Georg Simmel: Lebensanschauung
Vier metaphysische Kapitel
Duncker & Humblot, Berlin 1918
III.
Tod und Unsterblichkeit
Den unorganischen Körper scheidet vor allem dies von dem lebendigen: dass
ihm seine begrenzende Form von außen bestimmt wird - sei es in dem
äußerlichsten Sinne, dass er aufhört, weil ein anderer anfängt, sich
seiner Expansion entgegenstellt, ihn biegt oder bricht, oder sei es durch
molekulare, chemische oder physikalische Einflüsse, wie sich etwa die
Form des Felsens durch Verwitterung, die der Lava durch Erstarren
herstellt.
Der organische Körper aber gibt sich seine Gestalt von innen her; er
hört auf zu wachsen, wenn die mit ihm geborenen Formkräfte an ihre
Grenze gekommen sind; und dauernd bestimmen diese die besondere Art seines
Umfanges.
Die Bedingungen seines Wesens überhaupt sind auch die seiner
erscheinenden Form, während für den unorganischen Körper die letzteren
außerhalb seiner selbst wohnen.
Das Geheimnis der Form liegt darin, dass sie Grenze ist; sie ist das
Ding selbst und zugleich das Aufhören des Dinges, der Bezirk, in dem das
Sein und das Nichtmehrsein des Dinges Eines sind.
Und das organische Wesen ist, anders als das unlebendige, zu dieser
Grenzsetzung keines zweiten bedürftig. Nun aber ist seine Grenze nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich.
Dadurch, dass das Lebendige stirbt, dass das Sterben mit seiner Natur
selbst (gleichviel ob aus begriffener oder noch nicht begriffener
Notwendigkeit heraus) gesetzt ist, bekommt sein Leben eine Form.
Die Einsicht in die Bedeutung des Todes hängt durchaus daran, dass man
sich von der »Parzen«vorstellung befreie, in der sein gewöhnlicher
Aspekt sich ausdrückt: als würde in einem bestimmten Zeitmoment der
Lebensfaden, der sich bis dahin als Leben und ausschließlich als Leben
fortgesponnen, mit einem Male »abgeschnitten«; als setzte der Tod dem
Leben seine Grenze in demselben Sinn, in dem der unorganische Körper
dadurch räumlich zu Ende ist, dass ein anderer, mit dem er von sich aus
gar nichts zu tun hat, sich gegen ihn schiebt und ihm seine Form - als
»Aufhören« seines Seins - bestimmt; der von außen an den Lebendigen
herantretende Knochenmann ist das rechte Symbol dieser mechanistischen
Auffassung.
Den meisten Menschen erscheint der Tod als eine dunkle Prophezeiung,
die über ihrem Leben schwebt, aber doch erst in dem Augenblick ihrer
Verwirklichung irgend etwas mit dem Leben zu tun haben wird, wie über dem
Leben des Ödipus die, dass er irgend wann einmal seinen Vater erschlagen
wird.
In Wirklichkeit aber ist der Tod von vornherein und von innen her dem
Leben verbunden.
Ich lasse zunächst die biologische Strittigkeit beiseite: ob die
einzelligen Wesen unsterblich sind, da sie sich nur in mehrere, wieder
ganz und gar lebendige Wesen teilen und niemals, ohne Einwirkung äußerer
Gewalt, eine Leiche hinterlassen, so dass der Tod nur eine, bei den
vielzelligen Organismen zu dem Leben hinzugetretene Erscheinung wäre -
oder ob auch von jenen ein Teil oder die ganze Körpersubstanz
schließlich zugrunde geht.
Hier gehen uns nur diejenigen Wesen an, die eben sterben und deren
Leben darum in keiner weniger innigen Verbindung mit dem Tode steht, weil
die Lebensform anderer Wesen diese Bedingtheit nicht von vornherein in der
gleichen Weise besitzt.
Ebenso wenig wird das Abgestimmtsein unseres Lebens auf den Tod und
seine durchgängige Bestimmtheit durch ihn von der Tatsache widerlegt, dass
das normale Leben eine Zeitlang aufwärtsschreitet, immer mehr und
sozusagen immer lebendigeres Leben wird; erst nach einem höchsten Punkt
seiner Entwicklung - der gewissermaßen dem Tode ferner zu sein scheint
als jeder frühere - beginnen die ersten sichtlichen Zeichen des
Abwärtsgehens.
Allein jenes voller und stärker werdende Leben steht doch in einem
Gesamtzusammenhang, der auf den Tod angelegt ist.
Indem der Stoffwechsel der Lebenssubstanz aus Assimilation und
Dissimilation besteht und Wachstum das Überwiegen jener über diese
voraussetzt, hat man schon bald nach der Geburt eine entschieden sinkende
Assimilation beobachtet; d.h. obgleich sie noch immer zum Hervorbringen
der Wachstumserscheinung zureicht, so wird sie relativ doch schon während
der Wachstumsperiode immer geringer, und jene Zellenpigmentierung,
besonders im Zentralnervensystem, die als spezifische Altersveränderung
gilt, beginnt schon in früher Jugend.
Von vornherein bilden die Lebensmomente, auch ohne dass die Verhärtung
der Gefäße den Tod gleichsam pro rata in ihnen feststellbar mache, eine
eindeutig auf ihn zugehende Reihe.
Von manchen Seiten wird das Altwerden als eine Summierung von - schon
am Lebensbeginn einsetzenden - zerstörenden Gärungsprozessen angesehen,
die mit den aufbauenden Kräften einen lebenslangen Kampf führen.
In diesem Sinne hat ein mechanistisch denkender Biologe den Tod als ein
physisches Agens, den materiellen Gegensatz des Lebens bezeichnet. Dieser Gegensatz des Lebens aber stammt doch nirgends her als aus dem
Leben! Es selbst hat ihn erzeugt und schließt ihn ein.
In jedem einzelnen Momente des Lebens sind wir solche, die sterben
werden, und er wäre anders, wenn dies nicht unsere mitgegebene, in ihm
irgendwie wirksame Bestimmung wäre. So wenig wir in dem Augenblick unserer Geburt schon da sind,
fortwährend vielmehr irgend etwas von uns geboren wird, so wenig sterben
wir erst in unserem letzten Augenblicke.
Was wir Altersveränderungen nennen, so äußerte sich ein Physiologe,
ist nur der Höhepunkt jener Veränderungen, die sich schon von den ersten
Stadien der Keimesentwicklung an abgespielt haben.
Und man kann jeden Krankheitstod im höheren Alter zugleich als einen
Altersschwächentod ansehen, weil eben die Organe durch das Alter in
pathologischer Weise verändert sind. Dies erst macht die formgebende Bedeutung des Todes klar.
Er begrenzt, d. h. er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde,
sondern er ist ein formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte
färbt: die Begrenztheit des Lebensganzen durch den Tod wirkt auf jeden
seiner Inhalte und Augenblicke vor; die Qualität und Form eines jeden
wäre eine andere, wenn er sich über diese immanente Grenze
hinauserstrecken könnte.
Es gibt eine Organisation, d. h. eine durch die innere Einheit
bestimmte Form, ebenso im zeitlichen Nacheinander der Lebensmomente wie im
räumlichen Nebeneinander, und wenn dies der absolute Gegensatz zum
Unorganischen ist, das ebenso gut vorher wie nachher seine Auflösung
finden kann, so wiederholt er sich symbolisch an den Wertrelationen der
Menschen.
Manche - so müssen wir, wenngleich natürlich im relativen Sinne,
sagen - sterben, weit das Leben zufällig aufhört; der Tod erscheint
nicht als von dem Innern ihres Lebensverlaufes her gesetzte Grenze; es
sind diejenigen, deren Leben überhaupt keine Form im höheren Sinne hat
und die ebenso gut beliebig kurz wie beliebig lang leben könnten - gerade
wie ein Felsen das im tieferen Sinne Unnotwendige seiner Form damit zeigt,
dass es für ihn gar nicht integrierend ist, ob er grösser oder kleiner
ist.
Eigentlich handelt es sich um den Unterschied von Sterben und
Getötetwerden. Natürlich kann niemand getötet werden, der nicht (im Gegensatz zu dem
Felsen) die Möglichkeit des Sterbens hat.
Allein die Frage ist, ob diese Möglichkeit irgendwann notwendig auf
den Tod führt. Es könnte ja sein, dass sie sich nur durch Getötetwerden realisiert,
wobei es keinen Unterschied macht, ob dies durch Dolch und Gift oder durch
Herzembolie oder Tuberkelbazillen geschieht.
Vielleicht die meisten Naturvölker haben die Vorstellung, dass, wenn
jemand stirbt, er unbedingt getötet sein müsste, dass irgendein Mensch
oder Geist dafür verantwortlich sei. Hier ist das Leben noch nicht tief genug oder, wie später zu zeigen
sein wird, nicht individuell genug gefasst, um den Tod in seine Einheit
einzubeziehen.
Diese Differenz findet auch künstlerische Ausgestaltung. An den großen tragischen Gestalten Shakespeares spüren wir fast von
ihren ersten Worten an die Unentrinnbarkeit ihres Endes, nicht aber als
eine Unlösbarkeit verwickelter Schicksalsfäden oder als ein drohendes
Fatum, sondern als eine tiefe Notwendigkeit, ich möchte lieber sagen:
Beschaffenheit ihrer ganzen inneren Lebensbreite, die in dem dramatischen,
schließlich tödlichen Geschehen nur kanalisiert ist, nur eine auch
logisch begreifliche, auch dem Weltlauf gemässe Ausgestaltung gewinnt.
Der Tod gehört zu den apriorischen Bestimmungen ihres Lebens und des
mit diesem gesetzten Weltverhältnisses. Dagegen, Nebenfiguren in diesen Tragödien sterben, wie es der äußere
Geschehensverlauf gerade mit sich bringt; sie werden nur irgendwie
umgebracht, gleichgültig gegen das Wann und gegen das Ob überhaupt.
Nur jene haben es dazu, von innen her zu sterben; das Reifwerden ihres
Schicksals als Lebensausdruckes ist an sich selbst das Reifwerden ihres
Todes.
Wir halten unsere Pläne und Aktionen, Verpflichtungen und
interindividuellen Beziehungen von vornherein - zwar nicht durch bewusste Überlegung, aber instinktiv und traditionell selbstverständlich - in
denjenigen Ausmaßen, die innerhalb eines todbegrenzten Lebens
proportioniert sind.
Die Art aber, auf die diese Begrenzung oder Formung des Lebens als
ganzen wie in seinen Einzelreihen geschieht, ist dadurch bestimmt, dass wir zwar über das
Dass des Endes absolut sicher, dagegen über sein Wann
absolut unsicher sind.
Schlechthin unvorstellbar wäre uns die Lebenseinrichtung irdisch
unsterblicher Wesen; aber schon die von solchen, die ihres künftigen
Todes gewiss sind und zugleich des Jahres und Tages seines Eintrittes,
würde von der uns bekannten in einem kaum weniger unvorstellbaren Masse
abweichen.
Einer meiner Freunde äußerte sich über diese Konstellation ungefähr
so: »Wie viel besser wäre doch das Leben, wenn man sicher wüsste, wie
viele Jahre man noch vor sich hat! Dann könnte man sich damit einrichten,
das Leben zweckmäßig organisieren, brauchte nichts unvollendet zu
hinterlassen, finge nichts Unvollendbares an, würde aber auch veranlasst,
die Zeit wirklich auszunutzen.«
Von der anderen Seite her gesehen aber würde wahrscheinlich in diesem
Fall für die meisten Menschen das Leben unter einem unerträglichen Druck
stehen. Im Objektiven stünde jenen angedeuteten Vorteilen gegenüber, dass unzählige Leistungen um der Tatsache willen ausfielen:
dass der Mensch
sehr oft sein Höchstes gerade nur dann leistet, wenn er mehr unternimmt,
als er leisten kann.
Und im Subjektiven steht es angesichts des Lebenswillens doch wohl so, dass
die Angst vor dem Tode und die Bedrücktheit durch seine
Unvermeidlichkeit nur dank der Unsicherheit um seinen Eintritt auf ein
erträgliches Maß gebracht wird, auf dasjenige, das dem Menschen
gewissermaßen den inneren Bewegungsspielraum für die Lebensfreude, die
Kraftentfaltung, die Produktivität des uns allein bekannten Lebens
sichert.
Es ist dies vielleicht der bedeutsamste Fall einer Form, die unser
Leben und Weltverhältnis allenthalben bestimmt: dass eine prinzipielle
Grundlage für Theorie oder Praxis uns unbezweifelbar feststeht, während,
ihre Ausgestaltung und Handhabung, wie sie für die konkreten
Lebenssituationen erforderlich wären, durch eine gleichsam
darüberliegende Schicht von Fragwürdigkeiten oder Verborgenheiten ganz
problematisch, ja illusorisch werden.
So mögen wir davon durchdrungen sein, dass angesichts der natürlichen
Rangunterschiede der Individuen die aristokratischen Ordnungen die
sachlich allein angemessenen sind; allein da wir gar kein Mittel haben,
die ariotoi, mit Sicherheit als solche herauszuerkennen und in die
führenden Stellen zu bringen, auch keines, um, wenn dies selbst erreicht
wäre, die herrschende Schicht vor der Korruption durch den Machtbesitz zu
bewahren - so nützt uns sozusagen jene primäre Überzeugung sehr wenig;
so wenig, dass selbst manche ihrer Anhänger die Demokratie noch für das
kleinere Übel erklären.
So hat uns Kant vielleicht überzeugt, dass in unserem Erkennen
apriorische Formen wirksam sind, die, weil sie das Erkennen als solches
überhaupt erst zustande bringen, für alle Gegenstände desselben
notwendig und ausnahmslos gelten.
Allein welche Formen dies nun angebbarerweise sind, können wir nur
mittels empirischen Aufsuchens, ohne irgend eine gleich apriorische
Garantie und eigentlich nur in Hypothesen aussagen: der prinzipielle
Besitz unbedingt sicherer Erkenntnisse verhilft uns nicht zu einem auch
nur annähernd sicheren Wissen darum, welche es denn sind.
Unzählige Male und mit ganz entgegengesetzten Werterfolgen wiederholt
sich diese Konstellation, in der sich die metaphysisch-kosmische
»Mittelstellung« des Menschen ausdrückt. Zwischen Wissen und Nichtwissen sind wir gebannt.
Weder wenn wir ein viel weiteres, noch wenn wir ein viel
beschränkteres Wissen als unser tatsächliches hätten, könnten wir das
Leben des empirischen Menschen führen.
Und gegenüber der Betonung des immer weiteren und unabsehlichen
Fortschritts unseres Wissens sollte doch nicht übersehen werden, dass gleichsam am anderen Ende so und so vieles, was wir als »sicheres«
Wissen besaßen, zu Unsicherheit und eingesehener Irrung herabsinkt.
Wievieltes »wusste« der mittelalterliche Mensch, wievieltes auch noch
der aufgeklärte Denker des 18.Jahrhunderts oder der materialistische
Naturforscher des 19. Jahrhunderts, was für uns entweder gänzlich
abgetan oder mindestens gänzlich zweifelhaft ist! Wievieltes von dem, was
uns jetzt fraglose »Erkenntnis« ist, wird über kurz oder lang das
gleiche Schicksal haben! Die ganze seelische und praktische Einstellung
des Menschen bewirkt, dass er - cum grano salis und für das Fundamentale
gesagt - aus der Umwelt überhaupt nur das apperzipiert, was seinen
Überzeugungen entspricht, und an noch so krassen Gegeninstanzen,
späteren Zeiten oft völlig unverständlich, einfach vorbeisieht.
Für Astrologie und Wunderheilungen, für Behexung und unmittelbare
Gebetserhörung wurden nicht weniger »tatsächliche«, »überzeugende«
Beweise angeführt, wie jetzt für die Gültigkeit allgemeiner
Naturgesetze, und ich halte es keineswegs für ausgeschlossen, dass spätere Jahrhunderte oder Jahrtausende, die als Kern und Wesen jeder
Einzelerscheinung ihre unauflösbar-einheitliche, auf »allgemeine
Gesetze« gar nicht zurückzuführende Individualität erkennen, solche
Allgemeinheiten für keinen geringeren Aberglauben erklären, wie wir jene
angedeuteten Glaubensartikel.
Verzichtet man erst einmal auf die Idee des »absolut Wahren«, die
gleichfalls nur ein historisches Gebilde ist, so könnte man auf die
paradoxe Idee kommen, dass in dem kontinuierlichen Prozesse des Erkennens
das Maß der eben adoptierten Wahrheiten von dem Maß der eben abgetanen
Irrtümer gerade nur aufgewogen wird, dass, wie in einem nie
stillstehenden Zuge, ebensoviel »wahre« Erkenntnisse die Vordertreppe
heraufsteigen, wie »Täuschungen« die Hintertreppe hinuntergeworfen
werden.
In dieses mannigfaltigst gestaltete Gebiet von Mischungen und
Verwebungen des Wissens mit dem Nichtwissen, von dem die Sonderart der
menschlichen Lebenseinrichtung großenteils ressortiert, gehört jenes
Wissen und Nichtwissen um den Tod als das vielleicht wirkungsreichste
Phänomen hinein.
Das Leben ist in den Formen, in denen wir es leben, gerade nur auf
dieser Basis des Wissens um die Tatsache und des Nichtwissens um ihren
Zeitpunkt möglich.
Und dies wiederum zeigt - dazu wurde diese ganze Erörterung hier
eingefügt -, wie unbedingt formbestimmend der Tod für das Leben ist, wie
er ihm sowohl mit dem, was von ihm gewiss ist, wie mit dem, was von ihm ungewiss
ist, beides in unlösbarer Verschmelzung, einwohnt.
Dadurch, dass diese Grenze für unser Bewusstsein zugleich schlechthin
hart und doch auch schlechthin fließend ist, dass jede Änderung in dem
einen wie in dem anderen das ganze Leben sofort ins Unausdenkbare hin
ändern würde, offenbart sich der Tod als jenes scheinbare Außerhalb des
Lebens, das in Wahrheit ein Innerhalb seiner ist und jeden Moment dieses
Innerhalb so gestaltet, wie wir ihn allein kennen.
Es gehört zu den ungeheuren Paradoxien des Christentums, dem Tod die
Lebenseinhaftung zu nehmen, das Leben von vornherein unter den
Gesichtspunkt seiner eigenen Ewigkeit zu stellen.
Und zwar nicht nur als eine an den letzten irdischen Augenblick sich
anschließende Verlängerung des Lebens, sondern von der gesamten Reihe
der Lebensinhalte hängt das ewige Geschick der Seele ab; ein jeder setzt
seine ethische Bedeutung als Bestimmungsgrund unserer transzendenten
Zukunft in das Unendliche fort und durchbricht damit die ihm einwohnende
Begrenztheit.
Der Tod kann hier als überwunden gelten, nicht nur weil das Leben, als
eine durch die Zeit erstreckte Linie, über die Formgrenze seines Endes
hinausreicht, sondern auch weil es den durch alle Einzelmomente des Lebens
hin wirkenden und sie innerlich begrenzenden Tod vermöge der ewigen
Konsequenzen eben dieser Momente verneint.
Das Leben ist hier ausschließlich auf seine positiven Momente
gestellt; was der Tod ihm antun kann, betrifft nur seine Außenwerke, ja
nur dasjenige, was schon von vornherein nicht unser eigentliches Leben
ist. Angesichts der Kontinuität, mit der unsere jenseitige, doch sicher
nichts von Tod enthaltende Existenz durch die diesseitige bestimmt ist,
hat der Tod auch in dieser seinen »Stachel«, seine vitale Bedeutung
verloren.
Diese, wie mir scheint, reinste Ausgestaltung des christlichen
Grundmotives ist nun freilich durch kirchliche Vorstellungen sehr
abgebogen worden, vor allem durch die wunderliche, den ganzen
metaphysischen Lebenszusammenhang unterbrechende Wichtigkeit des
Todesmomentes.
Dadurch, dass gerade er das ärgste Sündenleben durch Reue oder gar
mittels zeremonieller Vornahmen ungeschehen machen soll, scheint mir ein
übermäßiger Akzent auf eine zeitlichirdische Einzelheit gelegt,
unverträglich mit der großartigen Gesamtansicht, in der wir von
vornherein die Kinder Gottes sind, die auf der Erde nur einen flüchtigen
Gastaufenthalt nehmen.
Auch auf ihr leben wir als seine Kinder, seinem Willen gehorsam oder
widerstrebend, trotzig oder reuig, und durch jede solche Gegenwärtigkeit,
wie es überhaupt das Wesen des Lebens ist, unsere Zukunft bestimmend.
Allein, dass nun gerade der Moment des leiblichen Todes, der als
physiologisch bestimmter dem ewigen Schicksal der Seele gleichsam nur eine
ganz äußerliche Kerbe beibringen kann, durch seinen Trotz oder seine
Reue schlechthin alles entscheiden soll, das scheint mir den eigentlichen
Sinn des großgefaßten Christentums zu veräußerlichen und irgendwie zu
verschiefen.
Immerhin kann auch diese Bestimmung eine religiös bedeutsame Idee
verkünden. Das Leben macht uns, mit seinem Vorschreiten, im allgemeinen
hoffnungslos, nicht immer in Gedanken, aber im Sein.
Wir glauben im Alter nicht mehr an die Möglichkeit großer Wendungen;
es erscheint uns irgendwie illusorisch, sie noch zu vollziehen.
Demgegenüber ist es der Vorsprung der religiösen Naturen, dass sie
sich dauernd in der Beziehung zu einem Absoluten fühlen, vor dem die
Quantitätsverschiedenheiten des Lebensverlaufes verschwindende Größen
sind.
Für den religiösen Menschen ist es noch immer Zeit, weil vor dem
Auge, besser: vor dem Sein des Unendlichen 20 oder 70 Jahre gar keinen
Unterschied bedeuten.
Dass noch der letzte Augenblick
für das Heil genügt, gleichviel ein wie langes, entgegengesetztes Leben
vorangegangen ist - das ist der extreme, wenngleich einigermaßen
äußerliche Ausdruck für die Irrelevanz des Länger oder Kürzer, dafür,
dass angesichts des unendlichen im Unterschied zum empirischen Leben es
keinem Maße von Vergangenheit gegenüber ein Zuspät gibt.1)
Und auch für den umgekehrt gerichteten Blick erscheint der Tod als der
Gestalter des Lebens. Die gegebene Stellung der Organismen innerhalb ihrer Welt ist die,
dass sie sich in jedem Augenblick nur durch irgendwelche Anpassung - im
weitesten Sinne des Wortes - am Leben erhalten können.
Das Versagen dieser Anpassung bedeutet den Tod. Ebenso wie jede automatische oder willkürliche Bewegung als der Drang
nach Leben, nach Mehr-Leben gedeutet werden kann, ebenso kann sie es als
die Flucht vor dem Tode.
Vielleicht ist das Wesen unserer Aktivität eine für uns selbst
geheimnisvolle Einheit, die wir, wie soviel andere, nur durch Zerlegung in
Lebenseroberung und Todesflucht erfassen können.
Jeder Schritt des Lebens zeigte sich nicht nur als eine zeitliche
Annäherung an den Tod, sondern als durch ihn, der ein reales Element des
Lebens ist, positiv und a priori geformt. Und diese Formung wird also nun gerade durch die Abwendung vom Tode
mitbestimmt, dadurch, dass Erwerb und Genuss, Arbeit und Ruhe und all
unsere anderen, naturhaft betrachteten Verhaltungsweisen -instinktive oder
bewusste Todesflucht sind.
Das Leben, das wir dazu verbrauchen, uns dem Tode zu nähern,
verbrauchen wir dazu, ihn zu fliehen.
Wir sind wie Menschen, die auf einem Schiff in der seinem Lauf
entgegengesetzten Richtung schreiten: indem sie nach Süden gehen, wird
der Boden, auf dem sie es tun, mit ihnen selbst nach Norden getragen. Und diese Doppelrichtung ihres Bewegtseins bestimmt ihren jeweiligen
Standort im Raume.
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Diese Formung des Lebens in seinem ganzen Verlaufe durch den Tod ist
bisher sozusagen etwas Bildhaftes, das von sich aus noch nicht zu
irgendwelchen Schlüssen vordringt; es handelte sich nur darum, die
gewöhnliche Vorstellung, die den Tod nur, gleichsam unorganisch, als den
lebenbeendigenden Parzenschnitt ansieht, durch die organischere zu
ersetzen, für die er ein formendes Moment des kontinuierlichen
Lebensverlaufes von Anfang an ist.
Mag man aber seine enbiotische Verbreitung als eine Vorwirkung oder
Vorschattung des singulären Todesereignisses, mag man sie als eine
autochthone Formung oder Färbung jedes Lebensmomentes für sich ansehen -
jedenfalls begründet erst sie, zusammen mit jener Akutheit des Todes,
gewisse Reihen metaphysischer Vorstellungen vom Wesen und Schicksal der
Seele.
Ich scheide die Modifikationen nicht ausdrücklich voneinander, die der
eine und die der andere Sinn des Todes in die folgenden Erwägungen
hineinträgt; es wäre Sache leichten Überlegens, die Anteile jener
beiden an diesen Vorstellungen zu sondern.
Die Hegelsche Formulierung, dass jedes Etwas seinen Gegensatz fordert
und mit ihm zu der höheren Synthese zusammengeht, in der es zwar
aufgehoben ist, aber ebendamit »zu sich selbst kommt« - lässt ihren
Tiefsinn vielleicht nirgends stärker als an dem Verhältnis zwischen
Leben und Tod hervorleuchten.
Das Leben fordert von sich aus den Tod, als seinen Gegensatz, als das
»Andere« zu dem das Etwas wird und ohne das dieses Etwas überhaupt
seinen spezifischen Sinn und Form nicht hätte.
Insoweit stehen Leben und Tod auf einer Staffel des Seins, als Thesis
und Antithesis. Damit aber erhebt sich über sie ein Höheres, Werte und Spannungen
unseres Daseins, die über Leben und Tod hinaus sind und von deren
Gegensatz nicht mehr berührt werden, in denen aber das Leben eigentlich
erst zu sich selbst, zu dem höchsten Sinne seiner selbst kommt.
Die Basis dieses Gedankens ist, dass das Leben, wie es unmittelbar
gegeben ist, seinen Prozess in voller Ungeschiedenheit von seinen Inhalten
abrollt. Allerdings hat die Bezeichnung der Tatsächlichkeit des Bewusstseins
als »Prozess« eigentlich schon etwas Hypothetisches oder Konstruiertes.
Denn was wirklich da ist, was wir innerlich schauen, erleben, denken,
ist doch immer ein Etwas, ein Inhalt, keiner freilich stabil, einer
kontinuierlich dem anderen folgend; aber dass dies von einer Energie
(mindestens von etwas Energie-Ähnlichem) getragen, hervorgetrieben, durch
das Bewusstsein hin bewegt ist, dass es nicht einfach leblos da ist - das
haftet dem Gegenstandsbewußtsein, wie es sich unmittelbar darbietet,
nicht ein, sondern ist das Gefühl einer dunklen, nicht eigentlich in der
identischen Schicht abrollenden Lebensbewegtheit.
Das bloße Jetzt-Sosein und Jetzt-Sosein, der bloße Wechsel der Bilder
ist noch nicht Bewegung, Prozess, selbst dann nicht, wenn man statt einer
Punktualität hier vielmehr ihre Kontinuität, wie in einer Linie,
empfindet.
Gleichviel indes, ob es sich für das differenzierteste Hinsehen so
verhält, innerhalb des unbefangenen Erlebnisses ist das Gefühl, dass etwas »vorgeht«
dass der Bildinhalt als vorgestellter von etwas
Kraftmäßigem, Funktionellem belebt ist, schlechthin herrschend.
Hier bilden Inhalt und Prozess eine Einheit, die erst nachträgliche
Analyse in Jene beiden scheidet. Diese Trennung aber scheint mir, insbesondere für gewisse höchste
Werte, nur durch die Tatsache ermöglicht, dass ihr Träger, ihr Prozess,
dem Tode unterworfen ist.
Lebten wir ewig, so würde das Leben voraussichtlich mit seinen Werten
und Inhalten undifferenziert verschmolzen bleiben, es würde gar keine
reale Anregung bestehen, diese außerhalb der einzigen Form, in der wir
sie kennen und unbegrenzt oft erleben können, zu denken.
Nun aber sterben wir und erfahren damit das Leben als etwas
Zufälliges, Vergängliches, als etwas, was sozusagen auch anders sein
kann.
Dadurch erst wird der Gedanke entstanden sein, dass die Inhalte des
Lebens ja das Schicksal seines Prozesses nicht zu teilen brauchen; erst so
wird man auf die von allem Verfließen und Enden unabhängige, jenseits
von Leben und Tod gültige Bedeutung gewisser Inhalte aufmerksam geworden
sein.
Erst die Erfahrung vom Tode wird jene Verschmelzung, jene Solidarität
der Lebensinhalte mit dem Leben gelöst haben. Aber gerade mit diesen zeitlos bedeutsamen Inhalten gewinnt das
zeitliche Leben seine eigene reinste Höhe; indem es sie, die mehr sind
als es selbst, in sich aufnimmt oder sich in sie ergießt, kommt das Leben
über sich hinaus, ohne sich zu verlieren, ja, sich eigentlich erst
gewinnend; denn erst so gelangt sein Ablauf als Prozess zu einem Sinn und
Wert und weiß sozusagen, weshalb er da ist.
Es muss diese Inhalte erst ideell von sich sondern können, um sich bewusst
zu ihnen zu erheben, und es vollbringt diese Sonderung im Hinblick
auf den Tod, der zwar den Prozess des Lebens beenden, aber die Bedeutung
seiner Inhalte nicht annullieren kann.
Ich will hier an einer Analogie nicht vorbeigehen, die das Prinzipielle
dieser geistigen Strukturverhältnisse hervortreten lässt. Die Unzulänglichkeit, die zwischen unseren Trieben und Vermögen
einerseits und den realen Erfüllungen, inneren und äußeren,
andererseits besteht, muss zu den Motiven für die Bildung des
kontinuierlichen Ich gehören.
Wenn unsere Wünsche sich immer restlos erfüllten, so würde mit
dieser Erfüllung der Willensakt sterben und ein neuer, mit neuem Inhalt,
würde beginnen, der innere Vorgang wäre mit seinem Verhältnis zur
Wirklichkeit völlig erschöpft, das Ich würde sich aus dieser
Verflechtung mit der Wirklichkeit, die es auf Schritt und Tritt
begleitete, nicht herausheben.
Dies aber geschieht, wenn der Wille seine Berührung mit der
Wirklichkeit übersteht, wenn sie ihn nicht stillt, wenn das wollende Ich
noch da ist, wo die Wirklichkeit nicht mehr ist. Ein harmonisches, durchgängig befriedigtes Verhältnis zwischen Wille
und Wirklichkeit würde das Ichbewusstsein viel mehr in sich einsaugen,
würde das Ich in seinem Eigenlauf viel weniger erkennbar machen.
Das Nein und das Zuwenig der Außenwelt gegenüber unserem Willen lässt
ihn über die Berührung mit ihr so hinauswirken, dass das Ich sich
daran seiner Unabhängigkeit, vor allem aber der nur aus seinen eigenen
Impulsen quellenden Kontinuität bewusst wird.
Darum zeigen Menschen, denen viel versagt geblieben ist und die von den
Gewährungen der Welt tief enttäuscht sind, in der Regel ein
ausgeprägteres und, von einem gewissen Punkt an, unveränderlicheres Ich
als solche, denen immer alles glatt gegangen ist, wie auch ihre
Gesichtszüge mehr als bei den anderen den Charakter der Festgelegtheit
und Dauerprägung aufweisen.
Die Gegenerscheinung bietet das Verhalten zur Kunst. Das Kunstwerk hat es verhältnismäßig leicht, uns zu befriedigen,
weil alle Ansprüche, die wir daran stellen können, uns erst aus ihm
selbst entgegenkommen; es lehnt alle von außen gestellten Probleme und
Gesolltheiten ab; nur nach ihm selbst kann sich richten, was wir von ihm
wollen.
Es ist das eigentümliche Gebilde, das die »Idee«, zu der es sich
vollenden soll, die Gestaltung, mit der es alle Forderungen befriedigt,
aus sich selbst und allein aus sich selbst aufleuchten lässt - und dies
selbst dann, wenn seine Wirklichkeit diesen ideell darin eingezeichneten
Forderungen nicht entspricht.
Wenn sie ihnen aber genügt, ist der Sinn des Kunstwerkes als solcher
erreicht, jene Selbstgenügsamkeit, die dem Willen des Beschauers nicht
gestattet, andere Wertansprüche zu erheben, als die dem Werke selbst
eingeborenen: auch seine Unvollkommenheit misst sich - in einer hier nicht
zu verfolgenden Weise - an ihm selbst, an seinem individuellen Ideal;
wodurch sich das Verhältnis des Willens zu ihm prinzipiell von den
Ansprüchen scheidet, mit denen er nicht nur an alles
Technisch-Materielle, sondern auch an andere Menschen, ja, an die
göttlichen Mächte heranzutreten pflegt.
Diese Struktur des Kunstwerkes scheint mir der tiefere Grund der
Tatsache, die Schopenhauer schließlich doch nur dem Phänomen nach
beschreibt und nur spekulativ deutet: dass dem Kunstwerk gegenüber der
Wille schweigt.
Er kann dem vollendeten Kunstwerk gegenüber, an das ja auch
Schopenhauer allein denkt, kein Verlangen stellen - außer in
theoretischer Schulmeisterei oder aus kunstfremden Tendenzen heraus -, das
nicht in ihm selbst präformiert wäre und hier eben auch befriedigt ist.
An dieser Grenze muss der Wille stillhalten und kann durchaus nicht
über sie hinausbegehren. Daher, wie man es ausgedrückt hat, stirbt das wollende Ich am
Kunstwerk und fängt nachher von neuem zu leben an.
Hier liegt also die Ausnahme von jenem typischen Mehr-Verlangen und
also ebenso typischen Unbefriedigtsein an den Darbietungen des Weltlebens.
Darum tritt hier auch der Erfolg der letzteren Konstellation für die
Ich-Bildung nicht ein.
Menschen, die vorwiegend im ästhetischen Genuss leben (ersichtlich
durchaus verschieden von den künstlerisch produktiven, in denen ein
reichlicher Willensüberschuss zu bestehen pflegt), zeigen in der Regel
kein sehr kontinuierliches, durchhaltendes, von Gewährungen unabhängiges
Ich.
Sie leben vielmehr in relativ kurzen Abschnitten, fühlen sich ohne
Schwierigkeit in alle Entgegengesetztheiten hinein, lassen sich eher von
den Dingen meistern, statt sie von einem selbstsicheren Ich her zu
beherrschen.
So bestätigt dieser negative Sachverhalt den vorhin aufgewiesenen
positiven: wie der Prozess des Lebens durch den Tod vereint werden muss,
damit die Inhalte des Lebens in ihrer, den Prozess überdauernden
Bedeutung hervortreten, so müssen die Inhalte des Willens durch
Unbefriedigtheit verneint werden, damit der Prozess des Willens, das
wollend-persönliche Ich sich in seinem Hinausgehen über jede angebbare
Inhaltbindung offenbare.
Es ist die gleiche formale Struktur, die die Inhalte vom Prozess, wie
die den Prozess von den Inhalten löst. Ersichtlich also war dies nicht nur eine Analogie, sondern eine Seite
des zentralen, zwischen dem Ich und seinen Inhalten spielenden
Lebensproblems, das man gar nicht weit genug fassen kann, um die ihm
immanente Bedeutung des Todes zu verstehen.
Ich muss deshalb noch einmal auf die im Lebensverlauf sich vollziehende
Ich-Bildung zurückkommen, in einer allgemeineren Fassung des Motives als
zuvor, weil mit ihr das Todesproblem sich in ein neues Stadium
hineinentfaltet.
Der seelische Lebensprozess stellt nicht nur mit den eben betonten
Diskrepanzen, sondern mit seiner steigenden Gesamtentwicklung das Gebilde
immer klarer und stärker heraus, das man das Ich nennen kann.
Es handelt sich um das Wesen und den Wert, um den Rhythmus und
sozusagen den inneren Sinn, die unserer Existenz, als diesem besonderen
Stück der Welt, zukommen; um dasjenige, was wir eigentlich von vornherein
sind und doch wieder im vollen Sinne noch nicht sind.
Dieses Ich steht in einer eigentümlichen, näherer Darstellung noch
bedürftigen Kategorie, die ein Drittes ist, jenseits seiner jeweils
vorhandenen Wirklichkeit und der irrealen, bloß geforderten Wertidee.
Nun ist aber das ich am Anfang seiner Entwicklung, sowohl für das
subjektive Bewusstsein, wie in seinem objektiven Sein, aufs engste mit den
Einzelinhalten des Lebensprozesses verschmolzen.
Und wie dieser Lebensprozess seine Inhalte von sich sondert, wie sie
eine Bedeutung jenseits ihres dynamisch-realen Erlebtwerdens erhalten, so entlässt
er aus sich, gleichsam auf seiner anderen Seite, das Ich, das
sich, in gewissem Sinn uno actu mit den Inhalten, aus ihm
herausdifferenziert und sich damit auch von den Inhalten, die zunächst
das naive Bewusstsein ausschließlich erfüllen, als eine besondere
Bedeutung und Wert, Existenz und Forderung ablöst.
Je mehr wir erlebt haben, desto entschiedener markiert sich das Ich als
das Eine und Kontinuierende in allen Pendelschwingungen des Schicksals und
des Weltvorstellens; und zwar eben nicht nur in dem psychologischen Sinn,
in dem die Wahrnehmung des Gleichen und Beharrenden in sonst differenten
Erscheinungen durch das numerische Anwachsen eben dieser leichter und
unvermeidlicher wird, sondern auch im objektiven Sinne, derart, dass das
Ich sich reiner in sich selbst sammelt, sich herausarbeitet aus all den
fließenden Zufälligkeiten erlebter Inhalte, sich immer sicherer und von
diesen unabhängiger seinem eigenen Sinn und Idee zu entwickelt.
Hier setzt der Unsterblichkeitsgedanke ein. Wie in dem oben erörterten Fall der Tod das Leben versinken
lässt, um
die Zeitlosigkeit seiner Inhalte gleichsam freiwerden zu lassen, so
beendet er nun, auf der anderen Seite der Trennungslinie, die
Erlebnisreihe der bestimmten Inhalte, ohne dass damit die Forderung des
Ich, sich ewig zu vollenden oder weiterzuexistieren - das Gegenspiel jener
Zeitlosigkeit -abgeschnitten wäre.
Die Unsterblichkeit, wie sie die Sehnsucht vieler tieferer Menschen
ist, hat den Sinn: dass das Ich seine Lösung von der Zufälligkeit der
einzelnen Inhalte ganz vollbringen könnte. Religiöserweise pflegt die Unsterblichkeit einen anderen Sinn zu
haben.
Sie gilt hier meistens einem Haben; die Seele will Seligkeit oder das
Schauen Gottes oder vielleicht nur ein Weiterexistieren überhaupt; oder,
bei stärkerer ethischer Sublimiertheit, will sie eine Qualität ihrer
selbst: sie will erlöst sein, oder gerechtfertigt, oder gereinigt.
Aber alles das kommt nicht in Frage gegenüber dem jetzigen Sinn der
Unsterblichkeit, als des Zustandes der Seele, in dem sie nichts mehr
erlebt, in dem ihr Sinn sich also nicht mehr an einem Inhalt vollzieht,
der in irgend einem Sinn außerhalb ihrer selbst bestünde.
So lange wir leben, erleben wir Objekte; das Ich hebt sich zwar mit dem
Vorschreiten der Jahre und ihrer Vertiefung mehr und mehr als das
Invariable und Durchhaltende aus allen Mannigfaltigkeit der
vorüberflutenden Inhalte heraus, aber irgendwie bleibt es doch jeweilig
mit diesen verschmolzen; das Sich-Abheben, das Selbstsein der Seele
bedeutet nur eine asymptotische Annäherung an das Ich, das nicht an
irgend einem Etwas, sondern nur an sich selbst existiere.
Wo an Unsterblichkeit geglaubt wird und jeder materiale Inhalt, dem sie
zum Zweck diene, abgelehnt wird - sei es als das ethisch nicht hinreichend
Tiefe, sei es als das schlechthin Unwißbare -, wo sozusagen die reine
Form der Unsterblichkeit gesucht wird, da wird der Tod wohl als die Grenze
erscheinen, jenseits deren alle angebbaren Einzelinhalte des Lebens vom
Ich abfallen und wo sein Sein oder sein Prozess ein bloßes
Sich-selbst-gehören, eine reine Bestimmtheit durch sich selbst ist. Dies ist der Zustand, den Yajnavalkya schildert.
Der Vollkommene, im Tiefschlaf oder in der transzendenten Erlöstheit,
»hat kein Bewusstsein von dem, was außen oder innen ist. Das ist seine
Wesensform, in der er gestillten Verlangens, selbst sein Verlangen, ohne
Verlangen ist. Wenn er dann nicht sieht (hört, erkennt), so ist er doch
sehend, obschon er nicht sieht; denn für den Sehenden ist keine
Unterbrechung des Sehens, weil er unvergänglich ist; aber es ist kein
Zweites außer ihm, kein anderes, von ihm verschiedenes, das er sehen
(hören, erkennen) könnte. Denn nur wo ein anderes ist, sieht (hört,
erkennt) einer das andere. Wie Wasser rein, steht er als Schauender allein
und ohne Zweiten.«
Das heißt also: das jenseitige Leben hat sich auf die reine Funktion
zurückgezogen, es hat keinen Gegenstand mehr, sondern ist das bloße
Selbst, das in sich beschlossene Leben dieses Selbst (das nur symbolisch
mit jenen Einzelfunktionen ausgedrückt wird) geworden - das Wegfallen des
Objektes ist für dieses reine »Leben« des Ich hier dadurch vermittelt, dass
dieses Ich das All ist.
Dass wir in dem Gedanken der Unsterblichkeit immer an ein nicht mehr
recht Denkbares stoßen, beruht wohl unter anderem auch darauf, dass wir
sie uns als ein Leben der Seele über den Moment des körperlichen Todes
hinaus vorstellen; allein dies ist doch vielleicht ein Anthropomorphismus,
den freilich sublimste Spekulationen nicht weniger einschließen als
kindlichste Primitivitäten.
Aber es ist ja gar nicht ausgemacht, dass das Leben die einzige Form
ist, in der die Seele existieren kann.
Sie mag noch andere, nicht konstruierbare Formen für sich zur
Verfügung haben, als grade das Leben, und dass sie zeitlose, dem Leben
jenseitige Inhalte denken kann, ist vielleicht eine Art Pfand dafür
2).
Die Seele kann ohne den Körper nicht leben, aber sie kann vielleicht
jenseits der spezifischen Form Leben existieren. Unsterblichkeit mit ewigem Leben zu identifizieren, gehört zu jenen
scheinlogischen Naivitäten, die den konträren Gegensatz mit dem
kontradiktorischen verwechseln.
Da die Seele in ihrer irdischen Form sich nur als lebendige kennt,
denkt sie, von hier aus begreiflich genug, auch ihre Unsterblichkeit als
ein Leben - das aber doch nicht anders als in Gebundenheit an
physiologische Prozesse vorstellbar ist.
Deshalb - und freilich nur deshalb - braucht man sich dem Postulat du
Bois-Reymonds nicht zu ergeben: wenn er an eine Weltseele glauben solle,
so müsse man ihm zunächst das Gehirn zu dieser Seele vorweisen.
Von einem schon berührten Grundmotiv her einen etwas anders
gerichteten Querschnitt durch den Lebensprozess legend, sehen wir diesen
noch einmal dem Unsterblichkeitspostulat zudrängen.
An jeder einzelnen aktuellen Vorstellung, bei der wir überhaupt
verweilen, fühlen wir, dass all die Spannkräfte oder Tiefenvorgänge,
die mit ihr oder zu ihr empordringen, nicht vollständig zum Ausdruck und
Ausleben kommen; es bleibt von diesen ein Teil übrig, den wir als das
Un-Gestaltete, Un-Endliche an unseren endlichen Augenblicken fühlen oder
wenigstens immer fühlen können.
Kein einziger, in die Formulierbarkeit des Bewusstseins aufgestiegener
Inhalt nimmt den seelischen Prozess ganz in sich auf; ein jeder lässt einen Rest Leben hinter sich, der gleichsam an die von jenem
abgeschlossene Tür klopft.
Aus diesem Hinausreichen des Lebensprozesses über jeden einzelnen
seiner angebbaren Inhalte entsteht das allgemeine Gefühl einer
Unendlichkeit der Seele, das sich mit ihrer Sterblichkeit nicht vertragen
will.
Und dies erweitert sich erheblich über die Fälle hinaus, die wir als
einzelne erleben. In jedem Menschen schlummern unzählige Möglichkeiten, ein anderer zu
werden, als er tatsächlich geworden ist.
Dasselbe Kind, im perikleischen Athen, im mittelalterlichen Nürnberg
oder im modernen Paris aufgezogen, würde, selbst bei Unveränderlichkeit
seines »Charakters«, drei Erscheinungen von unermesslicher Unterschiedenheit ergeben haben.
Natürlich kann nicht alles aus jedem werden; Maß und Art seiner
Kräfte binden ihn an unüberschreitbare Linien; aber innerhalb dieser hat
ein jeder schlechthin unendliche Möglichkeiten.
Schon die Tatsache, dass jedes irgendwo geborene Kind jede der
unzähligen Sprachen der Erde zu seiner »Muttersprache« gewinnen und
damit eine unverdrängbare geistige Formung erfahren würde, erweist die
unbegrenzbare Elastizität der menschlichen Seele.
Und diese gleicht doch nicht der eines Stückes Ton, das zu unendlich
vielen Formen geknetet werden kann, sondern bedeutet Aktivitäten, die von
der Seele selbst geübt werden und in ihr als positive Möglichkeiten, als
latente Gerichtetheiten ihrer Energie, als organische, nur eines
Entwicklungsreizes bedürftige Anlagen enthalten sind.
Es sind weder bloß begriffliche »Möglichkeiten«, noch morphologisch
gleiche Abdrücke einer gebotenen Form, sondern irgendwie schon
Produktivitäten der Seele selbst, Antworten auf die Welt, die nur sie
geben kann, kein Echo, das mechanisch und ganz und gar erst dann auftritt,
wenn eine äußere Bewegung entstanden ist.
Von diesen unermesslich vielen Linien potentieller Lebensgestaltung
wird immer nur eine einzige verwirklicht; wir wandeln in uns selbst als
die einzige Wirklichkeit in einem Schattenreich unerlöster Möglichkeiten
unser selbst, die nur nicht zu Worte gekommen, aber keineswegs nichts
sind.
Unsere schmale Wirklichkeit wird vielleicht von dem Gefühle dieser
unabsehlichen Spannkräfte und potentiellen Richtungen durchwachsen und
mit der Ahnung einer intensiven Unendlichkeit ausgestattet, die sich in
die Zeitdimension als Unsterblichkeit projiziert.
Damit es aber zu einer singulär bestimmten Wirklichkeit aus unseren
unbegrenzten Möglichkeiten heraus käme, bedarf es ersichtlich der
Entwicklungsreize, die die umgebende Welt, gleichfalls als jeweils
singulär bestimmte, auf uns ausübt.
Und dieses Weltverhältnis enthält in sich eine Problematik, deren
Lösungsbedürfnis nur in die Hoffnung auf Unsterblichkeit scheint münden
zu können. Ich meine die Zufälligkeit, die zwischen unseren individuellen, in das
Leben mitgebrachten Eigenschaften und der historischen, vorgefundenen
Umwelt besteht.
In dieser allein kann jenes Sein zu einem bestimmten und zwar eben
durch sie modifizierten Leben werden. Da durch aber entsteht nicht nur das angedeutete Gefühl ungelöster
Kräfte, unerfüllter Forderungen, sondern eben auch das einer
grenzenlosen Zufälligkeit unseres ganzen empirischen Lebens.
Zwischen seinen beiden Faktoren: unserer individuell unverwechselbaren,
aber doch schrankenlose Möglichkeiten enthaltenden Angelegtheit - und der
Welt, in der und durch die geleitet dieses potentielle Ich ein reales wird
- besteht anscheinend keinerlei inhaltliche, von der Einheit eines Sinnes
getragene Beziehung, außer der ganz generellen Angepasstheit, die
überhaupt die seelische Existenz in einer Welt möglich macht.
Aber die innersten und eigensten Tendenzen, mit denen die
Persönlichkeit auf die Welt kommt, und die historisch gegebenen
Lebensbedingungen sind darum nicht weniger, wenn man nicht an eine
mystisch prästabilierte Harmonie glaubt, die Faktoren eines reinen
Hazardspieles, so sehr, dass die Angewiesenheit der persönlichen
Entwicklung auf die Welt es uns oft genug unsicher oder unsichtbar macht,
wozu wir denn eigentlich von uns aus angelegt sind.
Dies ist der grundsätzliche Zufall alles individuellen Lebens als
solchen, der uns in den krassen Fällen verkümmerter Talente,
deplacierter Energien, unentwirrbarer Schicksalsverknotungen deutlich zu
werden pflegt, aber als der ganz allgemeine, auch und gerade das
begünstigste Leben nicht weniger beherrschende Aspekt erst seine ganze
Grauenhaftigkeit zeigt.
Ich glaube, dass viele von den Quellen, aus denen sich die Hoffnung
einer überirdischen Weiterexistenz nährt: die Gefühle von
Heimatlosigkeit, von Verirrtsein, von Umgetriebenwerden, von einer tiefen
Hilflosigkeit - auf diesen gar nicht zu rationalisierenden Zufall
zurückgeht: zwischen unserem Sein, das gewissermaßen überhistorisch
ist, weil es in alle Geschichte und alle mögliche Entwicklung schon
mitgebracht wird - und dem historisch gegebenen Milieu, in das dieses Sein
wahllos hineingesetzt wird und zu dem es höchstens eine nachträgliche
und immer nur relative Anpassung gewinnen kann.
Dies ist die empirischere und sozusagen spezialistischere Form des oben
behandelten Motivs von dem Gewinn des reinen und sich selbst gehörenden
Ichs, das der Tod von all seinen Inhalten löst.
Die tiefe Sehnsucht, das Zufällige zu überwinden, der Zwang, mit dem
das Verhältnis der Seele zu ihrer Umwelt uns in eine Richtung führt, die
doch nicht von jener aus notwendig ist, sondern auch eine andere sein
könnte - diese Sehnsucht kann sich nicht reiner erfüllen als mit jener
mystischen Vorstellung von dem Ich, das alle einzelnen Inhalte überlebt
und damit die ganze Zweiheit der Daseinselemente abgetan aus der dem Leben
seine Zufälligkeit kommt.
Anmerkung über den Begriff des Schicksals
Es ist indes nicht zu verkennen, dass diese Zufälligkeit des Lebens
samt ihrer glaubensmäßigen Ausgleichung nicht die einzig mögliche
Einstellung gegenüber dem Sinnproblem des Lebens bedeutet.
Eine ganz andere macht sich geltend, wo das Leben unter den
Schicksalsbegriff gestellt erscheint.
Dieser erhebt sich auf einer doppelten Voraussetzung. Zunächst bedarf er eines Subjekts, welches von sich aus und insofern
unabhängig von jedem »Ereignis«, einen Sinn, eine innere Tendenz, eine
Forderung enthält oder darstellt.
Neben dieser Eigenrichtung des Subjekts, ohne genetische Verbindung mit
ihr, entstehen und verlaufen bestimmte Ereignisse, die sich zu ihr dennoch
fördernd oder hemmend verhalten, ihren Gang unterbrechen oder Entferntes
verbinden, einzelne Punkte in ihr akzentuieren oder über ihre Ganzheit
entscheiden.
Gewiss bleiben sie insofern »zufällig«, als ihre Verursachungen,
ihre eigenen Geschehensreihen schlechthin nichts mit der Eigenbedeutung
des Subjekts, das sie treffen und bestimmen, zu tun haben. Allein woraufhin sie jetzt angesehen werden, ist nicht dies, sondern
vielmehr: dass sie eben mit jenem subjektiven Leben zusammenstoßen und
damit innerhalb seiner einen Sinn bekommen.
Dieser Sinn braucht nicht etwa ein »vernünftiger«, von irgendeiner
Idee her erfassbarer oder gar positiv teleologischer zu sein, er kann
empörend, zerstörerisch, unfasslich sein.
Denn selbst so haben die Ereignisse nun eine bestimmte Beziehung, eine
Eingefügtheit in den von einer inneren Direktive beseelten Lauf des
Lebens, so höchst antiteleologisch und diese Direktive ablenkend auch die
Beziehung sei.
Damit entsteht das Spezifische des »Schicksals«: dass eine rein
kausal abrollende Reihe des objektiven Geschehens sich in die subjektive
Reihe eines im übrigen von innen her bestimmten Lebens verflicht, und,
indem sie ihrerseits nun Richtung und Verhängnis dieses Lebens
begünstigt oder vergewaltigt, von ihm aus gesehen einen Sinn bekommt,
eine Bezüglichkeit auf das Subjekt - als wäre das mehr oder weniger
äußerlich und nach eigener Kausalität sich Ereignende doch irgendwie
auf die Beziehung zu unserem Leben angelegt.
Wo eines dieser Elemente ausbleibt, sprechen wir nicht vom Schicksal,
also weder dem Tier noch dem Gott gegenüber. Dem Tier fehlt der Lebenssinn, die eigene ideelle und individuell
besonderte Intention, der ein von außen kommendes Geschehen sich
bestimmend und nun doch wieder von jenem Leben bestimmt, fördernd oder
hemmend einfügen könnte.
Umgekehrt, für eine göttliche Existenz bestehen keine ihr
ursprünglich fremden, an sich notwendigen Ereignisse; sondern wir müssten
uns die Ereignisse von vornherein durch das göttliche Wesen umfasst und nach seinem Willen verlaufend denken, ohne
dass erst eine
Hemmung oder Förderung, die jenes von ihnen erfährt, ihre Zufälligkeit
in einen Sinn zu verwandeln brauchte.
Das menschliche Leben aber steht unter dem Doppelaspekt: wir sind
einerseits den kosmischen Bewegtheiten preisgegeben und eingeordnet,
fühlen und führen aber andererseits unsere individuelle Existenz aus
einem eigenen Zentrum heraus, als Selbstverantwortlichkeit und irgendwie
in sich geschlossene Form.
Indem wir nun etwas als Schicksal betrachten, heben wir die reine
Zufälligkeit zwischen beiden auf. Die Aktivität und die Passivität des Lebens in seinem tangentialen
Verlauf zum Weltlauf ist im Schicksalsbegriff zu einer Tatsache geworden.
Aber gerade aus dieser Struktur des Begriffes wird klar, dass eben
nicht alles, was uns überhaupt begegnet, Schicksal ist. Denn unzählige Ereignisse streifen zwar die äußeren Schichten
unseres tatsächlichen Lebens, treffen aber nicht auf jene individuell
sinnvolle Gerichtetheit seiner, die als unser eigentliches Ich gilt.
Man wird von einer Schwelle des Schicksals sprechen können, einem
Bedeutungsquantum der Ereignisse, von dem an sie sozusagen die Idee
unseres Lebens fördern oder hemmen.
Einen Bekannten auf der Straße zu treffen, bleibt im Gebiet des
Zufalls; auch dann noch, wenn man jenem eben schreiben wollte und der
Zufall dadurch »merkwürdig« wird, d. h. ein Cachet des Sinnvollen
bekommt.
Allein dies verläuft wieder in das Zufällige, ohne sich mit einem
Definitivum des Lebens zu verbinden. Wird diese Begegnung aber durch weitere angeknüpfte Folgen zum
Ausgangspunkt tief eingreifender Lebenswendungen, so wird der
Sprachgebrauch sie als eine Fügung des Schicksals bezeichnen und damit
die ganze neue Kategorie andeuten: dass ein nur peripherisches Geschehen
jetzt, mit positiver oder negativer Teleologie, der Einheit und dem Sinne
eines individuellen Lebens integrierend zugehört.
Wo wir von einem rein inneren Schicksal sprechen, hat das Ich selbst
sich entsprechend in ein Subjekt und ein Objekt gespalten.
Wie wir uns Objekt des Erkennens sind, so des Erlebens.
Sobald unser eigenes Fühlen, Denken, Wollen für uns unter die
Kategorie des »Ereignisses« rückt, wird das weiterströmende
subjektive, zentrale Leben davon angerührt wie von Inhalten äußerer
Welt; wir nennen diese, im geschlossenen Umfang unserer
Gesamtpersönlichkeit vollzogene Berührung Schicksal, sobald sie nicht
mehr als ein bloßes Geschehen gilt, das zu der innerlichen Bedeutung
jenes zentralen Ichs bloß zufällig ist, sondern sobald dieses kausal
Auftauchende, Wirkliche unserer Existenz eben diesem Sinn ihrer sich
einfügt und von ihm aus eine neue Bedeutung - steigernd oder ablenkend,
modifizierend oder zerstörend - gewinnt.
Auch uns selbst gegenüber sind wir in einer Passivität, die, indem
sie der zentralen Aktivität unseres Lebens assimiliert wird und sie
bestimmt, gleichsam durch Rückstrahlung von ihr als etwas Sinnvolles,
für unser Leben teleologisch Bestimmtes erscheint.
Aus alledem leuchtet die Konsequenz hervor: die Gerichtetheit der
inneren Lebensströmung entscheidet darüber, was uns Schicksal sein soll,
was nicht; sie trifft gewissermaßen eine Selektion unter den uns
anrührenden Ereignissen, und nur welches von diesen sich ihren
Eigenschwingungen einzufügen vermag (und selbst zu ihrer Abbiegung und
Destruktion gehört solche Einfügung), spielt für uns die Rolle des
Schicksals.
Gerade wie uns nur zu Erkenntnis werden kann, was unseren
ursprünglichen oder erworbenen geistigen Normen entspricht, so dass es
sich zur Formung durch sie hergibt und unsere Erkenntnisse deshalb unserem
Geist adäquat sein müssen - so kann uns nur zum Schicksal werden, was
von unserer eigensten Lebensbestimmung aufgenommen und zum Schicksal
verarbeitet werden kann.
Den bloßen Ereignissen, die sich diesem sie überkommenden Sinn
entziehen, entsprechen dann etwa jene bloß sinnlichen Wahrnehmungen, die
uns zwar irgendeinen Inhalt geben, die wir aber nicht verstehen, nicht von
uns aus zu Erkenntnissen formen können.
Das alte Rätsel: wieso denn die Welt so eingerichtet sei, dass sie von
der zufälligen Struktur unseres Geistes begriffen werden könnte, löste
der Kantische Begriff des Erkennens; die begriffene Welt ist ein Produkt
des erkennenden Geistes, indem wir von ihr eben nur erkennen, was der
Geist sich zur Formung durch sich selbst aneigenen kann.
So wird die »scheinbare Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen«,
wonach im großen und ganzen das Schicksal des Menschen und seine
individuelle Wesensart ganz merkwürdig zueinander passen, durch diesen
Schicksalsbegriff verständlich.
Es bedarf keiner auf das »Ding-an-sich« oder auf mysteriöse
Zusammenhänge und Prästabiliertheiten zurückgreifenden Interpretation. Wie die Welt zwar bestimmt, was unser Erkenntnisinhalt sein soll, aber
nur weil das Erkennen zuvor bestimmt hat, was uns Welt sein kann - so
bestimmt zwar das Schicksal das Leben des Individuums, aber nur weil
dieses letztere durch eine gewisse Affinität diejenigen Ereignisse
ausgewählt hat, denen es den Sinn, durch den sie sein »Schicksal«
werden, kann zuteil werden lassen.
Wenn gewisse Ereignisse schlechthin als Schicksal, gleichviel welches
Individuums, gelten, so ist es, weil wir gewisse, dafür entscheidende
Lebensintentionen bei allen Menschen voraussetzen.
Indes muss man doch wohl sagen: dass jemandes Vater ermordet wird und
seine Mutter den Mörder heiratet, würde wohl für einen jeden ein
überwältigendes Geschehnis sein; allein dass es Hamlets Schicksal ist,
wird durch Hamlets Wesen und nicht dadurch, dass dies Ereignis ihn als
irgendeinen jemand getroffen hat, entschieden.
Die einzelnen »Schicksale« werden wesentlich von außen bestimmt, d.
h. der objektive Faktor erscheint in ihnen als der überwiegende, ihre
Totalität aber, »das Schicksal« jedes Menschen, von seinem Wesen.
Wenn man nur weit genug zurücktritt, so sieht man eine Einheit darin,
die nicht aus den einzelnen Veranlassungen kommt, deren Zentrum vielmehr
in der apriorischen Formungskraft des individuellen Lebens liegt; wie -
mit einer etwas skurrilen Analogie - unpünktliche Menschen in jedem
einzelnen Falle immer einen zureichenden Grund ihres Zuspätkommens haben,
im ganzen aber durch sich, nicht durch die Umstände, unpünktlich sind.
Es ist die eigentümliche Enge Kants, dass er zwar für das Erkennen
die Gestaltung des gegebenen Weltstoffes durch die dem Geist immanenten
Formen, die vom Geiste bestimmte »allgemeine Gesetzgebung« der Natur, in
weitem Ausmaß verkündete, für das Praktische aber apriorische
Bestimmtheiten nur als Forderungen, als ideale Werte gelten ließ.
Es entging ihm, dass auch das schlechthin nicht-theoretische,
praktisch-reale Leben nur dadurch das menschliche Leben ist, wie wir es
kennen, dass der uns anrührende Weltstoff von sozusagen dynamischen
Kategorien geformt wird.
So wenig die Welt, die wir erkennen, in uns hineingeschüttet wird, wie
Kartoffeln in einen Sack, oder ein mechanisches Spiegelbild eines
Außer-Uns ist, so wenig die Welt, die wir erleben - in beiden Fällen ist
sie unsere Tat, also bestimmt durch die Art der spezifischen Energien, mit
denen wir überhaupt »tun«.
Das Leben, als ein seelisches Weltverhältnis verstanden, hat ganz
ebenso sein Apriori wie das Erkennen, auch wenn es nicht mit derselben
begrifflichen Schärfe zu formulieren wäre, wie das theoretische oder
dasjenige, das von der Idee, vom Sollen her an das Leben erst herantritt.
Das »Schicksal« ist eine seiner Kategorien. Der so gefasste Schicksalsbegriff ist freilich nicht mehr auf die
Unsterblichkeitsforderung angelegt, wie es unser Weltverhältnis unter dem
Aspekt der reinen Zufälligkeit war.
Ausgeschaltet aber ist mit ihm keineswegs der dunkle Akzent, der von
dort aus über das Leben fiel und der gleichfalls in der Analogie der
Erlebensgestaltung mit der Gestaltung des Erkennens hervortritt.
So entscheidend die eigene synthetische Energie des Ich für die
Bildung der Erkenntniswelt aus dem Sinnesmaterial sein mag - die bloße
Tatsache, dass dieses gegeben, dass sein Inhalt nicht aus dem Geist allein
konstruierbar ist, lässt irgend etwas Dunkles, Unauflösbares in dieser
Welt bestehen. Und eben ein solches verbleibt dem Schicksal.
Gewiss wird dem äußeren, seinem Ursprung nach gegen die personale
Lebensteleologie zufälligen Ereignis dadurch ein Sinn entlockt, dass es
in jene eingestellt und zum Schicksal gestaltet wird.
Immerhin, es bringt sein Gegebensein, seinen aus anderer Ordnung
stammenden Inhalt mit, es bleibt ein heterogener Kern oder Rest, mit dem
es eben nicht bloß unser Schicksal ist, an den wir freilich
zweckmäßigerweise meistens nicht hindenken, außer wenn etwa die
subjektive Unerwunschtheit unserer Schicksale uns an dies Preisgegebensein
erinnert.
Dass in allem, was wir unser Schicksal nennen, dem Günstigen wie dem
Zerstörenden, ein Etwas nicht nur von unserem Verstande unbegriffen,
sondern auch von unserer Lebensintention zwar aufgenommen, aber doch nicht
bis ins Letzte assimiliert ist - das entspricht, nach der ganzen Struktur
des Schicksals, dem unheimlichen Gefühl, dass das ganz Notwendige unseres
Lebens doch noch irgendwie ein Zufälliges sei.
Das volle Gegenteil und die Überwindung davon bietet nur die Form der
Kunst: in der Tragödie. Denn diese lässt uns fühlen, dass das Zufällige gerade bis in seinen
tiefsten Grund hinein ein Notwendiges ist.
Gewiss geht der tragische Held an der Reibung zwischen irgendwelchen
ihm äußeren Gegebenheiten und seiner eigenen Lebensintention zugrunde;
allein dass dies geschieht, ist eben in dieser letzteren selbst ganz
fundamental vorgezeichnet - sonst wäre sein Untergang nichts Tragisches,
sondern nur etwas Trauriges.
In der Aufhebung jener Unheimlichkeit des Zufälligen im Notwendigen -
und zwar nicht nach einer vorgeblichen »sittlichen Weltordnung«
Notwendigen, sondern nach dem Lebens-Apriori des Subjektes - liegt das
»Versöhnende« der Tragödie; sie ist insofern immer »Schicksals«tragödie.
Denn die Bedeutung des Schicksalsbegriffes: dass das bloß
Ereignishafte der Objektivität sich in das Sinnhafte einer individuellen
Lebensgerichtetheit wandele oder als solches enthülle, - stellt sie in
einer Reinheit dar, zu der es unser empirisches Schicksal nicht bringt,
weil sein Ereigniselement hier auf sein selbständig kausales, sinnfremdes
Wesen nie ganz verzichtet.
______________________________________
Der Problemkreis von Tod und Unsterblichkeit hat überhaupt zu der
Tatsache der »Seele« nicht ein überall gleiches Verhältnis, sondern
die Individualität der Seele differenziert dieses Verhältnis. Goethe
sagte einmal, er sei zwar von unserer Unsterblichkeit überzeugt, aber wir
seien nicht alle auf gleiche Weise unsterblich, sondern die Größe
unserer Weiterexistenz hänge davon ab, wie groß man sei.
Dieser nächstliegende Gedanke:
dass die Seele sozusagen im Maße ihrer Kraft den Tod überwindet oder
dass ihre Vernichtung um so undenkbarer sei, je bedeutender und
unersetzlicher sie sei - erhebt sich über einer eigentlich
entgegengesetzten Verbindung der Begriffe.3)
Wenn eine Amöbe oder selbst ein Frosch stirbt, so würde das
Wesentliche, Unersetzliche, Singuläre des Tieres nur dann sterben, wenn
es etwa das Letzte seines Stammes wäre. Anderenfalls lebt eine Nachkommenschaft von ihm, die ihm
ununterscheidbar ähnlich ist; mindestens ist uns hier eine
Individualisiertheit höheren Grades nicht feststellbar.
Nicht nur in dem Nachkommen, sondern, so kann man sagen, als dieser
Nachkomme lebt das Tier weiter und ist also insoweit unsterblich. Wo die Individuen nicht unterschieden sind, verschlingt die
Unsterblichkeit der Gattung die Sterblichkeit des Individuums.
Die Frage der Sterblichkeit wird also überhaupt erst dem eigentlichen
Individuum, im Sinne des Unwiederholbaren, Unersetzlichen, gegenüber
akut. Setzt man diese Begriffe und den der höheren Existenz überhaupt mit
der gesteigerten Zusammengesetztheit, der Vielfachheit und gegenseitigen
Unterschiedlichkeit der Wesenselemente identisch, so scheinen schon
biologische Beobachtungen auf die Genesis des Todes aus eben dieser
Differenziertheit hinzuweisen.
Angenommen, die Zelle ginge an ihren eigenen, nicht hinreichend
herausschaffbaren Stoffwechselprodukten zugrunde, so haben die einzelligen
Wesen allerhand Mittel, dem zu entgehen.
Bei den vielzelligen aber ist die einzelne Zelle von
Körperflüssigkeit umgeben, die ihre Stoffwechselprodukte nicht
unbegrenzt aufnehmen und sie also vor der Überlastung durch diese nicht
schützen kann.
Folglich lässt es erst das Zusammenleben der Zellen in einem
Körperverband zum Tode kommen, der so von der Eigenentwicklung des Wesens
bedingt ist. Das heißt also: erst mit derjenigen Zusammenfassung von Zellen zu
einer Einheit, die eine individuelle Gestalt ermöglicht (je mehr
Elemente, desto größer die Chance der morphologischen
Individualisierung!), ist auch der Tod gegeben.
Entsprechendes kann man daraus schließen, dass die Regeneration der
Zellen in dem Maße zurückgeht, in dem ihre Differenzierung vorschreitet.
Die Arbeitsteilung der Zellen, so sehr sie jede höhere Entwicklung
bedingt, führt schließlich zu einer so radikalen Spezialisierung ihrer
Funktionen, dass sie darüber physiologisch verkümmern und atrophisch
werden.
Und bei den Ganglienzellen z. B. ist die Differenzierung dadurch
bedingt, dass die Zellteilung aufgehört hat. Wo dies aber vorliegt, ist das Leben gehemmt, der Tod vorbereitet.
Man kann dies mit dem Spezialismus in hochausgebildeten Gesellschaften
vergleichen, der zwar auch das Individuum zu einer unerhörten
Differenziertheit, einer relativen Einzigkeit bringt, aber ihm damit die
Kraftquelle abgräbt, die gerade in der gleichmäßigen, noch nicht
vereinseitigten Ausbildung der Persönlichkeit fließt, in dem Vorrat an
allgemeiner, noch nicht in Spezialisierungen aufgebrauchter Vitalität.
Führt dies auch nicht zum Tode, so doch zur Schwächung der
Gesamtpersönlichkeit, zu ihrem vielfachen Dürftig- und Hilfloswerden. Ja, jene exklusiv ausgebildete Sonderfähigkeit des Menschen
verkümmert oft oder erreicht nicht einmal ihre eigene höchste
Möglichkeit, wenn sie sozusagen den ganzen Menschen in sich eingeschluckt
hat und von keiner fundierenden, aus dem Zentrum fließenden, an sich noch
undifferenzierten Energie gespeist wird.
Dieselbe Individualisierung, die nach unseren allgemeinen Wertbegriffen
Fortschritt und Höhe der Entwicklung bedeutet, ist der Träger der
Vergänglichkeit.
Im Hinblick auf die Unsterblichkeit der organisch tiefststehenden Wesen
muss man sagen, sterben zu können sei das Siegel der höheren Existenz
-was sich an der Fruchtbarkeit der niederen, sich in identischen
Exemplaren fortsetzenden Tiere, der abnehmenden Nachkommenschaft der
höchsten menschlichen Exemplare offenbart.
Wenn Goethe also die Unsterblichkeit gewissermaßen als ein Vorrecht
der seelischen Aristokratie ansieht, so bedeutet dies, dass der Mensch die
Unsterblichkeit in dem Maße nötig hat, und sie aus besonderen
Forderungen heraus begründen muss, in dem er dieser Aristokratie
zugehört, in dem er unvergleichlich und qualitativ einzig ist.
Nur diese »einzigen« Menschen sterben ganz und gar, nur ihr Tod
ändert die Beschaffenheit des Weltbildes, was der Tod der Alltagsmenschen
als solcher nicht bewirkt, denn ihre an einer Stelle ausgelöschte
Qualität besteht an unzähligen anderen weiter.
Ganz allgemein gefasst, bedeutet
dies: das Individuum ist sterblich, aber die Gattung nicht;
weiterblickend: die einzelne Gattung ist sterblich, aber das Leben
nicht; das Leben ist sterblich, aber die Materie nicht; schließlich mag
die Materie als ein Sonderfall des Seins vergehen, aber das Sein nicht.
4)
Gegenüber dem individuellen Wesen haben wir im Maße seiner
Individualität das - freilich nur ganz wie aus der Ferne und mit ziemlich
hilflosen Begriffen ausdrückbare - Gefühl, dass es aus sich selbst
heraus lebt, d. h. dass der aufgenommene Weltstoff aller Art innerhalb
dieser Existenz durch eigenartige Kräfte bis zu relativ Einzigartigem
geformt wird; so dass das Ergebnis dieser Formung, das als praktisches
Verhalten und theoretisches Weltvorstellen, Schöpfertum und
Gefühlsfärbung das schließliche Wesensbild ausmacht, von jenem
einströmenden, auch allen Anderen dargebotenen Weltstoff weiter absteht,
als eben bei dem Durchschnitt dieser Anderen.
Von eben diesen Durchschnittswesen hat man den Eindruck (dies alles
selbstverständlich cum grano salis und durchaus relativ gemeint), dass die Welt, die sie anrührt, gewissermaßen ungeändert durch sie
hindurchgeht; sie leben, d. h. sie gestalten das Gesamtphänomen ihres
Lebens aus den Darbietungen dieses Stoffes - natürlich unter dem
wirkenden Apriori der Gattung.
Diesem genetischen Lebensphänomen gegenüber, das gleichsam die Welt
mit ihren Einflüssen und Materialien liefert und das somit von diesen her
verständlich ist, erscheint in jenen Wesen das persönliche Apriori, die
in ihrem Inneren erzeugte Gestaltungskraft ihres Seins und Tuns als so
überwiegend, das Lebensphänomen so zentral bestimmend, dass dieses eben
seiner Art nach sich so ausdrücken lässt: sie leben aus sich heraus, sie
sind, gleichnisweise gesprochen, causa sui, nicht effectus mundi.
Das unindividuelle Wesen lebt ein Leben, das nicht völlig seines ist,
das nicht recht die Form der Seinheit hat, denn zu dem Possessivum gehört
ein Besitzer, eine Person.
Die Welt des Durchschnittsmenschen, im Sinne des Vorstellens wie des
praktischen Gestaltens, ist wie ein Inhaberpapier, die des individuellen
wie ein auf den Namen lautendes.
Deshalb, sieht man die Welt nicht auf den numerischen Umfang der in ihr
verwirklichten Begriffe, sondern auf deren qualitative Besonderheit an, so
geht ihr mit dem Tod des individuellen Menschen mehr verloren als mit dem
des unindividuellen.
Es stirbt ein erheblicheres Quantum Welt mit jenem als mit diesem,
dessen Wesen und inneres Haben von vornherein als Erbschaft übernommen
und als Erbschaft hinterlassen wird.
Wer sein Leben in der Form und mit den Inhalten des Gattungstypus
verbringt, ist eigentlich unsterblich, wenigstens soweit wie die Gattung
es ist.
Nur das Individuum stirbt vollständig; mit dem absoluten Individuum
wäre etwas absolut zu Ende - womit nun der reinste und radikalste
Ausdruck dessen gewonnen ist, was sich auf der physiologischen Stufe
andeutet: dass die Komplizierung und Differenzierung der Wesen den
Entwicklungsweg anzeigt, auf dem sie, von der prinzipiellen
Unsterblichkeit der Einzelligen her, zum Tode gelangen; dass, wie ein
Biologe sich ausdrückt, der Tod der Preis ist, den wir für die Höhe
differenzieller Entwicklung zahlen müssen.
Man mag dies von letzten Kategorien her noch einmal so darstellen.
Wir denken uns die materielle Substanz als der Zeit nach
unvergänglich, und jedes einzelne Stück ist, rein als Materie und unter
Absehen von aller Geformtheit überhaupt betrachtet, schlechthin einzig;
es wäre logisch sinnlos, dass »dasselbe« Stück Materie zweimal da sein
solle.
Die Unvergänglichkeit der Form, gleichfalls rein als solche und
jenseits aller Materie angesehen, ist eine ganz andere; sie ist der
Zeitdauer überhaupt entrückt, wie ein Begriff oder eine Wahrheit, und
wie diese ist sie auch einzig.
So unzählige gleichgeformte Dinge es geben mag, die Mehrmaligkeit der
reinen Form wäre etwas ebenso Widersinniges, wie wenn ein Begriff (der
mehrfach gedacht werden und mehrfach realisiert werden kann) als Begriff
mehrfach existieren sollte.
Dieselbe unzerstörbare Materie kann durch unendlich viele Formen
wandern, dieselbe unveränderliche Form sich an unendlich vielen
Materienstücken realisieren.
Indem so Stoff und Form, jedes an sich unzerstörbar, gegeneinander
verschiebbar sind, bilden sie die zerstörbaren Einzeldinge; denn
Zerstörung heißt doch, dass eine Verbundenheit von Stoff und Form sich
löst.
Je fester und solidarischer nun diese Verbundenheit war, desto
radikaler, desto mehr Zerstörung ist ihre Wirkung.
Wo, wie bei der Fortpflanzung der niederen Tiere, die Form sozusagen
erschütterungslos auf ein anderes Stoffquantum übergleitet, wo die Form
also von vornherein gar nicht streng und eng an dieses bestimmte Stück
der Materie gebunden scheint, sprechen wir, wie es sich vorhin zeigte,
eigentlich nicht von Zerstörung.
Umgekehrt, wenn die Form an diese bestimmte Materie so gebunden ist, dass
sie an einer anderen nicht bestehen zu können scheint, kann
Zerstörung im vollsten Maße eintreten, da die Form, wenn sie diese eine
Verwirklichung verlassen hat, in diesem Falle ganz und gar vernichtet ist.
Es ist deshalb nicht nur ein Wertungsreflex, wenn wir einer
zerschlagenen Statue gegenüber ein intensiveres Gefühl der
Vernichtetheit haben als gegenüber einem zerschlagenen Blumentopf: die
ideell überlebende Form kann sich im letzteren Falle ohne weiteres an
einem anderen Stück Materie wieder realisieren, im ersteren aber
präsumtiverweise nicht, wenn wir von mechanischer Reproduktion absehen,
die zunächst doch auch die Nicht-Zerschlagenheit voraussetzt.
Die Form, auch wenn sie sich nur einmal verwirklicht, hat ihre zeitlose
Gültigkeit, sie kann nicht sterben, weil sie nicht lebt, sondern nur
ideell besteht.
Individuell aber nennen wir eine Gestaltung, wenn sie sich -
metaphorisch ausgedrückt - ein einziges Stück Materie auserwählt hat,
um mit ihm eine Wirklichkeit zu bilden, nach deren Zerstörung sie sich zu
keiner Realisierung mehr herbeilässt.
Darum empfinden wir die Vernichtung des Individuellen als einen
Verlust, platonisch zu reden, im Reiche der Idee, obgleich natürlich
diese, d. h. die Form, nicht verloren gehen kann, wohl aber ihre einzige
Möglichkeit, sich zu realisieren; und darum ist der Tod für ein Wesen
sozusagen um so gründlicher, Je individueller es ist, indem dies die
eigentliche Definition der Individualität ist.
Die Übertragung auf das Seelische ist ohne weiteres deutlich.
Hier entspricht dem Stoffe in seiner zeitlichen Dauerexistenz der
Komplex typischer Vorgänge oder Inhalte des Psychischen, das den
vorstellenden Geistern als gemeinsames Material für den geistigen Lebensprozess
und den Aufbau der Vorstellungswelten dient.
Dieses Material nun wird vermittels der seelischen Form, die wir
Persönlichkeit nennen, zu sehr mannigfaltigen Gestaltungen gebracht, und
zwar in mehr oder weniger enger Verbundenheit zwischen Inhalt und Form.
Manche Gestaltungen lassen die Form, in die sie den Stoff von
Erkenntnis und Schicksal, von Gefühl und Wille, von Phantasie und
Erlebnis bringen, ohne weiteres an dem gleichen, in irgendwelchen anderen
Persönlichkeiten bestehenden Material sich wiederholen.
Hier liegt eine relativ geringe »Individualität« vor, d. h. die
Zerstörung des Gesamtbildes trennt nur Elemente, die überhaupt nicht
streng verkettet waren.
An anderen aber zerschneidet jene Zerstörung eine Synthese, die sich
so nie wieder zusammenfindet, die besondere Persönlichkeitsform, jetzt
nicht mehr an dem Stoff des Lebens haftend, lässt sich nie mehr auf einen
solchen nieder, das Gebilde ist wirklich gestorben, d. h. es war wirklich
Individualität.
Auch hier ist die Form im zeitlosen Sinne unvergänglich, der Stoff im
zeitlichen Sinne (relativ) unvergänglich.
Wo sie aneinanderstoßen, entsteht die reale Individualität als das
Vergängliche, das nun um so weniger vergänglich ist, je leichter und
sozusagen gleitender die Verbindung ist, je weniger sie also im genauen
Sinne Individualität ist.
Wo sie dies im absoluten Maße ist, wo die ewige Form sich nur an
diesem Stück Lebensmaterie verwirklicht, verzeitlicht, verstofflicht hat,
da bedeutet der Untergang des Gesamtgebildes den unwiderruflichen Abschied
der Form von der Wirklichkeit.
Nur die Individualität, d. h. der Punkt, an dem die beiden
Unvergänglichkeiten sich so fest ineinanderschlingen, dass eine gleichsam
die Ewigkeit der anderen hemmt - nur die Individualität kann wirklich
sterben.
Indem nun aber Individualisierung, Unersetzlichkeit, Einzigkeit des
Bildes, als das wir leben, doch als ein vitales Maximum gewertet wird,
entsteht durch die eben damit gegebene Unbedingtheit der Todesindikation
in solchen Wesen eine unerhörte Spannung zwischen Leben und Tod.
Auf ihr ruht die vorhin schon genannte Deutung der Goetheschen
Unsterblichkeitsidee.
Indem das gesteigertste, zugespitzteste Leben sich am meisten der
Vernichtung ausgesetzt fühlt, mag es sich (alle charakterologischen
Verschiedenheiten vorbehalten) am leidenschaftlichsten gegen sie empören
und jene paradoxe Spannung durch geforderte Unsterblichkeit überwölben.
Wir verstehen deshalb aus der stärksten Todesbedrohung gerade der
stärksten Individualität, dass Goethe den äußersten Grad der
Unsterblichkeit der äußersten Bedeutung der Persönlichkeit vorbehalten
wollte und sie mit abnehmender Bedeutung immer weniger gerechtfertigt
fand.
Auch das Christentum hat jene Spannung wirksam gemacht, unter freilich
sehr anderen Voraussetzungen.
Es ist doch wohl unverkennlich, eine wie starke
Individualisierungstendenz sich mit dem Christentum Bahn bricht, neben all
seinen Nivellierungstendenzen, ja zum Teil gerade auf der Basis dieser.
Individualisierung hat doch keineswegs nur den Sinn einer qualitativen
Unterschiedenheit zwischen Mensch und Mensch, obgleich auch diese durch
das »Wuchern mit dem eigenen Pfund« und manches andere keineswegs ganz
zu kurz kam.
Sie bedeutet auch, und vielleicht vor allem, die Verantwortlichkeit des
Menschen für sich selbst, die er auf nichts abschieben und die ihm
niemand abnehmen kann, und die eben nur bei dem straffen
Zusammengehaltensein der Lebensperipherie durch ein einheitliches Zentrum,
durch die eigentliche »Person« stattfinden kann.
In der absoluten Selbstverantwortlichkeit der Seele, wie sie nackt vor
ihrem Gott steht, und zwar zu jeder Stunde des Lebens, sehe ich den
tiefsten metaethischen Kern des Christentums.
Weggefallen ist alle Gesetzesgerechtigkeit, alle Stammes- oder sonstige
soziale Solidarität, alle Verwischung des letzten Persönlichkeitspunktes
durch die Meinungen der Welt und den eigenen vergangenen Lebensverlauf: es
gibt nur die Seele und Gott.
Diese, durch schlechthin nichts abgeschwächte
Selbstverantwortlichkeit, wie sie in solcher Verinnerlichung und
gleichzeitiger Personalität sonst wohl nirgends erreicht worden ist, ist
indes offenbar für die Mehrzahl der Seelen eine nicht tragbare Last.
Sie wurde zunächst durch den Stellvertretungs- und Sühnetod Christi
auf das Maß der Erträglichkeit herabgesetzt, bis sie dann von den
Kirchen durch Einschiebung von vertraulicheren Zwischeninstanzen,
allerhand Gnadenmittel, Angabe bestimmter Heilswege den Schultern des
Durchschnittschristen anbequemt wurde.
Aber das Grundmotiv: dass der Mensch auf sich ganz allein gestellt, nur
seinem Gotte verantwortlich sei - konnte in seiner unermesslich individualisierenden, personalisierenden Wirkung nicht mehr vernichtet
werden, es hat eine ganz neue Gestaltung und Betontheit des individuellen
Ich erzeugt.
Damit aber wäre der Radikalismus des Todes, seine unmittelbare Nähe
zu den Wurzeln des Existenzgefühles irgendwie instinktiv so gewachsen,
wie es eben dem Entwicklungsmaximum der Individualität entspricht, und
dem verdankt vielleicht die mit dem Christentum nun dennoch mit einer ganz
neuen Selbstverständlichkeit und Sicherheit gegebene Unsterblichkeit ihre
ungeheure Wucht.
Das auf sich ganz allein gestellte Individuum balanciert gewissermaßen
auf einer Nadelspitze; in der tiefen, mit seiner Lebenssituation
solidarischen Bedrohtheit kann es den Halt an dem Gedanken, dass ihm der
Tod schließlich nichts anhaben kann, nicht entbehren.
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Die Unsterblichkeitsidee führt als ihre Bedingung oder ihre Folge ein
Problem mit sich, dessen enge und innere Verknüpftheit mit ihr indes in
den Spekulationen oder Dogmenbildungen über sie seit der christlichen
Ära keineswegs ihr volles Gewicht gefunden hat.
Das Problem geht aus der - meiner Meinung nach - ungeheuerlichen
Paradoxie hervor, dass eine Seele, die erst in einem bestimmten Augenblick
existent geworden ist, nun gleich ins Unendliche fortexistieren soll.
Dies erscheint mir als eine metabasiz eiz allo genoz, ein
unberechtigter Anspruch und Übergriff eines nur historischen Ereignisses
in das Zeitlose.
Eine Zufälligkeit in der Entstehung des einzelnen Menschenlebens ist
gar nicht wegzurationalisieren - wie es die Astrologie freilich versuchte,
indem ihre Horoskope Tag und Stunde der Geburt in die gesamtkosmischen
Zusammenhänge verflochten.
Dass an diesen bloß historischen, empirischen, man könnte eigentlich
sagen sinnlosen Zufall sich ohne weiteres die ewige Konsequenz knüpfen
soll, dass aus einer datierbar endlichen Menschenerzeugung, bloß weil sie
tatsächlich ist, das schlechthin überempirische, von aller Endlichkeit
gelöste Reich der unsterblichen Seelen ressortieren soll - das hat etwas
Inkommensurables, und der Sinnforderung, in der eine so starke Quelle des
Unsterblichkeitsglaubens floß, irgendwie Widersprechendes.
Logisch wie metaphysisch hebt sich dieser Widerspruch, sobald man als
das Korrelat der Unvergänglichkeit der Seele ihre Unentstandenheit
anerkennt.
Es ist indes zu erwägen, dass jene Inadäquatheit zwischen endlicher
Entstehung und unendlicher Weiterexistenz auch an einer Erscheinung der
objektiven Geisteswelt auftritt und der unleugbaren Tatsächlichkeit
dieser Erscheinung keinerlei Eintrag tut.
Was wir »unsterbliche« Leistungen des menschlichen Geistes nennen,
alle die in irgendeiner Form (und sei es nur die der mündlichen
Überlieferung) aufbewahrten Ideen und Entdeckungen, Werke und
Offenbarungen - sind in jeweils einem Geiste entstanden, den es zuvor eben
nicht gab, und innerhalb dieses wieder in einem historischen Augenblick
aufgeleuchtet, vor dem sie vielleicht vorbereitet, jedenfalls aber nicht
vorhanden waren.
Unter der Unsterblichkeit solcher Werte meine ich hier nicht nur ihre
Fortdauer von Geschlecht zu Geschlecht, die jedenfalls etwas Historisches
und zeitlich Begrenztes ist.
Sondern - so müssen wir es ansehen - die Welt ist durch dieses zu
irgendeiner Zeit in sie eintretende Element nun um dieses für alle Zeiten
bereichert, sie ist als ganze, von einem Bewusstsein gewusst oder nicht,
von diesem Augenblick an um so viel wertvoller als vorher; mögen ihre
gesamten Existenzformen morgen zusammenbrechen - dass dies, nun Wirkliche,
geschehen, gedacht, geschaffen ist, ist nicht ungeschehen zu machen,
bleibt ein überzeitlich unwiderrufliches Wertplus des Daseinsganzen.
Etwas metaphysisch-phantastischer ausgedrückt: durch jedes wahrhaft
originale Kunstwerk, durch jeden wahrhaft schöpferischen religiösen,
erkenntnishaften, dem Sein irgendeinen Sinn gebenden Gedanken ist das
Reich der Idee um einen neuen Inhalt bereichert - wie, als Beispiel und
Symbol, eine künstlerische Form durch alle Zeiten hindurch reproduziert
werden kann, ein ewiges Modell, dessen Geist und ideelle Bedeutung
weiterbesteht, auch wenn das Original seiner greifbaren Materie nach
längst zugrunde gegangen ist.
Hier haben wir also wiederum ein zeitliches Entstehen des Zeitlosen,
eine unendliche, aller Zufälligkeit enthobene Erstreckung von einem
unleugbar historischen und insoweit relativ zufälligen Zeit- und
Ausgangspunkt her.
Man konnte daraufhin jene irritierende Antinomie zwischen zeitlicher
Genesis und überzeitlicher Fortsetzung des Lebens einfach als erledigt
erklären, da sich hier das formal genau analoge Verhältnis als eine
einfache, durch keine Reflexionsschwierigkeiten gebrochene
Tatsächlichkeit darbietet.
Dennoch ist das Problem damit nicht beruhigt, und zwar auch von der
Seite dieser Analogie her nicht.
Die geistige Schöpfung steht inhaltlich, nach dem, wovon hier
eigentlich allein die Rede ist, von vornherein im Bezirk des Zeitlosen.
Wir unterscheiden ihren Gehalt, Geist, Sinn, Bedeutung oder wie immer
man es nennen mag, von dem psychologisch-histotischen Vorgang, mittels
dessen jenes in einem bestimmten Augenblick in einem bestimmten Wesen für
das Bewusstsein und für seinen historischen Weiterbestand erzeugt wird.
Den Inhalt der Idee und ihren Träger, das geistige Erzeugnis nach
seiner sachlichen Bedeutung und nach dem (präsumtiv) kausalen Prozess seiner Erzeugung
auseinander zuhalten, ist eine fundamentale, mit unserer
geistigen Struktur gegebene Forderung (auch sie gleichgültig dagegen, in
welchem historischen Moment sie von dem methodischen Bewusstsein wirksam
erhoben wird).
Gerade also in der entscheidenden Hinsicht scheint die Analogie zu
versagen.
Die Unsterblichkeit setzte doch an die historisch-zufällige Entstehung
des Lebens bloß darum, weil es entstanden ist, die überempirische,
überzufällige Reihe des unendlich erstreckten Lebens an.
Aber das irgendwie als unangemessen Empfundene, innerlich Unverbundene
dieser Vorstellung vermeidet die Unsterblichkeit des objektiv Geistigen,
weil dessen unvergänglicher Gehalt, wie gesagt, von vornherein in der
Schicht des Zeitlosen, der Idee nach Überhistorischen liegt, seine
Genesis aber in der ganz anderen des bloßen Geschehens in seiner kausalen
und zeitlich bestimmten Realität.
Hier kommt es also gar nicht zu der Paradoxe, weil das gegenseitig
Inadäquate nicht in eine Reihe zusammengepresst ist.
Nun aber nimmt der Gedanke noch einmal eine Wendung.
Ich deutete schon an, dass jene Schwierigkeit des
Unsterblichkeitsgedankens auf eine Präexistenz der Seele hinwiese.
Besteht die Seele von jeher und vor ihrer Erscheinung in diesem
menschlichen Leibe, so hat der historische Augenblick ihres Auftretens in
diesem gar keine absolute existenziale Bedeutung für sie; er mag ruhig
als ein zufälliger gelten, denn ihre jetzige Erscheinung ist nur ein
Stück ihres vorher und nachher abrollenden kontinuierlichen Lebens.
Und wenn nun das objektive geistige Werk, in einem bestimmten Moment
von einem bestimmten Individuum hervorgebracht, sogleich eine von diesem
Moment und diesem Individuum unabhängige Bedeutung und Gültigkeit
besitzt - so hat dieses merkwürdige Zusammen von kausaler Abhängigkeit
von dem historischen Erzeuger und innerer ideeller Unabhängigkeit von ihm
sich in der Idee niedergeschlagen: die großen, »ewigen« Gedanken der
Menschheit bestünden tatsächlich in einer Art ideeller Ewigkeit und
würden von ihren »Schöpfern« nun in einem zufälligen oder vielmehr in
dem der geistesgeschichtlichen Lage entsprechenden Augenblick nur
verwirklicht, nur entdeckt, nicht erfunden.
So phantastisch diese Vorstellung ist, sie drückt den eigentümlich
wirklichen, unwiderleglich fühlbaren, wenn auch von uns nicht scharf zu
erfassenden Sachverhalt aus. Künstler haben oft die Empfindung, dass sie
die eigentlichen Schöpfer ihrer Werke gar nicht sind, sondern nur die
Vision eines irgendwie ideell Bestehenden nachbilden; Michelangelo drückt
das so aus, dass die Statue schon im Marmor präformiert wäre und er
nichts zu tun hätte, als sie herauszuhauen.
Dass Platos Deutung des Erkennens als einer Wiedererinnerung an die
präexistenziale Schau der ewigen Ideen auf eben diesem Grundgefühl ruht,
ist ganz unverkennlich.
Oder man hat das metaphysische Rätsel menschheitsgeschichtlich
gewendet, als seien insbesondere die ganz großen Gedanken ein von jeher
bestehender Besitz der Menschheit, der nur von einem relativ zufälligen
Individuum, von dem, das die »Mission« hat, aus dem Zustand der Latenz
in Aktivität und Bewusstsein gerufen wird, die allmählich realisierte
Erbmasse des menschlichen Wesens und seine ewige Ausstattung.
Darum empfinden wir auch tiefen und wesentlichen Gedanken gegenüber,
die wir zum allerersten Male hören, dennoch oft so, als hätten wir sie
eigentlich längst gewusst und jetzt würden sie eben nur ausgesprochen.
Wie verschwimmend also auch immer, wie gebrochen, symbolisch, tastend -
die Analogie ist dem Grundmotiv nach wieder hergestellt: die
Unsterblichkeit strebt zu einem Korrelat nach der anderen Seite der
empirisch zeitlichen Realität hin, nach der Unentstandenheit.
Nur wenn das Leben prinzipiell nicht auf der Form empirischer
Begrenztheit ruht, nicht als ein Einzelnes irdisch entstanden ist, sondern
ein bloßer Ausschnitt aus einer ewigen Existenz ist, ist seine
Unsterblichkeit nicht mehr ein unerträglicher Sprung aus einer Ordnung
der Dinge in eine völlig heterogene.
Die Seelenwanderung stellt diese Ewigkeit des Lebens in einer gleichsam
prismatischen Brechung in unzählige, verschieden gefärbte, individuell
begrenzte Existenzen dar.
Der Tod ist dann nur das Ende einer individuellen Form des Lebens, aber
nicht des Lebens, das in ihr erschienen ist.
Geistesgeschichtliche wie innerlich-sachliche Voraussetzungen und
Beziehungen des Seelenwanderungsglaubens gehen mehrfach auf Entscheidungen
innerhalb letzter Lebenskategorien zurück.
Die erste und wichtigste wird durch die Frage erfordert: Welches Leben
endet mit dem Tode? Das persönlich-individuelle? Dann ist es
unverständlich, dass die nächste Existenz als die desselben,
unzerstörten Subjekts gelten darf.
Wird aber gerade die Persönlichkeit in allen Wandlungen bewahrt, so
dürfte das in dieser Selbigkeit Erhaltene schwer anzugeben sein, wenn sie
jetzt als Fürst, dann als Tiger, dann als Bettler, dann als Schakal
wiedergeboren wird.
Welcher Inhalt des Seins oder des Bewusstseins beharrt denn eigentlich,
um die Bezeichnung all dieser Erscheinungen als der Erscheinungen eben
desselben Subjekts zu rechtfertigen? Geschichtlich berichtete
Vorstellungsweisen zeigen diese Alternative in polaren
Entgegengesetztheiten.
Bei sehr verschiedenen Primitiven Völkern herrscht der Glaube, das
neugeborene Kind sei ein wiedergeborener früher Gestorbener.
Bei einem Negervolk werden dem Neugeborenen Sächelchen gezeigt, die
verstorbenen Familienmitgliedern gehört haben.
Wird es dann bei einem besonders aufmerksam, so ist es der
wiedergekommene Besitzer dieses.
»Es ist Onkel John, er erkennt seine Pfeife!« Bei den Maoris zählt
der Priester dem Neugeborenen die Namen der Vorfahren auf: bei welchem es
niest oder schreit, der ist in ihm wiedergeboren.
Dies ist offenbar die roheste und äußerlichste Form der Wiederkunft,
die man kaum als Seelenwanderung bezeichnen kann, weil es sich um eine
Wiederholung des Gestorbenen in seiner ganzen leiblich-seelischen
Wirklichkeit handelt.
Aber es zeigt das äußerste Extrem des Individualismus, der in vielen
Abstufungen eine Form der Seelenwanderung bildet.
Das Extrem der anderen Richtung hat die tiefere Lehre des Buddhismus,
besonders in der späteren Zeit, zu vollem Bewusstsein gebracht.
Auf die ethische Bedenklichkeit der Strafe, mit der die Sünden eines
früheren Ich an einem neuen, das seinerseits gar nicht gesündigt habe,
heimgesucht werden, erwidert der Buddhist: die Frage sei von vornherein
falsch gestellt, da ein Ich, ein sündigendes und ein gestraftes, gar
nicht bestehe.
Es gäbe nur Gedanken und Taten, sozusagen naturhaft-unpersönliche,
die sich in einem gegebenen Moment zu einem Aggregat zusammenfinden; an
einem späteren Aggregat, durch kausale Übertragungen mit jenem
zusammenhängend, erscheinen eben die sich fortsetzenden Wirkungen jener
früheren Elemente oder Elementzustände.
Sünde und Strafe bestünden also nicht an zwei gesonderten Subjekten,
die durch ein kontinuierendes Ich verbunden wären, sondern verhielten
sich einfach wie ein Geschehen und seine, vielleicht viel spätere,
Wirkung, die sich an zwei subjektlosen Komplexen physisch-psychischer
Elemente abspielten.
Auch diese höchste Steigerung der Unpersönlichkeit gestattet offenbar
keine eigentliche Seelenwanderung, weil eine jenseits ihrer jeweiligen
Tuns- und Leidensinhalte stehende Seele von vornherein abgeleugnet wird
und also auch nicht durch mehrere, mit einer Verschiedenheit solcher
Inhalte verknüpfte leibliche Existenzen hindurch beharren kann.
Zwischen diesen beiden Extremen liegen die möglichen Vorstellungen von
Seelenwanderung, deren Arten von dem jeweiligen Begriff der
»Persönlichkeit« abhängig sind.
Nun scheint mir von vornherein klar, dass, wenn man die »Seele« als
irgendwie substanziell und in dem scharfen Umriss europäischer
Begrifflichkeit denkt, ihre Wanderung von einem Fürsten in einen Tiger
und von diesem in einen Bettler ein für uns ganz unvollziehbarer Gedanke
ist; wobei ihre Substanzialität nicht in dem abgetanen Sinne früherer
Zeiten gelten soll, sondern als abkürzendes Symbol für das Gefühl einer
letztinstanzlich festen, durchhaltenden Identität der Person.
Diese Unmöglichkeit besteht für ganz verschiedene Standpunkte.
Von dem der physisch-metaphysischen, organischen Einheit von Leib und
Seele her spottet Aristoteles über die Seelenwanderungslehre, die
beliebige Seelen in beliebige Körper eingehen lasse: ebenso gut könne
die Zimmermannskunst in Flöten eingehen; in Wirklichkeit sei diese
bestimmte Seele nur diesem bestimmten Körper verbunden und verbindbar.
Von dem moralischen Individualismus des 18. Jahrhunderts aus kann
Herder gar nicht begreifen, wieso es eine Strafe für den Grausamen sein
soll, als Tiger wiedergeboren zu werden, da er doch als solcher seinen
blutgierigen Instinkten viel leichter, radikaler und sozusagen fröhlicher
nachleben könnte wie als Mensch.
Aber auf solche personalistisch gebundene Charakterologie ist die
indische Seelenwanderung auch in ihrem ethischen Sinne nicht zu basieren.
Die ethische »Vergeltung« haftet gar nicht an der klarumschriebenen
Identität des Ich, wie Herder sich dieses vorstellt.
Sie ist vielmehr etwas Objektives und Kosmisches, besteht gerade darin,
dass eine solche Abscheulichkeit wie Blutdurst, wenn sie überhaupt
vorgekommen ist, nun in gesteigertem, reinem, sozusagen absolutem Maße
verwirklicht wird.
Das Abscheuliche als Vorkommnis wird dadurch gestraft, dass es in
sachlich-logischer Selbstentwicklung immer abscheulicher wird.
Man könnte vielleicht mit frei interpretierender Wendung sagen: nicht
die Person des Blutdürstigen wird bestraft, sondern die Welt, in der so
etwas vorkommt.
Die scharf geschliffene Frage nach dem Subjekt der von Körper zu
Körper geschehenden Wanderung ist falsch gestellt und kann deshalb auch
keine befriedigende Antwort finden.
Die Verbreitung des Seelenwanderungsglaubens bei den Griechen weist,
bei aller Selbständigkeit, Autarkie und charaktervollen Bestimmtheit
ihrer Persönlichkeiten, eben doch darauf hin, dass ihr Ichbegriff nicht
die Tiefe und Absolutheit besaß, zu der die christliche Epoche ihn
entwickelte.
Das Christentum, das für seine Grundeinstellung und seine Forderungen
der Form der auf sich stehenden, für sich allein verantwortlichen
Persönlichkeit bedurfte, das die menschliche Seele mit ihrem Gott allein
ließ oder die Welt zwischen ihr und Gott ausspannte oder selbst die
Beziehung kirchlich vermittelte -konnte deshalb ersichtlich mit der
Seelenwanderung nichts anfangen; nur als eine folgenlose Entlehnung aus
zufälligen Berührungen taucht sie bei den Gnostikern und den Albigensern
auf; allerdings findet sich bei Origenes die Bemerkung, dass man das Elend
des Menschenlebens als Strafe für zuvor begangene Sünden ansehen müsse,
da andernfalls Gott boshaft wäre.
Ich will übrigens nicht leugnen, dass, wenn man über die Abstrusität
und Unausdenkbarkeit der Lehre hinweg ihren ethischen Kern ins Auge fasst:
die allmähliche Reinigung der Seele, bis sie zur Seligkeit reif und
würdig ist - dieser sich in ihr schöner und befriedigender entfaltet,
als in der entsprechenden christlichen Vorstellung vom Fegefeuer.
Denn so tief verinnerlicht und unbeschreiblich ergreifend die freudige
Freiwilligkeit ist, mit der Dante die Seelen im Purgatorio ihre Bußen
tragen lässt, das Moment der Passivität in dieser Schmerzzufügung ist
nicht auszuschalten, und in den populäreren, robusteren Bildern vom
Fegefeuer ist dies das ganz Überwiegende.
Das demgegenüber ethisch bedeutsamste Motiv der höheren
Seelenwanderungsformen: dass der Seele immer von neuem die Chance gegeben
wird, sich in Freiheit selbst zu erlösen, und dass dies auch
schließlich, trotz der Freiheit zu immer erneuter Verfehlung, gelingen muss, weil eine unendliche Zeit zur Verfügung steht - das ist würdiger
und tiefer als das Gewaschenwerden durch äußerlich zugefügte Schmerzen.
War es unmöglich gewesen, auf die Frage nach dem von Körper zu
Körper übergebenden, gleichsam substanziellen Subjekt eine Antwort
innerhalb der Kategorien unserer heutigen Begrifflichkeit zu finden, so lässt
sich vielleicht gerade dieser gemäß die Unausdenkbarkeit der
Lehre einigermaßen mindern, indem man die substanzielle Vorstellungsweise
durch die gesetzlich-funktionelle ersetzt.
Eine Bedeutung von Individualität wäre denkbar, die überhaupt nicht
an die einzelnen, qualitativ bestimmbaren »Charakterzüge« gebunden
wäre, sondern an die besondere Form, in der die seelischen Elemente
jeweils zusammenhängen.
Wie sich etwa unter diesen ein einzelnes als führendes hervortut, in
welchem Tempo solche Führerschaft wechselt; ob die anderen Elemente ihr
gegenüber relativ nivelliert sind oder auch unter ihnen eine entschieden
wirksame Hierarchie nach Wichtigkeitsgraden stattfindet; ob steigende
Vereinheitlichung oder steigende Differenzierung, ja Antagonismus der
Wesenszüge die Entwicklung bestimmt; in welchem Rhythmus die
Konzentrationen und die Leerheiten in der Inhaltsfolge des inneren Lebens
alternieren; in welchem Maße jedes Element gleichsam durch den
Schlagschatten der umgebenden in seinem Valeur bestimmt ist, und
unzähliges andere.
Dies alles ist an keinem singulären Element oder Zuge des Individuums
auffindbar, auch nicht pro rata, da es vielmehr nur das formale
Verhältnis der einzelnen untereinander bedeutet, das sich an den
qualitativ und dynamisch unterschiedensten Inhaltskomplexen lebendiger
Seelen gleichmäßig darstellen kann.
Jene eben angedeuteten Relationen sind natürlich nur notdürftige und
nachträgliche Spaltungen eines einheitlich wirksamen, einheitlich
eindrucksvollen Wesensgesetzes, das als rein Funktionelles,
Beziehungshaftes über allen inhaltlichen Angebbarkeiten des Wesens steht
und ihrer Totalität ein unverwechselbares Cachet gibt - ungefähr wie man
von dem Stil spricht, als von einem fühlbar Gemeinsamen menschlicher
Leistungen, die nach ihren konkreten Bestimmtheiten schlechthin
unvergleichlich sind, oder von dem »Habitus« von Pflanzen, der, über
alle Einzelformen und ihre eventuelle Divergenz hinweg, als
Gesamtimpression aus ihnen erwächst, für die man nichts
Einzelnes an ihnen haftbar machen kann.
Dieses Wesensgesetz ist also kein Abstraktum aus vielen Individuen,
sondern kommt dem Individuum als sein eigenstes Eigentum und
Charakteristikum zu.
Mit alledem aber hat es doch den Charakter der Zeitlosigkeit,
derselben, die dem Naturgesetz zukommt, nur mit der eigentümlichen
Zusatzbestimmung, dass es nur das Gesetz oder die Form einer einzigen
Individualerscheinung bilden kann. Es mag sich dem Phänomen nach an
anderen, mit jener zeitlich und räumlich nicht verbundenen, wiederholen;
allein dies ist dann ein äußerer Zufall, der das Essentielle solchen
Wesensgesetzes nichts angeht; es ist seinem inneren Sinne nach durchaus an
die Erscheinung gebunden, die eben dadurch individualisiert ist.
Denn die einzelnen, inhaltlich benennbaren Elemente der individuellen
Seele: Intelligenz oder Beschränktheit, Interessiertheit oder Stumpfsinn,
Güte oder Bosheit, religiöse oder weltliche Tendenz usf. - gerade diese
haben ja allgemeine Natur, gerade sie sind als generelle Begriffe fassbar,
die als relativ gleiche realisiert, durch die Menschheit hin in unendlich
mannigfaltigen Kombinierungen verteilt sind.
Tiefer führt zu dem Einzigkeitspunkt des Individuums vielmehr erst die
funktionelle Beziehungsart der Einzelelemente heran, die das Allgemeine
dieses Individuums ist, sein Wesensgesetz, das es - im Unterschied eben
gegen Einzelelemente - so wenig mit anderen teilen, wie es sein Leben mit
anderen gemeinhaben kann.
Und nun ließe - spekulativerweise - die Zeitlosigkeit dieses Gesetzes,
die ideelle Form der individuellen Realität, vielleicht die Wendung der
Seelenwanderung zu: dass nichts von dieser Realität, sondern nur jene
Form ihrer, das Wesensgesetz ihres Funktionierens, ihrer inneren
Zusammenhänge auf ein in jeder inhaltlichen Hinsicht anderes Wesen
überginge, dessen Existenz aber unmittelbar an jenes anschlösse und mit
ihm als ein durch unendliche Zeitlängen hin lebenes Individuum gelten
könnte, weil jedes spätere, durch die gleiche Funktionsform
charakterisierte und streng einzig individualisierte, die Fortsetzung
jedes früheren wäre, im tiefsten Sinne »eines« mit ihm.
Was den Tod überdauerte, wäre dann nicht die Seele in ihrer
historisch-realen Substanzialität, sondern eine zeitlose Wesensform, die
sich bald in diesem, bald in jenem Wirklichkeitskomplex darstellt und nur
die besondere Bestimmung hätte, dass diese Komplexe nur eine, in der Zeit
verlaufende und durch den Tod der einzelnen Realitäten in Perioden
gegliederte Reihe bilden - wie auch der Prozess unserer Welt als ganzer
eine Individualität besitzt (nach Raumbedingtheit, Kausalordnung,
begrifflichem Gefüge usw.), die sich auch nur an dem einen Verlauf einer
einreihigen Zeit verwirklicht.
Mag dieser Gedanke nicht weniger phantastisch sein als andere
Modalitäten der Seelenwanderung, irgendwie tiefer und widerspruchsfreier
erscheint mir diese Kontinuität der einander ablösenden Individuen,
zusammengehalten von dem sie alle durchströmenden, von ihren
Zeitbedingungen unabhängigen Wesensgesetz, das eines dem anderen
überliefert.
Jetzt wandert nicht eine sich gleichbleibende »Seele« durch ganz
verschiedene Körper, sondern Wesensgesamtheiten, jede all ihre Elemente
in Wechselwirkungen verwebend, zeigen eine gemeinsame, von allen
Zeitbedingungen unabhängige Form eben dieser Wechselwirkungen, einen für
sich fühlbaren »Habitus« ihrer vitalen Funktionen; so bilden sie ein
zeitlich unbegrenzbares und unvergleichlich singuläres Individuum, dessen
Lebensabschnitte durch Geburt und Tod der Einzelindividuen, mit ihrem
unbegrenzten Abweichungsspielraum für Lebensinhalte, Kräfte,
Qualitäten, markiert sind.
Hier aber knüpft sich, viel realistischeren Charakters, eine Analogie
an, die dem Seelenwanderungsgedanken zwar nichts von seiner
Unglaubhaftigkeit, aber doch etwas von seiner befremdenden Abstrusität
nimmt.
Jenes Individuum, das seine Einheit an dem gleichen Wesensgesetz
unendlich mannigfaltiger, aneinander ansetzender Individuen besitzt,
findet insofern sein Gleichnis an dem Lebensverlauf eines jeden von diesen
einzelnen.
Die Seele jedes Menschen wandert zwischen Geburt und Tod durch
unabmeßbar viele Schicksale, Stimmungen, extrem entgegengesetzte Epochen,
die, auf ihren Inhalt angesehen, gegeneinander ganz fremde
Gesamterscheinungen bieten.
Allein die Individualität des Subjekts lässt sie doch zu einem
einheitlichen Bilde zusammengehen: wie der Stimmklang eines Menschen
derselbe und unverwechselbare bleibt, wie wechselnde Worte er auch
spreche, so bleibt eine Grundfärbung, ein Grundrhythmus, ein
Grundverhältnis für all das, was dieses Leben je erlebt, ein gleichsam
apriorisches Formgesetz seines Tuns und Leidens, das das Zu-ende-sein
jedes einzelnen Inhaltes überlebt und, als die Individualität des
Ganzen, sich auf den nächsten überträgt.
Darum ist die durch viele Körper und Leben wandernde Seele nichts als
die Seele des einzelnen Lebens, »mit großen Buchstaben geschrieben«;
die Seelenwanderung nichts als eine groteske Verbreiterung, ein Radikal-
und Absolutwerden gewisser Erfahrungen des täglichen, relativischen
Lebens.
Machen wir uns die Veränderungen klar, die dessen Verlauf zwischen
Geburt und Tod an uns hervorbringen, so scheint deren Spannweite manchmal
kaum geringer, als sie zwischen mancher menschlichen und mancher
tierischen Existenz besteht.
Keinem erheblich bewegten Leben wird das gelegentliche Gefühl mangeln,
dass seine Ausschlagspole die Grenzen nicht nur des menschlichen, sondern
des überhaupt ausdenkbaren Daseins berührt haben, dass es nicht nur
Widersprüche -ein solcher enthält noch immer eine korrelative
Zusammengehörigkeit seiner Seiten -, sondern Entferntheiten,
berührungsunfähige Gleichgültigkeiten einschließt, die am Ende nur von
einer rein formalen Lebenseinheit, vielleicht von jenem, unmittelbar gar
nicht zu fassenden Wesensgesetz und von der Tatsache umgriffen sind, dass sich diese Inhalte in einem kontinuierlichen Fließen, in der zeitlichen
Stetigkeit eines Lebensprozesses aneinanderreihen.
Zunächst in den Abständen der typischen Entwicklung: das stammelnde
Kind, der Mann auf der Höhe seiner Schaffenskraft, der verfallene Greis -
worauf -hin werden diese Erscheinungen als eine Einheit angesprochen, als
weil ein Lebensstrom sie durchfließt, der aber ihren Inhalten keinerlei
Einheit und Vergleichbarkeit zu geben vermag und der, angenommen, die
Seelenwanderung bestünde als Tatsache, sozusagen keine größere
Anstrengung, mindestens keine fundamental anders gerichtete, brauchte, um
die noch etwas distanteren Inhalte von Mensch und Mensch, ja von
Menschlichem und Tierischem in seine formale Kontinuität aufzunehmen.
Zwischen der einen Geburt und dem einen Tode fühlen wir uns unzählige
Male als ein »Andersgewordener« - körperlich, seelisch,
schicksalsmäßig - und fühlen dabei freilich dieselbe »Seele«, die
durch dies alles hindurchgeht, ohne durch etwas Einzelnes in ihrer
Beschaffenheit als Seele überhaupt abgefärbt zu werden; sonst wäre es
unbegreiflich, dass sie morgen das genau entgegengesetzte Einzelne in
dasselbe seelische Leben ruft.
Es beharrt etwas in uns, während wir Weise und dann wieder Toren,
Bestien und dann wieder Heilige, Selige und dann wieder Verzweifelte sind.
(Wobei das »Beharren« ein ganz schlechter, starrer Notausdruck für
das Verhalten des Lebendigen ist, das in unserer begrifflichen,
unvermeidlichen Alternative von Beharren und Anderswerden sicher nicht
aufgeht, sondern ein einheitlich Drittes jenseits ihrer ist, das nur zu
erleben, aber nicht zu bezeichnen ist.) Ein mechanisch bestimmtes Gebilde
freilich ist ein anderes, sobald irgend eine seiner Bestimmungen geändert
ist; denn es besitzt keine reale innere Einheit, die diese zusammenhielte;
wird es, auch wenn seine Bestimmungen nicht mehr die genau identischen
sind, aus begriffstechnischen Gründen noch als »eines« bezeichnet, so
ist es in Wirklichkeit nicht mehr dieses eine, sondern ein anderes.
Aber das lebende, genau genommen: nur das beseelte Wesen verhält sich
anders.
Von ihm stellen wir uns vor, dass es auch anders hätte handeln,
bestimmt werden, ja sein können, ohne seine Identität zu verlieren, weil
all dies Angebbare an ihm von einem beharrenden, jenseits seiner einzelnen
Bestimmungen und Aktionen stehenden Ich getragen wird.
Darum kann man vielleicht nur von einem Menschen sagen, dass er hätte
ein anderer sein können, als er ist - während jedes sonstige Wesen in
diesem Falle eben nicht mehr »er« wäre.
An diesem Punkte liegt offenbar die Verknüpftheit des
Freiheitsgedankens mit dem Ichgedanken, durch ihn wird begreiflich, wieso
jene Polarität und Fremdheit mannigfaltiger Stimmungen und Schicksale,
Entscheidungen und Gefühle die auseinanderstrebenden Schwingungen eines
Pendels sind, das schließlich an einem unverrückbaren Punkte hängt.
Sieht man von diesem Bilde unserer Wirklichkeit auf die Seelenwanderung
hin, so erscheint es in ihr nur wie in einem Vergrößerungsspiegel
aufgefangen.
Die rätselhafte Grundtatsache des Lebens, insbesondere des in der
Seele gesammelten: dass ein Wesen immer ein anderes und doch immer
dasselbe ist, wird mit der Seelenwanderung nur in einen gröberen Abstand
der Momente auseinandergezogen.
Oder, von dem Glauben an Seelenwanderung her blickend, ist das einzelne
Leben eine Abbreviatur des durch unermeßliche Zeiten und Formen
erstreckten Daseins der Seele, etwa wie man das individuelle Leben als
eine kursorische Darstellung des Gattungslebens gedeutet hat oder wie der
einzelne Tag in den mannigfachen Anklängen von Lust und Leid, den
Vibrierungen zwischen Kraft- und Schwächeempfindungen, der Erfülltheit
und Leerheit der Stunden, den Abwechslungen von Schaffen und Aufnehmen ein
Miniaturbild des Gesamtlebens ist.
Die verschiedenen Leiber, durch die die Seele passiert, sind nur wie
Materialisationen und Fixierungen der verschiedenen Zustände, die die
Seele, rein als Seele, in sich erzeugt und erfährt.
Das Schicksal der Seele zwischen der einzelnen Geburt und dem einzelnen
Tode und das zwischen der ersten Geburt und dem letzten Tode, wie die
Seelenwanderungslehren sie schildern, sind gegenseitig Symbole voneinander
- das Motiv des Relativismus von Leben und Tod, in den der Anfang dieser
Blätter die Absolutheit ihres Gegensatzes aufhob, mit dieser Deutung des
Mythos zu einer frei konstruierten Spitze hochführend.
Fussnoten
1) Die Todesverflochtenheit des Lebens kann als eine
symbolische Motivierung - neben anderen - dafür gelten, dass keineswegs
ein fragloses Recht besteht, die Gottheit »lebendig« zu nennen.
Mag dies eine schöne und vielleicht unvermeidliche
Vorstellung sein, sie ist im letzten Grunde nicht weniger anthropomorph,
als die von dem alten Manne, der in der Abendkühle im Paradiesgarten
lustwandelte.
Man denkt ihn als lebendig, weil dies als die einzige
Möglichkeit erscheint, mit ihm zu verkehren.
Schließlich ist Leben oder Beseeltheit eine
spezifische Existenzart, und sie als die »höchste« zu denken und alles
überhaupt Seiende in die ausschließende Alternative des rein Materiellen
und des Lebendig-Seelischen einzustellen, bloß weil wir Menschen auf der
Erde nichts anderes erfahren, erscheint mir als eine Borniertheit, deren
letzte Sublimierung in all den Metaphysiken liegt, die den »Geist« oder
das »Leben« als das Absolute verkünden.
Natürlich wäre gar nichts damit gewonnen, wollte
man Gott als das Überlebendige bezeichnen: auch der vorsichtigste Versuch
einer positiven Bestimmung überschreitet unsere Denkrechte.
Nichts aber hindert uns, ja, alles berechtigt uns,
von dem Absoluten die Beschränktheit des Lebens- und Seelenbegriffes zu
entfernen, ganz gleichgültig dagegen, dass sie die Grenze all unserer
Möglichkeiten ist.
Auch der Versuch, ein von dieser Befreites im Begriff
des »Wertes« zu finden, würde zu keiner berechtigteren Bestimmung des
göttlich Absoluten führen, da mir eine Realisierung von Werten ohne die
Basis von Leben, Seele, Geist als ein bloßes Wort erscheint.
Befriedigender würde die Schellingsche absolute
»Indifferenz« aussehen, wenn er sie nicht sofort in die Pole Natur und
Geist auseinandergehen ließe und sie damit doch wieder in die
alternativische Enge unserer zufälligen Erfahrung einsperrte.
Weiter scheint Spinoza vorgeschritten, wenn er Gott
unendliche Attribute beilegt, von denen nur die beiden: Denken und
Ausdehnung, erfassbar wären.
Allein sie werden bei ihm doch als reale Bestimmungen
des Göttlichen gefasst, was zwar bei konsequentem Pantheismus
widerspruchslos ist, für einen transzendenten Gott aber doch wieder
Anthropomorphismus bedeuten würde.
Die negative Theologie der Mystik ist nach dieser
Richtung hin freier und tiefer als alle frühere oder spätere Dogmatik
und Religionsphilosphie.
2) Dies ist natürlich ein rein spekulativer Gedanke, wie der zuvor
über das »Leben« Gottes geäußerte; allein dies ganze Gebiet ist für
uns in ein so tiefes Dunkel gehüllt - schon wie sich aus der
Organisiertheit der Materie die Tatsache Seele erheben konnte, ist uns so
hoffnungslos unbegreiflich, dass die Spekulation hier ein Recht auf
Duldung beanspruchen darf.
Allerdings ist dieses Recht nur begründet, wenn es nicht um ein rein
intellektuell-kombinatorisches Gedankenspiel geht.
Die Spekulation darf vielmehr nur das, wie auch stammelnde und
entfernte Symbol einer inneren Gegebenheit, Gerichtetheit, Schauung sein,
der freilich subjektive Ausdruck eines Seins, das als solches irgend eine
Objektivität und keine bloße Willkür ist.
3) Es sei hier besonders betont, dass all diese
begrifflichen Synthesen ihre Endabsicht nicht in irgendwelcher
Realitätsbedeutung des Unsterblichkeitsgedankens haben.
Diese metaphysische Spitze hat hier vielmehr nur den
heuristischen Sinn, die Struktur der in ihr ideell zusammengefassten Wesens- und Wertelemente durchsichtig zu machen.
An die Unsterblichkeit als behauptete, bewiesene,
modifizierte, widerlegte - dürfte sich für eine jedenfalls sehr große
Zahl moderner Menschen kaum ein anderes als ein antiquarisches Interesse
knüpfen; über Recht oder Unrecht dieses wie des entgegengesetzten
Standpunktes gilt es hier nicht zu diskutieren.
Allein wenn sie selbst auch ein bloßes
Phantasiegebilde wäre, so liegen doch ihre Motive und ihr Unterbau
durchaus im Bereich des Realen, und diese Elemente ordnen sich in einer
sonst nicht vorkommenden Art gerade zu der Idee der Unsterblichkeit.
Sie gestatten deshalb von ihr aus Analysen und
Synthesen, deren erheblicher Aufklärungswert also nicht in jenem
imaginären Brennpunkt selbst, sondern in dem Lichte liegt, das von ihm
aus auf die wesenhafteren seelischen und metaphysischen Faktoren fällt.
4) Mindestens unsere Denkformen gestatten nichts
anderes.
Wir können uns sehr wohl vorstellen, dass von
vornherein keine Welt sei; ist aber ein Sein einmal da, so können wir uns
sein Verschwinden in das Nichts so wenig vorstellen wie sein Entstehen aus
dem Nichts.
Auch der Glaube, dass Gott die Welt zeitlich
erschaffen hat, kommt nicht darum herum, dass Gott dazu doch dasein muss.
Existiert er nun von Ewigkeit her, so ist eben ein
unentstandenes Sein da, das dann prinzipiell auch gleich das Sein der Welt
sein könnte; lässt man ihn aber »sich selbst erschaffen«, so rächt
sich der vorlaute Wille, mit Hilfe unserer menschlichen Begriffe in das
schlechthin Undurchdringliche einzudringen, in der absoluten
Unausdenkbarkeit dieser Ausflucht, so poetisch verwendbar sie sein mag.
Keine Bestimmtheit des Seins kann uns bannen; ist
aber irgend ein Seiendes überhaupt gesetzt, so ist die Tatsache, die wir
mit dem Abstraktum Sein bezeichnen, für jedes klare Denken (freilich
immer nur für unser Denken) unwiderruflich auf Unentstandenheit und
Unvergänglichkeit festgelegt.
Es gibt keine Entropie des Seins.
Georg Simmel: Lebensanschauung
Vier metaphysische Kapitel
Duncker & Humblot, Berlin 1918
I
Die Transzendenz des Lebens
II
Die Wendung zur Idee
III
Tod und Unsterblichkeit
IV
Das individuelle Gesetz
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