen haben, ob sie
wirklich ist oder nicht, so können wir ebenso fragen, ob sie sein soll
oder nicht.
Denn von Vielem sagen wir, dass es sein soll, was persönlich
anzubefehlen sinnlos wäre; wenn Kant behauptet, der Natur gegenüber
könne es kein Sollen geben, weil sie einfach den Gesetzen ihrer
Wirklichkeit gehorcht und kein Ohr hat einen darüber hinausgehenden
Imperativ zu vernehmen, so ist dies psychologisch nicht ganz richtig; auch
von dem natürlichen Lauf der Dinge, an dessen Notwendigkeit wir nicht
zweifeln, sagen wir oft genug, dass er hätte anders sein sollen.(<10)
Und zwar nicht nur im Vorblick, der uns noch keine Sicherheit des
Verlaufs gewährt, sondern auch im Rückblick auf das schon Vollendete.
Wenn wir uns nicht scheuen, dem unausweichlich bestimmten Handeln der
Menschen doch ein Sollen andern Inhalts gegenüber zu stellen, so sehe ich
nicht, weshalb wir uns durch die nicht grössere Bestimmtheit der übrigen
Natur brauchten verhindern zu lassen, auch für sie ein Sollen zu
konstruieren.
Nur dass es unnütz ist, weil ganz allein an psychologischen Wesen das
ausgesprochene Sollen seine Nützlichkeit ausüben kann, dürfte den
Hinderungsgrund bilden.
Und gerade Kant, indem er die ungerechte Verteilung von Tugend und
Glückseligkeit in der wirklichen Welt als etwas ganz Unerträgliches
hervorhebt, empfindet das angemessene Verhältnis, nach dem der Gute
seinen Lohn und der Böse seine Strafe erhält, als ein Sollen, das der
Natur gegenüber gilt und dem sie dann auch in einer jenseitigen Welt
nachkommt.
Der Imperativ ist nur ein einzelner Fall des Sollens oder vielmehr ein
Mittel, durch welches das Sollen in das Sein übergeführt wird.
Aus diesem erkenntnistheoretischen Charakter des Sollens ergibt sich
zunächst die Vergeblichkeit aller Versuche, aus dem Begriffe desselben
heraus einen bestimmten Inhalt seiner zu gewinnen.
Sobald wir erkennen, dass das Sollen nur eine der Formen ist, welche
der rein sachliche ideelle Inhalt der Vorstellungen annehmen kann, um eine
praktische Welt zu bilden, ist klar, dass wir ihm von vornherein keine
stärkere innerliche Beziehung zu dem einen als zu dem andern Inhalt
zusprechen können.
Darum hat Kant schon zu viel getan, als er die, wenn auch noch so
allgemeine Formel des kategorischen Imperativs aus dem Begriff des Sollens
überhaupt heraus deduzierte.
Er begeht damit einen ontologischen Irrtum, nicht geringer als der, den
er am Begriffe des Seins so schlagend gerügt hatte.(<11)
Weder lässt sich aus dem Begriffe eines Dinges erkennen, ob es ist
oder nicht, noch aus dem Begriffe des Seins, dass es irgend einem
besonderen Inhalt zukommen müsse; und eben so wenig gibt uns irgend ein
Geschehen seinem Begriffe nach eine Anweisung darauf, dass das Sollen mit
ihm verbunden sein müsse, noch das Sollen, dass es irgend einen
bestimmten Inhalt sich aneigne.
Wollen wir uns über das Sollen klar werden, so müssen wir es scharf
von denjenigen Inhalten sondern, mit denen es durch die unantastbare
Heiligkeit derselben und durch lange Gewöhnung psychologisch so eng
assoziiert ist, dass eines unmittelbar das andre reproduziert; die
Vorstellung gewisser Handlungsweisen erscheint uns unabtrennbar von dem
Sollen, das ihre Verwirklichung entweder gebietet oder verbietet, und
ebenso scheint es leicht undenkbar, dass das Sollen begrifflich von
gewissen wenigstens allgemeinsten Inhalten ablösbar wäre.
Erst wenn wir uns klar werden, dass unser ganzes Vorstellen aus zwei
Elementen besteht: einerseits dem sachlichen ideellen Inhalt, dem Was der
Dinge, andrerseits den Gefühlen, die diesen Inhalt begleitend ihm eine
positive, negative oder Übergangsbeziehung zur Realität geben - erst
dann ist die Grundlage da, auf der sich eine reine Betrachtung des Sollens
erheben kann.
Dass das Sollen freilich in diese Reihe gehöre, dass sein Begriff noch
keine Spur eines Inhaltes, sei er sozialer, individualistischer,
eudämonistischer, pessimistischer Art einschliesst, dass es nur so zu
sagen ein gefühlter Spannungszustand von Inhalten ist, der wie das
Können, das Sein, das Wünschen eine Art ihres Verhältnisses zur
Wirklichkeit ausdrückt, das ist so wenig exakt und unwiderleglich
auszumachen, wie überhaupt die Bedeutung psychologischer Begriffe, für
die man nur an die Selbstbesinnung apellieren kann, deren Ergebnisse
schliesslich von der der logischen Deduktion entzogenen Subjektivität
abhängen.
In solchen begrifflichen und zugleich auf ein Gefühl zurückweisenden
Erörterungen gibt es nur Indizienbeweise und der Forscher darf sich kaum
ein höheres Ziel stecken, als denjenigen Geistern, die das Material und
die Disposition zu der gleichen Erkenntnis latent in sich tragen, zu
deutlicherem Bewusstsein darüber zu verhelfen.(<12)
Wir haben oben ausgemacht, dass es kein verstandesmässiger Schluss
ist, der uns ursprünglich von den Empfindungen, die gewisse Inhalte
begleiten, zu der Vorstellung von deren Wirklichkeit führt; vielmehr ist
dies unmittelbar ihr reales Sein; Wirklichkeit einer Sache ist nichts
andres als der Name für einen bestimmten psychologischen Charakter ihrer
Vorstellung und aller verstandesmässige, logische Beweis, dass eine
Vorstellung Wirklichkeit ist, bedeutet nur das Herbeiführen oder das
Bewusstwerden der Vorbedingungen für das Eintreten jener psychologischen
Verfassung der Vorstellung, die wir Wirklichkeit nennen.
Zudem kann der Beweis, dass etwas ist, immer nur geführt werden, wenn
eine andre Vorstellung schon als wirklich gesetzt wird und nun die
gleichen inneren Bedingungen, die diese charakterisieren, an dem anderen
erkannt werden, sei es direkt oder durch Übertragung oder durch Analogie;
denn das Sein überhaupt kann nicht bewiesen, sondern nur erlebt und
gefühlt werden, und darum lässt es sich nie aus blossen Begriffen
deduzieren, sondern nur aus solchen, in welche irgendwo das Sein schon
aufgenommen ist.
Das Sollen verhält sich in gleicher Weise.
Dass wir etwas sollen, lässt sich, wenn es logisch erwiesen werden
soll, immer nur durch Zurückführung auf ein andres als sicher
vorausgesetztes Sollen erweisen; an sich betrachtet ist es eine
Urtatsache, über die wir vielleicht psychologisch, aber nicht mehr
logisch hinausfragen können.
Kein Schluss könnte uns lehren, dass wir etwas sollen, wenn wir dieses
Sollen nicht wenigstens anderweitig empfunden hätten; er lehrt es uns,
wenn nun die Bedingungen des damaligen Empfindens an dem jetzigen Falle so
aufgezeigt und zu Bewusstsein gebracht werden, dass die gleiche
Gefühlsfolge sich einstellt; und dieses eintretende Gefühl ist nun nicht
etwa ein solches, aus dem erst geschlossen würde: also soll ich dies und
jenes - sondern es ist unmittelbar das Gesolltwerden der Vorstellung
selbst. (<13)
Ist so das Sollen eine ursprüngliche Kategorie wie das Sein und das
Vorstellen und nimmt es an der ganzen Unerklärlichkeit dieser letzten
Tatsachen Teil, so verdeutlichen sich von hier aus die verschiedenen
Erscheinungen, die mit der Unbegründbarkeit der Moral zusammenhängen.
Alle Versuche, die Vielheit der Inhalte des Sollens auf ein
einheitliches Prinzip zurückzuführen, mögen im günstigsten Falle
nachweisen können, dass unter der Voraussetzung jener höchsten und
allgemeinsten Pflicht sich die Verpflichtung zu den einzelnen Handlungen
logisch und psychologisch erklärt; umgekehrt mögen diese Handlungen auf
jenes Prinzip dadurch hinweisen, dass ihre Mannigfaltigkeit keiner andern
Gleichheit Raum gibt, als einerseits dem formalen Charakter des Sollens,
andrerseits der gemeinsamen Zweckbeziehung, so dass die
Zusammengehörigkeit dieser beiden nahe gelegt wird.
Dass sie aber zusammen gehören, dass jener höchste Gedanke, sei er
die Glückseligkeit der Gesamtheit, oder der Wille Gottes, oder die
Ausbildung der Individualität, oder die Rationalität der Handlungen -
dass dieser gesollt wird, ist und bleibt unbewiesen.
Immer nur ein Inhalt des Sollens kann auf einen andern zurückgeführt
werden, aber an irgend einem bleibt es schliesslich als an dem
ursprünglichen haften, von ihm entlehnen alle andern die Würde des
Sollens, ohne dass er selbst sie von einer andern Instanz herleitete.
Identifizieren wir das Sollen mit irgend einem Inhalt und sei es selbst
nur der des kategorischen Imperativs, so nimmt dieser an der ganzen
Unbegründbarkeit teil, die dem Sollen selbst eigen ist.
Wenn der Metaphysiker eine letzte Substanz aufgefunden hat, aus deren
Wesen sich alle Erscheinungen des Kosmos folgern lassen; wenn wir eine
ursprünglichste Summe der Kraft entdeckt haben, die die Quelle für alle
aufzeigbaren Kraftwirkungen im Weltgeschehen bildet: so können wir weder
fragen woraus sich das Wesen jener Substanz erklären lässt noch was die
Ursache dieser Kraft sei, ohne unsre eben gewonnene Erkenntnis selbst
wieder in Frage zu stellen.(<14)
Und ganz ebenso können wir nicht fragen, woher der letzte gesollte
Inhalt, auf den wir kommen, sein Sollen begründen könne.
Auch operiert alle Zurückführung der sittlichen Mannigfaltigkeit auf
ein letztes Prinzip nicht eigentlich mit dem Sollen; sie schiebt es
vielmehr von einem Inhalt auf den andern, indem sie nachweist, dass die
einzelne Pflicht ihr Sollen nicht in sich, sondern von jenem tiefsten zu
Lehen trägt, zu dem sie im Verhältnis des Mittels steht.
Nicht dass irgend eine bestimmte Handlung, z. B. Fürsorge für die
Familie, an sich Pflicht sei, beweist der monistische Ethiker, z. B. der
Utilitarier; sondern nur dies, dass jene Handlung das Glück der
Gesamtheit steigern helfe und sein soll, weil diese Glückssteigerung sein
soll; das Gesolltwerden dieser aber lässt sich nirgendwo herleiten,
sondern nur als Tatsache oder als Dogma aussprechen.
Das Sollen begleitet die ganze Reihe von Ursachen und Wirkungen, die
etwa von dem Geldverdienst für die Familie bis zur Glückssteigerung für
die Allgemeinheit oder zur Erfüllung der kantischen Formel oder zur
Realisierung einer Herbartschen Idee führt, ohne in ihr selbst eine
Erklärung zu finden.
Jedes Glied vielmehr erklärt sein Sollen aus dem Gesolltwerden des
folgenden, und wo wir an dasjenige kommen, welches das Sollen nicht wieder
von sich abwälzen, seine Dignität nicht mehr von einem andern herleiten
kann, da bricht die Reihe ab und lässt es an diesem genau so unerklärt,
wie es an dem ersten war: das Letzte, das wir erklären können, ist das
Vorletzte.
Die Hauptfrage, weshalb denn die einzelne Tat gesollt wird, ist auf
diese Weise nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben.
So schiebt jeder höhere mathematische Satz die Forderung seine
Wahrheit zu beweisen auf einen vorhergehenden einfacheren, und dieser
wieder weiter bis zurück zu den Axiomen, von denen alle andern ihre
Wahrheit borgen und mit deren unbeweisbarer Gültigkeit sie stehen und
fallen.(<15)
So kann auch das Recht den Beweis für die Gerechtigkeit seiner
höheren Bestimmungen nur so führen, dass es dieselben als logische Folge
gewisser letzter Prinzipien aufzeigt, die einfach als Recht hingenommen,
aber nicht bewiesen werden können.
Liesse sich ein Inhalt finden, dessen Erfüllung unmittelbar mit
Sittlichkeit zusammenfällt, so wäre die Frage, weshalb wir ihn denn
erfüllen sollen, allerdings sinnlos; denn sie hiesse dann nur: weshalb
sollen wir überhaupt sittlich sein? Diese aber können wir nicht stellen,
weil sittlich sein ja nichts anderes bedeutet, als tun was wir tun sollen,
so dass sie nur fragte: weshalb sollen wir tun was wir tun sollen? Oft
genug freilich ist der Skeptizismus auch zu ihr vorgeschritten; oft genug
hat man gefragt, worauf denn das Gebot sich gründe, das der Sittlichkeit
den Vorzug des Seinsollenden vor der Unsittlichkeit gibt.
Wo so gefragt wurde, war es immer schon ein bestimmter Inhalt der
Sittlichkeit, der subintelligiert und in seiner Berechtigung ein Sollen
darzustellen angezweifelt wurde, eine bestimmte Handlungsweise, die
selbstverständlich als mit dem Begriff der Sittlichkeit synonym
vorausgesetzt wurde.
Dass wir niemanden beschädigen, uns keinen unrechtmässigen Vorteil
verschaffen, unseren Mitmenschen so viel wie möglich nützen sollen - das
scheint der stets sich gleichbleibende Inhalt der Sittlichkeit zu sein,
und immer hat man diese materialen Pflichtgebote vor Augen gehabt, wenn
man nach der Begründung des sittlichen Sollens überhaupt fragte.
In dieser Beschränkung ist die Frage auch stets berechtigt, wenn sie
einerseits von der Erfahrung ausgeht, dass bis jetzt kein einziges
materiales Pflichtgebot dem sittlichen Bewusstsein der Menschheit immer
und unbedingt entsprochen habe, andrerseits von der Überlegung, dass das
Sollen, welches an diesem höchsten Inhalt haftet, unbegründet und
unbegründbar ist. (<16)
Löst man aber diese enge psychologische Verbindung, die dem Sollen
sogleich einen bestimmten Inhalt unterlegt, und fragt, weshalb das
Seinsollende als solches einen Vorzug vor dem Nichtseinsollenden hat, so
behandelt man einen analytischen Satz wie einen synthetischen: das
Seinsollen bedeutet ja nichts andres, als einen solchen Vorzug, beides
sind nur verschiedene Ausdrücke für eine und dieselbe Qualität von
Handlungsweisen, und jene Frage ist ebenso leer wie die, weshalb A denn
wirklich A ist; denn wenn der Begriff des Sittlichen einmal da ist, so
kann er schon an und für sich nur bedeuten, dass wir ihm nachleben
sollen.
Wir könnten deshalb vielleicht fragen, weshalb wir sittlich sind,
keinesfalls aber, weshalb wir es sein sollen.
Wenn schon der Moralphilosoph das Sollen nicht erklären, sondern nur
unter Voraussetzung seines Haftens an einem letzten Inhalt es auf andre
Inhalte überleiten kann, so reisst die Kette der Erklärungsgründe dem
praktischen Moralbewusstsein natürlich noch früher ab; die logische
Grundlosigkeit des Sollens überhaupt spiegelt sich in der psychologischen
Grundlosigkeit seiner einzelnen Inhalte.
Bedeutsame und unbedingte, aber auch schon niedrigere sittliche
Vorschriften beruhen auf so langer Vererbung, dass die Reihe der
Erfahrungen und Überlegungen, die einst zu ihnen hinführte, immer mehr
verdichtet wurde und schliesslich nur noch ihr Resultat dem Bewusstsein
übrig blieb; wie der Kulturmensch eine Fülle von Einrichtungen und
Produkten jeder Art benutzt, ohne sich darum zu kümmern oder auch nur
immer verstehen zu können, wie sie hergestellt seien, so hält sich sein
sittliches Leben an Vorschriften, deren Ursprung ihm gleichgültig,
unauffindbar oder unverständlich ist.
Die arbeitssparende Tendenz organischer Entwicklung entlastet das
Bewusstsein von der Vorstellung der Gründe einer Sittenregel, sobald
diese selbst durch Vererbung und Überlieferung fest genug geworden ist.
Die Würde, welche die einzelne materiale Vorschrift durch Beziehung
auf tiefere und weitere Zwecke erhielt, bleibt als selbständige Tatsache
bestehen, wenn jene Beziehungen auch längst verdunkelt und vergessen
sind.(<17)
Aber es ist gleichsam nicht nur die Länge, sondern auch die Breite der
Beziehungen, die auf diesen Erfolg hinwirkt; nicht nur so lange vererbt
sind die Gründe einer Sittenregel, dass sie durch Verdichtung ihren Raum
im Bewusstsein verlieren, sondern auch so weit verzweigt, so mannigfaltig,
in so viele Gebiete eingreifend, dass sie sich für das Bewusstsein des
Einzelnen wie der Gattung gegenseitig verdunkeln und paralysieren.
Bedenkt man, dass es doch durchgehend die soziale Wirkung einer
Handlungsweise ist, von der ihre sittliche Schätzung irgendwie ausgeht,
dass diese Wirkung sich auf die umfänglichsten, kompliziertesten, oft
gegensätzlichen Interessenkreise zu erstrecken und mit ihnen sich
auseinander zu setzen hat, so begreift man, dass in dieser Fülle der ins
Bewusstsein drängenden Gesichtspunkte einer dem andern den Raum darin
streitig macht.
Die Zweckmässigkeit unserer sittlichen Normen stellt sich aus dem
Kampf unzähliger Interessen, dem Kompromiss unzähliger Ansprüche, dem
Gestaltet- und Umgestaltetwerden durch unzählige Kräfte her; in keinem
Bewusstsein kann jede Phase und jedes wirkende Moment dieser Entwicklung
haften, sondern wie es überall zu keinem bestimmten Vorstellen kommt, wo
das Bewusstsein sich an eine zu grosse Anzahl von Vorstellungen verteilen
muss, oder wo der Schwingungsradius zwischen diesen ein allzuweiter ist,
so drücken sich die Gründe selbst für eine einfachere Sittenregel durch
ihre Fülle gegenseitig unter die Schwelle des Bewusstseins herab und
bringen eben dadurch den Anschein der Grundlosigkeit hervor.
Ja, gerade wie im Denken das Einfachste das Letzte ist, so im
Sittlichen; denn je mehr Interessen in ihm zusammen strömen, desto
allgemeiner muss es sein.
Daher zeigen die letzten Imperative hochstehender Menschen eine gewisse
Einfachheit, die zwar nicht den Konflikt ausschliesst, aber sich
charakteristisch von den krausen und komplizierten Imperativen abhebt, an
denen das sittliche Bewusstsein unkultivierter Völker - besonders im
Religiös-Sittlichen - Halt macht. (<18)
Diese Unerklärtheit des Sollens, mag sie nun seinen abstrakten
Begriff, oder seine höchste prinzipielle Ausgestaltung, oder seine
einzelnen und konkreten Inhalte betreffen, trägt zweifellos zu seiner
Würde und psychologischen Kraft erheblich bei.
Je dunkler und unverständlicher der Ursprung und die Berechtigung
einer ethischen Norm ist, um so viel heiliger pflegt sie zu gelten, wozu
der angeführte Gesichtspunkt von der Fülle der unbewussten Motive
mitwirken mag.
Wie dieselben objektiv und für die Gattung die Norm zustande bringen,
so veranlassen sie subjektiv den Einzelnen zu deren Erfüllung; und je
massenhafter und mannigfaltiger nun innerliche Triebe und Gründe uns
bewegen, desto lebhafter und tiefer wird unser Gefühlsleben überhaupt
erregt.
Jene alte Lehre, die das Gefühl mit einer Fülle von Vorstellungen,
deren keine für sich zu klarem Bewusstsein zureicht, identifizieren
wollte, hatte psychologisch wenigstens so weit recht, als die Einfachheit
und Deutlichkeit der Gedanken und Motive im umgekehrten Verhältnis zu der
Stärke des begleitenden Gefühles zu stehen pflegt.
Darum erklärt sich gerade aus dem sozialen Charakter des sittlichen
Sollens und der Unzählbarkeit der Fäden, die in ihm zusammenlaufen, das
starke und dunkle Gefühl, von dem es begleitet wird.
Wenn allgemeine Erfahrung ein gutes Gewissen das beste Ruhekissen nennt
und, über diesen negativen Ausdruck hinaus, die Erfüllung der Pflicht
vielfach ein beseligenderes Gefühl bereitet, als alles abseits ihrer
liegende Tun, so ist auch diese Gefühlsseite des Sollens aus seinen
sozialen Zusammenhängen erklärlich.
Denn wenn es die Interessen einer Allgemeinheit gegenüber denen des
Einzelnen sind, die vom Sollen gewahrt werden, so wird der Einzelne in
solchen Augenblicken gewissermassen über sein Ich hinausgehoben, die
Allgemeinheit stellt sich in ihm dar, erweitert ihn um ihren eignen
Umfang.
Durch die Selbstvergessenheit der Pflichterfüllung wird in dem ich
Platz für die Interessen der Allgemeinheit, die sich freilich in höheren
Kulturverhältnissen oft als Pflichten ganz individueller Art, von Mensch
zu Mensch und aus persönlichsten Verhältnissen entsprungen, darstellen;
durch diese hindurch wirkt indes offenbar, für das Gefühl noch
hinreichend, die Summe gattungsmässiger Interessen und Antriebe, um jene
Erhöhung und Erweiterung des Gefühles gelegentlich der Pflichterfüllung
hervorzubringen, die vom rein individualistischen Gesichtspunkt völlig
rätselhaft ist.(<19)
Aus der Geschichte des Individuums ist die Stärke der Gefühlsreflexe
nicht erklärbar, die sich an die sittliche Tat heften, und deshalb ist es
begreiflich, dass man um dieser Erklärung willen an metaphysische
Instanzen appellierte; wie überhaupt die tiefe und dunkle Macht von
Gefühlserregungen, die zu mystischen Vorstellungen veranlasst, meistens
mit ihrer Herleitung aus sozialen Verhältnissen, aus der Beeinflussung
des Individuums durch die Allgemeinheit verständlich werden dürfte.
Denn in der sozialen Gruppe fliessen unzählige Quellen, die auf den
Einzelnen durch Vererbung, Tradition, Beispiel einwirken, die ihn
gestalten, erschüttern, erheben; aber das gewöhnliche Bewusstsein
verfolgt diese Vorgänge nicht bis an ihre wahre Quelle, aus der sich ihre
psychologische Eigenheit zulänglich erklärte, sondern genügt seinem
Kausalbedürfniss durch Erdichtung einer veranlassenden transzendenten
Kraft.
Jene überwältigenden und überraschenden Gefühlsfolgen erklären
sich daraus, dass der Einzelne in solchen Augenblicken die Erbschaft der
Gattung antritt, deren Wirkung eben jene Plötzlichkeit, jenes Geben von
Vielem mit einem Schlage aufweist, wodurch sich das Erben vom Erwerben
unterscheidet.
Es ist immer hervorgehoben worden, welches erhebende Gefühl ein Arnold
von Winkelried in dem Augenblick gehabt haben müsse, wo er der Freiheit
eine Gasse brach, indem er die feindlichen Lanzen in seiner Brust begrub.
Hat ein solches Hochgefühl einen so Handelnden wirklich erfüllt, so
bestand es aus der Erweiterung seiner Persönlichkeit um das soziale
Ganze, dem er dadurch zum Siege verhalf.(<20)
Tieferen Einblick gewinnen wir noch von der Erkenntnis aus, dass die
soziale Gruppe im Allgemeinen dasjenige als Pflicht vom Einzelnen fordert,
was mehr oder minder tatsächlich und von jeher in ihr geübt wird, weil
es die Bedingung ihrer Selbsterhaltung ist; und dass, dieses Moment noch
steigernd, solche Handlungsweisen, die heute als besondere sittliche
Pflicht gelten, lange Zeit hindurch einfach selbstverständlich geübt
wurden: die Hingabe von Gut und Blut für das Ganze, die Unterordnung
unter die höheren Stufen der sozialen Leiter, der Verzicht auf
individuell-egoistisches Handeln gegenüber den gemeinsamen Aktionen -
dies alles sind Charakterzüge, die bei dem Zustande der Homogenität und
Undifferenziertheit der sozialen Gruppe sich ganz von selbst verstehen und
mit dem höheren Herausarbeiten der Einzelpersönlichkeit zu verschwinden
beginnen, um dann erst auf dem Wege bewusster Sittlichkeit wieder gewonnen
zu werden.
Lange genug indes walteten jene Zustände des Kommunismus und der
Gruppensolidarität, um als dunkle Triebe und Instinkte vererbt zu werden.
Und diese offenbar sind es, die bei der Erfüllung des sittlichen
Sollens in uns zur Befriedigung kommen.
Immer sind es wirkliche, historische Zustände der Gattung, die in dem
Einzelnen zu triebhaftem Sollen werden; deshalb äussern sich auf niederem
Gebiet im Kinde höchst lebhafte Triebe nicht nur nach solchen
Betätigungen, die auch im Erwachsenen den Charakter des Verlangens
tragen, wie Essen und Trinken, sondern auch nach solchen, die für diesen
einfach tatsächliche, oft keineswegs lustvolle Ausübungen sind:
Sprechen, Laufen, Aufnehmen von Sinnesempfindungen usw. Entsprechend
befriedigen sich mit der Ausübung jener Inhalte des gesellschaftlichen
Lebens die altererbten, in den tiefsten Tiefen des Bewusstseins lagernden
Sozialinstinkte.
Daher die Zufriedenheit, die Meeresstille der Seele, die uns nach den
sittlichen Handlungen überkommt, das Gefühl vollkommenen Sichauslebens
und tiefster Ruhe.
Die überwiegende und bindende Kraft, welche die Idee der Allgemeinheit
gegenüber der Vorstellung einzelner und enger umschriebener Interessen
hat, stammt wenigstens zum Teil sicherlich aus der psychologischen
Unklarheit und Verschwommenheit, die vermöge der Fülle der
hineinragenden Einzelvorstellungen und Beziehungen jene Vorstellung
begleiten.(<21)
Je massenhafter, mannigfaltiger und verschlungener die
Teilvorstellungen einer Vorstellung sind, desto eher tritt bei ihr jene
phantastische Verklärung, jene reizvolle und ahnungsreiche
Verschwommenheit ein, welche auch das körperliche und geistige
Überblicken grosser Raum- und Zeitmasse charakterisiert.
Wo wir nicht mehr Einzelnes in seiner Bestimmtheit unterscheiden
können, fängt sofort der Optimismus unsrer Natur zu wirken an, der alles
Undeutliche, Unbekannte, Unbegrenzte zu idealisieren pflegt.
Da nun Sittlichkeit in dem Verhältnis zur Allgemeinheit besteht, aus
ihm wenigstens ihren noch stets unbewusst fortwirkenden Ursprung
herleitet, so wird auch die Stärke und Unklarheit der Begeisterung für
das Sittliche überhaupt zum Teil aus der Massenhaftigkeit der in ihm
verdichteten Beziehungen stammen.
Nicht trotzdem wir die Einzelnen nicht kennen, die in unsre
Begeisterung für die Allgemeinheit eingeschlossen sind, sondern grade
weil wir sie nicht kennen, entsteht die charakteristische Kraft dieser
Begeisterung, dieser Vorstellung einer Pflicht, die alles Individuelle und
bestimmt Begrenzte überragt.
Dem Zusammenhang zwischen dem Quantum gleichzeitig andrängender
Vorstellungen und dem begleitenden Gefühle mag unsre Überlegung zu ihrer
Bestätigung noch auf einem andern Gebiet nachgehen.
Wenn wir das künstlerisch Befriedigende, das Wesen der ästhetischen
Forderung in der Darstellung des Typischen, Generellen, Allgemeingültigen
erblicken, so scheint mir der Reiz davon gerade in der Fülle der in
einander verschwimmenden Vorstellungen zu liegen, welche die
Allgemeinvorstellung gleichsam als ihren Indifferenzpunkt umspielen; die
Undeutlichkeit der unzähligen Einzelvorstellungen, die von der typischen
Vorstellung auf eine gewisse niedere Bewusstseinsstufe gehoben werden,
bringt die Anregung der Phantasie mit sich, in der jedenfalls ein grosser
Teil des eigentlich ästhetischen Genusses beruht. (<22)
Wie die organische Entwicklung auf ein Maximum von Leben geht, so geht
- in tiefem Zusammenhänge damit, da der Geist jedenfalls die höchste und
konzentrierteste Lebensform darstellt - die psychische auf ein Maximum von
Vorstellungen, das vermittelst der Verdichtung in typischen Vorstellungen
erreicht wird.
Das Mass, bis zu welchem die Verallgemeinerung gehen darf, um noch
diese Wirkung hervorzubringen, wird durch die Tatsache bestimmt, dass bei
einer allzugrossen Fülle der gehobenen Vorstellungen jeder einzelnen ein
zu geringes Mass von Bewusstsein zu Teil wird, um noch einen psychischen
Wert zu haben; daher die Interesselosigkeit und das Gefühl der Leere
gegenüber allzu allgemeinen, schematischen Darstellungen in der Kunst.
Auch das ethische Interesse hat eine gewisse Grenze für die Grösse
der von ihm umfassten Allgemeinheit, wenn es nicht an Kraft verlieren
soll.
- Ein ähnliches psychologisches Verhalten wie zu der Gesamtheit pflegt
sich auch der Idee der Persönlichkeit gegenüber einzustellen und deren
Wert über jede angebbare Eigenschaft hinaus an das Ganze derselben zu
heften; durch den Reichtum der mannigfaltigen in diesem Ganzen
zusammentreffenden Einzelheiten erregt dasselbe ein Gefühl, das die
kausale Beziehung zu irgend einer einzelnen Qualität der Person oft
ausdrücklich von sich ablehnt.
Es lässt sich beobachten, dass stolze Naturen sich nichts aus ihnen
entgegengebrachten Gefühlen machen, wenn sie dieselben auf bestimmte
einzelne Vorzüge ihrer zurückführen können; sie wollen nicht auf diese
oder jene Gründe hin - und seien sie noch so umfassend und tief - sondern
überhaupt und als ganze Persönlichkeit geliebt und geschätzt werden;
tatsächlich pflegen auch die leidenschaftlichsten Neigungen grade die zu
sein, die sich durch keine einzelne Eigenschaft der Person erklären
lassen.
Der Vergleichungspunkt mit dem Gefühl für die Allgemeinheit liegt
darin, dass auch hier die psychologischen Faktoren, die das Gefühl
begründen, wegen ihrer Fülle und Verzweigtheit im Unbewussten bleibend,
sich als Grundlosigkeit darstellen, und dass der Wert und die Kraft, die
dieser Fülle zukommen, sich deshalb auf die anscheinende Grundlosigkeit
übertragen und als deren Folge gelten. (<23)
Die relative Schnelligkeit im Wechsel der geistigen Vorgänge, die
Fähigkeit des Geistes, die Formen seines Inhalts zu konservieren,
während dieser letztere selbst wechselt, ebenso wie umgekehrt den
gleichen Inhalt unter verschiedenen Formen zu bewahren, begünstigt das
Rudimentärwerden seiner Gebilde.
Und nun ist zu bemerken, dass grade solche äusserlichen Vorschriften,
deren Gründe vollkommen ins Unbewusste gesunken sind, mit der
unausweichlichsten Gewalt wirken: Ritualgesetze, Umgangsformen, Sitten,
deren Sinn längst durch veränderte Lebensbedingungen hinfällig geworden
und die nur noch als Überlebsel einer nicht mehr angebbaren
Zweckmässigkeit fortbestehen.
Und während im Physiologischen die Rudimente ganz besonders
veränderliche Teile sind, weil weder Gebrauch noch Zuchtwahl auf ihre
Erhaltung in bestimmten Formen hinwirken, ist im Geistigen oft das
Gegenteil zu beobachten; gerade das Nicht-Nützliche, dasjenige, dessen
eigentlicher Sinn von ihm abgelöst oder verdunkelt ist, nimmt die
Dauerformen der Sitte und des Vorurteils an.
Grade weil es der Berührung mit dem Flusse lebendiger Entwicklung
entzogen ist, gewinnt es besondere Festigkeit und jenen dämonischen Reiz
des Dogmatischen, für das der Verstand keinen Grund kennt, aber einen um
so tieferen und mystischeren annimmt.
Was durch Gründe gestützt ist, kann durch Gründe zu Fall gebracht
werden, es ist, im älteren Sinne des Wortes, zufällig.
Was dagegen die verstandesmässige Begründung abgestreift hat und
dennoch Macht über uns besitzt, die ethische causa sui, gewinnt den
Charakter des Absoluten; was keine Stützen hat und braucht, dem können
keine fortgezogen werden. (<24)
Hier liegt eine der tiefsten Analogien des religiösen mit dem
sozial-sittlichen Verhalten.
Was der Frömmigkeit den besonders sittlichen Charakter gibt, ist das
Handeln »um Gotteswillen«; wie wir der Allgemeinheit gegenüber nur um
ihrer selbst willen pflichtvoll handeln, ohne einen darüber
hinausgehenden Grund dazu im Bewusstsein zu haben, so wird durch jene
religiöse Gesinnung die teleologische Kette an einem nur durch sich
selbst gerechtfertigten Gliede abgeschnitten; das Bezeichnende des
sittlichen Handelns: keinen Grund zu haben, ist hier der Form nach
vollkommen vorhanden.
Es ist eine Art ethischer Ontologie: wie aus dem Begriff Gottes ohne
alles Weitere seine Existenz folgen soll, ebenso die Pflicht ihn zu lieben
und seine Gebote zu erfüllen.
Schon in den Sentenzen Isidors und bei Gregor von Nyssa wird es
ausgesprochen, dass die sittlichen Vorschriften nicht um einstiger
Belohnung oder Bestrafung willen erfüllt werden sollen, sondern einzig
und allein um der Liebe Gottes willen, welche letzter, keiner
Rechtfertigung weiter bedürftiger Beweggrund ist.
Übrigens war von da aus der Übergang zu dem Ideal, die Tugend um
ihrer selbst willen zu lieben, leicht, den Isidor schon andeutet und
Chrysostomus vollzieht.
Es ist nur das ganz entsprechende Gegenstück dazu, wenn Abälard
meint, dass der Schmerz über die Sünde kein Motiv weiter habe, dass der
Gedanke an Lohn und Strafe die Reue verfälsche und diese schlechthin nur
sich selber zum Gegenstand habe.
Der Pflicht überhaupt nun gibt dies ihren unbedingten Charakter, dass
sie Mittel zu einem Zweck ist, während diejenige Bedingtheit, die das
Mittel sonst durch den darüberstehenden Zweck erhält, vermöge der
Verdunklung dieses letzteren wegfällt.
Wenn eine Handlungsweise unter einer gegebenen Bedingung notwendig ist,
so muss sie den Charakter schlechthin unbedingter Notwendigkeit dann
annehmen, wenn jene Bedingung nicht mehr ins Bewusstsein tritt.
Dieser auch an anderen als ethischen Überzeugungen sich vollziehende
Prozess wird häufig durch eine Persönlichkeit vermittelt, die als eine
Autorität auftritt, über welche nicht weiter hinausgefragt wird.
(<25)
Viele Prinzipien würden ihre Anhängerschaft und ihre Gemeinde nicht
gewinnen, wenn sie nicht durch eine Persönlichkeit geschaffen wären, an
die sich der Glaube anschliessen kann; denn diesen zu gewinnen, reicht die
abstrakte Vorstellung der Gründe nicht häufig aus; woher es denn kommen
kann, dass die Apostel einer Lehre sie rückhalt- und vorbehaltloser und
für sicherer annehmen, als der Schöpfer derselben, der dem Objekte
unmittelbar gegenübersteht.
Wer nicht tiefer hinabsteigt als bis zu dem einmal gewonnenen Dogma,
findet an diesem einen festeren und unfraglicheren Boden, als wer das
Dogma selbst auf der Wirklichkeit der Dinge begründen will.
Der Glaube an eine Person als die höchste Instanz, von der es keine
Appellation mehr gibt, ist so einerseits die Brücke, über die hinweg
gewisse, eigentlich von höheren Prinzipien abzuleitende Lehren ihre
Festigkeit entlehnen - eine Festigkeit, die grösser ist als etwa jene
höchsten, aber von dein Lehrer nicht ausgesprochenen Prinzipien sie für
den Gläubigen besitzen; andererseits ist dieser Vorgang nur die personale
Wendung oder eine Analogie des psychologischen Ereignisses, das dem
abgeleiteten Imperativ oft eine unfraglichere Würde verschafft als dem
höchsten Prinzip, auf das er logisch hinweist.
Wenn gewisse materiale Handlungsweisen für unser Bewusstsein sittliche
Verpflichtung mit sich führen, so gründet sich diese rationaler Weise
auf ein allgemeines regulatives Prinzip als Obersatz, zu dem die gegebene
Lage als Untersatz tritt, damit die Pflicht in dieser als Folge der
Verpflichtung durch jenes höchste Gesetz hervorgehe.
Aber eben dieses höchste Gesetz steht uns oft lange nicht so fest, wie
das davon Abgeleitete.
Die Wirkung jenes Prinzips ist sicherer als es selbst ist, das Gebäude
fester als seine Fundamente.
So machen sich viele Leute nichts daraus, den Staat unmittelbar zu
betrügen, z. B. durch Steuerhinterziehung, während sie davor
zurückbeben würden, einen Einzelnen zu betrügen oder falsches Geld zu
machen, ein Verbrechen, das doch ein solches nur durch viel mittelbarere
Rücksicht auf die ökonomischen Verhältnisse des Staates ist, als jenes.
Der Gedanke, die Glückssumme auf Erden zu vermehren, dürfte von
Vielen kühl oder gar skeptisch betrachtet werden, die ein konkreter,
dieser Glücksmehrung dienender Fall in den zweifelfreisten sittlichen
Enthusiasmus versetzt. (<26)
Tatsächlich kennen wir keine reale oder moralische Notwendigkeit eines
Geschehens, es sei denn als Folge von oder als Mittel zu einem andern,
welches andre seine Notwendigkeit gleichfalls wieder nur von einem höher
gelegenen entlehnen kann; und so münden wir denn schliesslich an einem
höchsten Sein oder Vorstellen, welches wir, da wir nach der Kantischen
Kritik der Ontologie kein durch sich selbst Notwendiges begreifen, nur als
einfache Tatsache, aber nicht als notwendige hinnehmen können.
Nicht logisch, sondern nur psychologisch kann ein Geschehen zu dem
Charakter schlechthin unbedingter Notwendigkeit kommen, wenn jene höheren
Stufen, von denen es seine Notwendigkeit logisch zu Lehen trägt, ins
Unbewusste sinken, und die von ihnen geschaffene Notwendigkeit gleichsam
als ihre Erbschaft im Bewusstsein zurücklassen.
Begründet die Länge der Vererbung die Verdunklung der Gründe einer
Pflicht, so begreift man demnach, dass die so verdunkelte, alles Übrige
gleichgesetzt, auch in gleichem Verhältnis die mächtigere ist; denn
beides, die Macht wie die Verdunklung, gehen von dem gleichen Moment der
Vererbungsdauer aus: die ältesten Vererbungen sind auf geistigem wie auf
körperlichem Gebiet die am wenigsten variabeln.
Wo eine hervorragend sittliche Tat M geschehen ist, da hören wir
leicht, wenn sich später ein egoistisches Motiv als das eigentlich
treibende herausgestellt hat: »Nun verstehe ich M erst!« Die Metaphysik
der Kantischen Ethik beruht darauf, dass, so lange wir die Handlungen der
Menschen verstehen wollen, wir sie nur auf Motive der sinnlichen
Erscheinungswelt, d. h. der Selbstliebe, zurückführen können. (<27)
Ein ähnliches Verhältnis wie hier zum Ethischen, zeigt das
Psychologische auch zum Logischen: die objektive Wahrheit einer
Vorstellung wird uns leicht zweifelhaft, wenn wir die psychologische
Genesis erkennen, durch welche sie im Bewusstsein entstanden ist, ihre
logischen Gründe sind verdächtig, wenn wir statt auf sie nur auf
psychologische Ursachen für das Auftauchen der Überzeugung
zurückzugehen brauchen; wir werden z. B. von vornherein mit Skeptizismus
an eine Lehre herantreten, von der wir wissen, dass gewisse
Gefühlsmomente im Gemüte des Urhebers ihr das Leben gegeben haben.
Die Veranlassung dieser Erscheinung ist vielleicht das Misstrauen in
den Zufall, dass zwei so heterogene Reihen, wie das Logische und das
Psychologische, unabhängig von einander zu demselben Resultate führen
sollten.
Eine entsprechende Empfindung mag in unserm Fall herrschen.
Sobald man der Meinung ist, dass die sittlichen Ideale ein in sich
geschlossenes, der Wirklichkeit heterogenes Reich bilden, liegt der
Gedanke nahe, dass auch ihre Realisierung sich, wenn auch durch ein
tatsächliches Bewusstsein, dennoch ausserhalb des Mechanismus
psychologischer Naturgesetze vollziehen müsse.
Wo dieser gilt, müsste die Erfüllung der sittlichen Forderung aus
vorhergehenden gleichfalls mechanisch hergestellten Bedingungen ohne Rest
erklärbar sein.
Es erscheint als ein wunderlicher Zufall, wenn die Naturgesetzlichkeit
des Vorstellens mit einer idealen Ordnung der Dinge zusammenfällt, die
aus ganz anderen Quellen fliesst als die Wirklichkeit - wobei es dann
freilich angesichts des rein zufälligen Verhältnisses zwischen dem
mechanisch naturgesetzlichen Geschehen und den menschlichen Ideen und
Prinzipien ebenso wunderlich wäre, wenn jener mechanische Verlauf unsres
Handelns immer der Idee der Selbstliebe gemäss wäre, die doch auch ein
teleologisches Prinzip ist.
Es kommt hinzu, dass das Verständnis der Willensakte nur durch das
Kausalgesetz möglich ist und dabei die Freiheit hinwegfällt, die so
Vielen für die Sittlichkeit unentbehrlich scheint.
Dieser letztere Gesichtspunkt hilft uns vielleicht noch zu einem
weiteren Verständnis für die Grundlosigkeit des Sollens.
Wenn die strenge Kausalität die Freiheit ausschliesst, so folgt
analytisch, dass wir diese nur da erkennen können, wo jene unerkennbar
ist. (<28)
Und zwar ist die Unerkennbarkeit des Mechanismus nicht nur die conditio
sine qua non für die Anerkennung der Freiheit, sondern der positive Grund
für sie.
Ein Geschehen für das keine Ursachen zu erkennen oder zu vermuten
sind, nennt der Sprachgebrauch frei; und es ist sehr begreiflich, dass das
menschliche Handeln am längsten dies Prädikat behält, weil seine
psychologischen und physiologischen Veranlassungen sehr verwickelte und
schwer enträtselbare sind, und weil Unbewusstes die Quelle des Bewussten
ist und so dessen ursächliche Erkenntnis erschwert.
Die Freiheit ist tatsächlich nur der Ausdruck für die Unentdecktheit
der Kausalität; sie ist nicht ein Charakter, den ein Geschehen trüge,
welchem wir auf diesen hin die Ausnahme vom Kausalgesetz zusprächen,
sondern umgekehrt, solange wir eine solche Ausnahme noch annehmen, solange
wir die Einreihung des Geschehens in den naturgesetzlichen Mechanismus
noch nicht bewirken können, nennen wir es frei.
Ähnlich nun liesse sich denken, dass die ausschliessliche
Zurückführbarkeit der Handlung auf das sittliche Sollen nicht einen an
und für sich erkennbaren Charakter derselben bedeute, sondern nur der
Ausdruck dafür sei, dass eine anderweitige Erklärung der Handlung noch
nicht gefunden ist.
Dies bedarf einer näheren Auseinandersetzung.
Schopenhauer hat hervorgehoben, dass eine Ethik, die ihre Vorschriften
motivieren wolle, dies nur durch Berufung auf die Eigenliebe könne und
dadurch ihren moralischen Charakter selbst zerstöre.
Jenes Verstehen, dessen Möglichkeit gegenüber dem sittlichen Sollen
geleugnet wird, bedeutet eben ein Verstehen auf Grund egoistischer Motive.
Es ist indes sicher, dass ein vollkommenes Verstehen auch so nicht
geschaffen wird, denn schliesslich ist uns der Egoismus ebenso eine letzte
Tatsache, wie der Altruismus, und wir verstehen ihn um Nichts besser als
diesen.
Wenn wir trotzdem mit der Zurückführung auf das Eigeninteresse und
nur durch sie das völlige Verständnis der Handlung erlangt zu haben
meinen, so beruht dies darauf, dass uns auch das Unerklärliche, wenn es
nur oft genug vor unsern Augen geschieht, als ein ganz Natürliches, das
»gar nicht anders sein kann,« erscheint. (<29)
Wofür wir nach einer Erklärung verlangen, das ist immer das
Ungewöhnliche, von dem hergebrachten Inhalt des Bewusstseins sich
Abhebende; darum werden die gewöhnlichsten Phänomene die spätesten
Gegenstände der wissenschaftlichen Untersuchung; auch für das
Bewusstsein der Probleme gilt die Regel, dass wir nur den Unterschied
empfinden.
An die täglich beobachtbare Erscheinung ist unser Geist derartig
angepasst, dass er, statt nach ihrer Erklärung zu fragen, sie vielmehr
als Erklärungsprinzip für das Seltenere und Auffälligere verwendet; die
Wirkung in die Ferne erscheint uns als ein Rätsel, das seine Lösung erst
durch seine Zurückführung auf Druck und Stoss finden würde - offenbar
aber nur, weil diese letzteren Phänomene die unendlich häufigeren und
gewöhnteren sind, so dass man nicht daran denkt, sie selbst zu Problemen
zu machen.
Würde statt dessen die tägliche Erfahrung, namentlich die am eignen
Leibe fühlbare, uns die Wirkung in die Ferne so häufig und so
nachdrücklich zeigen, wie sie uns die Wirkungen unmittelbarer Berührung
zeigt, und wäre diese relativ so selten wahrnehmbar, wie jetzt jene es
ist, so würde gewiss das Erklärungsverhältnis sich umdrehen, wir
würden die Fernwirkung für das Urphänomen halten, auf das auch Druck
und Stoss schliesslich zurückzuführen seien, wenn man sie erklären
wollte.
Zwischen Egoismus und Sittlichkeit dürfte das gleiche Verhältnis
herrschen; nur weil jener das so unendlich häufigere Phänomen ist, weil
die überwältigende Majorität aller Handlungen von ihm beherrscht ist,
erscheint er uns als »selbstverständlich«, d. h. selbst keiner
Erklärung weiter bedürftig, die er dafür nun anderen Erscheinungen
gewähren kann.
Angenommen, es herrschte irgendwo ein Zustand des absoluten Altruismus,
einer in demselben Masse durchgängigen Selbstlosigkeit und Hingabe, wie
jetzt das Gegenteil durchgängig ist, so würde zweifellos dieser Zustand
als der selbstverständliche, keine weitere Erklärung fordernde angesehen
werden, und nur eine etwa auftretende Erscheinung von Egoismus würde
besonders zu erklären sein und als erklärt gelten, wenn auch sie auf
Altruismus zurückgeführt wäre. (<30)
Es kommt hinzu, dass, wie die Dinge nun einmal liegen, nicht nur die
Mehrzahl unserer Handlungen auf Egoismus zurückgeführt werden muss,
sondern ihre Gesamtheit auch auf ihn zurückgeführt werden kann; mit
einigermassen böswilliger Deutung ist auch die edelste Tat durch
egoistische Motive verständlich, während die Umkehrung hiervon
ausgeschlossen ist.
Also auch der Trieb nach Einheitlichkeit des Erkennens, dem die
Möglichkeit dieser Zurückführung Befriedigung verspricht, wirkt zu der
Überzeugung mit, dass die Sittlichkeit nur durch Zurückführung auf
Egoismus erklärt werden könnte, und, wenn dies ihrem Begriffe
widerspricht, überhaupt unerklärbar ist.
Ich halte es deshalb für möglich, dass das Sollen nichts anderes
bedeutet als solche gefühlte Triebe in uns, die nicht auf den Egoismus
zurückführbar, also überhaupt nicht weiter erklärbar sind.
Die Vorstellung, dass es ein bestimmter und zwar sozialer Inhalt des
Triebes sei, der ihm den Charakter des Sollens verleihe, ist dann daraus
verständlich, dass es meistens soziale Motive sind, die solche
Verdichtung und Verdunklung erworben haben, während das egoistische Motiv
näherliegend und bewusster zu sein pflegt; so dass die psychologische
Assoziation dieses durch seine Form charakterisierten Triebes mit seinem
gewöhnlichen Inhalt die Vorstellung veranlassen kann, es sei dieser
Inhalt, von dem sein Charakter ausginge.
- Nicht was dieses andere ist, das jenseits des Egoismus als Forderung
an uns herantritt, bewirkt, dass wir es als Sollen fühlen, sondern die
Tatsache, dass es eben nicht Egoismus ist; und weil sich für uns Egoismus
und Erklärungsmöglichkeit decken, ist also nicht ein Sollen gegeben, das
nicht erklärt werden könnte, wenngleich dies seinem Begriffe nach sehr
wohl möglich wäre, sondern es ist ein Triebgefühl bestimmten Inhaltes
gegeben, das der Erklärung durch Egoismus widerstrebt und um dieses
Charakters willen einen eigenen Namen, das sittliche Sollen, erhalten hat,
den es sofort verliert, sobald jene Erklärung sich als möglich zeigt.
(<31)
Darum tritt die Empfindung des Sollens auch dort ein, wo jene
Verdunklung des Motivs einen Trieb von nicht sozialer Natur getroffen hat.
Wie nämlich im Leben der Gesamtheit die tatsächlichen und
durchgehendes geübten Formen desselben für den Einzelnen bindende
Pflicht werden, so bildet auch in diesem das oft Getane einen Trieb aus,
es immer weiter und immer wieder zu tun, der sich von dem Motiv, aus dem
die Handlung eigentlich erfolgte, unabhängig macht; gleichviel wie man
diese Erscheinung erklären mag, ob durch eine Kraft der Gewöhnung oder
durch eine Einheitlichkeit des persönlichen Wesens - jedenfalls nimmt der
Trieb zu einem Tun, der sich durch lange Gewöhnung gebildet hat und
dessen ursprüngliche Zweckmässigkeit in Vergessenheit geraten ist,
gewissermassen den Gefühlston einer Pflicht gegen sich selbst, eines
Sollens, an.
Entgegengesetzte Antriebe mögen zwar oft die stärkeren sein; aber
niemand, glaube ich, wird leugnen, dass das plötzliche Abbrechen
verjährter Gepflogenheiten die unbehagliche Empfindung, als unterliesse
man eine Pflicht, mit sich bringt, und einen Antrieb, in derselben Bahn
weiter zu gehen, in der uns ein dem moralischen verwandtes Gefühl von
Treue und Konsequenz festhalten will.
Wie die Vielheit und Verzweigtheit unsrer Beziehungen zur Allgemeinheit
den Grund bildet, aus dem ihre Sitten und Normen uns mit der Würde eines
sittlichen Sollens in ihre Kreise zwingen: so verwächst ein oft geübtes
Tun mit allen möglichen Teilen und Funktionen unsrer Persönlichkeit und
gewinnt dadurch eine dunkle Macht, eine nicht mehr zu zergliedernde
Triebkraft, die in demselben Masse das Gefühl eines stärkeren Sollens
auswirkt, wie sie unerklärlicher ist; denn beides quillt aus der gleichen
Quelle, aus der Anzahl der assoziierten und durch ihre Fülle für das
Bewusstsein paralysierten Vorstellungen und Triebe. (<32)
Darum befreien wir uns auch leichter und sozusagen mit geringerem
Schuldbewusstsein von solchen festgewordenen Handlungsweisen, deren Motive
uns noch im Bewusstsein sind, als wenn diese schon untergesunken sind;
denn dann nimmt der Trieb sofort die mystische Gewalt der causa sui, des
Ursachlosen, an.
So lösen wir lange festgewordene Verhältnisse zu Menschen relativ
leicht, wenn wir sie noch auf ihren Ursprung zurückverfolgen und die
Motive ihrer Entwicklung klar begreifen können; dann wirkt einfach Motiv
gegen Motiv, das auflösende gegen das aufbauende.
Dagegen besitzen solche Verhältnisse, deren Entstehungsgründe uns
nicht mehr klar sind, unheimlichere Gewalt und ihr Abbruch erzeugt nicht
nur den Schmerz, der das Aufgeben jeder alten Gewohnheit begleitet,
sondern geradezu eine Art von Gewissenspein, als sollten wir doch
eigentlich so alte Bande nicht lösen, - die wie gesagt ausbleibt, wenn
wir uns noch darüber klar werden können, woher diese Bande denn ihre
Festigkeit eigentlich gewonnen haben.
Ähnliches ist in religiöser Beziehung zu beobachten.
Unser Verhalten zu Gott wird erst dann das reinste sittliche, wenn wir
uns der Gründe, aus denen unser Sollen ihm gegenüber fliesst, nicht mehr
bewusst sind, seien diese nun die gröberen der Furcht und Hoffnung, oder
die feineren der Abhängigkeit oder der Wesenseinheit.
Wo sich unser Sollen auf solche Gründe stützt, hat es noch keine
Selbständigkeit, keine unbedingte Macht erlangt; denn theoretische
Erschütterungen jener Glaubensartikel würden dann auch den Inhalt des
Sollens aufheben, das aus ihnen gequollen ist und sich auf diese Weise
mehr als Mittel zur Herbeiführung erwünschter Zustände denn als rein
sittliche Verpflichtung zeigt.
Der Trieb, uns dem hinzugeben, was uns als göttliches Wesen und
göttlicher Wille vorschwebt, wird erst dann zum eigentlichen und
vollständigen Sollen, wenn er nicht mehr von einer immerhin
bezweifelbaren Ursache ausgeht oder einem Zwecke dient, der schwerlich von
allem Egoismus rein zu halten ist, wenn er also mit einem Worte für das
Bewusstsein ursachlos geworden ist. (<33)
Wenn sich dies so verhielte, dass die Unbegründbarkeit gewisser
Triebe, das Abbrechen der teleologischen Reihe an ihnen, denjenigen
Charakter hervorruft, den wir das Sollen nennen, und den eigentümlichen
Wert desselben begründet, so hätten wir daran nur ein Beispiel für ein
häufigeres Vorkommnis.
In unserem Weltbild finden sich eine Reihe von Begriffen, deren Inhalt
und Würde der Zurückführung auf andere widerstrebt, und die wir
insbesondere in kein positives Verhältnis mit denjenigen bekannteren und
erklärlichen Vorstellungen zu setzen wissen, auf die sie eigentlich
hinweisen.
Der Grund hiervon ist nun vielfach der, dass gerade der Ausschluss
dieser letzteren das Wesen der fraglichen Begriffe begründet; sie haben
nicht einen für sich bestehenden Charakter, der dann jene Beziehungen
ablehnte, sondern umgekehrt das negative Verhalten zu diesen macht ihren
Charakter aus; sie sind nichts als Namen, die eine leere Stelle unsres
Erkenntnisfeldes bezeichnen, ohne einen für sich bestehenden Inhalt zu
besitzen, dessen Anschein sie dennoch leicht gewinnen.
So ist der ganze zu rechtfertigende Sinn des Dinges an sich nur dieser,
dass es nicht Erscheinung ist; wir könnten nicht etwa positive Begriffe
eines übersinnlichen Substrates der Erscheinungswelt zulassen, von dem
eine weitere Ausmachung dann erst feststellte, dass es die Formen
empirischer Erkenntnis von sich weist; sondern der ganze Inhalt des Dinges
an sich kann für eine reinere Erkenntnistheorie nur der negative sein,
dass es etwas unerfahrbares und unerkennbares ist; wir wissen weiter
nichts von ihm, als dass wir nichts von ihm wissen können.
Wie die Empfindung eines sittlichen Sollens, eines unbedingten
Imperativs uns da entsteht, wo wir uns keiner Bedingungen und Motive
bewusst sind, und der Ausschluss dieser ein wesentliches Zeichen ist,
wodurch sich jenes Sollen von sonstigem Wollen unterscheidet: so ist der
Ausschluss alles Empirischen und Erkennbaren das einzige, was wir von dem
Begriff des Dinges an sich aussagen können; es hat keinen positiven
Inhalt, sondern nur den, einen angebbaren Inhalt nicht zu besitzen.
(<34)
- Noch ein andres diesem nahe liegendes Gebiet lässt sich für die
Höherwertung derjenigen Begriffe anführen, die eigentlich nur
Fragezeichen sind und nur das Versagen der sonst gebrauchten
Erkenntnismittel anzeigen, wenn sie gleich den Schein positiver Inhalte
annehmen.
Nur darum erscheinen nämlich, wie ich glaube, die spiritualistischen
Erklärungen der Welt als die höheren, besseren und vornehmeren
gegenüber den materialistischen, weil der Geist das Unbekanntere, in
seinem Wesen Mystischere ist - wobei es ganz dahin gestellt bleiben kann,
ob eine tiefer dringende Erkenntnistheorie diese Vorstellung des common
sense anerkennen kann.
Das Unenträtselbare wird oft geistigen Einflüssen zugeschrieben; die
Wilden, die sich Naturerscheinungen nicht physisch erklären können,
setzen einen Geist als Ursache.
Darum haben materialistische Geister, die eine exakte Erklärung nur in
der Zurückführung auf physikalische Phänomene erblicken, eine so starke
Angst vor jedem Ignoramus und Ignorabimus, weil sie überall beim
Unerklärten und Unerklärbaren das Hineinragen eines geistigen Prinzips
ahnen und fürchten.
Weil man gegen das Unerkannte sich nicht schützen kann, weil wir nur
durch das Erkennen die Dinge beherrschen lernen, die unerkannt uns als
herrische Mächte gegenüber stehen, bildet sich die Verehrung, die
Vergöttlichung für jenes Geistige heraus, das nur ein Name für das
Unbekannte ist.
Man findet häufig, dass das Wort der Naturvölker für Gott
unterschiedslos auf ein unbegreifliches Ding wie auch auf eine Person,
deren Kräfte unbegreiflich sind, angewandt wird.
Man könnte beinahe sagen, nicht das Geistige ist das Unbekannte,
sondern was wir in seinem Wesen nicht kennen, das nennen wir das Geistige.
So gründet sich die Vorstellung der Naturzwecke nicht auf
Erscheinungen, welche unmittelbar eine geistige Ursache voraussetzten und
deshalb dem bloss mechanisch denkenden Verstande unerklärlich wären;
sondern umgekehrt, es sind Erscheinungen da, die wir bis jetzt noch nicht
mechanisch erklären können, und diese nennen wir zweckmässig, weil wir
doch irgend eine Ursache brauchen und ausser der versagten mechanischen
nur geistige in unserm Vorstellungsvermögen finden. (<35)
Und wenn der Gedanke der Willensfreiheit, wie man glaubt, daher
entstanden ist, dass uns die Ursachen unsrer Willensbestimmungen nicht
bewusst sind, so wird dieser Ursprung nicht das Wenigste zu ihrer
mystischen Bedeutsamkeit und Heiligkeit beigetragen haben; so dass dieser
Ausgangspunkt der Sittlichkeit mit ihrem Endpunkt, dem letzten Zwecke des
Sollens, gleichen Wesens ist.
Zwischen beiden sind die moralischen Handlungen eingegrenzt, die
demnach nicht neben ihrer Eigenart als moralische über das Verständnis
hinausgingen, sondern deren Eigenart grade darin bestünde, die grade
deshalb eine besondere Kategorie und Benennung erhielten, weil man sie
nicht auf die sonst bekannten und bewussten Ursachen und Zwecke
zurückführen kann.
Der absolute Charakter, den das sittliche Sollen in jedem einzelnen
seiner Akte an sich trägt, zeigt sich gleichsam neben dieser
Tiefendimension auch in seiner Breitendimension.
Denn wenn es überhaupt über die Wirklichkeit des Handelns hinweg ein
Sollen gibt, das unsern Handlungen ein Ideal vorschreibt, dann scheint es
sich auch auf die Gesamtheit derselben zu erstrecken; wie Plato mit Recht
darauf hielt, dass wenn es eine Ideenwelt gibt, in deren Abspiegelung
allein das Wesen der sinnlichen Welt besteht, auch eine Idee der Haare und
des Schmutzes existieren müsse, so wird keine Handlung, und sei es die
niedrigste oder unwichtigste, eines Ideals entbehren, das zeigt, ob und
wie sie vollbracht werden soll, während ein Abweichen davon nicht sein
soll.
Wenn Kant meint, dass alle Interessen schliesslich praktische sind,
wenn allgemein die Ansicht verbreitet ist, dass die Sittlichkeit
denjenigen Lebensinhalt bilde, dem alle anderen sich unterzuordnen und an
dem sie ihren Wert zu messen hätten, so kann sich kein Tun der
Beurteilung an einem Sollen entziehen. (<36)
Ebenso allgemein ist indes ein Gebiet des sittlich Gleichgültigen
anerkannt, Möglichkeiten des Handelns, die von keinem Sollen bevormundet
werden, deren Vollbringen so wenig wie ihr Unterlassen unter den Begriff
gut oder böse fällt.
Es scheint mir aber hierin eine wenigstens teilweise Täuschung zu
liegen.
Wie viele Handlungsweisen es auch für einen bestimmten Augenblick
geben mag, die keinen sittlichen Wertunterschied aufweisen, immer wird
ihre Zahl eine begrenzte sein, da sie durch allmähliche Übergänge zum
Gebiet des Unerlaubten hinführen müssen.
Wenn man die Grenzen des Erlaubten auch noch so weit steckt, so müssen
sie sich doch irgendwo vom Bösen abzeichnen, das in dem gegebenen
Augenblick an Stelle jenes geschehen könnte.
Und dann bildet offenbar das ganze Gebiet des Erlaubten als Totalität
das Gesollte.
Ob aus ihm die eine oder die andere Handlungsweise gewählt wird, ist
freilich sittlich gleichgültig; dass aber überhaupt eine aus ihm
gewählt wird, ist nicht gleichgültig und nur jene relative sittliche
Indifferenz, jene Gleichwertigkeit mehrerer Handlungen unter einander
konnte das Bewusstsein hinreichend erfüllen, um übersehen zu lassen,
dass die Gesamtheit all dieser Handlungen oder Unterlassungen doch ein
Sollen ausmacht.
Ob ich jetzt a oder b oder c tue oder unterlasse, mag gleichgültig
sein; aber dass ich überhaupt aus diesem Kreise meine Handlung auswähle
und nicht n tue, das ist gar nicht gleichgültig.
Die sittliche Irrelevanz davon, ob ich a tue oder unterlasse,
verhindert nicht das Mass von sittlicher Dignität, das jeder von beiden
Fällen durch seine Teilnahme an dem Gesamtgebiet des Erlaubten gewinnt;
dieses letztere stellt als Ganzes und im Gegensatz zu jeder ausserhalb
desselben stehenden Handlung das Gesollte dar.
Es kann also z. B. in einem Falle sittlich gleichgültig sein, ob ich
die Wahrheit sage oder überhaupt nichts sage; keineswegs aber ist es
gleichgültig, ob ich eines von diesen beiden tue oder eine Lüge sage.
Dies wird prinzipiell freilich erst zugleich mit der Einsicht ganz
klar, dass das Unterlassen nicht minder als Gegenstand sittlicher
Beurteilung zu behandeln ist, wie das Tun. (<37)
Ich knüpfe die Erörterung hiervon an die Kritik eines gegen den
kategorischen Imperativ gerichteten Einwurfs.
Das Kantische Moralprinzip, so hat man gesagt, entbehre des Impulses,
eine bestimmte sittliche Handlung zu erzeugen; es sage nur: wenn du
handelst, so handle so, dass die Maxime deines Willens allgemeines Gesetz
sein könnte; deshalb sei es doch nur ein bedingtes Moralprinzip, da ein
unbedingtes vielmehr direkt sagen musste: tue das und das, trachte nach
dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, oder ähnliches; es müsste
dem Menschen eine Aufgabe setzen, die er mit seiner ganzen Kraft zu
verwirklichen hätte, und die seine Zeit vollständig ausfüllte.
Daraus, dass der kategorische Imperativ nur eine bestimmte Qualität
des Handelns fordert, scheint also für den Erheber dieses Einwurfs
hervorzugehen, dass man nicht gegen ihn verstosse, wenn man untätig
bleibt, weil dann die Voraussetzung nicht erfüllt ist, unter der allein
er seine nur formgebende Macht äussern kann: nämlich, dass überhaupt
gehandelt werde - was er selbst nicht befiehlt.
Als Einwurf gegen den kategorischen Imperativ ist dieses leicht zu
erledigen, wenn man, womit Kant gewiss einverstanden wäre, das Handeln in
dem weiteren Sinne des Sichverhaltens nimmt: verhalte dich so, dass die
Maxime deines Verhaltens allgemeines Gesetz sein könnte; hierdurch wäre
das Handeln im engeren Sinne und das Unterlassen gleichmässig getroffen,
so dass der Inhalt jedes Lebensmomentes hinreichend und positiv reguliert
wäre.
Wichtiger aber für unseren Zweck ist dies, dass die Verhältnisse uns
in jedem Augenblick Aufforderungen zum Handeln darbieten, denen nicht
nachzukommen Sache positiven Entschlusses ist; denn wenn das Moralgebot in
jedem einzelnen Falle von uns nur fordern kann, unsre Kräfte für die
Verwirklichung eines uns bewusst gewordenen Gedankens einzusetzen, und
wenn diese Verwirklichung uns deshalb als eine mögliche bewusst werden
muss, so gehört zum Ja wie zum Nein dieser Möglichkeit gegenüber eine
bestimmte innere Innervation. (<38)
Der ganze Kreis des überhaupt Erlaubten, zu dem in niedrigeren
Gebieten sehr oft das Tun wie das Unterlassen eben derselben Handlung
gehört, bildet den Bezirk des Gesollten.
Was wir das sittlich Irrelevante nennen, ist immer nur der Gegenstand
einer engeren Wahl zwischen Verhaltungsweisen; denn da das Erlaubte auf
allen Seiten vom Unerlaubten begrenzt Ist, fiele jedes andersartige
Verhalten In das Gebiet dieses letzteren.
Das Entscheidende liegt darin, dass das Nicht-Erlaubte, im
kontradiktorischen Sinne, mit dem Unerlaubten, im konträren Sinne,
zusammenfällt; denn der Begriff des Erlaubten besteht gerade darin, dass
alles nicht unter ihn Gehörige verboten ist.
Man könnte das Verhältnis des Erlaubten zum Gebotenen in eine
ungefähre Analogie zu dem zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen
stellen.
Alles objektiv Mögliche muss auch wirklich sein, denn wenn es nicht
wirklich ist, so muss sich auch nachweisen lassen, dass diejenige Stelle
von Raum oder Zeit, an der man es für möglich hielt, durch irgend welche
andre Erscheinung besetzt ist; da nun die Naturbedingungen der letzteren
sie gesetzmässig und notwendig hervorbrachten, so war es unmöglich, dass
diese Bedingungen an Stelle ihrer eine andre erzeugten; jede andre also,
z. B. die sonst für möglich gehaltene, wäre gegen die
Naturgesetzlichkeit, also unmöglich, gewesen.
Wie Möglichkeit gar keinen objektiven Sinn gegenüber der Wirklichkeit
hat, sondern nur die Unvollständigkeit der Einsicht in die Gründe der
Wirklichkeit ausdrückt, mit der sie sachlich betrachtet zusammenfällt,
so bezeichnet sittliche Irrelevanz kein objektiv gesondertes Gebiet
gegenüber dem sittlich Gebotenen, fällt vielmehr in ihrer Gesamtheit mit
diesem zusammen und drückt nur eine Mannigfaltigkeit desselben aus,
innerhalb deren subjektive Wahl stattfindet. (<39)
Ein monistischer Ethiker könnte sogar die Analogie bis zu der
Behauptung weiter führen: wie eine tiefere Einsicht in die Gesetzlichkeit
der Dinge die Möglichkeit aus unserem Vorstellen ausscheiden müsste, und
nur das Wirkliche, d. h. das Notwendige, bestehen liesse, von dem sich das
Nicht-Wirkliche mit voller Entschiedenheit und ohne Vermittlung durch das
Mögliche abtrennte - so würde eine tiefere Einsicht und vollkommene
Ausgestaltung des Sittlichen erkennen lassen, dass in jedem Falle nur eine
einzige Handlung sittlich möglich, d. h. geboten ist, alle andern aber
ausgeschlossen, während das Erlaubte nur jetzt noch für uns eine unklare
Abschwächung jener scharfen Alternative sei.
Jedenfalls lässt sich aus der Tatsache, dass für jeden Augenblick des
Lebens ein Kreis des Verbotenen existiert, dessen Erstreckung oder
Nicht-Erstreckung auf jede mögliche Handlung oder Unterlassung angebbar
ist, die Folgerung ziehen, dass auch für jeden Augenblick des Lebens ein
positiv Gesolltes existiert; denn sobald das Nicht-Vollbringen des
Erlaubten, d. h. irgend einer zu dem Kreise des Erlaubten gehörigen
Handlung oder Unterlassung verboten ist, so ist sein Vollbringen geboten.
Am klarsten wird dies Zusammenfallen des Erlaubten in seiner Ganzheit
mit dem Gesollten für den Grenzfall, wo nur eine einzige Verhaltungsweise
erlaubt ist: dann ist kein Zweifel, dass sie auch geboten ist, weil keine
andre ausser ihr zulässig ist, auch nicht ihr Unterlassen.
Wie es oft gleichgültig ist, welches von verschiedenen Mitteln zu
einem Zweck ich ergreife, keineswegs aber gleichgültig, ob ich überhaupt
eines ergreife, so bedeutet sittliche Irrelevanz nur dies, dass ich in
einem gegebenen Lebensmomente verschiedenartige Handlungsweisen von
sittlicher Gleichwertigkeit einschlagen kann.
Es bedeutet indes nicht, dass ich mich gegen die Gesamtheit eben dieser
Handlungsweisen negativ verhalten darf, denn sowie ich nichts von dem
überhaupt Erlaubten tue, so tue ich ein Unerlaubtes; und ich kann nicht
als dritte Möglichkeit einschieben, dass ich etwa überhaupt nichts tue,
wobei denn die Kategorien des Erlaubten und Nicht-Erlaubten der
Voraussetzung für ihre Anwendung entbehrten - denn bei der logisch
scharfen gegenseitigen Begrenzung des Erlaubten und des Nicht-Erlaubten
bleibt keine Lücke dafür und auch das Nicht-Tun muss für jeden
Augenblick des Lebens in eine dieser beiden Kategorien gehören. (<40)
Was dieses Wesen des sittlich Gleichgültigen verbirgt, ist nur der so
unendlich häufige Irrtum, der die Eigenschaften, welche die Teile eines
Ganzen in ihrem Verhältnis untereinander besitzen, auf das Ganze als
solches überträgt.
Wenn wir dennoch das Prädikat des sittlich Gleichgültigen auf viele
Handlungen rein an sich und ohne Verhältnis zu anderen anwenden und damit
ausdrücken, dass sie erlaubt sein sollen, gleichviel ob sie einem
weiteren Kreise von Handlungsmöglichkeiten angehören oder nicht, so ist
dies nur eine Bezeichnung a potiori.
Sehr viele von den grundlegenden Funktionen des Lebens, andrerseits
sehr viele ganz nebensächliche Verrichtungen gehören so ohne Weiteres in
den Gesamtbezirk der gesollten Lebensführung hinein, oder ihr Tun wie ihr
Lassen steht mit den wesentlichen Zwecken in so gleichwertigem
Zusammenhang, dass man sie deshalb als an sich selbst gleichgültig
bezeichnet.
Allein unbedingte Richtigkeit hat dies nicht.
Das Schicksal kann sehr wohl den Kreis des in einem Augenblick
Gesollten auf eine sonst mit vielen andern gleichwertige und deshalb als
gleichgültig bezeichnete Handlung verengen, und kann andrerseits eine
solche auch einmal ausserhalb dieses Kreises stellen.
Dem Begriff einer bestimmten Handlung ist nie anzusehen, ob sie
gleichgültig ist oder nicht, dies hängt vielmehr stets von dem
Gesamtkreise des Sollens in dem Augenblicke ab, in dem sie für eine
bestimmte Persönlichkeit in Frage kommt.
Der Ausdehnung des Sollens auf die Gesamtheit möglicher Handlungen
stellt sich die häufig gehörte Behauptung gegenüber: das richtige
Handeln fordere einen Kompromiss zwischen den ethischen und den
anderweitigen Ansprüchen, etwa den ästhetischen, ökonomischen,
egoistischen usw. Auch diese hätten gewisse Rechte, die wir nicht durch
alleinige Schätzung des sittlichen Sollens verkümmern dürften. (<41)
Goethe meint einmal, das für die wahre Menschenbildung Wünschenswerte
dürfe man keineswegs nur im entschieden Reinen und Sittlichen suchen;
auch die Kühnheit, Keckheit und Grandiosität eines Byron gehöre in das
Ideal der Menschheit.
Indem Schiller sich gegen die »Rigidität« der Kantischen Moral
wendet, will er neben dem unbedingten Sollen auch dem Gefühlsmässigen
ein Recht zur Bestimmung unsres Handelns eingeräumt wissen, und offenbar
ist es seine eigene Meinung, wenn Oktavio Piccolomini es für unmöglich
erklärt, sich im Leben stets so Kindereien zu halten, wie die Stimme im
Innersten es lehre; er will damit gewiss nicht nur die äussere
Unmöglichkeit eines stets nur sittlichen Handelns, sondern auch die
Berechtigung aussprechen, davon unter Umständen und um andrer Interessen
willen abzuweichen.
Allein wenn der ethische Zweck des Lebens auf diese Weise andern
koordiniert wird und eine gegenseitige Einschränkung ihrer stattfinden
soll, so bedarf es doch offenbar eines höchsten Sollens, an dem die
Anteile aller dieser Faktoren zu bemessen sind.
Das Ideal des Schönen fordert für sich allein betrachtet ebenso
vollkommene Durchführung, wie das des Sittlichen, des Egoismus, der
einzelnen Lebenszwecke.
Gibt man zu, dass in der richtigen Lebensführung jedes derselben
eingeschränkt werden muss, so ist diese Einschränkung, die Bestimmung
des Masses für jedes einzelne, ein neues Sollen.
Die Forderung tritt auf, keine Forderung als eine absolute gelten zu
lassen.
Aber eben diese Forderung muss doch eine absolute sein.
Sind alle Ideale nur Parteien, die um das Mass ihrer Ansprüche
streiten, so sollen wir nun so handeln, wie die schliessliche Entscheidung
zwischen diesen Ansprüchen es feststellt.
Und hieran erkennen wir die Falschheit jener Forderung eines
Kompromisses.
Heisst sittlich sein: so handeln, wie wir handeln sollen, so schliesst
es jegliches Sollen überhaupt ein; eine Forderung, dass wir dem Sollen
teilweise nicht nachkommen sollen, ist in sich widersprechend und konnte
psychologisch nur so entstehen, dass eine Richtung des Handelns, in
welcher das Sollen häufig liegt, in ihrer extremsten Durchführung und in
ausnahmsloser Geltung zum Moralgebot hypostasiert wurde; dann freilich
machen sich gelegentlich Ansprüche geltend, die den nur relativen
Charakter jenes zeigen. (<42)
Aber die Ausdehnung eines Inhaltes des Sollens über sein in jedem
einzelnen Falle erst zu prüfendes Mass ist kein Sollen mehr.
Wenn also z. B. der moralische Grundsatz der Mildtätigkeit unter
gegebenen Umständen hintangesetzt werden muss, weil die Selbsterhaltung
oder wirtschaftliche Gründe oder strafende Strenge es fordern, so ist es
falsch zu sagen, das Sollen der Mildtätigkeit ginge zwar an sich über
das hier richtige Mass hinaus, aber die Durchkreuzung mit andern
Sollensinhalten bringe den vorliegenden Verzicht darauf zuwege.
Das Sollen jener Vorschrift geht vielmehr von vorn herein nicht weiter,
als ihm in Anbetracht aller Umstände zuzugestehen ist und darüber hinaus
ist es nicht ein zwar vorhandenes aber augenblicklich schweigendes Sollen,
sondern geradezu ein Nicht-Sollen.
Gewiss ist es für den Künstler im allgemeinen ein Sollen, das Schöne
so vollkommen zu bilden, wie er vermag; wenn dies aber in einem gegebenen
Falle nur um den Preis unverhältnismäßiger Aufopferungen andrer Art
möglich ist, so ist es kein Sollen mehr.
Die ganze irrige Vorstellung, das sittliche Sollen müsse eine
Einschränkung zu Gunsten andrer Forderungen erleiden, stammt daher, dass
man die Sittlichkeit von vornherein mit gewissen einzelnen ihrer
Äusserungen identifiziert hat; nie freilich wird eine einzelne bestimmte
Handlungsnorm, geradlinig und unbeschränkt durch alle Lebenslagen
hindurchgeführt, dem Sollen ganz genügen, sondern stets wird dieses eine
gegenseitige Einschränkung der verschiedenen Normen verlangen.
Aber über diesen Punkt der gegenseitigen Begrenzung hinaus liegt kein
Sollen mehr; denn was wir sollen, das können wir nicht zugleich nicht
sollen, und was eingeschränkt werden soll, ist demnach nicht das Sollen -
das wäre ein logischer Widerspruch - sondern die Idee einer
Handlungsweise, die nur durch die Häufigkeit ihres Gesolltwerdens die
Vorstellung erweckt, als trüge sie auch bei ihrer Fortsetzung ins
Unendliche diesen Charakter. (<43)
Denken wir uns die Wirklichkeit, wie es unserm diskursiven Geiste
zukommt, als das Produkt einer grossen Anzahl verschieden gerichteter
Kräfte und Qualitäten, von denen jede an anderen ihre Begrenzung findet:
so besteht alle Idealbildung, alle Phantastik, alle Vorstellung eines
bestimmt qualifizierten Absoluten darin, dass ein einzelner Faden dieses
Gewebes über den Schnittpunkt mit andern, mit denen zusammen er die
Wirklichkeit bildet, hinausgesponnen wird.
Und wie es nun falsch wäre zu sagen, die Wirklichkeit bestünde aus
einem Kompromiss all dieser an sich unbegrenzten Energien - da ja eben
diejenige Ausdehnung, mit der sie über die Wirklichkeit hinausragen,
ausschliesslich in unserer Einbildungskraft besteht - ganz so falsch ist
es, die sittliche Welt, in der sich das Sollen, wie in der wirklichen Welt
das Sein, an eine grosse Anzahl von Faktoren verteilt, als einen
Kompromiss dieser, an sich unbegrenzten, vorzustellen; denn auch in ihr
ist die Verlängerung der Ansprüche über den Endpunkt ihrer
tatsächlichen Geltung hinaus nur eine Willkürlichkeit des Denkens.
Wenn nämlich auch die ganze sittliche Welt eine Welt des Ideals, des
blossen Gedankens wäre, so müssten wir doch in Betreff ihrer durchaus
den Vorstellungskomplex des wirklichen und gültigen Sollens von dem durch
einseitig idealisierende Phantasie zum absoluten ausgewachsenen Teilsollen
unterscheiden, ebenso wie doch auch das Sein nur Vorstellung und dennoch
von der phantastischen Verabsolutierung seiner Bestandteile scharf
abtrennbar ist.
So wenigstens stellt es sich für die logische und formale Betrachtung
des Sollens; dass nachher allerlei Unzulänglichkeiten und Widersprüche
im Sein und im Erkennen seine Inhalte sich dennoch gegenseitig
einschränken lassen, werden wir im Kapitel von dem Konflikt der Pflichten
auszuführen haben.
Immerhin ist es aber auch dann nicht das Sollen, das irgend einer
Forderung, die kein Sollen wäre zu welchen hätte, sondern verschiedene
Forderungen, die alle die gleiche Dignität des Sollens haben, können in
Widerstreit geraten. (<44)
- Deshalb ist es ein völliger Irrtum Goethes, wenn er meint, die
richtige Lebensnorm verlange neben dem bloss Sittlichen auch noch andere
Elemente.
Haben diese letzteren ein Sollen für sich, so gehören sie auch zur
Sittlichkeit, da diese nichts anderes bedeuten kann, als die vollständige
und vollständig richtige Art des Verhaltens.
Was eingeschränkt werden muss, sind immer nur einzelne Teile der
Gesamtsittlichkeit, die sich gebärden, als wären sie die ganze
Sittlichkeit, d. h. das ganze Sollen.
Wenn der platonische Idealismus den Begriffen eine Wirklichkeit noch
über das Mass hinaus zuschreibt, in dem sie an dem empirischen Sein
aufzuzeigen sind und nun, um von diesem die richtige Vorstellung zu
gewinnen, diejenige Absolutheit von jedem einzelnen Begriff wieder
abziehen muss, die er ihm erst angesetzt hatte: so wiederholt sich der
gleiche Irrtum, vom Sein auf das Sollen übertragen, dort, wo man das
Sollen seinem Begriffe nach mit bestimmten Handlungsnormen verschmilzt und
diese dadurch verabsolutiert.
Dann freilich muss man gelegentlich diesen absoluten Charakter, um dem
höchsten Sollen zu genügen, der Handlungsweise wieder absprechen und
kommt dadurch leicht zu der Vorstellung als wäre es das sittliche Sollen
überhaupt, dem auf diese Weise Abbruch zu tun sei.
Dass das Sollen ein absolutes ist, d. h. kein Kompromiss mit
anderweitigen Ansprüchen fordert oder verträgt, ist ein analytischer
oder vielmehr identischer Satz; denn nicht vor, sondern nur nach der
Abwägung und Ausgleichung der verschiedenartigen Werte kann man sagen:
diese Handlungsweise soll nun sein, und jeder anderweitige Anspruch, mag
er zunächst noch den Charakter des Sollens getragen haben, wird in dem
Augenblick ein Nichtsollen, wo seine Abwägung andern gegenüber ein
anderes Sollen als definitives hervortreten lässt. (<45)
Bei jedem Bestimmten, was ich gemäss einseitigem Interesse und
einseitigem Sprachgebrauch soll, Logischem, Ästhetischem, Politischem,
bedarf es des Kompromisses mit andern Ansprüchen - wie es nicht die
einseitige Kraftübung eines Körperteiles ist, die zu einem Maximum von
Kraft führt, wie vielmehr auch dieses nur dadurch erreicht wird, dass der
Ausbildung eines Teiles immer etwas zu Gunsten aller anderen abgebrochen
wird: so wird auch im Organismus der idealen Werte des Lebens ein Maximum
von Wert nur realisiert, wenn wir auf die absolute Durchführung des Einen
verzichten, um auch den Übrigen ein Mass von Kraft und Hingebung zu Teil
werden zu lassen.
Nur das sittliche Sollen verlangt kein Kompromiss, weil es der
zusammenfassende Name für das Sollen überhaupt ist; und insofern ist
sittliches Sollen ein Pleonasmus.
Es ist gleichsam das Hauptbuch, in welches die aus der
Rechnungsführung für die einzelnen Branchen resultierten Werte
übertragen werden, um den Wert des Ganzen durch Summierung und
Balancierung zu ergeben.
Aus dieser Ausdehnung des Sollens fliesst die Folgerung, dass es nicht
übertrieben werden kann.
Jeder inhaltlich bestimmte Charakter einer Handlungsweise kann einen
verwerflichen Grad annehmen und schliesslich maniakalisch ausarten; so der
Erkenntnistrieb z. B. in dem vor einiger Zeit bekannt gewordenen Falle, wo
ein Arzt ein Mädchen in seine Wohnung gelockt und getötet hatte, indem
er sie unter eine Luftpumpe brachte, um festzustellen, bei welchem Grade
von Luftentziehung ein Mensch sterben müsste; so der Schönheitstrieb bei
Naturen, die vor der ästhetischen Form des Lebens alle seine übrigen
Interessen vernachlässigen, bei Künstlern, die um ein schönes Modell
die wahnsinnigsten Opfer bringen usw.
Dass jemand aber dem Sollen überhaupt in unmässiger und
übertriebener Weise nachlebte, ist ein Widerspruch in sich; denn sowie
sein Handeln über das Mass des gerechtfertigten hinausgeht, fällt es
eben ausserhalb des Sollens; so wenig eine Erkenntnis zu sehr der Wahrheit
gemäss sein kann, so wenig kann eine Handlung zu sehr dem Sollen gemäss
sein. (<46)
Darum ist die Vorstellung einer übertriebenen Sittlichkeit, die man
etwa gegenüber Fanatikern der Aufopferung und einer blinden,
unzweckmässigen Selbstlosigkeit aussprechen hört, ganz
missverständlich.
Weil das Sollen vielfach eine Hingabe des Ichinteresses von uns
fordert, hat diese sich mit der Vorstellung des Sollens und der
Sittlichkeit überhaupt identifiziert, und wo sie in einer Weise geübt
wird, die dem von uns anerkannten Sollen in seiner Gesamtheit
widerspricht, erscheint es uns deshalb leicht, als ob die Sittlichkeit,
der Gehorsam dem Sollen gegenüber, übertrieben wäre; was daran
übertrieben ist, ist aber nicht mehr dem Sollen gemäss und kann nur
durch jene Assoziation a potiori zu dem Ehrentitel eines Übermasses von
Sittlichkeit kommen.
So sehr der griechische Sittlichkeitsbegriff an Vertiefung und
Innigkeit hinter dem unsrigen zurückstehen mag, so war doch das Ideal der
Eudämonie diesem Missverständnis nicht ausgesetzt, dem zufolge es eines
Kompromisses des Sittlichkeitsideales mit den anderweitigen Anforderungen
des Lebens bedürfte, und das die Frage, was denn nun definitiv geschehen
solle, unnützerweise an eine höhere Instanz weiter gibt.
Die Eudämonie bezeichnete das richtige Verhalten, d. h. das Resultat
der Kompromisse zwischen allen verschiedenartigen Antrieben, aber nicht
einen blossen Faktor desselben, so dass für den Griechen die Vorstellung,
dass man um anderer Interessen willen der Eudämonie etwas abzubrechen
habe - eine Vorstellung, die uns entsprechend für die Sittlichkeit ganz
geläufig ist - so unsinnig erschienen wäre, wie etwa die, dass man
überhaupt dem Richtigen etwas zu Gunsten des Unrichtigen abziehen müsse.
Nun könnte man freilich behaupten, dass auf diese Weise eine wirkliche
Erkenntnis dessen, was wir sollen, nicht gewonnen werden kann.
Sowie das höchste praktische Prinzip einen bestimmten Inhalt gewänne,
fordere die Mannigfaltigkeit des Lebens gelegentlich ein Nachgeben
desselben anderen Interessen gegenüber; werde es aber so allgemein
gefasst, wie das der Eudämonie, so sei es nur ein Name für die Tatsache
des Sollens. (<47)
Der Begriff der Eudämonie sagt auch nichts anderes, als dass der
richtige und gute Zustand eben der richtige und gute ist, deutet aber
nicht einmal an, was für einen konkreten Inhalt dieser denn habe.
Denn wenn auch allerdings die Wege angegeben werden, auf welchen man
zur Eudämonie gelangt, so muss doch die sittliche Richtigkeit und der
Wert derselben anderweitig feststehen, für welchen nun die Eudämonie nur
ein analytischer Ausdruck ist, statt wie man meinte jenen sittlichen
Direktiven ihre Würde und Berechtigung zu verleihen.
Das Gleiche ist an der platonischen Idee des Guten zu beobachten.
Denn dass dieselbe die höchste aller Ideen und Ideale bedeutet, ist
keine wirkliche und fördernde Erkenntnis, sondern einfach
selbstverständlich, da wir die vollendete Beschaffenheit jedes Dinges
eben mit dem Prädikat gut benennen.
Plato hat nicht etwa einen bestimmten inhaltsvollen Begriff des Guten,
von dem er dann erst auf synthetischem Wege fände, dass das Weltbild sich
zu ihm als seiner Krönung aufgipfelt; sondern umgekehrt, da jedes Ding
verschiedene Grade der Vollkommenheit haben kann, deren höchsten wir eben
schlechthin als »gut« bezeichnen, so versteht es sich von selbst und ist
rein analytisch, dass die Idee des Guten die höchste von allen ist.
Als Moralprinzip gedacht, enthält sie nur den Zirkel: wir sollen so
handeln, wie es gut ist, d.h. wie wir handeln sollen; denn wir können das
Gute gar nicht anders definieren, denn als dasjenige, was eben
verwirklicht werden soll.
Was das nun aber ist, muss durch andere Methoden festgestellt werden.
Die tiefere Berechtigung den moralisch guten Menschen als einen guten
schlechthin zu bezeichnen, ergibt sich erst aus dem Hinblick auf die
soziale Bedeutung der Sittlichkeit.
Es besteht allerdings die Neigung, das Prädikat des »Guten«, das wir
einem Menschen zusprechen, als das Einfachste und Fundamentalste
anzusehen. (<48)
Tatsächlich aber ist es das Resultat einer sehr hohen Abstraktion,
denn ursprünglich ist der Mensch nur in Hinsicht auf einzelne
Eigenschaften gut, ein guter Schuhmacher einer, der gute Schuhe macht, ein
guter Jäger jemand, der geschickt das Wild erlegt, usw.
Dass jemand überhaupt und als ganzer Mensch gut ist, kann erst die
Aussage eines ausgebildeten und bedeutend synthetischen Denkvermögens
sein.
Und es ist bezeichnend, dass dieses Allgemeinste dann wieder zur
moralischen Bedeutung scheinbar verengert wird.
Jemand, der im moralischen Sinne, d.h. schlechthin gut ist, ist für
alle, die mit ihm zu tun haben, gut.
Die unvergleichliche Höhe des sittlichen Ideals stammt daraus, dass
Sittlichkeit ganz und gar sozialen Charakter trägt, so dass sie die
umfassendsten und vielseitigsten Beziehungen des Menschen überhaupt
einschliesst; es ist deshalb der höchste Vereinigungspunkt dessen, woran
uns bei einem Menschen liegt.
Da es seine Qualität als soziales Wesen bestimmt, so bestimmt es die
Hauptsache an ihm.
Hierin liegt eben wieder der absolute Charakter des Sollens: es umfasst
die Gesamtheit der Beziehungen des menschlichen Lebens, d. h. also dessen
soziale Sphäre.
Weil alle unsere Handlungen schliesslich in der Relation der Menschen
untereinander münden, darum ist derjenige, der in sozialer, d. h.
sittlicher Hinsicht gut ist, auch gut schlechthin.
Die Täuschung, der sich Plato über die Leerheit seines höchsten
Begriffs hingibt, wiederholt sich unzählige Male in der Geschichte der
Ethik, deren Verhängnis es ist, dasjenige meistens als
selbstverständlich vorauszusetzen, worauf es gerade ankommt.
So setzt z. B. das Moralprinzip der »rechten Mitte« die reale
Bestimmtheit des sittlich Richtigen schon voraus.
Denn bis zu welchem Grade man einem Neigungs- oder Pflichtantrieb
folgen dürfe, hängt danach von dem Masse ab, das dem entgegengesetzten
eingeräumt werden soll; dieses ist aber offenbar wieder von jenem
abhängig; dies Moralprinzip verwickelt offenbar in den Zirkel, einen
Punkt durch zwei variable Grössen fixieren zu wollen, von denen die eine
die Funktion der andern ist, und von denen jede zur Bestimmung ihres
absoluten Masses auf die vorhergehende Bestimmtheit der andern angewiesen
ist. (<49)
Was zwischen Geiz und Verschwendung, zwischen Feigheit und
Tollkühnheit die rechte Mitte ist, ergibt sich nicht durch eine Art von
Berechnung aus jenen Faktoren, sondern immer erst auf Grund einer
besonderen synthetischen Erkenntnis.
Das rechte Mass ist nur der analytische Name für dasjenige, was auf
Grund anderer Momente als sittlich richtig vorausgesetzt wird.
Wie mit der Forderung der rechten Mitte verhält es sich mit der des
Gleichgewichts verschiedener Kräfte oder Parteien, in dem ihr Verhältnis
sein Ideal finden soll.
Man hört: das Staatsleben werde nur dann gefördert, wenn es zu einem
Gleichgewicht zwischen dem Einfluss zentralisierender Individualität und
objektiver Normen, die von der Allgemeinheit ausgehen, gekommen sei; nur
bei einem Gleichgewicht zwischen Ruhe und Arbeit könne der Mensch
bestehen, und ähnliches.
Allein, wenn mir einerseits der Begriff der Individualisierung,
andrerseits der der Objektivierung des Staatslebens gegeben ist, so kann
ich aus ihnen an und für sich noch absolut nicht erkennen, welches
Quantum von einem dem bestimmten Quantum des andern entspricht, da doch
kein äusserlich abmessbares Gleichungsverhältnis zwischen ihnen
stattfindet; Gleichgewicht zwischen beiden nennen wir eben dasjenige
quantitative Verhältnis, in dem sie einem bestimmten Zweck am besten
dienen.
Dieser Zweck aber wird mit naivem Unbewusstsein vorausgesetzt; und so
der typische Fehler begangen, dass sich das richtige Verhalten aus der
objektiven Proportion zweier Faktoren ergeben soll, für die es kein
gemeinsames objektives Mass gibt und von denen keiner aus sich heraus
bestimmt, ein wie grosses Mass des anderen ihm äquivalent sei; sondern
erst ein ausserhalb beider gelegener Zweck bestimmt ihnen die Masse.
Und dieser materielle Zweck, aber nicht die formale und von jenem
abhängige Forderung des Gleichgewichts bildet das ethische Kriterium.
(<50)
Ändert sich jener Zweck, so ist ein anderes Verhältnis der Faktoren
das des Gleichgewichts; es ist, in dem obigen Beispiel, ein ganz andres in
der Städteverwaltung des Mittelalters als in der Politik des modernen
Grossstaats.
Man sagt, dass nur bei einem Gleichgewicht von Eiweiss, Fett und
Kohlehydraten der Mensch bestehen könne; dies bedeutet aber nicht im
Geringsten, dass ein gleiches Gewicht aller drei Bestandteile dieses
Gleichgewicht bilde, sondern ganz verschiedene Gewichtsmengen ihrer werden
als im Gleichgewicht befindlich bezeichnet, weil sie gleiche Wichtigkeit
für den Ernährungszweck besitzen; und dieses vorgebliche Gleichgewicht
ändert sich ganz, je nachdem es sich um Ernährung eines Kindes oder
eines Erwachsenen handelt.
Die Täuschung darüber, dass die objektive und rationale
Angemessenheit und Gleichheit der Faktoren nichts andres als ein Name für
das materiell festgestellte und deshalb je nach dem Zweck variable Mass
ihrer Zweckmässigkeit ist, ist für die ethische Theorie und Praxis nicht
ohne schädliche Folgen.
Denn ist einmal ein bestimmtes Verhältnis auf Grund eines als solchen
unbewussten Zweckes gesetzt und als ein sachliches, durch die Faktoren an
und für sich nötig gewordenes Ideal fixiert, so wird es nun auch
weiterhin als Norm selbst dann gelten, wenn andre Zwecke und andre
Umstände eine Modifikation jenes erforderten.
Es kommt auf solche Weise häufig zu einem ethischen Bimetallismus, bei
dem das unter bestimmten Voraussetzungen richtige Verhältnis zweier
Faktoren für ein absolut Richtiges gehalten und so als richtiges für
alle überhaupt ausdenkbaren Voraussetzungen festgehalten wird.
Überall ferner, wo der Begriff der Harmonie als letzter Inbegriff des
Sollens gesetzt wird, liegt die gleiche Täuschung darüber vor, dass zwei
Begriffe, Forderungen, Qualitäten rein an sich absolut nichts enthalten,
was ihr quantitatives Verhältnis zu einander als harmonisches oder
unharmonisches bestimmte, vielmehr zu dieser Bestimmung erst ein
ausserhalb jener beiden gelegenes Kriterium herbeigerufen werden muss.
(<51)
Deshalb werden auch, je nach den bewusst oder unbewusst zu Grunde
liegenden synthetischen Überzeugungen, die allerentgegengesetztesten
Verhältnisse und Normen als harmonisch bezeichnet, und die so behauptete
Harmonie nun als Beweis für deren Richtigkeit und Tüchtigkeit ins Feld
geführt.
Der Spiritismus wird von seinen Anhängern die harmonische Philosophie,
der Vegetarianismus von den seinigen die harmonische Lebensweise genannt.
Es wird in solchen Fällen nicht etwa ein gewisses Verhalten an sich
als harmonisches erkannt und daraufhin legitimiert, sondern umgekehrt ein
anderweitig angenommenes einfach harmonisch genannt.
Auch das mhden agan ist nichts als ein
identischer Satz; denn wie will man das Zuviel definieren, wenn nicht als
dasjenige, was nicht sein soll?
Und ebenso ist jenes: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott,
was Gottes ist - an und für sich ganz ohne Erkenntniswert.
Denn dass man jedem dasjenige geben soll, was ihm zukommt, ist ein rein
analytischer Satz, weil wir das ihm Zukommende gar nicht anders definieren
können, denn als dasjenige, was man ihm geben soll.
Wenn man fragt, ob dem Kaiser etwas zukäme, so ist es durchaus keine
Antwort darauf, dass man ihm geben soll, was ihm zukommt.
Erst der spezielle Hinweis darauf, dass es die Münze, d.h. der
irdische Besitz ist, der dem Kaiser zukommt, gibt dem Satz einen
wirklichen Sinn; und wenn die gewöhnliche Auffassung schon mit jener
vielbewunderten Formel allein die Frage entschieden meint, so ist sie
grade an der Hauptsache vorbeigegangen, um sich an eine blosse
Wortdefinition zu halten.
Auch Konfuzius wurde einmal nach den Grundsätzen einer guten
Verfassung gefragt und antwortete ganz ähnlich: »der Fürst sei Fürst,
der Untertan sei Untertan, der Vater sei Vater, der Sohn sei Sohn.«
Das Interessante und Synthetische an diesem Satz ist gerade nur das,
was er offenbar ganz unbewusst voraussetzt: dass nämlich jedes Wesen
durch seine natürliche oder historische Stellung überhaupt bestimmt
gezeichnete Pflichten habe, dass jedem Menschen von vornherein ein Kreis
von Aufgaben gestellt sei. (<52)
An und für sich ist er völlig nichtssagend, denn dasjenige, worin
jeder bleiben soll, nennen wir eben seine Sphäre - jener Satz sagt doch
nichts anderes, als dass jeder in seiner Sphäre bleiben soll - und alles
kommt auf die Bestimmung an, was das nun im Einzelnen sei, worin er zu
bleiben habe.
Alle Prinzipien, die auf das suum cuique hinauslaufen, geben an und
für sich gar keine bestimmte Norm, setzen vielmehr die Bestimmtheit des
suum schon naiv voraus.
Dies hängt damit zusammen, dass das Sollen überhaupt und als Ganzes
keine inhaltliche Bestimmtheit vertragt; und damit fassen wir als Resultat
dieses Abschnitts zusammen: der Umfang des sittlichen Sollens erstreckt
sich so weit, wie der Umfang des von Zwecken geleiteten Tuns überhaupt;
denn es tritt als definitive Richtschnur unsres Handelns erst ein, wenn
wir alle für uns gültigen Interessen und Ansprüche in Betracht gezogen
und abgewogen haben.
Alle Kompromisse haben zwischen diesen stattzufinden, und dann erst
können wir von einem sittlichen Sollen sprechen; aber dieses, weil es
nichts als der Name für das Ideal des Tuns überhaupt ist, kann nicht
seinerseits wieder zum Gliede eines Kompromisses gemacht werden.
Auch das wirtschaftliche, egoistische, ästhetische Sollen ist das
Sollen von Handlungsweisen; realisiert Sittlichkeit nun aber das auf das
Handeln überhaupt bezügliche Sollen, so liegt auf der Hand, dass es
jenen gegenüber das höchste ist.
Ja, dass jene als tatsächliche Triebe vorgefundenen Forderungen
überhaupt als Sollen bezeichnet werden, kann von dem hier eingenommenen
Standpunkte nur als Ausdruck der Möglichkeit gelten, dass ihre
gegenseitige Abwägung eines von ihnen in einem konkreten Falle als Inhalt
des Sollens herausstelle.
Nur weil wir vor dieser Abwägung subjektiv unsicher sind, welche der
verschiedenen Handlungsmöglichkeiten schliesslich gesollt wird, bleibt an
jeder von ihnen der Ton des Gesolltwerdens überhaupt haften, als sei er
mit ihrem Inhalt verbunden. (<53)
So behalten auch sonst vielerlei Eventualitäten des Lebens
psychologisch noch ein Mass von Wahrscheinlichkeit, das die Unsicherheit
unseres Vorherwissens ihnen verlieh, nachdem ihre Unwirklichkeit, also
Unmöglichkeit, längst entschieden ist.
Diese Beschränkung des Sollens auf seinen letzten und definitiven Sinn
hat nun freilich wieder die Folge, dass dieses höchste Sollen an und für
sich ganz inhaltlos bleibt, und dass deshalb die hinreichend weit
gefassten Moralprinzipien blosse Namen für die Tatsache des Sollens
bedeuten, nur die Stelle bezeichnen, an welche anderweitige Erkenntnis
erst konkrete Inhalte zu setzen hat.
Ich will nur kurz erwähnen, was der Behauptung, sittliches Sollen sei
ein Pleonasmus, entgegenzustehen scheint: dass auch der unmoralische
Egoist sich oft fragt, welche von zwei möglichen aber nicht zugleich
möglichen Taten der Unsittlichkeit er ausführen soll; wobei er sich
offenbar diejenige als die gesollte vorstellt, welche ihm den grösseren
unrechtmässigen Vorteil verschafft.
Man könnte dies so erklären, dass die Handlungsweise, der hier der
Vorzug des Sollens gegeben wird, die zweckmässigere ist, und dass, da
eine solche auch so oft das Gesollte im höchsten Sinne darstellt, die
blosse Form der Zweckmässigkeit, unabhängig von der Frage, zu welchem
Zwecke sie denn diene, den psychologischen Charakter des Sollens für sich
gewinnt.
Man darf geradezu sagen, dass der Sprachgebrauch ein doppeltes
Gesolltes anerkennt: eines in dem engeren Sinn der sittlichen Forderung,
ein anderes in dem weiteren, in dem es die vorzuziehende Seite einer
beliebigen praktischen Alternative bedeutet.
Und endlich liegt folgendes Bedenken nahe.
Wenn das Sollen an und für sich von jedem konkreten Inhalt gesondert
ist und sich deshalb zu jedem beliebigen von vornherein gleich, weil
gleich negativ verhält: wie kommt es denn zu irgend einem Inhalt?
Wo ist die Handhabe zu finden, an der diese farblose Funktion eine
konkrete Erfüllung ergreifen kann?
Wenn sich aus dem Sollen absolut kein Hinweis auf das, was gesollt
wird, gewinnen lässt, wo liegt dann die sachliche Rechtfertigung dafür,
dass es grade mit einer Vorstellung unter Ausschluss aller
entgegengesetzten verbunden wird?
Der blosse Umstand, dass in jedem Augenblick etwas Bestimmtes gesollt
wird, scheint doch die innerliche Beziehung des Sollens zu seinen
Inhalten, einen in ihm gelegenen Grund zur Erfüllung mit denselben zu
beweisen. (<54)
Allein grade dieser Umstand, dass das Sollen immer nur an einem
einzelnen Inhalt psychologische Wirklichkeit gewinnt, beweist seinen rein
formalen Charakter.
Wie, wenn ich hoffe, ich immer nur etwas Bestimmtes hoffen kann, ohne
dass darum der Begriff des Hoffens selbst schon auf dieses Bestimmte
hinwiese, so kann ich zwar nur etwas Bestimmtes sollen, aber der Begriff
des Sollens, der eine blosse Abstraktion ist und im wirklichen Seelenleben
nie isoliert vorkommt, ist nicht logisch aus sich allein heraus, sondern
nur psychologisch mit diesem Bestimmten verbunden und erfüllt.
Der Fehler aller derer, die aus dem Sollen heraus seinen Inhalt
gewinnen wollten, ist der, dass sie den abstrakten Begriff einer blossen
Funktion für einen selbständigen Inhalt oder eine selbstständige
psychische Kraft hielten.
Deshalb ist, weshalb das Eine gesollt wird, das Andere nicht, nur aus
den empirischen Zusammenhängen des Seelenlebens oder, als eine letzte
Tatsache desselben, überhaupt nicht zu erklären.
In keinem Falle aber lässt sich durch logische Zergliederung des
Sollens ergründen, weshalb es diesen Inhalt hat, noch aus der des
Inhaltes, dass und weshalb er gesollt wird.
Die Form des Imperativs, in der sich das Sollen für uns verkörpert,
gibt Anweisung auf einen Zusammenhang mit dem Zwänge, dem Müssen.
Nach dem Bilde eines Gesetzgebers, der nicht nach dem Willen seiner
Untertanen fragt, empfinden wir das Moralgebot in uns.
Auch können wir in unzähligen Fällen nachweisen, dass der Inhalt
innerlichst empfundenen Sollens ursprünglich von der Macht eines brutalen
äusseren Zwanges ausgegangen ist. (<55)
Wie der Einzelne in der Periode der Kindheit zu dem gezwungen werden
muss, wozu ihn später das sittliche Sollen von innen heraus bewegt, so
haben die sozialen Gruppen eine entsprechende Epoche durchgemacht, in der
äussere Autoritäten Verhaltungsweisen erzwangen, die dann, nach Wegfall
jenes Zwanges oder wenigstens unabhängig von ihm zu innern sittlichen
Pflichten auswuchsen.
Von der Vaterlandsverteidigung bis zu den Pflichten innerhalb der
Familie, von rituellen Geboten bis zu denen der gesellschaftlichen
Höflichkeit ist es noch historisch erkennbar, ja häufig durch direkte
Beobachtung festzustellen, wie das Erzwungene in die psychologische Form
des Sollens übergeht.
Oft schiebt sich zwischen beide dann noch ein vermittelnder Zustand
ein, in welchem der vorliegende Inhalt nicht mehr reines Müssen, aber
auch noch nicht reines Sollen ist, und der meistens religiösen Charakter
trägt.
Die sozial nützliche Handlung wird, um ihren Vollzug zu sichern, mit
der Würde des religiösen Gebotes bekleidet; ihre Nützlichkeit fällt
durch Veränderung der Umstände fort; da sie aber nun einmal in die
Sphäre des Religiös-Sittlichen erhoben ist, bleibt sie geboten, indem
die Ursache dieser Erhebung in Vergessenheit gerät.
Nun verliert auch die religiöse Autorität ihre innerliche und
äusserliche Kraft und Bedeutung; trotzdem aber bleibt jene Vorschrift
noch immer als sittliche bestehen, unter Vernachlässigung auch jener
Mittelursache, die sie dazu gemacht hat.
Ein gutes Beispiel gibt das Vermeiden des Schweinefleisches bei den
Juden: ursprünglich eine sanitätspolizeiliche Vorschrift, die, um
durchgesetzt werden zu können, des Scheines göttlichen Ursprunges
bedurfte, erhielt sich das Verbot nun auch dann und dort, wo gar keine
gesundheitlichen Gründe mehr gegen den Genuss von Schweinefleisch
sprechen; und nun wird es noch immer von einer Anzahl aufgeklärter Juden
unter dem Gefühl sittlicher Verpflichtung gemieden, die sogar mit dem
religiösen Fundamente des Verbotes längst gebrochen haben. (<56)
Statt des religiösen Momentes kann auch die blosse Sitte und
Gewohnheit zwischen dem Müssen und dem Sollen vermitteln, wodurch sich
der folgende Fall von dem eben genannten zu unterscheiden scheint.
Als die Parsen auf der Flucht vor den Kalifen aus ihrer Heimat im
westlichen Indien anlangten, wurde ihnen von den indischen Fürsten der
Aufenthalt unter der Bedingung gestattet, kein Rindfleisch zu essen; als
diese Gegenden später von den Mohammedanern erobert wurden, erhielten die
Parsen nur unter der Bedingung weitere Duldung, dass sie sich des
Schweinefleisches enthielten.
Bis auf den heutigen Tag berühren die Parsen weder Rind- noch
Schweinefleisch, obgleich nicht ihre eigene Religion sondern nur der zur
Sitte ausgewachsene ehemalige Zwang es ihnen verbietet.
Es ist bei diesem Zwänge, den ein Einzelner oder die Gesamtheit
ausübt, zu beachten, dass er nur in den allerseltensten Fällen ein
Müssen im unmittelbaren Sinne bedeutet; denn so ist doch nur ein
überlegener körperlicher Zwang zu bezeichnen.
Alles sonstige Müssen ist nur ein Wollen, das das geringere zwischen
zwei Übeln wählt.
Wenn ein Herrscher die Übertretung eines Gesetzes mit der höchsten
Strafe bedroht, so steht doch jedem noch die Wahl frei, ob er dem Gesetze
gehorchen oder die Strafe auf sich nehmen will; durch alle körperlichen
und geistigen Foltern kann ich nicht gezwungen werden etwas zu Tun, wenn
ich nicht den Zweck damit habe, die Leiden aufhören zu lassen.
Alles Müssen im gewöhnlichen Sinn ist von einem Zweck abhängig und
kann nichts anderes Tun, als wenn ich diesen Zweck will, einen bestimmten
Weg zu ihm unvermeidlich zu machen.
Nur weil gewisse Zwecke, insbesondere Vermeiden von Schmerzen,
durchgehende und als selbstverständlich vorausgesetzte sind, erscheinen
diejenigen Handlungsweisen, die eine überlegene Gewalt zu notwendigen
Mitteln für sie macht, als unmittelbares Müssen.
Man könnte vielleicht das sittliche Sollen psychologisch als ein
solches Müssen erklären, bei dem jener Zweck, unter dessen Voraussetzung
es allein ein Müssen war, aufgehört hat, oder wenigstens für das
Bewusstsein verdunkelt ist. (<57)
Damit liesse sich einerseits das Bewusstsein der Freiheit und Autonomie
erklären, das die Erörterungen des Sollens als dessen wichtigste
Eigenschaft betonen, andrerseits das Gefühl des Zwanges, das sich in
seiner imperativischen Form ausspricht; damit liesse sich ferner
vereinigen, dass einerseits das sittliche Gebot als letztes und
definitives erscheint, das grade durch die Ausschliessung der
weitergehenden Frage: Wozu? seinen Charakter erhält, und dass es doch
andrerseits so oft seinen Ursprung aus jenem historischen Müssen
herleitet, das, wie eben nachgewiesen, immer ein zweckmässiges Wollen
ist.
Sein eigenartiger Charakter stammt dann daher, dass wir uns der
Möglichkeit anders zu handeln bewusst sind und doch zugleich durch
Vererbung, Erziehung, unbewusste Zweckmässigkeit das Gefühl haben, dass
wir so handeln müssen; von diesem Widerspruch, dessen Seiten durch jenen
Ursprung aus dem Müssen unter Verdunklung des Bewusstseins seiner
erklärlich sind, trägt dann das Sollen seinen geheimnisvollen und
rätselhaften Charakter zu Lehen.
So wäre in diesen Fällen das Sollen denn ein abgeschwächtes Müssen;
nicht nur die Inhalte beider wären dieselben, wobei der psychologische
Formwechsel, durch den die gleiche Handlung von dem Müssen in das ganz
anders geartete Sollen überspringt, noch ungeklärt bliebe, sondern eben
diese Formen wären gleichsam nur verschiedene Stärkegrade einer und
derselben psychischen Grundempfindung.
Auch können beide gewissermassen neben einander bestehen; auch wo der
soziale Zwang noch gewisse Handlungsweisen gewährleistet, bedarf es doch
dessen für die besseren Naturen nicht mehr - d. h. wir nennen diejenigen
eben die besseren, bei denen es des Zwanges nicht bedarf - sondern sie
empfinden in sich ein Sollen, das dieselbe Wirkung auf ihr Handeln übt,
wie das Müssen. (<58)
Dies ist die Folge einer besonderen Anpassung an die Wirklichkeit, die
uns vielerlei Vorgange im sittlichen Leben erklären hilft.
Eine tief gegründete Zweckmässigkeit in unsrer Natur bringt es
nämlich zuwege, dass der Zwang, der unsern Willen ursprünglich durch
äussere Macht beherrschte, sich allmählich in autonomen Willen
verwandelt; die Widerstände, welche in uns jener Macht entgegenwirken,
werden so oft gebrochen, bis sie sich überhaupt nicht mehr erheben.
Der natürliche Prozess geht auch hier auf ein Minimum von Reibung, und
was zuerst nur durch Aufwendung besonderer Kraft, Beseitigung besonderer
Widerstände sich in unserem Willen durchsetzen konnte, vollzieht sich mit
gewachsener Anpassung gleichsam von selbst; die arbeitssparende Tendenz
der organischen Entwicklung wirkt dahin, die zu überwindenden
Widerstände notwendiger Bewegungen möglichst zu verkleinern; man könnte
dies in der Anwendung auf unser Problem als Prinzip des kleinsten
moralischen Zwanges bezeichnen.
Unzählige Beobachtungen lehren uns, dass sich der menschliche Wille
gar nicht anders verhält, als der eines zu zähmenden Tieres, das zuerst
nur durch Zaum und Peitsche gehalten und getrieben werden konnte,
schliesslich aber beides nicht mehr bedarf, sondern ganz von selbst die
Gangart oder die Arbeit leistet, der es sich vordem widersetzte.
Wie sich Geschmack und Körperverfassung an eine Nahrung, die ihnen
zuerst widerstand, anpassen, wenn der Mangel an anderer ausschliesslich
auf sie anweist, so passt sich auch der Wille an das Müssen derart an,
dass der Zwang überflüssig wird.
Im Müssen sind zwei entgegengesetzte Willensbestrebungen enthalten,
insofern es keinen unmittelbaren Zwang, sondern ein wirkliches,
freiwilliges Wollen bedeutet, das freilich nur gewollt wird, weil man von
dem entgegengesetzten Handeln noch schlimmere Folgen, d. h. noch
umfassendere Vernichtung von Wollungen befürchtet; aber eben dieses
andere Handeln wird doch auch gewollt und würde ohne die letztere
Überlegung ausschliesslich gewollt werden.
Und der Gegensatz zwischen diesen beiden entgegengesetzt motivierten
Willensbestrebungen wird zu Gunsten der stärkeren, die wir Müssen
nennen, abgeschliffen. (<59)
Aus dieser Anpassung erklärt sich das Pflichtgefühl und die
Verehrung, die manche Völker solchen Herrschern entgegenbringen, die
durch Grausamkeit und Selbstsucht unsägliches Unheil über ihre
Untertanen heraufbeschworen haben, z. B. die Pietät der Russen gegen Iwan
den Schrecklichen, der Ferraresen gegen Borso von Este; so erzählt ein
Reisender von den Damaras, dass ihr Rachegefühl für eine erlittene
Unbill sehr vorübergehend sei und einem Gefühl der bewundernden
Unterwerfung dem Unterdrücker gegenüber Platz mache.
Es liegt nun die Annahme nahe, dass das Gefühl des Sollens einen
Übergangszustand zwischen dem des Müssens und dem des einheitlichen
Wollens bedeute; wie es sich im einzelnen Fall psychologisch als eine
Mischung von Freiheit und Gebundenheit darstellt, so mag es historisch
eine Entwicklungsstufe bezeichnen, auf der der Einzelne noch nicht die
völlige Anpassung an die ethisch-sozialen Forderungen erreicht hat,
während der Zwang, der früher seinen Willen unmittelbar beherrschte,
diese äussere Macht für das Bewusstsein verloren hat.
Der Charakter des Imperativs, den es trägt, wäre dann ein
nachhallendes Müssen, ein Rudiment des ehemaligen Zwanges, das der Wille
nicht abzuwerfen vermag, so lange er noch nicht vollkommen befreit und
innerlich versöhnt ist.
Daher stammt die wunderbare Macht, welche die blosse Form des Befehls
auch ohne vorhandene Zwangsmittel noch immer über die Seelen ausübt und
die besonders stark an Kindern zu beobachten ist, in denen die von der
Gattung überkommenen Instinkte noch am reinsten wirken.
Es hatte eben nur derjenige zu befehlen, der die Macht hatte, den
Gehorsam zu erzwingen; und durch vererbte Assoziation, zum Teil auch durch
die von der Kinderzeit her selbst erworbene bringt nun der Befehl die
Vorstellung der Macht und der Notwendigkeit des Gehorchens auch da mit
sich, wo diese tatsächlich gar nicht vorhanden ist; darauf beruht die
Macht kecker Persönlichkeiten, durch deren Forderungen die andern so
häufig eingeschüchtert werden - bloss vermöge der befehlshaberischen
Form, der sie, auch ohne dass sie durch reale Macht gestützt wird, nicht
widerstehen können. (<60)
Es ist ein eigentümlicher Zug in der menschlichen Natur, dass für
dieselbe allmählich Macht in Recht, d. h. Müssen in Sollen übergeht; es
sind genug Fälle überliefert, wo Sklaven, die an ihre Herren weder durch
ein äusseres Recht noch etwa durch das Gefühl der Dankbarkeit gebunden
waren, dennoch eine innerliche Pflicht gegen sie im vollsten Masse
empfanden und bewahrten, eine Tatsache, zu der Analogien im Verhältnis
tyrannischer Menschen zu andern täglich zu beobachten sind.
So sehr wandelt sich die Unterwerfung gegenüber der Gewalt in ein
Sollen gegenüber dem, was nun als Recht erscheint, dass Grotius es schon
geradezu für sittlich verwerflich hält, wenn ein Kriegsgefangener, auch
ohne dass er damit sein Ehrenwort bräche, entweicht.
Das Geschehen, das das Recht des Erfolges für sich hat, scheint dann
oft ein Erfolg des Rechtes zu sein.
Wenn chinesische Dynastien, die nach der Anschauung des Konfuzius von
Gottes Gnaden waren, durch Usurpatoren vom Throne gestossen wurden, so
bewies der Erfolg dieser, gleichfalls nach Aussprüchen des chinesischen
Weisen, dass der Himmel sie als seine Söhne anerkannte, dass sie das
moralische Recht zu dem hatten, wozu sie die Macht hatten; das Korrelat
dafür ist, dass der Gehorsam, den sie erzwangen, zugleich ein sittlich
gesollter war.
Es ist anderweitig schon darauf aufmerksam gemacht worden, dass das
Sollen doch ein Wollen sei, dem nur andere Strebungen gegenüber ständen;
vervollständigt wird, wie mir scheint, diese Erkenntnis durch die
Überlegung, dass auch das Müssen, abgesehen von den seltenen Fällen
unmittelbaren physischen Zwanges, ein Wollen ist; nur dass sein
Bewusstsein durch die stärkste Reibung mit einem sonstigen Wollen in uns
charakterisiert wird, deren Milderung und annähernde Versöhnung das
Sollen zeigt. (<61)
Die Vorstellung, dass das Sollen um unser Handeln zu lenken ein Wollen
sein müsse, das seinen spezifischen Charakter durch das Entgegenstreben
andrer Wollungen erhält, zeigt Kant, freilich mit grosser psychologischer
Einseitigkeit, in der Behauptung, dass auch der grösste Bösewicht, wenn
man ihm Beispiele der Sittlichkeit vorhält, wünscht, er möchte auch so
gesinnt sein, und es nur wegen seiner sonstigen Triebe und Leidenschaften
nicht zu Stande bringen kann.
Allein dass die blosse Gegensätzlichkeit zwischen zwei Strebungen das
Bewusstsein des Sollens erzeuge, kann deshalb nicht schlechthin richtig
sein und bedarf noch einer Ergänzung, weil tatsächlich doch immer nur
die eine von ihnen als gesollte empfunden wird und es unerklärlich wäre,
was ihr diesen Vorzug vor der anderen gibt, da die blosse
Gegensätzlichkeit doch an beiden gleichmässig haftet.
Freilich fragen wir, wie ich vorhin hervorhob, auch oft wo zwei
Wollungen sich gegenüber stehen, von denen keine den eigentlichen
Charakter des Sollens trägt: was soll ich Tun? Aber dieses Sollen ist
dann nicht das kategorische, sondern enthält nur das Mittel zu einem
bestimmten Zweck; vielleicht ist es auch nur die induktive Übertragung
von den vielen Fällen her, wo ein Konflikt zwischen zwei Wollungen sich
wirklich zu der Entscheidung, welche von ihnen die sittlich gesollte ist,
zuspitzte.
Wogegen jene Vorstellung sich nur richtet, ist die Form des Imperativs:
gleichviel ob Du willst oder nicht, Du sollst - der gegenüber sie mit
Recht hervorheben kann, dass das Sollen für uns ohne Angriffspunkt in der
Luft schweben würde, wenn es eben nicht zum Willen in uns würde; ob wir
das, was uns von aussen oder innen befohlen wird, auf Motive hin wollen,
die uns freudig oder schmerzlich sind, ist eine andere Frage, aber wollen
müssen wir es, sonst würden wir es unter keinen Umständen Tun.
Nur der falsche Sprachgebrauch, der das Wollen mit dem Gern-Wollen
identifiziert, konnte zu der Vorstellung prinzipieller Entgegengesetztheit
zwischen Sollen und Wollen führen.
Auf ästhetischem Gebiet ist ein ähnliches Verhältnis zu bemerken.
Von manchem Kunstwerk haben wir die deutliche Überzeugung, dass es
schön und wertvoll ist und dennoch die ebenso klare, dass es uns
persönlich keine Freude macht. (<62)
In solchem Falle scheint es mir, dass man das letztere streng genommen
nicht sagen dürfe, sondern nur, es mache uns zwar nach gewissen Seiten
hin Freude, aber von andern Seiten her stosse es uns ab und diese
überwögen, wenngleich das Fortwirken der ersteren das obige Urteil doch
noch ermögliche - wie wenn ich etwas soll, aber nicht will, ich es von
gewissen Seiten her will, die aber nicht zum Überwinden derjenigen, von
denen her ich es nicht will, zureichen.
Jenes ästhetische Urteil unterscheidet zwischen einem objektiven und
einem subjektiven Bestandteil, von denen der erstere offenbar das
Gattungsmässige, Typische, der Mehrzahl der Subjekte Gemeinsame ist, dem
ein persönlich-subjektives Geschmacksmoment gegenübersteht.
Und obgleich beide im gleichen Subjekte stattfinden, so sind doch
offenbar innere psychische Begleiterscheinungen vorhanden, die das eine
für unser Bewusstsein vom andern charakteristisch abscheiden.
Auf vielfachen Gebieten des Denkens und Fühlens findet sich in uns ein
derartiger Dualismus; gewisse Inhalte des Seelenlebens treten in uns mit
grosser Bestimmtheit und der Überzeugung von ihrer objektiven Richtigkeit
auf, ohne dass uns doch die Gründe klar wären, welche ihnen diesen
Vorzug vor andern Vorstellungen verschafften.
Wie nun das Objektive und Wahre überhaupt nichts anderes bedeutet als
die gattungsmässige Vorstellung, und alle Erkenntnis, mit der der
Einzelne der Gattung vorauseilen mag, nur auf Grund möglicher, wenn auch
noch unerkannter Zusammenhänge mit dem geistigen Inhalt jener eine wahre
genannt werden kann: so scheint mir die Sicherheit, der Glaube an die
unbedingte Objektivität gewisser in uns aufsteigender Vorstellungen daher
zu stammen, dass vererbte Instinkte, Anlagen von ungezählten Generationen
her, Eindrücke aus der ganzen Breite unserer Erfahrungen innerhalb der
Gruppe darin zu Worte kommen; ihnen gegenüber ist das, was wir das
Individuelle nennen, zwar auch nur eine eigentümliche Verschlingung von
Fäden, die von den Urzeiten unseres Geschlechtes her angesponnen sind,
allein wenn auch nur graduell, so doch durch psychologische Kennzeichen
hinreichend von jenen unterschieden. (<63)
Auf diese Voraussetzung hin könnte man sich denken, dass, wenn unser
Bewusstsein eine Diskrepanz zwischen dem Sollen und dem Wollen im engeren
Sinne aufweist, jenes der Wille der Gattung, der Gruppe, des Typus ist,
der in uns vermöge der Vererbung und Überlieferung jeder Art zum
Ausdruck kommt und von daher die Objektivität, die sichere Bestimmtheit
gegenüber dem Individual-Interesse zu Lehen trägt; wodurch dann zugleich
der Zwangscharakter, den der Wille der Allgemeinheit dem Einzelnen
gegenüber besitzt, diesem Teil unseres Willens seinen imperativischen Ton
verliehe.
Nicht nur der Zwang indes, der von andern Menschen, sondern auch der
von äusserlichen Verhältnissen ausgeht, verinnerlicht sich mit der Zeit
derart, dass er als Pflicht, als Sollen erscheint.
Wenn schädliche Tiere, Tiger und Schlangen von manchen Völkern
angebetet und nicht getötet werden, so ist offenbar die ursprüngliche
Unmöglichkeit, sie zu vernichten, zu dem Glauben ausgewachsen, man dürfe
es auch nicht - zu der Pflicht, sie zu schonen.
Es ist auch mit Recht darauf aufmerksam gemacht worden, dass die
Verbindung des Christentums mit der Monogamie z. T. daher stammen mag,
dass es sich ursprünglich an die Armen und Niedrigen wandte, bei denen
überhaupt Monogamie notgedrungen herrschte, und nun die Tatsächlichkeit
die Kraft des sittlichen Gebotes erlangte.
Auch die folgende Hypothese über den Ursprung vom sittlichen Werte des
Fastens, über die ich später noch in weiterem Zusammenhänge zu sprechen
habe, gehört hierher, indem sie zeigt, wie das einfach durch die Not der
Umstände Erzwungene, an sich den sittlichen Interessen ganz Fernliegende
durch allmähliche Anpassung in die grössere Freiwilligkeit des Sollens
übergeht.
Naturvölker haben fast durchgehendes den Brauch, den Toten allerhand
Gebrauchsgegenstände mit ins Grab zu geben, beziehungsweise an ihren
Gräbern zu opfern, vor allem Speise und Trank; und zwar in so reichem
Masse, dass vielfach für die Überlebenden grosser Mangel eintritt.
(<64)
Das Fasten bei Begräbnissen und feierlichen Opferungen ist also
offenbar zuerst die natürliche Folge der Spendung übermässig grosser
Vorräte.
Dies wird nun auf einfachem Wege zu einem allgemein gültigen Zeichen
der Ehrerbietung gegen den Toten und zu einem religiösen Akt, der sich
forterhält, wenn auch sowohl der äussere Grund, die Entbehrung infolge
des Opfers als auch das Todesopfer selbst fortfallen.
- Die Achtung vor dem Menschenrecht, die in der Vorschrift gipfelt,
jeden Menschen nie als blosses Mittel, sondern immer zugleich als Zweck
anzusehen, entspringt dann, wenn es sich niemand mehr gefallen lässt,
sich schlechthin als Mittel brauchen zu lassen.
Wo irgend eine Klasse nicht mächtig genug ist, einer anderen desselben
grösseren Verbandes gegenüber jene Selbständigkeit durchzusetzen, da
wird sie nicht nur tatsächlich als Mittel behandelt - das könnte
einfache Unsittlichkeit sein - sondern das Gegenteil kommt in primitiven
Kulturen und sogar noch in späteren gar nicht als Pflicht zum
Bewusstsein.
In der Mehrzahl der Fälle, wo Herren und Sklaven sich
gegenüberstehen, handeln jene im guten Bewusstsein eines Rechtes, die
Sklaven in dem einer Pflicht; bis die Zeit kommt, wo der Unterworfene sich
empört, und nun unter den veränderten von ihm erkämpften Verhältnissen
die Anerkenntnis der Berechtigung seiner Zwecke dieselbe Stelle im
Organismus der sittlichen Vorstellungen einnimmt, die früher seine
Ausbeutung als blosses Mittel eingenommen hat.
Und wenn die Ochsen und Schafe sich dagegen von uns bloss als Mittel
behandelt zu werden mit Erfolg auflehnen könnten, so würde zweifellos
auch ihre Macht sich vielfach in Recht verwandeln, wie es in dem
erwähnten Falle der Tiger und Schlangen geschehen ist. (<65)
Wie der Baumstamm, den ein Windstoss trifft, sich gleich nach dessen
Aufhören wieder in seine ursprüngliche Stellung zurückrichtet, aber der
gleichen Windrichtung auf die Dauer ausgesetzt, schliesslich selbst in
eben dieser sich biegt und weiter wächst, so beugen die Verhältnisse den
menschlichen Willen so lange in ihre Richtung, bis er sich ihr anpasst und
den Zwang der Verhältnisse zunächst als Sollen und dann als in sich
ungeschiedenes Wollen empfindet.
Wie der Inhalt des Seins zu dem des Sollens wird, zeigt sich recht an
der Sitte, die die Kraft und Würde ihrer Forderung nur daraus zieht, dass
sie allgemein geübt wird.
Wenn es sich nach Kant in der eigentlichen Sittlichkeit um das handelt,
was geschehen soll, ob es gleich vielleicht niemals geschieht, so
unterscheidet sich die Sitte hiervon in scharfer Weise, insofern dies
Letztere für sie keineswegs gleichgültig ist; das wirkliche Verhalten
der Allgemeinheit wird in ihr für den Einzelnen zum Sollen.
Welche tieferen ethischen Gründe, meistens wohl im Unbewussten
wirkend, dies wieder hervorrufen, bleibe hier ununtersucht; die Tatsache
aber wird man nicht leugnen, dass das Sollen, entgegen jener Bestimmung
Kants, wenigstens in der Sitte seinen Inhalt aus dem Sein zieht.
Deshalb behandelt die gute Sitte, je feiner sie sich ausbildet, das
Seinsollende immer mehr als ein selbstverständlich Seiendes und tut, als
ob das Unrechte, Unpassende eigentlich überhaupt nicht existiere.
Dieses Ignorieren des Unsittlichen, dieser Optimismus der feinen Sitte,
so oberflächlich und gleisnerisch er ist, so oft er die Beseitigung des
Schlechten verzögern mag, entbehrt dennoch nicht der sozialethischen
Zweckmässigkeit; wir bewegen uns um so eher nur in den Schranken des
Richtigen, je weniger der Gedanke, man könnte überhaupt anders handeln,
uns zum Bewusstsein kommt; wenn die Vorstellung der Freiheit anders zu
handeln gar nicht erweckt wird, wenn das Richtige als ganz
selbstverständlich erscheint, so tritt die Versuchung auch in
Wirklichkeit weniger an uns heran.
Darum verderben umgekehrt böse Beispiele gute Sitten und darum
gehören insbesondere Kinder nur in ganz reine und sittliche
Verhältnisse, weil die Vorstellungen des Wirklichen uns auch Richtung und
Inhalt für die des Sollens geben. (<66)
Wir vernehmen das Wollen der Gesamtheit einerseits - gleichsam aus der
Tiefendimension der Generationen heraus - vermöge der Vererbung als
Trieb, andererseits aus der Breite der mitlebenden Generation als Befehl.
Wie wir es als Pflicht empfinden, den Zusammenhang und die
Einheitlichkeit unseres individuellen Wesens zu wahren, d. h. die einzelne
Vorstellung und Handlung nach dem Ganzen unseres Charakters zu gestalten,
so verhält sich nun die Einzelpersönlichkeit dem sozialen Ganzen
gegenüber, das ihr die Wirklichkeit seiner Lebensformen als Sollen
vorschreibt.
Das Prinzip der Verjährung, nach dem auch unrechtmässiger Besitz,
wenn er nur lange genug unangefochten bestanden, zum rechtmässigen wird,
wirkt in dieser Legitimierung der einfachen Tatsächlichkeit zum Range
sittlichen Sollens; in diesem Sinne liess das jütische und norwegische
Recht im Mittelalter das Konkubinat nach drei beziehungsweise zehn Jahren
zu rechtmässiger Ehe werden.
Zwar darf man selbstverständlich nicht glauben, dass die blosse Länge
der Zeit, etwa noch unterstützt durch das Zauberwort »allmählich«, mit
dem man so oft und so trügerisch die Rätsel der Übergänge zu lösen
meint, eine Verwandlung der Gewohnheit oder der einfachen Tatsächlichkeit
in Sitte und Sittlichkeit zu Wege brächte.
Wenn man von der Macht der Zeit spricht, so meint man die Wirkung von
Vorgängen, welche man als ganz unvermeidliche und unaufhaltsame kennen
gelernt hat, so dass es in der Tat keiner besonderen Betonung der ins
Spiel kommenden realen Kräfte bedarf, sondern damit es zu dem bestimmten
Erfolge komme, nur darauf ankommt, ob die Zeit zu ihrer Entwicklung
gegeben ist.
Die blosse Wirklichkeit und Wiederholung einer Handlung würde an sich
noch nicht zu ihrer Umsetzung in ein Sollen führen, wenn nicht ganz
positive psychologische Kräfte da wären, die, nur durch eine gewisse
Wiederholung der Handlung aus ihrer Gebundenheit geweckt, das Bewusstsein
hervorrufen, dass diese nun auch weiter geschehen soll. (<67)
Wenn man die sittliche Zulänglichkeit einer Handlung bestreitet, so
hört man oft dagegen: aber so ist es doch nun einmal in der Welt, das ist
doch die allgemeine Handlungsweise, oder ähnliches.
Damit wird nicht nur gemeint, dass die ganze Reflexion überflüssig
ist, dass die Dinge doch nun einmal den bestimmten Gang gehen, wenngleich
es vielleicht nicht der ist, den sie eigentlich gehen sollten, sondern
geradezu die moralische Rechtfertigung, die sachliche Zurückweisung der
Anklage soll damit gegeben sein; darum verweist man jemandem ein unrechtes
Tun oder Sagen häufig mit dem Ausdruck: das tut man nicht, das sagt man
nicht!
Die Vorstellung des Sollens kleidet sich in den Ausdruck einer in der
Allgemeinheit vorhandenen Tatsächlichkeit und zwar offenbar, weil
ursprünglich die letztere der Bestimmungsgrund der ersteren war.
Es ist ganz entsprechend, wenn man sich vielfach mit einer zu
erklärenden Erscheinung dadurch abgefunden meint, dass sie tausendfach
vorkommt.
Ein bestimmtes Phänomen ist uns rätselhaft: es wird für die Mehrzahl
der Menschen sehr viel von seiner Fragwürdigkeit verlieren, wenn sie
erkennen, dass es noch in vielen anderen Fällen und Formen vorkommt.
Wie für diese Mehrzahl das Alltägliche, stets sich Wiederholende,
kein theoretisches Problem ist, so ist es für sie auch kein ethisches;
und durch die Übereinstimmung mit dem Gewohnten und Typischen scheint ihr
in gleichem Masse Verständnis wie Rechtfertigung eines Geschehens
gegeben.
Ob alle tiefere Einsicht in beiden Beziehungen mehr Tun kann, als diese
Reduktion noch ein paar Stufen weiter verfolgen, ist mir zweifelhaft.
Wie alle Erkenntnis an ihrem letzten Ende nur auf einen allgemeinsten
und einfachsten Vorgang führen kann, aus dessen Zusammensetzungen sich
das Seltenere und Individuelle erklärt, ohne dass er selbst als weiteres
Problem zu behandeln wäre, so ist vielleicht der letzte Punkt, von dem
alle ethische Beurteilung ausgeht, der aber selbst von keinem höheren
seinen Wert entlehnt, nur die allgemeinste, typische Handlungsweise, an
der sich Recht oder Unrecht der Handlung des Einzelnen misst, und der
gegenüber die seltene, hervorragende Sittlichkeit nur durch irgend welche
quantitativen Steigerungen entsteht. (<68)
Im persönlichen Leben ist es unzählige Male zu beobachten, wie das
oft Getane, die wirklich ausgeübte Handlungsweise bloss dadurch, dass sie
eine solche ist, ein Gefühl von Pflicht zu ihrer weiteren Ausübung für
sich gewinnt, von der harmlosesten Äusserlichkeit an, die, mag sie ein
altes Tun oder ein alter Besitz sein, schliesslich eine Pietät erwirbt,
die wir nur mit sittlichem Widerstreben durchbrechen, bis zu den
verwickeltsten Verhältnissen zu anderen Menschen, in denen die blosse
Tatsächlichkeit langer Beziehungen, gleichviel aus welchen Ursachen sie
entsprungen sind, zu den festesten Verpflichtungen emporwächst.
Es kommt uns und anderen vor, wenn wir eine Sache sehr oft Tun, als
übernähmen wir damit stillschweigend die Verpflichtung, sie nun immer
weiter zu Tun.
Ein krasses und in die Parodie ausschlagendes Beispiel solcher
Vorgänge ist, dass, wenn man arme Leute eine Zeit lang unterstützt, sie
dies sehr bald als ihr Recht und unsere Pflicht ansehen, so dass sie uns
für höchst pflichtvergessen und unmoralisch halten, wenn wir damit
aufhören.
Man könnte dieses Gefühl des Sollens einer Handlung, das sich aus der
Tatsächlichkeit ihres Seins heraus erhebt, als eine Art Induktionsschluss
bezeichnen.
Wie wir aus einer Anzahl bestimmt charakterisierter Fälle schliessen
und gefühlsmässig erwarten, dass ein neuer, die gleichen Bedingungen
bietender Fall auch in gleicher Weise verlaufen wird, so stellt sich das
Gefühl für die Gleichheit der Folge aus der Gleichheit der Lage in Bezug
auf unser Handeln in jenem eigenartigen Spannungszustand dar, den wir
Sollen nennen.
In demselben Sinne, der den Inhalt des Sollens aus dem des Seins
gewinnt, wird das Normale als Vorschrift des Verhaltens angeführt.
Norm hat die zweifache Bedeutung: einmal dessen, was allgemein,
generisch geschieht, dann dessen, was geschehen soll, wenngleich es
vielleicht nicht geschieht. (<69)
Diese Doppelheit mag den tiefen Zusammenhang haben, dass für den
Einzelnen dasjenige die Norm im zweiten Sinne bedeutet, was Norm der
Allgemeinheit im ersten ist.
Wenn man die Summe des Gesollten in der Vorschrift meinte
zusammenfassen zu können, dass der Einzelne sich gemäss der Idee seiner
Gattung bestimmen solle, so ist auch dies nur ein Auswachsen der
Tatsächlichkeit des Seins in die Form des Sollens; denn die Idee der
Gattung ist doch nur die Summe derjenigen Qualitäten und Funktionen, die
in ihrer Wirklichkeit maximal vertreten, so zu sagen die wirklichsten
sind.
In viel höherem Masse, als es bewusst zu sein pflegt, hat die
Tatsächlichkeit des Seins Einfluss auf die Idealbildung.
Unter den Indianern, die in Mühsal und Kampf und düsterem Lose leben,
gilt es als höchste Tugend, möglichst viel Martern ertragen zu können;
das Christentum, die Religion der Armen und Gedrückten, der Mühseligen
und Beladenen, bildete das Leiden zu einem Ideal aus; umgekehrt wusste der
soviel glücklichere Grieche im Ertragen des Leidens an sich nichts
Ethisches zu erblicken, und gerade das Glück wuchs ihm zum sittlichen
Ideal empor.
Wenn uns übrigens die geschichtliche Betrachtung auch oft zeigt, wie
das sittliche Ideal einer Gruppe wirklich nur die Bestimmung nach der Idee
der Gattung so wie sie gerade beschaffen war und vorgestellt wurde,
forderte: so ist doch jene Bestimmung zum Zweck der Feststellung des
Ideals für eine Gegenwart nur sehr vorsichtig zu benutzen; denn es liegt
immer die Gefahr nahe, statt die sittlichen Normen aus dem Gattungstypus
zu gewinnen, umgekehrt den Gattungstypus mit denjenigen Eigenschaften
auszustatten, die man, vielleicht aus ganz andern Quellen hergeleitet, als
sittliche Ideale vorstellt.
Goethe sagt einmal, man habe sich über das Prinzip der Sittlichkeit
nicht zu vereinigen gewusst, weder der Eigennutz, noch die
Glückseligkeit, noch das apodiktische Pflichtgebot hätten sich als
zureichend erwiesen und man müsse es schliesslich am geratensten finden,
das Sittliche wie das Schöne aus dem ganzen Komplex der gesunden
menschlichen Natur zu entwickeln. (<70)
Und doch ist kein Zweifel, dass die gesunde menschliche Natur, also das
einfache Sein, das Goethe hier zum Massstab des Sollens machen will, ihm
nur so zu Stande kommt, dass er gewisse Eigenschaften für die richtigen
und seinsollenden hält, die er dann einfach für die gesunden, d. h.
normal seienden erklärt.
Der Widerspruch oder wenigstens der Pleonasmus, der darin zu liegen
scheint, dass man das wirklich Seiende nochmals als Sollen aufstellt, und
auf den wir gleich nachher einzugehen haben, zeigt sich auf abstraktem
Gebiet oft darin, dass im Gefolge metaphysischer Weltanschauungen ethische
Forderungen stehen, deren Realisiertheit eigentlich schon a priori in dem
metaphysischen Prinzip ausgesprochen ist.
Die Sinnenwelt ist für Plato theoretisch das Nichtseiende; die
praktische Forderung aber ist dabei doch noch die, dass sie überwunden
werde, dass sie nicht sein soll.
Die Weltvernunft, welche für die Stoiker das All determiniert,
bestimmt folgerichtig auch den Einzelnen; nichtsdestoweniger wird es
diesem zur sittlichen Aufgabe, die Weltvernunft noch so viel wie möglich
zu realisieren.
Die tatsächlich als vorhanden vorausgesetzte Einheit der Substanz
Spinozas bringt doch als sittliche Forderung ein Aufgehen in dieselbe, in
die man ja eigentlich schon a priori aufgegangen ist, mit sich.
Die metaphysische Wesenseinheit aller Menschen bei Schopenhauer lässt
es erst noch als sittliches Prinzip begründen, dass man ihr gemäss
handle, sie durch das Handeln realisiere.
Wo vollkommene Naturgesetzlichkeit schon als Weltprinzip gilt, da
hören wir doch noch die ethische Regel, man solle sich den natürlichen
Notwendigkeiten fügen, solle sich den ewigen Gesetzmässigkeiten nicht
entziehen - als ob dies nicht durch die Voraussetzung der Weltanschauung
schon selbstverständlich ausgeschlossen und die erst geforderte
Unterwerfung eine von vornherein seiende wäre. (<71)
Ähnlich behauptete eine Richtung der Freihandelslehre, die unbedingte
egoistische Konkurrenz sei ein Naturgesetz, das die wirtschaftlichen
Bewegungen lenke, wie die Gravitation die planetarischen; und nun forderte
sie erst ein vollkommenes und ungehemmtes Durchführen derselben, nicht
bedenkend, dass der Begriff des Naturgesetzes, auf den sie sich soviel
zugute Tat, ja schon die ausnahmslose Realisiertheit dessen aussprach, was
sie erst zu realisieren forderte.
Wir haben hier das Gegenstück zu der oben erwähnten Norm der
besonders von der Sitte beherrschten Kreise, die das Unsittliche als
eigentlich gar nicht vorhanden behandeln.
Das ist insbesondere das Verhalten von Personen oder öffentlichen
Organen, die alle energischen Mittel gegen soziale Schäden
perhorreszieren, um nicht dadurch deren Existenz anerkennen zu müssen.
Hier wird theoretisch und im Allgemeinen sogar mit Vorliebe behauptet,
es fehle vieles oder alles an dem Verhalten, wie es sein solle - aber die
praktischen Massnahmen tun, als gäbe es gar keine Diskrepanz gegen das
Ideal.
In unserm jetzigen Falle wird umgekehrt zwar der logischen Konsequenz
nach ein ideales Verhalten der Dinge und Menschen als wirklich behauptet,
die praktische Forderung aber so gestaltet, als sei es durchaus nicht
wirklich.
Der Gedanke ist ausgesprochen worden, dass die Entwicklung der Welt,
die für den Menschen in der Kultursteigerung bestehe, ein immer
wachsendes Quantum von Leiden mit sich bringen müsse, und daraus der
Schluss gegen jeden Eudämonismus gezogen, dass die Steigerung des Glücks
unmöglich als Moralprinzip anerkannt werden könnte, weil sie die
Vernichtung der Kultur bedeuten und überhaupt dem tatsächlichen Lauf
dessen entgegentreten würde, was sich naturgesetzlich und ohne nach
unserem Willen zu fragen vollzieht.
Nach gleichem Grundsatz behauptet umgekehrt der Eudämonismus: da alles
menschliche Bestreben unweigerlich auf Luststeigerung hinauslaufe, dürfe
kein Moralprinzip etwas anderes als diese zum Inhalt haben; es ist,
prinzipienmässig ausgesprochen, nur der Satz fata volentem ducunt
nolentem trahunt, der das Sollen in diesen unmittelbaren Zusammenhang mit
dem Sein setzt. (<72)
Allein wenn auch die steigende Kultur, die naturgesetzliche historische
Entwicklung unseres Geschlechts wachsenden Mangel an Glück mit sich
führen sollte, so scheint es trotzdem nicht unmöglich, die
Glückssteigerung als Moralprinzip, als Seinsollendes aufzustellen, so gut
wie man heizen darf, trotzdem der natürliche Weltprozess auf Vereisung
geht.
In jenen Behauptungen liegt der Zirkel, dass, bei so allgemeiner
Determinierung alles Geschehens, auch mein eventuelles Widerstreben gegen
das schliesslich Geschehende ja gleichfalls im Weltplan vorgesehen sein
muss und also das Unterlassen desselben nicht nur unmöglich, sondern,
wenn möglich, gerade ein Widerstreben gegen den Weltplan bedeuten würde.
Wie wir auf den Stamm einer Rose eine ganz andre Spielart pfropfen, die
die Natur im objektiven Sinne hier gewiss nicht »gewollt« hat, so
können wir auf den Kulturzweck den Glückszweck pfropfen.
Der logische Schluss von der Wirklichkeit auf das Sollen ist in jedem
Falle falsch, wenn man das letztere nicht von vornherein für einen
völlig chimärischen Begriff ansieht, der nur die tatsächlichen
Geschehnisse unnütz verdoppelt.
Mag die Richtung der Weltentwicklung und des Willens hingehen wohin sie
will: dass die sittliche Verpflichtung nur in der Förderung dieser
Richtung bestehen könne, verlangt erst besonders nachgewiesen, statt wie
von jenen Lehren naiv vorausgesetzt zu werden.
In religiösen Gedankenkreisen herrscht dasselbe inkonsequente
Verhältnis zwischen dem Sein und dem Sollen, z. B. in dem Gebote, dem
Willen Gottes gemäss zu handeln, während der Wille Gottes schon durch
sich selbst jedes Geschehen in der Welt bestimmt - eine Schwierigkeit,
für die der Freiheitsbegriff mehr ein Ausdruck als ein Ausweg ist.
(<73)
Wie hier das noch besonders verwirklicht werden soll, was doch an sich
schon verwirklicht ist, so soll für die Askese dasjenige erst vernichtet
werden, was doch an sich schon für sie ein Nichts ist - die Welt; für
den Mönch, der ganz und gar im christlichen Ideale lebt, existiert die
Welt eigentlich nicht; und nun zeigt die ganze Geschichte des Mönchstums
das Bestreben, die Welt als Welt aufzuheben, sie den ewigen jenseitigen
Werten gegenüber zu dem zu machen, was sie doch eigentlich den
Voraussetzungen dieser Weltanschauung nach schon Ist - zu einem Nichts,
während die absolute Herrschaft des göttlichen Willens, die nach eben
diesen Voraussetzungen ist, doch erst zur Wirklichkeit gemacht werden
soll.
Die Grenze zwischen dem allein Wertvollen und dem allein Wirklichen
verschwimmt um so eher, je höher und abstrakter die Vorstellung von
beidem ist; so hatte der brahmanische Pantheismus im Âtman einen Begriff
geschaffen, der offenbar zwischen beiden noch nicht geschieden hatte, der
stets das eine war, weil er das andere war; was ausser ihm ist, so heisst
es, ist voll Kümmernis, Unvollkommenheit und Leiden - und doch ist
eigentlich ausser ihm Nichts.
- Auch von der entgegengesetzten Richtung her zeigt sich das
Verschwimmen jener Grenze.
Wo nicht die Tatsachen uns das Gegenteil fühlbar beweisen, sind wir
sehr geneigt, dasjenige, was wir aus allen möglichen Interessen heraus
wünschen, auch für wirklich zu halten.
Ich erinnere an die optimistische Weltanschauung, die wir häufig
gerade bei persönlich unglücklichen und dürftigen Existenzen finden;
das, wonach sie sich sehnen, das Seinsollende, wächst ihnen, obgleich es
gerade im Gegensatz zum Seienden entstanden ist, zur Vorstellung der
Realität aus, der Zukunftsidealismus wird zum Gegenwartsidealismus, oder
kürzer, der Idealismus zur Idealisierung.
Dies mag einem Selbsterhaltungstriebe des Geistes entspriessen, den das
Befangensein in der Vorstellung der eigenen Übel erdrücken würde, wenn
er sich nicht als Gegengewicht dazu in die Vorstellung oder Illusion eines
glücklicheren Charakters des Seienden flüchtete, der allenfalls unter
dessen Oberfläche liegt. (<74)
Wie man nur allzu oft das hofft, was man wünscht, so hält man, nur
denselben psychischen Prozess steigernd, auch gern das, was man hofft,
schon für wirklich.
Auch an den Formen der Manie ist es häufig zu beobachten, wie das,
womit die Sehnsucht sich dauernd beschäftigt, zur Vorstellung der
Realität wird: wer über der Erfindung des Perpetuum mobile wahnsinnig
geworden ist, glaubt meistens, dass er es erfunden hat, wer über
Geldspekulationen den Verstand verloren hat, hält sich für einen
Millionär, und Ähnliches.
Wenn wir nun selbst das vollkommene Zusammenfallen des Seienden mit dem
Seinsollenden, wie es sich namentlich in jenen metaphysischen
Spekulationen zeigt, dahin abschwächen, dass das Wesentliche,
Durchgehende, Typische die Norm abgeben solle für das Einzelne, das von
vornherein nicht immer mit jenem übereinstimmt, so erscheint auch dies
widerspruchsvoll und unzulänglich.
Dass das wirkliche Verhalten der Gattung für den Einzelnen das Ideal
seines Verhaltens bilde, wie es in der Sitte zweifellos der Fall ist,
scheint doch einen nicht zu rechtfertigenden Optimismus einzuschliessen.
Denn wenn das Verhalten der Mehrzahl die sittliche Norm ausmacht, so
folgt unmittelbar, dass es viel mehr Sittlichkeit als Unsittlichkeit geben
muss.
Wie aber ist dies möglich, wenn doch gerade die Beobachtung der
Wirklichkeit so viel mehr Unsittlichkeit als Sittlichkeit, mehr Egoismus
als Altruismus aufzuweisen scheint?
So wenig man sonst dem Optimismus geneigt sein mag, so wird man nicht
verkennen dürfen, dass das Böse eine viel auffälligere und grellere
Aussenwirkung im Verhältnis zu seiner Intensität aufweist, als das Gute;
während dies oft ruhig und unbemerkt geschieht und meistens der Erhaltung
bestehender Güter dient, erzeugt das Böse Störung und Zerstörung,
erregt also ein viel lebhafteres Bewusstsein, als jenes und dadurch die
Vorstellung einer unverhältnismassig grossen Verbreitung - wie auch dem
kleinsten Schmerz leichter ein besonderes Bewusstsein zu Teil wird, als
einem langen Hinleben in Behaglichkeit und Zufriedenheit. (<75)
Wer sich mit Moralstatistik beschäftigt, wird leicht zum ethischen
Pessimisten, weil Moralstatistik wesentlich Statistik der Immoralität
ist; denn diese ist in viel höherem Masse, als das Gute, bemerkbar und
feststellbar.
Auch in der Geschichte wie sie bis jetzt fast durchgehendes behandelt
ist, geht es kaum anders: fast nur von Kampf und Krieg, vom Übel und vom
Bösen erfahren wir; von Lust und Triumph nur auf Kosten des Leidens
anderer, und wo uns die übliche Weltgeschichte von sittlich Erhabenem
erzählt, ist es beinahe immer eine Reaktion auf vorangegangenes Böses:
die Erhebung der Völker gegen Tyrannen, die schmerzvolle Aufopferung des
Einzelnen, um allgemeine Leiden abzuwenden, die Wiedereroberung ungerecht
geraubter Güter, die Abwehr gewaltsamer Angriffe.
Die Sittlichkeit der Völker, die sich relativ widerstandslos
durchsetzt, wie sie sich in ihren Institutionen niederschlägt und in
deren tausendfacher Befolgung und Bewährung erweist, scheint so
selbstverständlich zu sein, dass sie kein besonderes Bewusstsein und
keine Erwähnung gewinnt.
Die Täuschung, die aus dem Verhältnis zu unserem Erkenntnisvermögen
hervorgeht, den naheliegenden Schluss, dass das häufiger Bemerkte auch
das häufiger Vorkommende sein müsste, sollte man doch vermeiden, und ich
glaube, dass man dann in der Herleitung des Sollens aus der Majorität der
Verhaltungsweisen keinen zu grossen Widerspruch gegen die Tatsachen
erblicken wird.
Auch der, den wir einen bösen Menschen nennen, pflegt nicht in einem
fort Böses zu Tun; sondern die einzelnen Handlungen dieser Art werden von
Zeitstrecken unterbrochen, in denen er nach der gewöhnlichen sittlichen
Norm dahin lebt.
Gerade die Schärfe, mit der sich das Böse markiert und für unser
Bewusstsein geltend macht, könnte dahin gedeutet werden, dass das Gute
das Selbstverständliche, der normale Inhalt des Bewusstseins sei, den wir
als Wesen, die nur von Unterschieden erregt werden, eben seiner
Beständigkeit und Gewöhnlichkeit wegen gar nicht besonders bemerken.
(<76)
In gleichem Sinne wirkt die Überlegung, dass der Fluch der bösen Tat
sich viel weiter zu erstrecken pflegt, als der Segen der guten.
Es ist nicht wahr, dass sich der Segen bis ins tausendste, der Fluch
bis ins dritte Glied vererbt.
Es ist zwar richtig, dass das Böse sich zerstört, da wir eben das
sich Zerstörende, in sich den Widerspruch Tragende das Böse nennen,
allein man darf nicht vergessen, wieviel Gutes es auf seinem Wege
zerstört.
Schon durch diese Wirkung in die Breite, zeigt sich die Kraft des
Bösen der des Guten unendlich überlegen.
Welches unsägliche Elend bringt nicht oft ein einziger falscher
Schritt über ganze Familienkreise, ja über ganze Länder! Wo, wie selten
ist die geringfügige Tat, die einen entsprechenden Segen brächte? Man
sagt mit Recht, dass ein Unglück nie allein kommt.
So wenig ein Körper unversehrt zu bleiben pflegt, an dem ein Glied
krank ist, so wenig bleibt ein individuelles oder ein soziales Unglück,
eine Unsittlichkeit, lokalisiert, sondern verbreitet sich bei den
ausserordentlich mannigfaltigen und leicht ansprechenden Verbindungen
innerhalb der Lebensmomente der Persönlichkeiten und der Gesellschaften
fast unvermeidlich auf andere Stellen.
Deshalb muss, damit der Weltzustand überhaupt nur ein nicht
schlechthin unmöglicher sei, viel mehr Gutes, als man glauben möchte,
geschehen sein.
Die Fortwirkung verhältnismässig weniger böser Taten würde
hinreichen, um das Leben der Gesamtheit unmöglich zu machen, wenn sie
nicht durch sehr viel Gutes paralysiert würden, und zwar um so viel
mehreres, weil das Gute nicht so wirkungskräftig ist.
Man kann im Allgemeinen sagen, dass in einer Gruppe von Individuen
unter sonst gleichen Umständen um so mehr Sittlichkeit sein muss, je
sozialisierter sie ist, weil mit der Enge der Verbindungen die
gefährlichen Folgen der Unsittlichkeit zunehmen, und deshalb die
Selbsterhaltung der Gesellschaft, um dies aufzuwiegen, eine um so grossere
Summe und Verbreitung von Sittlichkeit fordert. (<77)
Deshalb wird das Sollen, das doch nur aus den Beziehungen der Menschen
untereinander seinen Inhalt empfängt, für den Einzelnen um so mehr mit
der schon vorhandenen Realität zusammenfallen, je fester, gegliederter,
an gemeinsamem Inhalt reicher seine soziale Gruppe ist.
Da für diese als Ganzes der Zwiespalt zwischen dem individualistischen
und dem kollektivistischen Interesse fortfällt, der sich im Individuum
als der zwischen Unsittlichkeit und Sittlichkeit darstellt, und sie in den
Grenzen ihrer Möglichkeiten und ihrer Einsichten unbedingt ihrem Vorteil
nachgeht; da die Förderung eben dieses sozialen Vorteils für das
Individuum Sittlichkeit bedeutet: so folgt auch von diesem Gesichtspunkt
aus, dass das, was in der Mehrzahl der Fälle wirklich geschieht, das
typisch soziale Verhalten, für den Einzelnen zum Sollen wird.
So ist es bei der Sitte, so ist es auch beim Recht der Fall; denn die
Allgemeinheit fixiert dasjenige zum Recht, was tatsächlich in ihr geübt
wird, weil es sich als die für sie erforderliche Lebensbedingung
herausgestellt hat; was für das Ganze blosse Tatsächlichkeit ist, wird
für den Einzelnen, in dem neben dem sozialen noch das individuelle
Interesse steht, und der jenem deshalb nicht mit einheitlicher
Selbstverständlichkeit nachlebt, zum Sollen, zur Pflicht - denn so sehr
auch das Sollen seinen Inhalt aus dem Sein entlehnen mag, so gewinnt es
ein Bewusstsein als Sollen natürlich nur durch das Vorkommen solcher
Fälle, in denen Beides auseinanderfällt; wo sich deshalb aus der
primitiven Gruppe noch keine scharfe Individualität mit ihren
Sonderinteressen herausdifferenziert hat, macht sich auch das Sollen
weniger bemerkbar, weil in diesem Falle das wirkliche Verhalten des
Einzelnen mit dem der Allgemeinheit von vornherein zusammenfällt.
Die soziale Gruppe nimmt ungefähr die Stellung ein, die für den
Frommen Gott, für Machiavelli und Hobbes der Fürst einnimmt: es gibt
nicht ein an sich bestimmtes Rechtes und Gutes, dem ihr Wille gemäss
wäre, sondern ihr Wille bestimmt vielmehr, was recht und gut sein soll;
die Majorität will das Richtige, weil ihr Wille das Kriterium für
dasjenige bildet, was wir das Richtige nennen. (<78)
Von hier aus fällt auch ein klärendes Licht auf die bedauerliche
Erscheinung, dass Irrtümer des Denkens, Abweichungen des Glaubens so oft
Gelegenheit zu sittlicher Verurteilung geben, dass theoretische
Differenzen sehr oft ins Gewissen geschoben werden.
Ist nämlich, wie wir hervorgehoben haben, Wahrheit die
gattungsmässige Vorstellung, Irrtum die davon abweichende, schlechthin
individuelle, so dass »unwahr denken« und »im Gegensatz zur
Allgemeinheit denken« zusammen fällt; ist andererseits das Beharren in
den Formen des Gattungslebens Sittlichkeit; so haben wir in der Opposition
gegen die Allgemeinheit den Mittelbegriff, der das Unwahre mit dem
Unsittlichen zusammenbringt.
Daher trifft denn auch jene Verurteilung des sittlichen Charakters auf
Grund von wirklichen oder dafür gehaltenen theoretischen Irrtümern
vorzugsweise die »Ketzer«, d. h. die Minorität gegenüber der
allgemeinen Meinung in der Gesamtheit.
Nun aber zeigt sich der ganz formale, jede apriorische Bestimmung von
sich abweisende Charakter des Sollens darin, dass auch gerade das
umgekehrte Verhältnis zum Sein ihm vielfach den Inhalt bestimmt.
Das Ideal, dem wir im Sittlichen nachzustreben haben, liegt für
irdische Kräfte im Unendlichen, gerade über die Wirklichkeit des Seins
hinaus erhebt sich das Streben nach den höchsten Werten, und statt in dem
schon Vorhandenen zu beharren, scheint es das eigentliche Ziel höherer
Sittlichkeit, zu neuen, besseren Formen des Lebens vorzudringen.
Diese Doppelrichtung des Bestrebens ist dieselbe in den egoistischen
Lebensinteressen: einerseits pflegen wir die Bedeutung dessen, was wir
sind und haben, hervorzuheben und zu idealisieren, andererseits aber auch
gerade den Wert dessen, was wir nicht sind und nicht haben.
So leuchtet die farbenfreudige Gegenwart gegenüber und auf Kosten der
blassen, schemenhaften Vergangenheit, wie sich der Regenbogen von der
grauen Wolkenwand abhebt; andererseits aber umkleiden sich die
Erinnerungen der Vergangenheit und die Hoffnungen der Zukunft mit einem
Glorienschein, dessen phantastische Strahlen für die Gegenwart nur matte
und nüchterne Farben übrig lassen. (<79)
Es ist nur halb wahr, dass der Lebende recht hat; neben dem Wirklichen
und seinem Reize steht das Verlorene und das noch nicht Gewonnene und
gewinnt gerade aus seinem Nichtsein eine Macht und Anziehung, die manchmal
von gesunder Schwungkraft, manchmal von krankhaft problematischen
Velleitäten der Seele zeugt.
Neben dem naheliegenden Triebe, die Formen des bisherigen Verhaltens
als Normen auch des zukünftigen anzunehmen, erhebt sich das Interesse
für das Abweichende, Aparte, Individuelle, das mit verfeinerter und
überfeinerter Kultur in Originalitätssucht und apriorische Anerkennung
dessen, der anders ist und handelt als die andern, übergeht, gleichviel
welches der Inhalt dieses Andersseins ist; man könnte freilich hierzu
bemerken, wie sich die Bedeutung der typischen, gattungsmassig
realisierten Lebensformen für das Individuum gerade darin zeigt, dass
sie, wenn nicht mit positivem, so doch mit negativem Vorzeichen zur Norm
für dasselbe werden.
Und endlich mit der Kraft des legitimen Gebotes ringt die dämonische
Lust am Verbotenen; wie auf manche Seelen die blosse Form der Autorität
eine Macht ausübt, die sie nach dem Inhalt des Gebotes nicht weiter
fragen lässt, so werden andere gerade durch diese Form zu einem
Widerstände gereizt, der ihnen den inhaltlichen Wert oder Unwert des
Gebotenen gleichgültig macht.
Und was so unseren Willen lockt, geht auch oft genug in en Sollen
über; um so dringlicher erscheint uns oft die Verpflichtung zu einem
bestimmten Zweckhandeln, weit über seine sachliche Wichtigkeit hinaus, je
weniger dieser Zweck noch bisher realisiert ist; sittliche Aufgaben
früherer Zeiten - politische Rechte, persönliche Freiheit,
Gesetzesgleichheit usw. - verlieren diesen Charakter, wenn sie erreicht
und gewöhnt sind und werden zu selbstverständlichem Besitz, der das
Bewusstsein eines sittlichen Ideals nicht mehr fordert. (<80)
Über ihn hinweg vielmehr erheben sich nun erst neue Aufgaben, ganz
Unwirkliches wirklich zu machen, Aufgaben, die den sittlichen Enthusiasmus
um so höher entflammen, und in der Fähigkeit, Märtyrer zu machen, ihre
Kraft um so mehr zeigen, je ferner sie der Verwirklichung liegen; welche
letztere durch unvermeidliche Unreinheit und Unvollkommenheit den Schwung
des sittlichen Idealismus beeinträchtigt.
Bei politischen Oppositions- und Revolutionsparteien ist es häufig zu
beobachten, dass der auf rein sachliche Gründe hin geführte Kampf gegen
herrschende Zustände schliesslich die psychologische Folge hat, alles
Bestehende, bloss weil es besteht, als ein zu Bekämpfendes anzusehen, wie
es im Nihilismus und Anarchismus stattfindet, die doch in unbezweifelbaren
Beispielen einen Enthusiasmus von hoher subjektiver Sittlichkeit zu
entflammen vermochten.
Der Neigung, mit der Masse zu gehen, deren wirkliches Verhalten für
das Individuum zum Sollen wird, steht theoretisch die Oppositionslust,
praktisch die Sympathie gegenüber, die wir für den einzelnen von einer
Masse Angegriffenen empfinden.
Die rein formale Tatsache, dass der Eine den Vielen gegenübersteht,
weckt in edleren Naturen von vornherein und weit über die objektive
Billigung seines Standpunktes hinaus die Neigung, sich an seine Seite zu
stellen, die gewiss zu dem bekannten Faktum beiträgt, dass Religionen
gerade in den Zeiten der Verfolgung oft besonders wachsen; ganz ähnlich,
wie wir auch die Partei des Abwesenden ergreifen, der angegriffen wird und
sich nicht selbst verteidigen kann, und uns dadurch sogar oft in
Stellungen hineindrängen lassen, deren Behauptung uns ohne jene
Veranlassung sehr fern läge.
So hat denn auch die verächtliche Abneigung dem schwachen und
schlechten Exemplar unserer Gattung gegenüber die Hilfsbereitschaft und
Sympathie gerade für den Schwachen und Hilfsbedürftigen zum Gegenstück;
der Neigung, mit der wir der Kraft und dem Erfolge uns anschliessen, steht
diejenige für solche Wesen gegenüber, denen beides mangelt.
Wenigstens unterstützend wirkt hier ein psychologisches Moment mit,
dessen Richtung in Folgendem hervortritt. (<81)
Durch die längere Dauer eines Verhältnisses wird ein gewisses
Bedürfnis nach demselben erzeugt; und dieses Bedürfnis hat die
eigentümliche Folge, dass nach gewaltsamer Beseitigung des substanziellen
Objekts, an das es sich bisher anschloss, nun dessen gerades Gegenteil,
das die Zerstörung des ganzen Verhältnisses bewirkte, seinerseits an die
leergewordene Stelle tritt - wie der Prätendent, der den Herrscher vom
Thron gestossen, nun dieselbe Stelle wie dieser einnimmt.
Das Bedürfnis, das sich an die formale Seite des Verhältnisses
geheftet hat, befriedigt sich an dem entgegengesetzten Inhalt ebenso wie
an dem ursprünglichen.
So wird oft genug der Atheismus zu einer Religion, die zynische
Formlosigkeit zu einer streng beobachteten Form, der Revolutionismus zu
einer philisterhaften Simpelei, die Armut der Mönche zu einem Besitz, auf
den sie so stolz sind, den sie so eifersüchtig hüten und der ihnen auch
zu derselben Macht verhalf, wie sonst alles dieses vom Reichtum gilt.
Überall, wo neben eine bisher geltende Anschauungsweise oder einen
bisher befolgten Trieb eine neue Norm gestellt wird, bringt ein
hundertfach beobachtbarer psychologischer Prozess es mit sich, dass
zunächst der Gegensatz der neuen erst zu verwirklichenden Regel gegen das
oft und lange verwirklichte Alte das Bewusstsein erfüllt, und der Wert
jener vor allem in der Negation dieses zu bestehen scheint.
Ein Vergleich dieses Vorgangs mit dem entsprechenden auf theoretischem
Gebiet wird ihn auch für das ethische beleuchten.
Schon bei Beginn des griechischen Philosophierens galt das
erkenntnisstheoretische Prinzip, dass die bloss sinnliche Betrachtung der
Dinge den Menschen keine Wahrheit über sie geben könne, dass vielmehr
nur das vernunftmässige, abstrakte Denken dazu im Stande sei.
Mit diesem Prinzip schliessen die Eleaten: die Sinne zeigen uns
Bewegung und Vielheit in der Welt, aber dies sei eine Täuschung, die
Vernunft müsse vielmehr nur ein einziges, sich ewig gleich bleibendes,
unbewegtes Sein als das wahre Wesen der Dinge erkennen; umgekehrt
Heraklit: die Sinne zeigen uns Beharrung und Festigkeit in den Dingen,
aber das sei eine Täuschung; die Vernunft müsse vielmehr erkennen, dass
alles in ewigem Flusse, nie rastender Bewegung begriffen sei. (<82)
Weder empirisch noch rational war das Eine und das Andere beweisbar,
denn auch die Beweise der Eleaten erscheinen vielmehr als Erläuterungen
einer an und für sich feststehenden Überzeugung; hinreichend
beweiskräftig schien offenbar, bewusst oder unbewusst, dies, dass das
Behauptete das Gegenteil des sinnlich Wahrnehmbaren war.
Angesichts der grossen Entdeckung, dass es neben der alltäglichen,
sinnlichen Erfahrung noch ein Vermögen des Geistes gab, das an
eigentümlicher Kraft und geheimnisvoller Bedeutsamkeit über jene
hinausragte, war es sehr natürlich, sich vor allem dem Gegensatz dieses
Neuentdeckten gegen das sonst Bewusste zu ergeben und schon in der blossen
Verneinung des sinnlich Wahrnehmbaren a priori die Gewähr der Wahrheit zu
erblicken; welche Eigenschaften des Sinnlichen in Betracht gezogen wurden,
war prinzipiell gleichgültig.
Im Ethischen nun verhielt sich dies ebenso.
Die Abwendung von dem, wozu der unmittelbare sinnliche Trieb führt und
verführt, erschien als das Wesentliche des Sittlichen; es wirkte schon
jene von Kant ausgesprochene Überlegung, wenigstens im Unbewussten, dass
man dasjenige, was jedermann schon unausbleiblich von selbst tut, nicht
besonders zu befehlen brauche.
Angesichts der üppigen Schönheit des griechischen Landes und der
griechischen Menschen, des leidenschaftlichen Temperamentes, der sonnigen
Klarheit des ganzen Weltbildes, das ganz besonders zur Hingabe an die
Sinnlichkeit im Praktischen und Theoretischen verlocken musste, erschien
die Betonung der Potenz, die diese Sinnlichkeit verneinte, notwendig als
das Prinzip des Sollens, insoweit das Sollen eben dasjenige ausspricht,
was von selbst nicht geschieht; der Vernunft zu folgen und nicht dem, was
die Impulse der Sinne raten und damit Zusammenhängend die Ermahnung,
nicht in den flüchtigen sinnlichen Genüssen, sondern in den ewigen
Gütern der sinnenfreien Vernunft den Hauptwert des Lebens zu suchen - das
ist ein durchgehender Zug der griechischen Ethik von ihren frühesten
Zeiten an. (<83)
Was nun freilich dieses Vernünftige war, musste durch ganz besondere
Bestimmung ausgemacht werden und wurde es oft nicht.
Wie und wozu denn die Vernunft unser Handeln bestimmen soll, war aus
ihrem Begriff selbst nicht zu entnehmen, der an sich nicht viel Anderes
als das bloss Negative enthielt, die Sinnlichkeit auszuschliessen.
Wie also das Sollen einerseits aus der Wirklichkeit des Seins seinen
Inhalt und die Aufforderung diesen immer weiter zu verwirklichen zieht, so
quillt ihm andererseits oft gerade aus dem Nichtsein eines Inhalts eine
besondere Kraft.
Man könnte auch diese Gegensätzlichkeit wie so viele andere des
Seelenlebens unter die grossen Prinzipien der Vererbung und der Anpassung
oder noch höher aufsteigend unter die des Eleatischen und des
Heraklitischen Denkens bringen.
Wie unser Erkennen einerseits das Dauernde im Wechsel, andererseits das
Wechselnde in der Dauer ergreift; wie die organische Entwicklung den
Einzelnen als Summe von Gattungseigenschaften hinstellt und ihm doch die
Fähigkeit gibt, durch Anpassung sich zu ganz neuen Formen und Forderungen
des Lebens umzugestalten; wie das individuelle und das soziale Wesen in
jedem Augenblick sich als Kompromiss der konservativen und der
fortschreitenden Bestandteile und Tätigkeiten darstellt: so zieht nun
auch das sittliche Sollen seine Inhalte einerseits aus dem Bestehenden,
weil es besteht, andererseits aus dem Nochnichtbestehenden, weil es noch
nicht besteht; es gestaltet sich bald nach dem Vererbten und
Überlieferten, nach dem es die Verhältnisse des Augenblicks weiter
bildet, bald zieht es gerade aus dem Ungenügen an den bisherigen
Gestaltungen des Seins die Aufforderung, es noch unrealisierten Idealen
anzupassen. (<84)
Das einzelne sittliche Ideal, sobald es nur irgend allgemeineren
Charakter trägt, und also eine grössere Summe einzelner Erfahrungen und
Antriebe in sich zur Einheit und Ausgleichung bringt, wird deshalb zu den
realen Verhältnissen der sozialen Gruppe, in der es sich gebildet hat,
immer ein halb bejahendes und halb verneinendes Verhältnis haben.
Das griechische Ideal der Sophrosyne, der schönen Selbstbeschränkung,
jenes inneren Masshaltens, das gleichmässig vom Zuviel und vom Zuwenig
absteht, wird doch nicht ganz richtig gedeutet, wenn man es nur als einen
Ausdruck der ästhetischen Vollendung des griechischen Lebens ansieht.
So unmässige Leidenschaften, so extreme Schwankungen, so starke
Übergriffe des Einzelnen und der Familien hat die griechische Geschichte
gesehen, dass jenes Mass in allen Dingen nicht nur, weil es vielfach
realisiert war, sondern gerade auch, weil es vielfach nicht realisiert
war, zum sittlichen Ideale wurde.
Wie nach dem schönen Worte Platos die Liebe ein mittlerer Zustand
zwischen Haben und Nichthaben ist, so ist auch das Sollen ein solcher; es
ist ebenso an die Wirklichkeit geknüpft, wie es von ihr gelöst ist.
Georg Simmel: Einleitung
in die Moralwissenschaft
Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe
Cotta's Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1892/93
Vorworte
Band 1:
1.
Kapitel: Das Sollen
2.
Kapitel: Egoismus und Altruismus
3.
Kapitel: Sittliches Verdienst und sittliche Schuld
4.
Kapitel: Die Glückseligkeit
Band 2:
5.
Kapitel: Der kategorische Imperativ
6.
Kapitel: Die Freiheit
7.
Kapitel: Einheit und Widerstreit der Zwecke
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