Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Achtes Kapitel: Entwicklung
Unter den Wertunterschieden der Individuen, die sich in der Form
ihrer Existenz ausdrücken, scheint mir einer obenan zu stehen:
ob der Mensch dies oder jenes leisten soll, eine Summe einzelner
Forderungen mit seinem Tun und Sein zu erfüllen bestimmt oder
willens ist; oder ob er als ganzer, mit der Totalität seiner
Existenz, etwas tun oder etwas sein soll.
Dieses Etwas braucht kein angebbares Ziel oder Werk zu sein;
sondern nur dies, dass die Lebenseinheit, über all diesem
Einzelnen stehend und es tragend — wie sich ein lebendiger
Körper als Einheit zu seinen einzelnen Gliedern verhält — etwas
für sich Bedeutsames sei, einem ihr als ganzer gesetzten Ideale
untertan, in einer einheitlichen Strömung fliessend, die alle
singulären Eigenschaften und Taten in sich einzieht und sie
übergreift, aus deren Summe nicht zusammensetzbar.
Die als moralisch angesprochene Wertung pflegt sich hierauf
nicht zu richten.
Für sie vielmehr rinnt der Wert eines Individuums aus den Werten
seiner einzelnen Charakterzüge und einzelnen Entschlüsse
zusammen, während bei jenen Menschen umgekehrt die vielleicht
unbenennbare Intention und Bedeutung, das Sollen ihrer
Lebenseinheit, den Sinn und die Rolle jeder Lebenseinzelheit
bestimmt.
Wenn für Goethes Existenzbild irgendeine Charakteristik
unzweideutig ist, so ist es seine Zugehörigkeit zu dieser Seite
der Alternative.
Als Ganzes hatte sein Leben ein So-Sein- und
Sich-so-Verhalten-Sollen über sich, dem auch seine objektivste
Leistung ebenso diente, wie sie aus ihm kam.
Und dies umso vollkommener, als kein bestimmter Inhalt, den sein
Leben überhaupt realisieren sollte, hingestellt werden kann.
Denn wo dies der Fall ist, wie bei den spezifisch religiösen,
wissenschaftlichen, künstlerischen Menschen, lässt selbst die
völligste Konzentration auf dies Eine dennoch eine Anzahl von
Energien unergriffen; unser Wesen ist zu differenziert, um
wirklich all seine Seiten, auch die peripherischen, in den
Dienst eines einzigen Sollens stellen zu können.
Nur wo dieses Wesen schlechthin soll, wo sozusagen »die Aufgabe
überhaupt« über ihm steht, wo die Pflicht etwas Funktionelles
ist, wie das Leben, dem sie gewöhnlich als das Feste,
Substanziell-Unbewegte entgegengestellt wird — nur da kann es
sich mit unendlicher Flexibilität in die Aufgaben jedes Tages
ergiessen, nur da ist kein Teil seiner Ganzheit im genauen Sinne
dem Sollen seines Wesens entzogen.
Darum ist es keine Widerlegung, sondern ein Beweis für jene
Struktur der Goetheschen Existenz, dass man für die ideale
Forderung, die man deutlich über ihr stehen fühlt, keinen
bestimmten Inhalt angeben kann; seine heftige Abneigung gegen
alle »Profession« hat zutiefst vielleicht dies zur Ursache.
Wenn irgend ein Leben, so hat das seine als Ganzes etwas
gesollt; nicht Dramen dichten oder Naturwissenschaften treiben
oder praktisch wirken — dies alles ist das jeweilige Sollen
einzelner Begabungen seiner Natur.
Sondern dies Leben war von seiner Wurzel so einheitlich und
entschieden zusammengefasst, dass man seine Ungetrenntheit wie
durch ein, freilich unbenennbares Sollen, ein Ideal seiner
Ganzheit, normiert empfindet, das sich in jene einzelnen
Forderungen nur ebenso auseinanderlegt, wie die Wirklichkeit
seines Lebens in einzelne wirkliche Leistungen.
Die Arten, auf die sich diese Forderung an die Lebenstotalität
in den Intentionen seiner Lebensepochen verwirklicht, gibt
diesen ihren unterscheidenden Charakter.
In unmittelbarer, wenn auch ihm selbst nicht formulierbar
bewusster Form ist seine Jugend, zuhöchst bis zur Rückkehr aus
Italien, diesem Ideal untertan.
So treu und hingegeben sein Schaffen, Handeln, Forschen auch von
vornherein war, man fühlt deutlich, dass die Vollendung seiner
Existenz das letzte treibende Motiv in alledem ist; er ist hier
der subjektive Lyriker, dem diese Lebensform nicht nur
Wirklichkeit, sondern ihr zentrales Ideal und dadurch freilich
auch etwas Objektives ist.
Auf der Höhe dieser Epoche sagt er im Jahre 1780: »Diese
Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben
und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen,
überwiegt alles andere und lässt kein augenblickliches Vergessen
zu.
Ich darf mich nicht säumen, ich bin schon weit in Jahren vor und
vielleicht bricht mich das Schicksal in der Mitte und der
babylonische Turm bleibt unvollendet.
Wenigstens soll man sagen: er war kühn entworfen, und wenn ich
lebe, sollen will's Gott die Kräfte bis hinauf reichen.« In
demselben Jahre schreibt er (und oft in dem gleichen Sinne) an
die Stein: »Sie sehen, ich erzähle immer vom Ich.
Von andern weiss ich nichts, denn mir inwendig ist zu tun genug,
von Dingen, die einzeln vorkommen, kann ich nichts sagen.« Und
sicherlich ist es die gleiche Basis, von der aus er als
fünfundzwanzigjähriger Mensch sagt, da doch ein unerhörter
Reichtum von Liebe und Freundschaft, von sachlichen Interessen
und Hoffnung auf sachliche Leistungen um ihn war: »Die beste
Freude ist das Wohnen in sich selbst.« Dies war die Zeit, in der
die Kraft des Lebens als solchen, die reissende Strömung seines
Prozesses selbst alle angebbaren Inhalte, so wertvoll und
bedeutsam sie in einer Oberschicht für ihn sein mochten, in sich
einschlang.
Freilich ist das nur die typische Stimmung und Gerichtetheit der
Jugend überhaupt.
Denn wenn es, an den grossen Lebenskategorien gemessen,
überhaupt eine polare Entgegengesetztheit zwischen Jugend und
Alter gibt, so ist es diese: dass in der Jugend der Prozess des
Lebens das Übergewicht über dessen Inhalte hat, im Alter die
Inhalte über den Prozess.
Die Jugend will vor allen Dingen ihr Dasein bewähren und fühlen,
der Gegenstand ist — in der Hauptsache — nur wesentlich,
insofern an ihm dies geschieht, und was man »die Treulosigkeit
der Jugend« genannt hat, besagt nur, dass ihr die Lebensinhalte
noch nicht recht eigenwertig sind und deshalb leicht gewechselt
werden, sobald das dominierende Interesse es fordert: die
Äusserung der drängenden Kräfte, die Intensität des
Lebensprozesses, die Empfindung des subjektiven Daseins, das die
Welt gleichmässig zu seinem Material macht, wenn es sie in sich
einschlürft, wie wenn es sich ihr opfert.
Indem das Alter diese Strömung verlangsamt, die Lebensfunktion
als solche herabsetzt, steigert sich ihm die übersubjektive
Bedeutung des Sachgehaltes der Welt; wie die Dinge ohne
Rücksicht auf das eigne Leben sind, bekommt ihm einen
definitiveren Ton — eine Entwicklung, die auf ihrem Höhepunkt
das eigne Subjekt in ihre Formel zieht; sei es, dass der Mensch
nun im Erkennen wie im Handeln das eigne Dasein nach den Normen
objektiver Inhalte lebt, dieses Leben selbst aber als subjektive
Funktion ganz aus Bewusstsein und Intention ausschaltet; sei es
in den Alterswerken des grossen Künstlers, in denen sozusagen
der transzendente, durch die Schwebungen des empirischen Lebens
hindurchgewachsene Kern der Persönlichkeit sich in ganz neuen,
über die Polarität des Subjektiven und des Objektiven
triumphierenden Formen ausspricht.
Dass Goethe selbst den Gegensatz so empfunden hat, gibt einer
zunächst flach und wunderlich aussehenden Bemerkung der späteren
Zeit erst ihre begründende Tiefe: »Der Irrtum ist recht gut, so
lange wir jung sind; man muss ihn nur nicht mit ins Alter
schleppen.« Der Irrtum ist für die Jugend »gut«, weil es für sie
überhaupt nicht auf Erkenntnis in ihrem sachlichen Wert ankommt,
sondern auf Werden, Wachsen, Sein; was diesen dient, ist gut,
mag es als Inhalt, der in der Gegenhaltung gegen die Objekte
sein Kriterium findet, richtig oder falsch sein.
Das Alter aber ist dem Objektiven zugewendet und der Irrtum geht
deshalb gegen die spezifische Intention der Altersepoche, wie
Goethe sie fasst: als das Auseinandergehen des Lebensprozesses
in Erkennen und Handeln, — während die Jugend der Gewalt dieses
Prozesses untertan ist und ihm das Wahre und das Irrige
gleichmässig zum Material macht.
Und wie mit dem Wahren und Irrigen, so steht es mit dem Guten
und Bösen.
In der Jugend erscheinen ihm die moralischen Satzungen oft
nichtig gegenüber der überwältigenden Macht des Natürlichen.
Der Begriff des einheitlichen, dynamischen Lebens, der ihn
beherrscht, ist einerseits unabhängig von Gut und Böse,
andrerseits sind diese selbst ein Sein, sind dessen blosse
qualitative Bestimmtheiten.
In seinem Alter wächst diesen Normen eine immer grössere
Bedeutung zu, und wenn er sie auch in das natürliche Leben der
geschichtlichen Menschheit einstellt und sie sich ineinander
verwurzeln und verzweigen lässt, so werden sie doch als »Tugend
und Laster« entschieden getrennt.
Dem Jüngling erscheinen gut und böse oft als Eines, weil es ihm
nicht auf die Inhalte, sondern auf den Lebensprozess ankommt,
der zu jener, von objektiven Normen herkommenden Einteilung gar
kein prinzipielles Verhältnis hat: allenfalls sind »gut und
böse« etwas, was wir sind, während die Altersbegriffe »Tugend
und Laster« etwas sind, was wir haben, was sich von der
Lebensgrundlage ideell in höherem Masse gelöst hat.
— Goethes Lebensarbeit ist nun — so verschieden in ihm verteilte
Akzente uns die weitere Entwicklung zeigen wird — einerseits nie
von dem Streben nach Objektivierung seines Subjekts, andrerseits
nie von dem freien, in sich selbst zentrierten und auf die
eigene Vollendung gehenden Sich-Darleben des Ichs verlassen.
Was ich eben als das Charakteristikum seiner Jugend ansprach:
die Bestimmtheit durch das Ideal des persönlichen Seins, geht
mit später aufzuweisenden Wendungen und Differenzierungen durch
sein ganzes Leben und trennt dies sehr entschieden von andern
Existenzen, die von vornherein auf Herausarbeitung und
Bearbeitung von Inhalten des Lebens eingestellt sind.
Im eminenten Sinne war Kant eine solche.
»Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher«, lautet eine in seinem
Nachlasse gefundene Notiz.
»Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige
Unruhe, darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei
jedem Fortschritte.
Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses alles könnte die Ehre
der Menschheit machen und ich verachtete den Pöbel, der von
nichts weiss.
Rousseau hat mich zu Recht gebracht.
Dieser verblendete Vorzug verschwindet: ich lerne die Menschen
ehren und würde mich viel unnützer finden, als die gemeinen
Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, dass diese Betrachtung allen
übrigen einen Wert geben könnte, die Rechte der Menschheit
herzustellen.« So echt und fundamental diese Leidenschaft des
Erkennens ist, so ist damit der Wert des subjektiven Lebens von
einem Kriterium abhängig, das gegen dieses Leben prinzipiell
ganz gleichgültig ist: Kant will das Gefäss der Erkenntnis
werden, die sich aus ihrer ideellen Existenz heraus in ihm
realisiert.
Und die Wendung, zu der ihn Rousseau veranlasst, richtet seine
Wertbetonungen von dem ab, was er »aus Neigung« ist, unterstellt
sein Tun einer Ordnung, die völlig jenseits seiner selbst steht.
Es sind immer die objektiven Inhalte seines geistig-innerlichen
Lebensprozesses, von denen diesem Form, Bewegung, Wert kommt —
während bei Goethe der Lebensprozess das erste ist und von ihm,
seinen Normen und Kräften aus, erst die Inhalte nach Art,
Schicksal und Bedeutung bestimmt werden.
Die Einheit des Daseins, das sich in Prozess und Inhalt
erschöpft, wurde so bei beiden von entgegengesetzten Seiten her
gewonnen.
Weil aber, wie gesagt, in der Jugend der Prozess des Lebens das
Übergewicht über seine Inhalte hat, im Alter die Inhalte über
den Prozess, darum ist in Goethe etwas von ewiger Jugend,
während Kant von vornherein etwas Altes hat.
Die besondere Unbedingtheit und Unmittelbarkeit, mit der Goethes
Jugend diesen Zug zuspitzt, offenbart sich in der Vorherrschaft
derjenigen seelischen Energie, die gleichsam die psychologische
Vertretung oder Bewusstheit der so gerichteten Lebensrealität
ist: des Gefühles.
Seine Jugend steht durchaus unter dem Zeichen: »Gefühl ist
Alles.« Ich führe nur einige Stellen vom Anfang seiner zwanziger
Jahre an.
Von einem Freunde schreibt Werther: »Auch schätzt er meinen
Verstand und meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein
einziger Stolz ist, das ganz allein die Quelle von Allem ist,
aller Kraft, aller Seligkeit und alles Elends.
Was ich weiss, kann jeder wissen — mein Herz habe ich allein.«
Unmittelbar, ohne dichterische Verlegung, an einen Freund, der
ihn religiös beeinflussen will: »Dass du mich immer mit
Zeugnissen packen willst! Wozu die? Brauch' ich Zeugnis, dass
ich bin? Zeugnis, dass ich fühle? Nur so schätz', lieb', bete
ich Zeugnisse an, die mir darlegen, wie Tausende oder einer vor
mir eben das gefühlt hat, das mich kräftiget und stärket.« Über
den Götz bald nach seinem Erscheinen: »Es ist alles nur gedacht,
das ärgert mich genug.
— — Wenn Schönheit und Grösse sich mehr in dein (d. h. mein)
Gefühl webt, wirst du Gutes und Schönes tun, reden und
schreiben, ohne dass du weisst warum.« Kestner urteilt über ihn
als Dreiundzwanzigjährigen: »Er strebt nach Wahrheit, hält
jedoch mehr von dem Gefühl derselben, als von ihrer
Demonstration.« Alles, was die ursprüngliche, im Gefühl sich
ausdrückende Seinseinheit auseinanderzieht und in Stücke
zerlegt, ist ihm jetzt verhasst, so dass er sich über eine ihm
zugemutete Kritik so äussert: Was er sagen könne, müsse der
Autor in sein Gefühl übertragen, und aus dem so geschaffenen
Gefühl erst heraus könne er etwas ändern.
»Ich hasse alle Spezialkritik von Stellen und Worten.
Ich kann leiden, wenn meine Freunde eine Arbeit von mir zu Feuer
verdammen, umgegossen oder verbrannt zu werden; aber sie sollen
mir keine Worte rücken, keine Buchstaben versetzen.« Seine
Produktion selbst leitet er, mit 24 Jahren, ganz unmittelbar und
gleichsam unter Ausschluss objektivischer Motive, aus dem Leben
und dem Fühlen ab: »Meine Ideale wachsen täglich aus an
Schönheit und Grösse und wenn mich meine Lebhaftigkeit nicht
verlässt und meine Liebe, so soll's noch viel geben.« Und mit
fast 70 Jahren beurteilt er den Gegensatz, der sich als der
Träger der weiteren Entwicklung zeigen wird, in entscheidender
Weise: »Meine ersten ins Publikum gebrachten Produktionen sind
im eigentlichsten Sinne gewaltsame Ausbrüche eines gemütlichen
(d. h. gefühlsmässigen) Talents, das sich aber weder zu raten
noch zu helfen weiss.« Er setzt also — worauf wir alles ankommen
sehen werden — das Gemüt in den Gegensatz zum Theoretischen, mit
dem man sich zu »raten« weiss, und zum Praktischen, mit dem man
sich zu »helfen« weiss.
Diese Eingestelltheit seines jugendlichen Lebens auf die
Herrschaft des Gefühls erweist sich nicht minder an der
tragischen Konsequenz, die sie im Werther gewinnt.
Das wunderbar Schöne und Charakteristische dieser Jugend, die
Existenz aus der unbegrenzten Fülle des Gefühles heraus, zeigt
sich hier, eine echte Tragik, in seinem Selbstwiderspruch und
seiner Vernichtungsnotwendigkeit, die ihm gerade im Augenblick
seines Absolutwerdens kommt.
Gewiss ist Werthers Gefühl eine äusserste Steigerung des Lebens;
aber indem es in sich selbst verbleibt, nur von sich selbst
zehrt, muss es sich zerstören — wie später Aurelie und Mignon
aus derselben Ursache zugrunde gehn, aus dem ausschliesslichen
Leben im Gefühl, das, trotz seiner immanenten Unendlichkeit,
doch das Leben sich in eine Sackgasse verrennen, »alle andern
Kräfte in mir ungenützt vermodern« lässt.
»Ich bin so glücklich«, schreibt Werther, »so ganz in dem Gefühl
vom ruhigen Dasein versunken, dass meine Kunst darunter leidet.
— Aber ich gehe darüber zugrunde, ich unterliege unter der
Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.« Vielleicht hängt
dies auch so zusammen, dass das Gefühl, so weitgehend seine
Vollmacht zur psychologischen Vertretung der Gesamtexistenz ist,
eben doch nur deren Reflex in der Subjektivität ist.
Die Idealbildung der Goetheschen Jugend ging auf die Vollendung
des Seins als solchen, in allem, was er dachte und tat, war es
das unmittelbare, alles tragende und treibende Leben der
Persönlichkeit, auf dessen Intensität und innere Ausbildung es
ihm ankam.
Indem damit aber unvermeidlich das Gefühl zur Dominante des
Lebens wird, entsteht die Gefahr, dass dieses, das doch nur die
subjektive Spiegelung und Symbolisierung unsres realen Seins
ist, sich von diesem ablöst und sich als Substanz des Lebens
auftut.
Dieser Gefahr unterliegt Werther und zehrt damit die
tatsächliche Existenz selbst auf.
Goethe aber rettete sich von dieser Konsequenz, indem er den
Werther schuf, d. h. indem Objektivierung und Produktivität an
die Stelle des blossen, in sich schwingenden Gefühlszustandes
trat, die grosse Akzentverlegung seines Lebens, die wir gleich
kennen lernen werden, andeutend.
Ich sagte, dass diese, das persönlich-lebendige Sein und das
Gefühl zur Grundlage wie zum Ideal nehmende Existenz nur den
Typus der Jugendlichkeit überhaupt besonders rein
herausarbeitete.
Allein dass dies der Fall ist, geht doch wohl auf die
phylogenetische Stellung des Gefühls zurück.
Je undifferenzierter sich unsere Existenz als Gesamtzustand,
Gesamtsinn und -wert spiegeln will, desto mehr gelingt ihr dies
in den Formen des Gefühls, gegenüber den gespalteneren,
vermittelteren des Denkens und des Wollens.
Die ersten Zustände der Seele sind doch wohl Gefühle, und »Wille
und Vorstellung« erst sekundäre, vielleicht pari passu
ausgebildete.
Aber dieses so aus der Lebenstiefe hervorbrechende Ideal einer
einheitlich- subjektiven Seinsvollendung, wie es sich im ersten
Faustmonolog als metaphysisches, im Spaziergang mit Wagner als
sozusagen vitalistisches ausspricht, alle Sehnsucht der
gefühlten Fülle und Vollendung des Erlebens zudrängend — dieses
Ideal gibt dem Bilde des jungen Goethe einen Zauber, eine Ahnung
menschheitlicher Vollendung, ein unerhörtes Versprechen, dem
gegenüber alle Wunder seines späteren Seins und Leistens,
obgleich sie die Kraft der Wirklichkeit gegenüber der blossen
Möglichkeit besitzen, ein leises Abblassen bedeuten.
Vielleicht liegt hier ein allgemeines Schicksal der Menschheit,
das sich nur an ihren höchsten Exemplaren besonders
verdeutlicht, weil wir sie als die »höchsten« eben auf Grund von
Leistungen zu nennen pflegen, die meistens der Zeit nach,
mindestens aber dem Sinne nach jenseits der Jugendlichkeit
liegen; daher stammt wohl das seltsam Ergreifende, das so oft
die Jugendbildnisse der grossen Menschen für uns haben.
Sie mögen sich nachher zu dem unerhörtesten Schaffen und Wirken
erhoben haben — mit irgend einer Einbusse, irgend einer
Vereinseitigung, irgend einer Temperatursenkung ist es erkauft,
obgleich sie das, was sie verloren haben und um ihrer Leistungen
willen verlieren mussten, eigentlich gar nicht als Wirklichkeit
besassen, aber doch auch nicht als blosse abstrakte Möglichkeit;
sondern unter jener, logisch so schlecht greifbaren Kategorie,
in der das lebendige Wesen seine Zukunft schon als Gegenwart
besitzt, in der seine ungelösten, vielleicht nie zu lösenden
Spannkräfte es schon als eine Wirklichkeit besonderer Art
umschweben.
Auch ist in dieser ahnungsvollen Darbietung eines Gesamtseins,
gegen die alle spätere konkrete Leistung Zerlegtheit und
Einseitigkeit ist, die spezifische »Liebenswürdigkeit« der
Jugend begründet; denn Liebe richtet sich eben auf die Ganzheit
des Menschen und nicht auf noch so wertvolle einzelne
Perfektionen und Taten, die höchstens als Brücke für das
Verhältnis zu jener Ganzheit dienen können.
Der Zauber von Goethes Jugend, der ihm die Liebe aller Herzen
gewann, scheint in dieser vorbehaltlosen Darlebung und
Offenbarung seiner gleichsam in sich ungeteilten Persönlichkeit
gelegen zu haben, seiner Existenz, die noch nicht in
differenzielle Kanäle geleitet war.
Das Ideal der Vollendung des persönlichen Seins geht ihm in die
des Handelns (als Schaffen und als Wirken) und des Erkennens
auseinander — in vereinzelten Ansätzen schon in der frühen
Weimarer Zeit anklingend, entschieden aber nach der Rückkehr aus
Italien.
Und es ist das ganz Unvergleichliche seines Bildes, dass jener
damit geschehende Abbruch an Schönheit und Kraft seines Lebens
nur das schlechthin, ich möchte sagen: logisch unvermeidliche
Minimum war.
Und zwar, weil diese Wandlung ein rein inneres
Entwicklungsschicksal, eine von vornherein in dem organischen
Gesetz seines Wesens vorgezeichnete Periodik war.
Wo die Kraft aus der Form der Gesammeltheit, die sie nur als
jugendhafte Möglichkeit besitzt, in Bewährungen übertritt, aus
dem sich selbst genügenden Lebensvorgang in einzelne Inhalte
geleitet wird, da büsst sie natürlich den Glanz und Reiz ein,
der nun einmal, unvergleichbar, gerade an jener Form haftet.
Aber in den meisten Lebensläufen wird damit auch ein Teil der
Kraft selbst lahmgelegt, der Strom der Vitalität, in eine
Mehrheit von Adern auseinander- geführt, nun mehr von bestimmten
Zielen gezogen, statt von der Einheit seiner Quelle getrieben,
verliert dabei an Macht und Gedrängtheit.
Diese weitergehende, weiter verlierende Konsequenz ist bei
Goethe nicht eingetreten; als er aus dem Idealismus der
subjektiven Lebendigkeit zu dem des objektiven Wirkens und
Erkennens überging, war freilich die Jugend mit ihren
spezifischen Werten verloren, aber weiter auch nichts.
Jenes dynamische intensive Sein bleibt in der Theorie und in der
Praxis, in die es auseinandergeht, als deren Substanz erhalten,
es fällt nicht, wie in der Mehrzahl solcher Entwicklungen,
zwischen ihnen durch oder wird zwischen sie aufgeteilt.
Aus der Einheit des ursprünglichen Lebenstriebes, der sich in
diese beiden hineingelebt, wird die Zusammengehörigkeit
verständlich, in der er sie beide fortwährend erblickt.
Wenn er alles Wissen hasste, das seine Tätigkeit nicht belebte,
keinen Eindruck anerkannte, der ihn nicht produktiv machte, an
der Praxis das Kriterium des theoretisch Wahren fand — so wirkt
in all dem die Gemeinsamkeit der Wurzel, die die seines Lebens
von Anfang an war.
Nachdem sie sich in Erkennen und Handeln auseinandergezweigt
hatte, blieben dieser beiden solidarische Beziehungen als Folge
und Symbol jener Wurzelung zurück.
Das klare und prinzipielle Bewusstsein dieser entscheidenden
Wendung spricht sich z. B. in einer Äusserung vom Jahre 1805
aus, in der er die Erinnerung an bedeutende Gegenstände,
besonders an charakteristische Naturszenen, mit ihrem Eindruck
nach langer Zwischenzeit vergleicht.
»Da werden wir denn bemerken, dass das Objekt immer mehr
hervortritt, dass, wenn wir uns früher an den Gegenständen
empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie
übertrugen, wir nunmehr bei gebändigter Selbstigkeit, ihnen das
gebührende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu
erkennen wissen.« Dazu erinnere man sich an alle die Äusserungen
über den Wert des praktischen Verhaltens als solchen, die in
unsren früheren Zusammenhängen hervortraten und mit seinem
steigenden Alter immer entschiednere Form annehmen.
Er ist noch keineswegs ein alter Mann, als er sagt, in seinem
Alter gebe es für ihn nur noch Wort und Tat, das sogenannte
beredte Schweigen habe er schon lange der lieben und verliebten
Jugend überlassen — eine Absage also an die gefühlshafte
Lebensepoche zugunsten der theoretisch-praktischen.
Er selbst zwar konstruiert als den Gegensatz gegen diese
letztere meistens die des dichterischen Schaffens — sowohl im
Verfolg jener Äusserung von 1805 wie zwanzig Jahre später sagt
er ausdrücklich, dass die Fähigkeit für das Künstlerische,
Ästhetische, die ihm ursprünglich eignete, ihn verlassen habe
und dass an dessen Stelle die Naturstudien getreten wären.
Dies sind indes ersichtlich Stimmungen aus dichterisch sterilen
Monaten oder Jahren. Die Tatsachen zeigen, dass ihm das Alter
die dichterische Fähigkeit keineswegs geraubt hat, aber auch ihr
gab er freilich das Cachet der Objektivität; auch sie bewahrend
wurde er nun der »Erzählende«, der das eigne Leben und seine
Inhalte gegeneinander differenziert hat, und sie nun in der Form
des Kunstwerks ebenso wieder zusammenbringt, wie in der des
Forsches und des praktischen Handelns.
Das Verhältnis der beiden Teile des Meister bildet die bisher
skizzierte Entwicklung nach.
Die Lehrjahre stehen unter dem Ideal, die Persönlichkeit
auszubilden und auszuleben. Der Selbstwert objektiver Leistungen
kommt kaum in Frage, ausser etwa bei Therese, die aber auch nach
dieser Richtung hin eigentlich schon in die Wanderjahre
überdeutet.
Dass gerade der Schauspieler und der Edelmann besondere
Schätzung erfahren, ist hierfür ausserordentlich bezeichnend.
Denn für beide ruht diese Schätzung, wenn auch in ganz
verschiedener Motivierung, keineswegs auf den spezifischen
Inhalten und substanziellen Resultaten ihrer Existenz.
Die Leistung des einen ist die schlechthin verfliessende, rein
funktionelle, deren überindividuelle Wirkung auch nur wieder auf
die funktionelle Bildung und Seinserhöhung des Publikums geht,
die Leistung des andern wird überhaupt nicht substanziiert.
Worauf es für beide ankommt, ist gerade die Befreitheit von
Lebensinhalten, die die sich selbst gehörende, aus dem
Seinsideal folgende Entwicklung der Persönlichkeit in einer
sachlichen und äusseren Ordnung festlegen könnten.
Zu solcher unsachlichen und undifferenzierten, auf das Leben als
solches gerichteten Existenz und Existenzwertung sind die Frauen
von vornherein disponierter und gerade dies spezifisch Weibliche
ist in fast all seinen möglichen Verwirklichungstypen in den
Lehrjahren durchgeführt, in Marianne wie in Mignon, in Philine
wie in der Gräfin, in Aurelie wie in Natalie.
In der letzteren am reinsten und vollkommensten, und es spricht
deshalb den tiefsten Sinn von Wilhelms Lebensintention aus, dass
er in ihr die Erfüllung all seiner Sehnsucht findet, nachdem die
erotischen Beziehungen zu den anderen Frauen schon die
Parallelität gezeigt haben, die zwischen dem Dominieren des
Gefühls und dem Ideal des gesamten Seins, das ihn leitet,
besteht.
In der ganzen Breite dieser Wertrichtung des Lebens bilden die
Wanderjahre das genaue, ja eigentlich krasse Gegenteil.
Hier liegt aller Ton auf dem objektiven Wirken, den sozialen
Institutionen, der überindividuellen Vernunft.
Die Menschen sind nur die eigentlich anonymen Träger bestimmter,
durch ihren Inhalt festgelegter Funktionen, an die Stelle der
auf sie selbst bezüglichen, für sie selbst wertvollen Ausbildung
tritt die für die Ausübung von Tätigkeiten, die sich in ein
objektives Ganzes einordnen.
Während die Luft der Lehrjahre so kontinuierlich von
Lebenswellen erfüllt ist, wie es nur geschehen kann, wo das
Leben um seiner Absolutheit willen, das Sein um seiner eignen
Vollendung willen gesucht wird, atmet man in den Wanderjahren
dünne Luft, weil die Lebensstrahlen auf je einzelne Ziele
festgelegt, gleichsam linear differenzierte sind und dadurch
leere Zwischenräume zwischen ihnen bleiben müssen.
Die Spannung der Atmosphäre zwischen dem männlichen und dem
weiblichen Pol ist fortgefallen, Männer und Frauen sind dem
gleichen objektiven Gesetz unterstellt, das nicht mehr ein
Gesetz des Seins, sondern des Wirkens und Leistens ist, und an
die Stelle des Gefühls ist die Weisheit getreten.
Das bedeutet einen Begriff der Individualität, der sich gegen
dessen frühere Formung antagonistisch abhebt und sich nach dem
Begriff der Menschheit orientiert zeigt.
Je älter Goethe wird, desto mehr tritt ihm sozusagen an die
Stelle des Menschen die Menschheit. Das Leben hat ihn überzeugt,
dass der Einzelne sich zu jener wirklichen individuellen
Vollkommenheit, die seiner Jugend vorschwebte, nicht ausbilden
kann — so soll es denn die Menschheit: »Das Jahrhundert ist
vorgeschritten, aber der Einzelne fängt doch immer von vorn an.«
Diese Vollkommenheit aber gewinnt die Menschheit nicht durch
eine qualitativ gleiche, sondern — indem er auch dieser
Abstraktion das Prinzip des Organismus bewahrt — durch die
arbeitsteiligste Ausbildung ihrer Glieder.
»Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten
dazu«, heisst es in den Wanderjahren.
»Dass ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich
leiste, wie nicht leicht ein Andrer in der nächsten Umgebung,
darauf kommt es an.« Während in den Lehrjahren das persönliche
Leben als solches differenziert wird und, weil jedes Individuum
eine Welt ist, nun ein jedes auch eine differenzierte Welt ist,
wird in den Wanderjahren eine einheitliche Welt erstrebt,
innerhalb deren also nicht die Personen, sondern nur die
Leistungen, die objektiven Bestandteile dieser Welt,
differenziert sein müssen.
Hier liegt eine der tiefsten Beziehungen und Begründungen von
Goethes Altersideal des Praktischen.
Erst das Handeln, insofern es von seinem Inhalt bestimmt und
nach seinem Resultat gemessen wird, stellt sich als Teil in die
objektive und gesellschaftliche Welt ein, die Menschheit in
diesem letzteren Sinne fordert für Goethe nicht die
Differenzierung des selbstgenugsamen, seine eigene Vollendung
suchenden Menschen, nicht sein Sein und sein Fühlen, sondern
sein Tun, sein sachgemässes Wirken; die Wendung vom Menschen zur
Menschheit bedeutet zugleich die vom Individuum als dem Träger
eines individuellen Seins zum Individuum als dem Träger einer
individuellen Leistung und besiegelte Goethes grosse Wendung vom
Wert des personalen Lebens zu dem der objektiven Inhalte des
Lebens.
Wenn man die »Idee« der Goetheschen Lebensintention formulieren,
seinem einheitlich-totalen Sollen einen Inhalt bestimmen soll,
so ist es doch: die Objektivierung des Subjekts.
In einer kaum überschaubaren Arbeit hat er das vielleicht
reichste, gedrängteste, bewegteste subjektive Leben, das wir
kennen, derart zu objektiver Geistigkeit gebildet, dass man den
ganzen Umfang und die unzähligen Ausschlagspole dieses rastlosen
innerlichen Werdens, dieser immer schwingenden, immer
empfangenden und immer zeugenden Ichfunktion wie lückenlos an
dem zeitlos ausgebreiteten Werk ablesen kann.
Die wechselnden Gefahren desjenigen, der wie Goethe sein Werk
als eine Konfession bezeichnet: entweder in ein naturalistisches
Herausbrodeln zu verfallen oder die Lebensinhalte so fest zu
verformen, dass ihre Verbundenheit mit dem Subjekt nicht mehr
fühlbar bleibt — diese Gefahren bestanden für Goethe nicht.
Was er von den Wahlverwandtschaften sagt: es wäre keine Zeile
darin, die er nicht erlebt hätte, aber auch keine so, wie er sie
erlebt hätte, drückt, wenn auch negativ und vielleicht etwas
äusserlich, das Entscheidende aus: das rein Subjektive, das er
in sein Werk hineingab und das rein Objektive, als das es in
diesem erstand.
Die anderen höchsten Künstler, deren Werk gleichfalls als
Objektivierung des Subjekts empfunden wird: Michelangelo,
Rembrandt und Beethoven, konnten in den, den sprachlichen
Mitteln gegenüber spezialistischeren Ausdrucksmöglichkeiten
ihrer Kunst das innere Dasein als Geist, Gefühl und Ethos nicht
in dem gleich lückenlosen Umfang ausbreiten.
Diese grosse menschheitliche Leistung wird eigentlich nur in
andrer Wendung durch das hier oft Wiederholte ausgedrückt:
vermöge der tiefen Einwurzelung seiner individuellen Realität in
das Kosmische und Ideelle habe er nur der Triebhaftigkeit, dem
aus sich selbst wachsenden Prozess seines subjektiven Lebens zu
folgen brauchen, um das objektiv Rechte und Tiefe, das
künstlerisch Vollendete, das ethisch Geforderte zu leisten; und
so umfassend war diese Einheit, dass alle Selbstbeherrschung,
Selbsterziehung und Resignation, deren es zur Herausbildung
dieses Ergebnisses bedurfte, zum Charakter und Rhythmus seines
unmittelbaren, subjektiven Lebens selbst gehörte.
Aber in seinen verschiedenen Epochen geht diese
subjektiv-objektive Einheit verschiedene Verwirklichungswege.
Sie zeigt sich in seiner Jugend mit einer gewissen naiven
Reinheit, indem er die Ideale des Lebens auf das Leben selbst
sammelt und die zentrale Triebkraft auf die Vollendung des
persönlichen Seins richtet.
Die Entwicklung über diese Stufe hinaus mag man als
Differenzierung oder als Objektivierung bezeichnen.
Auf sehr klare Art erweist sie die Wechselbedeutung dieser
beiden Begriffe. Überall, wo die Einheit des subjektiven Lebens
sich in Sonderbetätigungen, Sonderinteressen zerlegt, bedeutet
es, dass von dem einheitlichen Persönlichkeitspunkt Radien sich
strecken, die in ausserpersonale, objektive Gebiete
hineinreichen oder von diesen gewissermassen aus jenem
herausgelockt, herausgezogen werden.
Die ganze geistige und soziale Geschichte der Menschheit zeigt —
als einen ihrer wenigen, annähernd als gesetzlich
anzusprechenden Züge —, dass jede Arbeitsteilung ein Schritt zum
Objektivwerden der Interessen und Einrichtungen ist; je
differenzierter eine Gesellschaft ist, desto sachlichere,
unpersönlichere Normen bildet sie aus, je geteilter die
Funktionen, desto mehr ist das schliessliche Resultat, weil es
nicht mehr einer einheitlichen Person genetisch verbunden ist,
ein bloss objektives Ganzes, das die subjektiven Teilbeiträge
sozusagen in sich eingeschluckt hat und jedem dieser einzelnen
als ein Neues und Fremdes gegenübersteht.
In dem Masse also, in dem jene einheitliche Lebensvollendung
ihre Stelle in Goethes Idealbildung an das Tun und das Erkennen
abgab, in eben dem wurde sein Denken und seine Seinsintention
objektiver, bis zu dem Grade, dass schliesslich jede
Unmittelbarkeit seines eigenen Erlebens ihm ein objektiv zu
registrierendes, objektiv zu begreifendes Ereignis war.
Indem er sich in sich differenzierte, differenzierte er auch
sich und die Welt gegeneinander, jene unmittelbare,
gefühlsmässige Einheit zwischen dem Ich und der Welt machte dem
Bilde einer objektiven Welt Platz, die praktisch zu bearbeiten
und theoretisch zu erkennen ist — woneben jene Einheit freilich
irgendwie erhalten und ausserdem doch das auf diesen getrennten
Wegen zu erarbeitende Ziel bleibt.
Während er also in der Jugend die Totalität des Daseins in der
Totalität seines Subjekts empfindet, legt sich ihm später das
letztere gleichsam in eine Mehrzahl von Armen auseinander, mit
denen ein Gegenüberstehendes ergriffen wird.
In jenem ersten Sinne ruft Faust aus: »Was der ganzen Menschheit
zugeteilt ist, Will ich in meinem innern Selbst geniessen« — und
schon am Ende der Lehrjahre verkündet eine merkwürdige Sentenz
das andere: »Sobald der Mensch an mannigfaltigen Genuss Anspruch
macht, so muss er auch fähig sein, mannigfaltige Organe an sich,
gleichsam unabhängig von einander, auszubilden.
Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit geniessen will,
wer alles ausser sich zu einer solchen Art von Genuss verknüpfen
will, der wird seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedigten
Streben hinbringen.« Jene Äusserung Fausts enthält den
Pantheismus sozusagen in der Form eines Pananthropismus und
gerade diese benutzt er, fast achtzig Jahre alt, um die
Abwendung von seinem Jugendweg zu charakterisieren.
Der Faust, sagt er, »hält die Entwicklungsperiode eines
Menschengeistes fest, der von allem, was die Menschheit peinigt,
auch gequält, von allem was sie beunruhigt auch ergriffen, in
dem was sie verabscheut gleichfalls befangen, und durch das, was
sie wünscht, auch beseligt worden.
Sehr entfernt sind solche Zustände gegenwärtig von dem Dichter.«
Viele Jahrzehnte hindurch hat er als Aufgabe, eine mit jenen
gesonderten Organen zu lösende, vor sich gesehen, was seine
Jugend zu besitzen meinte, und dies eben besagt, dass die grosse
Wendung seines Lebens keinen Verlust, sondern nur eine
Metamorphose darstellt, und dass so manches, was nur in der Form
des jugendlichen Lebensganzen, des jugendlichen Fühlens
existenzmöglich schien, doch dem Alter in der Form der
Objektivität erhalten blieb.
»Mir kommt immer vor«, schreibt er einmal in späteren Jahren,
»wenn man von Schriften wie von Handlungen nicht mit einer
liebevollen Teilnahme, nicht mit einem gewissen parteiischen
Enthusiasmus spricht, so bleibt so wenig daran, dass es der Rede
gar nicht wert ist.
Lust, Freude, Teilnahme an den Dingen ist das einzig Reelle, und
was wieder Realität hervorbringt; alles andre ist eitel und
vereitelt nur.« Mit diesem Satz scheint mir jener »liebevolle
Zustand«, durch den er seine Jugendjahre charakterisierte,
gleichsam objektiv geworden zu sein.
Man kann ihm, als Gegenstück des Prinzips: die Welt ist meine
Vorstellung — wohl den Satz unterstellen: die Welt ist meine
Liebe; aber er hätte für seine Jugend und für sein Alter
charakteristisch verschiedenen Sinn.
Dem jugendlichen Herzen, das sozusagen nur sich selbst
empfinden, nur seine Liebeskräfte entfalten wollte, war dazu das
ganze Dasein gerade gross genug, wie es das Ganze umfasste, so
gab es sich dem Ganzen hin, ein Liebespantheismus, der sich etwa
im Ganymed herrlich ausspricht.
Dann aber, indem diese Einheit entschiedener in Subjekt und
Objekt auseinander geht, empfindet sich die Liebe mehr als
hervorbringend, das Dasein wird jetzt in dem Sinne ihr Objekt,
dass sie die Kraft im Subjekt ist, vermöge deren für eben dieses
das Dasein überhaupt da ist, wie in jenem
Kantisch-Schopenhauerischen Satz die Welt gerade dadurch das
Objekt für uns ist, dass unser Vorstellen sie erzeugt.
Jetzt ist die »liebevolle Teilnahme das Einzige, was Realität
hervorbringt«, sonst ist alles eitel.
Bis in diesen innerlichsten Affekt hinein also zeigt sich die
Entwicklung, die den subjektivisch-einheitlichen Zustand seiner
Jugend in die mannigfach sich formende Auseinanderlegung von
Subjekt und Objekt überführt und diese voraussetzend von neuem,
wie auf höherer Stufe, der Einheit entgegenwächst.
Aber noch schärfer bezeichnet es den Epochenwandel, dass neben
dieser tiefen Bedeutung von Liebe und Teilnahme in bezug auf
ihre nach innen gewandte Seite eine direkt gegenteilige Wertung
(nicht nur eine objektivierende) einhergeht.
Man halte sich die rückhaltlosen Hingebungen seiner jungen
Jahre, die Seligkeiten am Gefühl als solchen, die Leidenschaft
»der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen« vor Augen — und
vergleiche damit eine Reihe von Aussprüchen, die alle aus dem
Jahre 1810 stammen.
Er sagt zu Knebel, er lebe »wie die unsterblichen Götter und
habe weder Freud noch Leid«.
Und: »Es kommt mir nichts so teuer vor, als das, wofür ich mich
selbst hingeben muss.« Und: »Lieben heisst Leiden.
Man kann sich nur gezwungen dazu entschliessen, d. h. man muss
es nur, man will es nicht.« All jene frühen Äusserungen, nach
denen ihm Lust und Leid eigentlich eines und dasselbe, ein
substanziell Gleiches und Gleichwertiges sind, ruhen darauf,
dass ihm das Fühlen als innere Bewegtheit, als Pulsieren und
Auslodern der Lebensenergie das allein Wesentliche war; mit
welchem besonderen Inhalt es sich füllte, darauf kam es ihm so
wenig oder eigentlich noch weniger an, als später darauf,
welchen Inhalt die nachher inthronisierte Praxis ergreift.
Wie sich ihm nun, so sahen wir, Tugend und Laster schärfer
auseinanderlegen, so Lust und Leid; weil die Liebe Leiden
bringt, erscheint sie ihm als ein nur zwangsmässig Ertragenes,
und höchstens stellt er sich jenseits jenes Gegensatzes, wie er
sich früher gleichsam diesseits seiner gestellt hatte, auch hier
das Entwicklungsschema der undifferenzierten Einheit durch die
Trennung hindurch zur Überwindung der Differenzierung
wiederholend.
Jetzt steht er den Dingen gegenüber und seine Hingebung muss
also einen längeren, kostspieligeren, überlegteren Weg
durchmachen, als damals, wo die gefühlsmässig-ursprüngliche
Einheit von Subjekt und Objekt in der Hingebung nur ihren
selbstverständlichen empirischen Ausdruck fand.
Und endlich verrät die Äusserung über den Zwangscharakter der
Liebe wieder jenen Ersatz des Gefühls und Seinsideals durch das
Willensmässige und Verstandesmässige seines Alters.
Weil das Leben jetzt auf den bewussten Willen gestellt ist, kann
ihm als Zwang erscheinen, was in der Jugend ein einheitliches
Ausströmen gewesen war: aller Zwang steht auf einem
dualistischen Gegenüber.
Und dass man das mit Leiden Verknüpfte nur unfreiwillig auf sich
nimmt, ist ein Rationalismus des Alters, eine begriffliche
Folgerung, die seiner Jugend, alle logischen und
eudämonistischen Gegensätzlichkeiten in die Einheit seines Seins
verschmelzend, ganz fern lag.
Dass in diesem Anderswerden seiner Wirklichkeit und seines
Ideals nicht nur das gleiche Energiequantum sich umformt,
sondern dass hier, bei aller inhaltlichen Entgegengesetztheit,
organisch notwendige, gewissermassen ideell präformierte Stufen
eines unerhört einheitlichen Lebens vorliegen — eines Lebens,
das als solches, als Funktion, als Entwicklung, so einheitlich
war, dass es der Einheit besonderer.
Inhalte gar nicht bedurfte —, das ist ihm selbst freilich nicht
immer bewusst gewesen.
Er sagt als Siebziger, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst:
»Selbst das grösste Talent, welches in seiner Bildung einen
Zwiespalt erfuhr, indem es sich zweimal, und zwar nach
entgegengesetzten Seiten, auszubilden Anlass und Antrieb fand,
ist kaum vermögend, diesen Widerspruch ganz auszugleichen, das
Entgegengesetzte völlig zu vereinigen.« Begreiflich genug; im
unmittelbaren Erleben einer Periode füllen natürlich ihre
Inhalte unser Bewusstsein, und damit gerade das, was sie den
anderen Perioden entgegensetzt.
Das Goethesche Alter hat von dem Rhythmus und den Überzeugungen
seiner Jugend nichts mehr wissen wollen, hat sie so und so oft
ausdrücklich dementiert; es wäre nicht die volle Kraft der einen
in das andere übergegangen, wenn es anders gewesen wäre.
Diese Selbsterhaltung der einzelnen Lebensperiode ist ihm sehr
wohl bekannt, aber weil er weiss, wie sehr das Spezifische
seines Lebens: die volle Hinleitung seiner Einheit in die
jeweilige epochale Intention von ihr abhängt — deshalb besteht
er umso energischer auf ihr.
Er spricht das einmal ergreifend aus, als er die altdeutschen
Bilder der Boisserèeschen Sammlung kennen lernt: »Da hat man nun
auf seine alten Tage sich mühsam von der Jugend, welche das
Alter zu stürzen kommt, seines eignen Bestehens wegen
abgesperrt, und hat sich, um sich gleichmässig zu erhalten, vor
allen Eindrücken neuer und störender Art zu hüten gesucht, und
nun tritt da mit einem Male vor mich hin eine ganz neue und
bisher mir ganz unbekannte Welt von Farben und Gestalten, die
mich aus dem alten Gleise meiner Anschauungen und Empfindungen
herauszwingt — eine neue, ewige Jugend; und wollte ich auch hier
etwas sagen, es würde diese oder jene Hand aus dem Bilde
herausgreifen, um mir einen Schlag ins Gesicht zu versetzen und
der wäre mir wohl gebührend.«
Unterschieden von den Entwicklungen der Menschen, in denen sich
der geistige Prozess von seiner Seinsgrundlage abgehoben hat und
gewissermassen ein autonomes Leben, auf die vitale
Beschaffenheit des Individuums keinen Schluss zulassend, führt —
ist Goethes Bewusstsein immer unmittelbar von seinem Sein
gespeist und wenn sich seine bewussten und idealen Richtungen
wendeten, so bedeutet das stets eine Entwicklung seines ganzen,
substanziellen Persönlichkeitslebens.
Darum sind diese Entwicklungen einerseits so radikal,
andrerseits von und zu einer so tiefen Einheit und
unabreissbaren Kontinuität zusammengehalten; darum erlebt er die
jeweilige Epoche in einer gegen alles Frühere rücksichtslosen
Hingabe, während unser überschauender Blick doch allenthalben
die — niemals starren, sondern immer funktionellen — Züge
entdeckt, die diese Wechselformen durchleben.
Soweit derartige Metamorphosen von Jugendgestaltungen in die
ganz entgegengesetzte Altersform, unter Bewahrung eines tiefsten
Wesenskernes, biographischen Sinn haben, ruhen sie auf einer
selten bewussten Voraussetzung.
Wir können sehr oft solches Kontinuierende unmittelbar und rein
kaum ausdrücken, weil wir das individuelle Leben eben nur
jeweils unter irgendwelchen Alterskategorien kennen — wie wir
die Ideen, die reinen Inhalte des Daseins, immer nur in der
Formung als theoretische oder praktische, künstlerische oder
religiöse, erlebte oder gedachte ergreifen können.
Was diese in ihrer für sich seienden Inhaltlichkeit sind, können
wir nur in einer eigentümlichen, nie bis zu Ende vollziehbaren
Abstraktion ahnen, da nur jene Kategorien gleichsam die Hände
sind, mit denen wir die reinen Inhalte des Seins fassen können,
durch dieses Fassen sie aber unvermeidlich formend und, wenn wir
dies nicht wollen, uns jeder Beziehung zu ihnen beraubend.
Dies wiederholt sich an der Betrachtung des Lebens.
Wir kennen keinen Lebensvorgang, keinen verwirklichten
Lebensgehalt, der nicht der eines bestimmten Altersmomentes wäre
und unter dessen Bedingtheiten stünde.
Gewiss können wir solche Inhalte der Kategorie des Erlebtwerdens
überhaupt entrücken und unter irgend einer bloss sachlichen,
poetischen, zeitlosen usw. betrachten.
Gelten sie aber als erlebte, so sind sie damit zugleich der
Färbung, den Relationen zwischen Stück und Ganzem, der
Bewegtheitsform untertan, wie sie eben den Altersabschnitt
charakterisieren, an den ihr Erleben gebunden war.
Es ist äusserst schwierig, die unbedingte Einheit, als die sie
so gefärbt auftreten, in die Elemente des blossen Inhalts und
des Cachets der betreffenden Altersstufe zu zerlegen, bedenklich
deshalb, das Hindurchleben eines und desselben seelischen
Zustandes, Zieles, Inhaltes durch die gewandelten
Gesamterscheinungen verschiedener Lebensstufen hindurch zu
behaupten.
Diese Schwierigkeit greift tief in jegliche geschichtliche
Nachzeichnung eines individuellen Lebens ein, aber unser
tatsächliches Verfahren überwindet sie, zwar nicht mit
kontrollierbarer Methode, aber durch einen gewissen Instinkt,
der in sehr verschiedenen und je in sich einheitlichen
Phänomenen eines ablaufenden Lebens ein Identisches,
Sich-Erhaltendes herauszuerkennen glaubt.
Diese Möglichkeit bedingt es, dass wir bei Goethe von gewissen
Beschaffenheiten und Intentionen des Lebens sprechen können, die
in Erscheinungen seiner Jugend und davon sehr verschiedenen
seines Alters als ein Ungeändertes beharrt haben und gerade
daran die entgegengesetzten Lebensformationen von Jugend und
Alter rein und deutlich offenbaren — wie die beharrende Substanz
an dem Wechsel ihrer Ausgestaltungen und dieser Wechsel an dem
Beharren der Substanz kenntlich wird.
Unter dieser Voraussetzung also belege ich den Charakter der
Umsetzungen innerhalb der Goetheschen Lebensstufen noch mit
einem letzten Beispiel.
Ich erwähnte früher die ungeheure Gegensätzlichkeit der
Stimmungen, zwischen denen ihn sein jugendliches Temperament
hin- und herwarf; das Himmelhoch jauchzend, Zum Tode betrübt —
war nach seinen eigenen Geständnissen und den Zeugnissen anderer
die Formel seiner Jugend. Dies war natürlich nicht
Launenhaftigkeit der Schwäche, die von einer inneren Richtung in
die andere umspringt, weil ihr die Kraft, auf einer zu beharren,
fehlt und sie des fortwährenden Wechsels und krassen Gegensatzes
der Reize bedarf, um jeden einzelnen und das Leben überhaupt zu
fühlen.
Ganz umgekehrt war es hier die mächtige Vitalität, die drängende
Dynamik der Existenz, die ihre Inhaltspole so weit ausspannen,
sich so rastlos zwischen ihnen hin und her bewegen musste, um
Raum für ihre Bewegung zu haben, um ihre Energien nur überhaupt
unterzubringen.
Das Mass des Lebens, als blosser Kraft, die sich entladen will,
war in seiner Jugend ein so ungeheures, dass es nur in
fortwährendem Umspringen zwischen den weitesten
Stimmungsgegensätzen sich austoben konnte, vor dem
Vernunftinhalt des damit Ergriffenen natürlich oft ratlos,
widerspruchsvoll und töricht; aber gerade von hier aus verstehen
wir noch einmal das damals oft ausgesprochene Gefühl, dass
eigentlich Liebe und Hass, Gut und Böse, Glück und Leid eins und
dasselbe wären.
Es war es auch tatsächlich für ihn, weil alle diese logisch sich
ausschliessenden Empfindungen gerade in ihrer Gegensätzlichkeit
dazu dienten, dem einheitlich mächtigen Fluss seiner
Lebensfunktion ein hinreichend breites Strombett zu bieten.
Diese Vitalbestimmung seiner Jugend nun scheint mir in seinem
höheren Alter in eine eigentümliche Intellektualbestimmung
transformiert zu sein: in die auffallenden Widersprüche,
logischer wie sachlicher Art, in denen sich seine späteren
Sentenzen bewegen.
Jene funktionellen Polaritäten, zwischen denen sein Jugendleben
schwang, sind damit auf die zeitlos-theoretische Inhaltlichkeit
übergewachsen, jene gefühlshafte Spannungweite des
oszillierenden Lebens ist zur Spannung zwischen einander
ausschliessenden Theoremen kristallisiert.
Er ist sich über die Tatsache dieser Widersprüche auch ganz
klar, sucht sie objektiv in den Wanderjahren ziemlich
umständlich zu rechtfertigen, erwidert, auf sie aufmerksam
gemacht, das schon Angeführte: er sei nicht achtzig Jahre alt
geworden, um an jedem Tag dasselbe zu sagen wie am andern;
jemand, der viel mit ihm verkehrt, bemerkt verwundert, dass man
ihn nie auf eine Ansicht der Dinge festlegen könne, ehe man es
dächte, wäre er schon an einer ganz verschiedenen.
Er war sich freilich einer höchsten formalen,
individual-apriorischen Einheit seines Denkens so bewusst, dass
die Widersprüche im relativ Einzelnen (das freilich noch immer
von ganz hoher Allgemeinheit war) dagegen nicht aufkamen;
andrerseits erschienen ihm wohl diese Widersprüche, bei
festgehaltener höchster Attitüde, als der adäquate Ausdruck des
Verhältnisses von Mensch und Welt.
Auch deshalb ging er in seiner Ideenbildung immer bis zum
Radikalismus und reserveloser Allgemeinheit, weil ihm Einwürfe
und Gegeninstanzen, die solche Absolutheit hätten eingrenzen
können, im Moment der Produktion als Negatives erscheinen
mussten, gegen das seine immer am Positiven hängende Natur sich
wehrte.
Zwischen der mit dem Alter immer unbedingteren Wertung des
Positiven und Abwehr aller blossen Kritik, alles blossen
Einwandes — und der Unbedingtheit und Generalisation jeder
Denkrichtung, die unvermeidlich zu Widersprüchen zwischen seinen
Aussprüchen führte, besteht ein tiefer Zusammenhang.
Wert und Leben sind nicht darauf eingerichtet (in abstrakter
Weise hat er das auch sehr gut gewusst), von einem einzigen,
geradlinig ins Unendliche laufenden Gedanken bezwungen zu
werden.
Er genügte dem nicht durch Einschränkung der einzelnen Maxime,
sondern indem er der unbeschränkten Allgemeinheit der einen eine
ebensolche einer andren im entgegengesetzten Sinne gesellte.
Dass seine Geistigkeit aber diese Gestalt annahm, ist die
höchste und allgemeinste Erfüllung jener grossen
Evolutionsformel, nach der alles, was seine Jugend als Leben,
Lebensideal, Gefühl besass, sich in sein Alter überrettete, um
hier in der Form theoretischer oder auch praktischer Inhalte an
einer objektiven Welt zu bauen.
Diese Wendung zeitlich zu fixieren, ist eigentlich ein nur
biographisches und deshalb meiner Aufgabe fremderes Interesse;
um so mehr, als — wie es schon mehrfach an Goethes geistigem
Charakterbild hervortrat — entscheidende Motive sich bei ihm
lange vor ihrer eigentlichen Herrschaft vorbereiten und, auch
nachdem sie diese gewonnen haben, die Motive der vorangegangenen
Epoche noch keineswegs tot sind, sondern immer noch gelegentlich
nachklingen.
Dies ist gleichsam das Mittel, durch das seine Natur durch all
ihre ungeheuren Wandlungen ihre ebenso ungeheure Kontinuität
hindurchlebte.
Was er im hohen Alter als die »wiederholte Pubertät«
bezeichnete, das Auftauchen erneuter jugendlicher
Fruchtbarkeiten, ist nichts als eine besonders gedrängte
Erscheinung dieser Kategorie, nur aus dem Inhaltlichen in das
Funktionelle übertragen: aus der Wiederkehr der Inhalte früherer
Zeiten in die ihrer Kräfte und Rhythmen, ohne deren Weiterleben
doch übrigens auch jene nicht wiederkehren könnten.
Insofern steht eigentlich sein ganzes Leben im Zeichen der
»wiederholten Pubertät«, die manchmal nur aus dem chronischen
Zustand in den akut bemerkbaren übergeht.
Und sie hat ein nach der andern Zeitdimension erstrecktes
Gegenstück, für das es nur keinen gleich treffenden
Einzelausdruck gibt: ein Vorwegnehmen der Zustände und Gedanken,
die ihrem Inhalte nach erst in den Zusammenhang späterer Epochen
gehören.
Wie es überhaupt das Wesen des Lebens ist, dass seine Gegenwart
auch seine Vergangenheit und seine Zukunft in einer, mit allem
Mechanischen unvergleichlichen Weise in sich enthält, so
streckte sich bei ihm, der das reinste Leben als solches gelebt
hat, der Gegenwartsmoment in Vergangenheit und Zukunft hinein —
eine Form seines Prozesses, seiner Dynamik, für die jenes
Weiterleben des eigentlich Vergangenen und Vorwegnehmen des
eigentlich Künftigen nur der an seinen Inhalten aufzeigbare
Ausdruck war und die vielleicht eine Basis seines
Unsterblichkeitsglaubens war.
Auch an diesem freilich offenbart sich, höchst charakteristisch,
der grosse, hier behandelte Richtungswandel seines Lebens.
Er hat in einer berühmten, nachher noch einmal zu betrachtenden
Äusserung »die Überzeugung unserer Fortdauer« aus dem »Begriff
der Tätigkeit« entspringen lassen: »wenn ich bis an mein Ende
rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere
Form des Daseins anzuweisen« usw.
Aber mehr als ein halbes Jahrhundert früher schreibt er: »Dass
in den Menschen so viele geistige Anlagen sind, die sie im Leben
nicht entwickeln können, die auf eine bessere Zukunft, auf ein
harmonisches Dasein deuten, darin sind wir einig, mein Freund.«
In beiden Äusserungen das gleiche Motiv: es wird eine Zukunft
gefordert, damit die Gegenwart das, was in ihr selbst vorhanden,
aber unerlöst und unverwirklicht ist, in sie hinein
aktualisieren kann.
In der Jugend aber ist es ein »harmonisches Dasein«, eine
Vollendung der Existenz, ein gefühlshaft »Besseres«, womit die
Zukunft die Gegenwart fortsetzen soll — im Alter ist es die
Tätigkeit, die Wirkung, vor der hier ihre Seinsgrundlage
sozusagen verschwindet und die ebenso wenig nach ihren
qualitativen Gefühlsfolgen fragt.
Um dieser Kontinuität, dieses Vor- und Zurückgreifens des Lebens
willen ist für eine nur auf den geistigen Gehalt gerichtete
Betrachtung Goethes die genaue Chronologie an vielen Punkten
weder nötig noch möglich, ja, der eigentlichen Intention
gegenüber sogar irreführend.
Dennoch wäre es ganz verständnislos, damit die ungeheure
Bedeutung des Nacheinander einer grossen Entwicklungsstadien
verneint zu meinen.
Gerade darum handelt es sich ja in den jetzigen Erwägungen, dass
Goethe — und in dieser Reinheit vielleicht kein andrer der
grossen Menschen — die Idee seines Seins in einer organisch
gelebten Entwicklungsfolge verwirklicht hat; oder vielmehr,
seine Idee war von vornherein keine begrifflich stationäre,
sondern die Idee eines Lebens.
In der Zeitfolge seiner Lebensepochen, nicht etwa nur seiner
Überzeugungen, drückt sich eine zeitlose, nur sinnhafte Ordnung
aus.
Für uns ist es hier nicht im biographischen Interesse, sondern
für die sachliche Struktur seiner Geistigkeit wichtig, das oben
Gesagte zu bekräftigen, dass die jetzt besprochene Wendung, zu
der leise Ansätze schon in den ersten Weimarer Jahren sichtbar
werden, im ganzen nach der italienischen Reise entschieden ist.
Man pflegt diese als den Ausgangspunkt einer neuen Lebensepoche
anzusehen, eigentlich als die entscheidende Direktive für den
ganzen Rest des Goetheschen Lebens.
Dies scheint mir nur in einem besonderen, genau genommen, in
einem negativen Sinne richtig zu sein.
Ungeachtet aller Befruchtungen, neuer Perspektiven,
Materialgewinnsten dieser Reise, war sie doch in erster Linie
der Abschluss einer Lebensepoche und nur insofern der Beginn
einer neuen.
Italien war ihm — ich habe das früher ausgeführt — die Sättigung
eines Durstes, die Lösung unerträglich gewordener Widersprüche,
die Bestätigung seines tiefsten Lebenssinnes durch die
Anschauung dieser Natur und dieser Kunst.
Sieht man aber seine späteren Dichterwerke und Produktionen
ausser den in unmittelbarer Nachwirkung entstandenen, wie den
Römischen Elegien, an, so findet man von seiner italienischen
Existenz, in ihrer unvergleichlichen Art und Schönheit, recht
wenig Spuren; schon die Venetianischen Epigramme atmen nicht
recht italienische Luft.
Die neue, differenzielle, auf Erkennen und Handeln gerichtete
Epoche setzt zeitlich allerdings nach Italien sehr bestimmt ein,
allein innerlich ist sie doch eine Evolutionsstufe, die die
organischen Kräfte, von äusserem Erleben relativ unabhängig,
emportrieben.
Es gehört zu dem ungeheuren Glück dieses Lebens, dass seine
erste grosse Periode einen so vollendenden, erfüllenden
Abschluss fand.
Deshalb bildet es keinen Widerspruch, sondern ist gerade ein
bedeutsamer Beweis dieser Auffassung, wenn er, etwa ein
Vierteljahrhundert später, mit tiefer Erschütterung bekennt,
seit er über Ponte Molle nach Hause gefahren, habe er keinen
rein glücklichen Tag mehr erlebt — und doch, schon ein Jahr nach
Rom, seinen zweiten Aufenthalt in Italien abbricht, mit der
krassen Erklärung, Italien wäre nichts mehr für ihn.
Jene »Pyramide seines Daseins« hatte in Rom einen Gipfel
gefunden und der Weiterbau erfolgte auf einer neuen, daneben
gelegenen Basis.
Der junge Goethe starb in Rom und es ist begreiflich, dass er
sich selbst als Revenant vorkam, als er wieder italienischen
Boden betrat.
Das wäre nicht möglich gewesen, wenn das dort Gewonnene der
Eingang zu seinem neuen Leben gewesen wäre — es war nur der
Ausgang seines alten.
Er mochte dort eine Reihe fruchtbarer, in den späteren
Entwicklungen nachweisbarer Inhalte erworben haben; aber in
bezug auf den Prozess des Lebens war Italien der Höhepunkt
seiner bisherigen, durch die Hemmnisse und Widersprüche der
letzten Weimarer Jahre zu äusserster Selbstbejahung gereizten
Lebensintention, wie ich sie an einer früheren Stelle darlegte;
es ging in der gleichen Richtung nicht weiter, das Leben musste
zu neuen Formungen umbiegen und konnte das nun um so freier und
entschiedener, als die frühere Epoche sich zu dieser
harmonischen, in ihrer innerlich-äusserlichen Vollendung nicht
mehr zu übertreffenden Aufgipfelung erhoben hatte.
Er schreibt aus Rom: »Glücklich wäre ich, wenn ich jemand liebes
bei mir hätte, mit dem ich wachsen, dem ich meine wachsenden
Kenntnisse unterwegs mitteilen könnte, denn zuletzt verschlingt
das Resultat die Annehmlichkeiten des Werdens, wie die Herberge
abends die Mühe und die Freude des Wegs verschlingt.« Hier ist
also noch einmal die Formel seiner Jugend: der überwiegende Wert
des Prozesses, des persönlichen Werdens, der Dynamik sich
entwickelnder Existenz gegenüber allem blossen Resultat, allem
schliesslich fertig darzubietenden Inhalt ausgesprochen.
Dieser Ton des gefühlswarmen, subjektivischen Idealismus ist in
Rom für immer verhallt.
Aber wie es als das typische Glück seines Schicksals gelten
konnte, dass in dem Augenblick, wo die Richtung und die
Spannungen seiner Jugendepoche zu einer höchsten Lösung und
Vollendung drängten, sich ihm Italien zu dieser Ausformung der
»Idee« seiner Jugend darbot — so war auch das Leiden, das ihn
bei seiner Rückkehr erwartete, eine nicht geringere Begünstigung
solchen Abschlusses.
Man kennt die Enttäuschungen, die ihm Weimar jetzt bereitete,
die leidenschaftlichen Klagen über den kalten Empfang durch die
Freunde, über den totalen Mangel an Verständnis für sein
jetziges Sein und Wollen.
Er kam noch mit der ganzen Fülle und Schwung seiner Jugend an —
und musste vor verschlossenen Herzenstüren umkehren.
Es ist kein Zweifel: damals sprang eine Saite in ihm, für die es
keine Wiederknüpfung gab und auch das Herzlichste und
Beweglichste, was er seitdem äusserte, hatte den Ton einer
gewissen Reserve, Sachlichkeit, ja Rationalisierung.
Aber welche Schmerzen ihm auch diese Erfahrung brachte — auch
mit ihnen wurde das Schicksal zum Geburtshelfer der neuen
Epoche, auf die sein Leben aus seiner inneren Rhythmik und
ideellen Notwendigkeit heraus drängte.
Diese Epoche, die das Ideal des subjektiven Seins durch das des
objektiven Wirkens und Erkennens ersetzte, konnte ihre Leitung
und seelische Basierung nicht mehr dem Gefühl anvertrauen — was
hätte er da noch mit dem ungeänderten Ton jener Beziehungen
anfangen sollen, der ganz vom Gefühl, von der bedingungslosen
Hingabe bestimmt war? Es ist eine erschütternde Entwicklung von
der Strassburger Zeit an, von der er sagt: »Ich war überhaupt
sehr zutraulicher Natur«, bis zu dem Geständnis des Greises:
»Ich spüre immer mehr Neigung, das Beste, was ich gemacht und
machen kann, zu sekretieren.« Die Peripetie dieses langen Dramas
lag in der Rückkehr nach Weimar — aber auch damit hat ihm das
Schicksal, wenn auch mit rauhen Händen, von aussen her den Weg
gebahnt, den er von innen her gehen musste.
Er selbst schiebt, was eine geheimnisvolle Teleologie seines
Geschicks war, einer blossen und äusseren Kausalität zu, indem
er, die Leiden und Verdüsterungen nach seiner Rückkehr
andeutend, sagt: »Die Entbehrung war zu gross, an welche sich
der äussere Sinn gewöhnen sollte; der Geist erwachte sonach und
suchte sich schadlos zu halten« — worauf dann eine Schilderung
seiner wissenschaftlichen Bemühungen folgt.
Gleichviel, ob er das eigentlich Entscheidende: die Evolution
seines Lebens, die etwas Positiveres als eine blosse
»Schadloshaltung«
war, hier übersah oder verschwieg — es wiederholt sich in seinem
Verhältnis zum Schicksal die Formel seines Verhältnisses zur
Welt überhaupt.
Wie dieses es mit sich brachte, dass er nur seinen inneren
Trieben zu folgen brauchte, um an der Welt die »antwortenden
Gegenbilder« zu finden, wie sein autonomer Gedanke sozusagen
seine eigne Richtigkeit und Bewährtheit mit sich brachte — so
war auch für seine reale Lebensentwicklung das Schicksal da, um
jeder seiner organisch notwendig werdenden Epochen die
»antwortenden Gegenbilder« zu gewähren, d. h. jetzt, eine jede
schon rein durch äussere Notwendigkeit, äussere Anregung und
Darbietung so verlaufen zu lassen, wie sie sowieso von innen her
verlaufen musste.
Italien und die Weimarer Enttäuschungen gaben ihm die Mittel an
die Hand, seine Jugendepoche so reinlich, so anschaulich
abzuschliessen, wie die rückblickfreie Entschiedenheit seines
neuen Weges es erforderte.
Über die bisherige Entwicklung nun erheben sich in Goethes
Greisenzeit Symptome einer dritten Stufe.
Die geistige Reihe, die mit ihr abschliesst, lässt sich
vielleicht am besten an den Bedeutungen darstellen, die der
Begriff der Form in dieser gesamten Entwicklung annimmt.
Ich kam schon früher auf das ungeheure Problem zu sprechen, in
dessen Lösungsgeschichte die Existenz und die Produktivität des
Goetheschen Wesens eine individuelle Stelle einnimmt: wie kann
das Unendliche Form gewinnen? Nicht nur die typische menschliche
Sehnsucht geht auf das Überschreiten jeder gegebenen,
verendlichenden Grenze: in der Leidenschaft der Gefühle, nach
der Vervollkommnung des Sittlichen, dem Geniessenwollen, der
Bewährung von Kräften, der Beziehung zum Transzendenten; sondern
schon tatsächlich fühlen wir uns einem Unendlichen verhaftet: um
uns ein Weltprozess, der nach jeder Dimension hin ins
Grenzenlose geht und dem wir in einer rätselhaften Weise und mit
keineswegs scharfer Begrenzung unseres persönlichen Seins
einwohnen; in uns ein durch unendlich viele Glieder uns
zugeleiteter Lebensprozess, dessen momentane Träger wir sind und
dessen Weiterströmen ins Unendliche durch unser Leben
hindurchgeführt wird.
Diese doppelte Unendlichkeit, der Sehnsucht und der
Wirklichkeit, findet einen gleichfalls doppelt geformten
Gegensatz.
Mit all jener Verflechtung in unendliche Reihen und aller
Grenzverschwommenheit gegen ihre Kontinuität sind wir eben doch
Individuen, d. h. wir empfinden, dass jene unsichere Peripherie
unseres Wesens von einem sozusagen unverrückbaren,
unverwechselbaren, in seinen Wandlungen nur sich selbst
gehorsamen Zentrum zusammengehalten wird; aus dem unendlichen
und fluktuierenden Material des Daseins ist unser Ich als eine,
wenn auch nicht substanzielle und plastische, so doch als eine
funktionelle und charakterologische Form gebildet.
Darüber hinaus aber strebt unser Bedürfnis noch nach festen,
unzweideutigen, anschaulichen Formen der Dinge, der Gedanken,
der Daseinsinhalte überhaupt; wir sehnen uns nach ihnen als der
Rettung vor der Auflösung des Daseins in jene immer
weitergehenden Unendlichkeiten, als Haltepunkten für unseren
inneren und äusseren Blick, für die Ermüdbarkeiten unserer
Auffassungen und unserer Tätigkeiten.
Diese beiden Kategorien, als Wirklichkeiten und als Ideale,
stehen in dauerndem Kampf.
Denn alle Form bedeutet Verendlichung, Abschluss, Grenze gegen
alles andere; darum geht Kraft und Leidenschaft des Lebens
fortwährend über seine Formungen hinaus, verlöscht ihre
Grenzstriche, wirft uns über sie, die relativen und vorläufigen,
nach aussen wie nach innen hin ins Unendliche, ins Grenzen-
freie, d. h. ins Formlose.
Wie wir nun, dieses logischen Widerspruchs ungeachtet, die
Mitgift des Unendlichen in die uns unentbehrliche Geformtheit
unser selbst und unserer Welt hineinleiten und dabei doch den
Reichtum und die Macht jener bewahren könnten; andererseits die
Form in ihrer Ruhe und Strenge behaupten könnten, ohne dass sie
Starrheit und Enge und nichts als blosse Endlichkeit werde — das
ist wohl eine der Formulierungen des tiefsten Lebensproblemes
überhaupt.
Jedes Kunstwerk, das die ganze, aber doch weiterflutende
Lebensintensität seines Schöpfers in sich aufnimmt, jedes Dogma
einer irgendwie vertiefteren Religion, jede sittliche Norm, die
unseren praktischen Kräften ein umfassendstes und höchstes Ziel
gibt, jeder echte philosophische Grundbegriff ist je eine Art,
die Unendlichkeit von Welt und Leben in eine Form zu fassen, den
Widerspruch zwischen dem ewig Weiterschreitenden und
Unerschöpflichen des Daseins auf der einen Seite und dem Festen,
Anschaulichen, zur Form Verendlichten auf der anderen irgendwie
zu lösen.
Die Goethesche Jugend nun legt — ihrer Grundintention nach —
allen Ton auf die strömende Unendlichkeit des Lebens und wird
darüber so und so oft formlos, zugegeben selbst, dass
Selbstbeherrschung, Zusammengefasstheit, Anschaulichkeit bei ihm
von vornherein stark genug waren, um es zu der Alleinherrschaft
des ungeformten Seins, wie in Sturm und Drang, nicht kommen zu
lassen.
Aber die unruhigen Pendelungen seines Lebens, seine eigene
Charakterisierung dieser Epoche als einer »sehnsüchtigen«, die
Gedichte vom Typus »Wandrers Sturmlied«, die Leidenschaft für
Shakespeare, der Stil der Briefe an Kestners und Auguste v.
Stolberg, die Opposition gegen alle Schematik und einengende
Überlieferung — alles dies zeigt, wie der Rhythmus seiner
Innerlichkeit ein fortwährendes Überschreiten von Grenzen,
Zerbrechen von Formen, Sich-Hingeben an das als unendlich
empfundene Leben war.
Um die Mitte des ersten Weimarer Jahrzehnts sind die ersten
Schatten der Grenze in diese innere Unendlichkeit gefallen: »Ach
Lotte«, schreibt er, »was kann der Mensch! Und was könnte der
Mensch!« Und wenn er, wenige Monate vorher, schreibt, dass er
»immer noch im Unmöglichen eine Laufbahn vor sich sieht«, so
geschieht es mit einem gewissen Ton von Verwunderung.
Wer nur aus dem subjektiv Wirklichen heraus lebt, wie die
Jugend, der kommt leicht in das objektiv Unmögliche.
Vom Subjekt von sich aus gibt es keine Grenze im Objektiven, es
fühlt sich eigentlich allmächtig und nur zufällig begrenzt.
Und wenn dann sein hohes Alter, als Resultat lebenslanger
Versenkung in das Objektive, die Lebensintention, vom
Metaphysischen bis in das Äusserlichst-Praktische hin, auf das
»Mögliche« beschränkt — so sind jene Äusserungen, in denen das
Unmöglich-Unendliche nur noch in einer Art ideeller Wirklichkeit
schwebt, doch schon das Präludium dazu.
— Gilt jenes Unendliche nun, wie wir es wollten, als das
Ungeformte, Gestaltlose, so schob zunächst die neue, im Zeichen
der Klassik stehende Periode den Akzent auf die Form; in Italien
noch nicht so, dass irgendein Übergewicht dieser oder eine
Feindseligkeit der Prinzipien bemerkbar wäre.
Dazu lässt es der unmittelbare, über alle Grenzen hin mächtige
Lebensstrom, den seine Jugend genährt hatte, nicht kommen.
Goethes italienische Zeit gehört zu den letzten
Vollkommenheiten, zu denen es die Menschheit gebracht hat, weil
sie einen Gleichungs- oder Einheitspunkt jener grossen Antinomie
darstellt: hier fing sich die gefühlte Unendlichkeit,
Grenzunbewusstheit eines Lebens in Formen, anschauliche und
dichterische Festigkeiten und plastische Gestalten, dauernde und
geschlossene Maximen; und das Leben wurde, wenn der paradoxe
Ausdruck gestattet ist, nicht weniger unendlich, weil es in
Formen, d. h. in Endlichkeiten Platz fand, und die Formen wurden
dadurch nicht gelockerter, nicht unplastischer, dem spezifischen
Wert der Form als solcher nicht untreuer, weil sie jene Flutung
des Lebens, die immer Überflutung war, in sich aufnahmen.
Von hier gesehen ist der italienische Aufenthalt noch einmal ein
Zenith des Goetheschen Lebens.
Vielleicht ist Iphigenie hiervon der vollkommenste Ausdruck.
Hier ist, zumindest in den beiden Hauptfiguren, die grenzenlose
Fülle des Lebens, des Gefühles, der Leidenschaft; und sie wird
von einer Schönheit und Geschlossenheit innerer und äusserer
Form aufgenommen, ohne sich in ihr zu verlieren, so dass man die
tiefe, vitale Gegnerschaft beider Prinzipien — in der Jugend und
Alter Goethes zusammenstossen — wie selbstverständlich als
Harmonie hört.
In mehr als einer Hinsicht bezeichnet der Tasso den Schritt, der
über diesen Gleichungspunkt hinaus zum Übergewicht der Form
führt.
In Tasso selbst zwar ist noch das Leben in seiner ganzen
Unendlichkeit, in dem an sich formlosen Drängen seiner Dynamik.
Aber die Welt bietet ihm jetzt keine Form, in die es sich
fassen, an der es sich beruhigen könnte, sondern Tasso steht der
fest geformten Welt gegenüber, mag diese Formung in dem
Palastgesetz von Belriguardo, in der starren Gefügtheit des
Antonio-Charakters, oder in dem »Geziemenden« bestehen, das die
Prinzessin allein für erlaubt hält.
Tasso ist tatsächlich nur »die sturmbewegte Welle« und muss an
der Unnachgiebigkeit der Formen scheitern.
Schon der künstlerisch-stilistische Ausdruck symbolisiert dies:
was soll er, in und unter dessen Rede eine ins Unendliche,
Masslose drängende Leidenschaft flutet, mit diesen Menschen
anfangen, die fortwährend in geschlossenen Sentenzen reden? Es
fehlt ja auch in der Iphigenie schon nicht an der scharfen
Dialektik logischer Gegenreden; aber noch hält die Herzenswärme,
die das Ganze überströmt und sich in den Hauptfiguren sammelt,
die Gegensätze zusammen, noch ist das Gefühl mit dem
Praktisch-Ethischen und dem Sentenziösen in Gleichgewicht und
Einheit, während es im Tasso auseinanderbricht.
Die grosse Krisis von Goethes Leben setzt hier noch einmal die
Gegensätze hart gegeneinander, aber die Ohnmacht der blossen
Lebensintensität, des alle Grenzen überspülenden, in seiner
Geschmolzenheit ungeformten Fühlens ist entschieden: das
Praktisch-Normative, wie es von Antonio repräsentiert ist, und
das Weisheitshafte, das in dem sentenziösen Wesen der anderen
Gestalten dominiert, hat den Sieg davongetragen, und dieser Sieg
wird schliesslich auch von Tasso selbst als der gerechte
anerkannt.
Immerhin, es war doch noch ein Kampf, die jugendhafte
Lebensintention (gerade die Jugend Tassos wird so oft betont!)
steht immerhin nicht ohne Kraft und Recht, wenn auch nicht mit
dem entscheidenden, dem andern grossen Lebensprinzip gegenüber.
In der Natürlichen Tochter aber ist der Sieg der Form von
vornherein festgestellt, mag man den Inhalt des Stückes in
subjektiver oder in objektiver Hinsicht betrachten.
Nicht als ob es ihm an innerem Leben fehlte, wie man es ihm oft
zu Unrecht vorgeworfen hat.
Aber das Leben führt hier nicht mehr sein autonomes Dasein als
Gefühl, dem sich die Formen möglicher Existenz durch eine
glückliche Harmonie fügen, wie in der Iphigenie, oder das
mächtig und doch ohnmächtig sie über- schwillt, wie im Tasso.
Sondern das Leben will überhaupt nicht anders als in den festen
sozialen Geprägtheiten verlaufen und die ganze Frage ist nur, ob
in dieser oder in jener.
Hier ist nichts von einer Unendlichkeit um die Menschen herum
(wie es wundervoll in der tief religiösen, stets auf das
Göttliche hin gerichteten Wesensart Iphigenies und in dem von
sich aus zu ewiger Unbefriedigtheit verurteilten Charakter
Tassos angedeutet ist), und die tiefen Gegensätze der
Unendlichkeit und der Form können deshalb weder das
unbegreifliche Glück ihrer Versöhnung feiern, noch ihre Macht in
ihrem Aneinanderprall zeigen; die Tragödie liegt nur darin, dass
die von den objektiven, sozusagen historischen Schicksalsmächten
der Heldin auferlegte Lebensform der von ihr ersehnten — die
aber nicht weniger eine objektive, historisch geprägte ist —
entgegengesetzt ist.
Auch die Kunstform selbst lässt diese Wendung erkennen: während
in Iphigenie und Tasso noch lyrische Töne von subjektiver
Unmittelbarkeit klingen, ist die Natürliche Tochter vielmehr
bildhaft, an die Stelle der Farbigkeit, die in sich immer etwas
Grenzunbestimmtes, weil rein Intensives hat, ist der lineare
Stil getreten.
Ersichtlich ist dieser Prozess zwischen dem Unendlichen und der
Form nur ein sozusagen abstrakterer Ausdruck für jene
Entwicklung, in der der Lebensakzent des Gefühles von dem des
Erkennens und des Handelns abgelöst wurde.
Denn das Gefühl untersteht an und für sich nicht dem Prinzip der
Form, sondern eher dem der Farbe und der Intensität, es hat
sozusagen eine immanente Masslosigkeit, der vielleicht nur durch
ein Versagen der Kraft oder durch Hemmungen von andren Seiten
her die Grenzen kommen.
Alles Erkennen und alles Handeln dagegen ist von vornherein auf
Formen gestellt, auf eine Geprägtheit und Festigkeit, die mit
dem Sinne, wenn auch nicht immer mit der Wirklichkeit dieser
Energien gegeben ist.
Goethe war zu der Zeit, als ihm alles auf den Gewinn einer Form
für Leben und Anschauen ankam, die Klassik als das Muster aller
Form entgegengetreten.
Kein Wunder, wenn er in dem Rausch dieser Entdeckung nicht
gewahr wurde, dass es Inhalte gibt, die sich diesem Stil nicht
fügen.
Aber die geistesgeschichtliche Folge dieser Irrung Goethes ist,
dass es vielen von uns noch heute scheint, als hätte, was nicht
in den klassischen Stil eingeht, eigentlich überhaupt keine
Form.
Mit dem steigenden Alter tritt Goethes Verehrung der »Form«
immer entschiedener hervor, bis zur Formalistik hin.
Immer wichtiger werden ihm, über die Individuen hinweg, ihre
Verbindungen untereinander, die doch einerseits nur Formungen
aus dem Menschen- und Interessenmaterial sind, andrerseits dem
Einzelnen durch seine Begrenzung gegen andere und Anweisung
einer bestimmten Stelle eine sonst unerreichbare Form geben;
immer höher schätzt er die »Zweckmässigkeit«, und zwar als eine
formale Struktur der praktischen Welt, da er oft nicht angibt,
zu welchem Zweck denn das in dieser Form verlaufende Handeln
dienen soll; immer unbedingter notwendig erscheint ihm die
»Ordnung«, so dass er geradezu verkündet, er wolle lieber eine
Ungerechtigkeit, als eine Unordnung dulden! Und die Natur selbst
geht jetzt — für ihn selbstverständlich — dem parallel:
Wenn ihr Bäume pflanzt, so sei's in Reihen, Denn sie lässt
Geordnetes gedeihen.
Was an seinen späteren Aussprüchen über politische und soziale
Dinge so oft hart konservativ, ja reaktionär ist, hat mit
Klassenegoismus nichts zu tun.
Es ruht einerseits auf der Tendenz, dem Positiven des Lebens
Raum zu machen.
In allem Revolutionären, Anarchistischen, Übereilten sah er
Hemmungen, Negativitäten, Kräfteverbrauch, der nur an das
Zerstören gewandt würde.
Er glaubte die Ordnung als Bedingung der positiven
Lebensleistungen zu brauchen.
Denn, andrerseits nun, ist es in jenen Äusserungen das kosmische
Prinzip der Ordnung und formalen Gefugtheit, das er in die
menschlichen Verhältnisse fortsetzt.
Dass er dies nur durch eine streng hierarchische und
aristokratisierende Technik für herstellbar hält, das ist
freilich diskutabel und zeitgeschichtlich bedingt, aber es
trifft nicht das letzte gesinnungsmässige Motiv.
So gilt auch jetzt seine Polemik der rein geistigen
Ungeformtheit, Ungeordnetheit, sowohl nach der Vergangenheit
(auch der eigenen) hin, wie für die Gegenwart; das Chaotische
ist ihm der Feind schlechthin.
In seinen sechziger Jahren bezeichnet er es als die
»Hauptkrankheit« der Rousseauperiode, dass »Staat und Sitte,
Kunst und Talent mit einem namenlosen Wesen, das man aber (!)
Natur nannte, in einen Brei gerührt werden sollte«.
Aber er kennt sehr wohl die Bedeutung dieser Epoche für sich
selbst, denn er fährt fort: »Ward ich nicht auch von dieser
Epidemie ergriffen, und war sie nicht wohltätig schuld an der
Entwicklung meines Wesens, die mir jetzt auf keine andere Weise
denkbar ist?« Und ungefähr gleichzeitig spricht er sich über die
im Geistesleben herrschende Phantastik aus: »Das will Alles
umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische,
doch noch mit unendlichen Schönheiten im Einzelnen [was fehlt,
ist also die Formung des Ganzen].
Für uns alte Leute ist es zum Tollwerden, wenn wir da um uns
herum die Welt müssen vermodern und in die Elemente müssen
zurückkehren sehen, dass, weiss Gott wann, ein Neues daraus
entstehe.« Diese ethisch-vitale Wertung der Form steht
ersichtlich in tiefem Zusammenhang mit dem früher besprochenen
Übergewicht, das seine höheren Jahre der Kunstform gegenüber dem
Kunstinhalt beilegen — bis zu dem Grade, dass ihm die
Bedeutsamkeit des Gegenstandes sogar als Hindernis für die
Vollendung des Kunstwerks als solchen erschien.
Der Eigenwert des Gegenstandes schlägt gewissermassen über die
Grenzen hinaus, die ihm die artistische Formung auferlegt; nach
ihrer eigenen Bedeutung stehen die Gegenstände in den
kontinuierlichen, unendlichen Zusammenhängen der Realität, die
Kunst schneidet sie heraus zu einem eingerahmten Bilde, formt
sie, indem sie ihnen Grenzen gibt, die ihrem natürlichen Sein
und seiner Werterstreckung fehlen.
Auch die Reinheit seines späteren Artistentums hat so in der
Metaphysik seiner Altersperiode ihre Grundlage.
Auch hierin zeigt er sich gewissermassen als der typische
Mensch; nur dass solche Wendungen, die sonst einem Sinken der
Kraft parallel gehen, bei ihm etwas durchaus Positives sind,
Stadien, die nicht aus einem Verlust, sondern aus der nur ihre
Äusserungen wechselnden organischen Entwicklung der Energie
hervorgehen.
Im allgemeinen fragt die Jugend nicht viel nach Formen, weil sie
aus ihrem blossen Kraftvorrat heraus jeder auftretenden
Situation und Forderung meint genügen zu können; das Alter sucht
festgeprägte, ideell oder historisch vorbestehende Formen, weil
sie ihm den Aufwand immer neuen Einsetzens der Kräfte,
zweifelhafter Versuche, absolut eigner Verantwortungen ersparen.
Für Goethe aber ist es nur eine neue prinzipielle Gestaltung, in
der seine Kraft auftritt — ungefähr wie die Hingebung und Demut
gegen das Göttliche, die bei Unzähligen nur aus eigener Schwäche
und Haltlosigkeit hervorgeht, bei dem wahrhaft religiösen
Menschen gerade die Ausformung seiner höchsten und zentralsten
Kräfte ist.
— Diese Verteilung der kategorialen Akzente an Unendlichkeit und
Form auf Jugend und Alter geht neben anderem auch auf die
Verschiedenheit des Verhältnisses zurück, das die Einzelheiten
des Lebens in diesem und in jenem Stadium zu seinem
Gesamtquantum besitzen.
Was die Jugend auch erlebe — im Hinblick auf die Zukunftsfülle,
die sie noch vor sich hat, ist sein Mass gar nicht abzuschätzen,
das Leben ist so unabsehlich, wird noch so unendlich Vieles
bringen, dass die Bedeutung der einzelnen Leistung oder
Erfahrung eigentlich quantite negligeable wird, wie jede noch so
grosse endliche Grösse im Verhältnis zum Unendlichen sich der
Null nähert.
Indem das Alter aber den abgeschlossenen Horizont vor sich hat,
den Grenzstrich des Lebens mit annähernder Sicherheit setzt,
wird der Nenner des Bruches, dessen Zähler das einzelne, in
seiner Bedeutung zu fixierende Erlebnis bildet, eine endliche
Grösse und mit ihm der Bruch, das Erlebnis selbst.
Lust und Leid, Leistung und Versagen der Leistung ist jetzt ein
angebbarer, aliquoter Teil des Lebensganzen, man hat damit
soundso vieles definitiv hinter sich gebracht, während eben
derselbe in dem Unendlichen, das noch vor der Jugend liegt, als
ein gar nicht recht bestimmbarer Teil verschwindet.
Auf diese unterschiedenen Relationen zwischen dem Einzelnen und
dem Ganzen des Lebens braucht nur hingewiesen zu werden, damit
sofort hervorleuchte, dass auch auf sie die funktionelle
Unendlichkeit als Lebensprinzip der Jugend und die feste, zur
Anordnung drängende Geformtheit als das des Alters zurückgeht.
Aber ebenso wird gerade an diesem Moment klar, wie hier nur ein
Gestaltwechsel des Lebens vorzuliegen braucht, der keineswegs
auf einer Änderung des Kraftmasses, sondern nur des Blickes über
das Kraftmass beruht.
Dennoch liegt vielleicht hier die Erklärung für einen
eigentümlichen negativen Zug in Goethes Gesamtbild.
Ich habe es in diesen Blättern oft genug als die umfassendste
Formel seiner Produktion hingestellt, dass zwischen seinem
natürlichen, vom terminus a quo her wirkenden Triebe zum
Schaffen, Bilden, Handeln — und den wertentscheidenden Normen
für das Geschaffene und Erwirkte eine tiefere,
selbstverständlichere Harmonie herrschte, als die Menschen sie
sonst zu besitzen pflegen, dass er mehr als andere nur seinen
unmittelbaren Impulsen, dem, was seiner Natur gemäss war, zu
folgen brauchte, damit das theoretisch, dichterisch, sittlich
Normgemässe sich ergäbe.
Dieses: dass er auch sein Schwierigstes und Vollkommenstes, nach
seinem eigenen Ausdruck, »spielend« und als »Liebhaber«
geschaffen habe — gilt sicher für den Goethe, auf den es
ankommt, für die »Idee Goethe«.
Allein der Schluss aus dieser Harmonie zwischen der subjektiven
Lebensäusserung und der Objektivität der Dinge und Normen: dass
all sein Geschaffenes objektiv vollendet wäre — ist durch die
Tatsachen keineswegs bestätigt.
Wir wissen sogar von keinem der grossen Schöpfer, dass sein Werk
soviel Minderwertiges, soviel theoretisch und künstlerisch
Unzulängliches, in seiner Unzulänglichkeit kaum Begreifliches
enthielte.
Die bildenden Künstler höchsten Ranges scheiden hier für die
Vergleichung von vornherein aus, weil bei ihnen, gemäss der
Sonderart ihrer Kunst, schon auf den blossen Duktus der Hand ein
solches Mass ihrer Genialität entfällt, dass hier das
schlechthin Wertlose und »Gottverlassene« sozusagen a priori
ausgeschlossen ist, jedenfalls nur sehr selten vorkommen kann.
Aber obgleich Dante und Shakespeare, Bach und Beethoven die Höhe
derjenigen Leistungen, die ihren künstlerischen Rang überhaupt
bestimmen, keineswegs mit jedem Werk und Werkteil erreichen, so
ist doch das Mass der dahinter zurückbleibenden bei keinem
annähernd so gross wie bei Goethe.
Das Quantum von Unpoesie und fahriger Banalität, das er etwa nur
in den Theaterreden, den Gedichten an Personen, den
Revolutionsdramen geleistet hat, gehört zu den erstaunlichsten
Vorkommnissen aller Geistesgeschichte.
Gewiss leidet der Rang, den er als Einheit und Ganzheit
einnimmt, darunter nicht, denn dieser wird bei dem Künstler
nicht von einem Durchschnitt seiner Leistungen, sondern — mit
leicht ersichtlichen Vorbehalten — ausschliesslich durch die
Höhe seiner höchsten bestimmt; alles, was erheblich unter dieser
bleibt, ist dafür so gleichgültig, wie wenn es überhaupt nicht
produziert wäre (es sei denn, dass es als »schlechtes Beispiel«
wirkte).
Immerhin stellen diese Wertausfalls-Erscheinungen bei Goethe ein
Rätsel, für das mir eine ganz befriedigende Lösung fehlt.
Der Gesichtspunkt, unter den ich es am Anfang dieser Blätter
rückte, gibt wohl jenen negativen Werten sozusagen als
Lebenstatsachen eine mögliche Stelle.
Allein Goethe lebte doch nicht nur den subjektiven
Lebensprozess, der solche Tiefstände durchmachen mochte, sondern
er stand dessen Erzeugnissen zugleich oder wenigstens nachher
als Urteilender gegenüber; und das Versagen dieser Hemmung, mit
der der Mensch sich gleichsam über sein eignes Leben stellt,
wird durch die Schwankungen dieses Lebens selbst nicht
hinreichend erklärt.
Man könnte allenfalls an eine Art von souveräner Lässigkeit
denken, die auf beliebige Anregung hin irgendetwas hinstellt,
bloss um sich mit dieser abzufinden, allenfalls mit einer
gewissen Ironie gegen das Publikum und gegen sich selbst.
Allein eine solche Begründung mag hier und da zutreffen, dass
sie für den ganzen Kreis der fraglichen Produktionen gelte, wird
schon durch dessen ausserordentlichen Umfang ausgeschlossen.
Dagegen gibt die hochgestiegene Wertung der Form als solcher
vielleicht einen Hinweis, insbesondere da jene eigentümlich
leeren, gewichtslosen Erzeugnisse sich fast nur in seinem
höheren Alter finden — während gleichzeitige bedeutsame
Betätigungen die Begründung aus blosser Senilität nicht
aufkommen lassen.
Er hatte schliesslich ein so starkes Bedürfnis, dem subjektiven
Leben und den objektiven Daseinsinhalten überhaupt Form zu
geben, jedes einzelne in einen bestimmenden Zusammenhang
ästhetisch-formaler oder theoretisch-allgemeiner Art
einzustellen, auch das Minimalste irgendwie zu gestalten, dass
darüber die überformale Bedeutung der Inhalte so und so oft
seinem Interesse entschwand.
Man bedenke dazu das durchaus Hierhergehörige, an sich nicht
weniger Rätselhafte: die unsägliche Toleranz, die er im Alter
für ganz minderwertige Literatur bewies.
Ein grosser französischer Dichter unserer Zeit sagte einmal
gegenüber mittelmässigen Gedichten: Faire des vers, c'est
toujours tres bien — und dies war keineswegs ironisch gemeint.
Sondern es ist das Interesse, das der schöpferische Mensch oft
an der Gestaltung der Weltmaterie nach seinen Schöpfungsformen,
nur als Formen, besitzt, und das der bloss Geniessende nicht
leicht nachfühlen kann.
Es scheint mir nun höchst bezeichnend, dass Goethes Interesse an
künstlerischer und geistiger Formung sogleich zum Gegenteil von
Toleranz führt, wenn er jene andere Vitalidee wittert, von der
aus er sich zu der der Form und Ordnung hinüberentwickelt hatte:
Prinzip und Intention des Unendlichen.
In durchaus verschiedenen, offenen und versteckteren
Modifikationen herrscht dies in Jean Paul, in Kleist, in
Hölderlin.
Mag das Masslose, Grenzenüberspringende bei dem einen äusserlich
sichtbar, bei dem andern nur innerste Lebensbestrebung sein: von
Goethes Altersposition aus gesehen fiel die Wesensentscheidung
dieser drei auf die Seite des Unendlichen, statt auf die der
Formen, und gerade ihre Bedeutung musste Goethes Abneigung noch
entschiedener machen — während die inhaltliche Unbedeutendheit
aller möglichen kleinen Schriftsteller gerade das sozusagen
Formale der geistigen Lebensformung relativ stark hervortreten
liess.
Eben die Toleranz, die Goethe gegen diese zeigte, hatte er auch
gegen sich selbst.
Er war zufrieden, mit jeder von jenen zahllosen
Gelegenheitsproduktionen immer einen Moment dem ins Unendliche
fliessenden, in diese Unendlichkeit alle Grenzbestimmtheit der
Inhalte auflösenden Leben zu entreissen.
Man mag das immerhin als eine Hypertrophie des Formungssinnes
bezeichnen, da es fraglich bleibt, ob die Form einen andern
definitiven Sinn haben kann, als die Vollendung jener
Lebenssubstanz, die in letzter Instanz doch als unendliche wird
gelten müssen.
Dies steht für uns nicht zur sachlichen Entscheidung.
Aber wie er lieber eine Ungerechtigkeit als eine Unordnung
ertragen wollte — während es doch nicht weniger fraglich ist, ob
nicht alle Ordnung ihren schliesslichen Zweck in der
Gerechtigkeit hat — so wollte er, so paradox dies klingen mag,
von einem gewissen Alter an lieber ein unbedeutendes Gedicht
machen als gar keines, wenn ein Moment des Lebens sich solcher
Formungsmöglichkeit bot — und es ist nicht unmöglich, dass auch
sein fortwährendes Betonen, dass gehandelt, gewirkt werden muss,
ohne dass er doch immer den Endwert und Inhaltssinn solcher
Tätigkeitsforderung angäbe, dem gleichen Streben nach einer
begrenzenden, irgendwie ordnenden, formenden Bearbeitung des
unendlichen Weltstoffes zugehört.
Und nun endlich komme ich auf den von vielen Seiten angedeuteten
Punkt, auf den die Einstellung der Goetheschen
Entwicklungsperioden unter die Kategorie der Form führen sollte.
Neben aller Herrschaft dieser Kategorie nämlich zeigen sich in
seinem hohen Alter Spuren eines weiteren geistigen
Entwicklungsstadiums, das ganz fragmentarisch geblieben ist, das
aber nur als ein Durchbrechen und Überwinden des Formprinzips zu
bezeichnen ist.
Das entschiedenste Symptom dafür sind die Vergewaltigungen des
sprachgebräuchlichen Gefüges, insbesondere im zweiten Teil des
Faust.
Dahin gehören schon die Wortzusammenziehungen: Glanzgewimmel,
Lebestrahlen, Pappelzitterzweige, Gemeindrang.
Noch entschiedener, wo die einzelnen Ausdrücke nur asyndetisch
hingeworfen scheinen: Worte die wahren, Äther im klaren, ewigen
Scharen, überall Tag.
In noch weiterem Bezirk: das logisch gar nicht organisierbare
Chaos der klassischen Walpurgisnacht.
In diesen Erscheinungen tritt das Spezifische der Alterskunst
hervor, mit der manche der allergrössten Künstler eine mit allem
früheren unvergleichbare Ausdrucksstufe gewinnen: Michelangelo
vor allem mit der Pietä Rondanini und den späten Gedichten und
Frans Hals mit den Regentinnen des Waisenhauses, sogar Tizian in
den Greisenwerken, am unzweideutigsten Rembrandt mit den späten
Radierungen und Porträts, Beethoven mit den letzten Sonaten
(insbesondere den beiden Cellosonaten) und Quartetten — bis zum
Parsifal und »Wenn wir Toten erwachen«.
Ich versuche, dem Gemeinsamen, in alledem Fühlbaren,
begrifflichen Ausdruck zu geben.
Man hat diesen Altersstil als Impressionismus bezeichnet, als
sei den Greisen die Kraft, ein Ganzes einheitlich formend
zusammenzuhalten, verlorengegangen und als hätte es nur zu den
Aufgipfelungen einzelner Momente zugereicht, die subjektiv
blieben; denn sie wären eben nicht zu einer für sich bestehenden
Form gelangt, die nur als eine ununterbrochene, wechselwirkende
Verbundenheit der einzelnen Impulse, Ideen, Schauungen zustande
käme.
Dies erscheint mir ganz oberflächlich.
Die Tatsache selbst ist ja unbestreitbar: in all solchen Werken
fühlen wir einen in starken Flutwellen hervorbrechenden
Subjektivismus und ein Zerbrechen synthetischer Ganzheitsformen.
Die Frage ist nur, in welchem Sinn hier das Subjekt und in
welchem die Form verstanden werden muss.
Zunächst: die Formen, die die Alterskunst vernachlässigt, sind
die historisch geprägten.
Welche malerischen Mittel, welcher musikalische Satzbau und
welche Harmonik, welche Relation zwischen poetischem Ausdruck
und gemeintem Inhalt, welche syntaktische Struktur und welcher
logische Zusammenhang sonst als der normative anerkannt ist —
darum ist die Alterskunst der grossen Künstler sehr unbekümmert.
Unleugbar aber geht sie noch weiter und lässt nicht nur gegen
die in der bisherigen Entwicklung vorliegenden Formimperative,
sondern allerdings auch gegen das Prinzip der Form überhaupt
eine gewisse Sorglosigkeit, ja vielleicht Verneinung und
Gegnerschaft in sich aufkommen.
Was sie im letzten Grunde will, entzieht sich nicht nur dieser
und jener Form, sondern vielleicht dem Ausdruck, sozusagen, in
der Form der Form.
Nun ist Form, insoweit vom Geist Aufgefasstes, vom Geist
Gestaltetes in Frage steht, immer ein Prinzip der Objektivität
und darin liegt ihre metaphysische Bedeutung in der Ethik wie in
der Kunst.
Wo wir einem Inhalt eine Form zusprechen oder verleihen, hat
sie, jenseits dieser Verwirklichung, eine ideelle, mindestens
zeitlose Präexistenz; indem sie »geschaffen« wird, folgt der
Schöpfer einem in innerer Anschauung, innerem Gegebensein
Vorgezeichneten — wie schon der griechische metaphysische Mythus
den Weltschöpfer auf die ewigen Ideen oder Formen hinblicken
liess, um nach ihnen den Dingen ihre Gestalten zu geben.
Jedes Inhaltsstück des Daseins, inbegriffen die seelischen
Vorgänge als Realitäten, ist einzig, eben dieses kann nicht
zweimal existieren, es ist schlechthin nur es selbst an dieser
Stelle von Raum und Zeit und darum kann man jedem realen Inhalte
metaphysische Subjektivität zusprechen: er kann über dieses, in
seinen Grenzen beschlossene Für-sich-Sein nicht hinaus.
Der Stoff des Daseins, das seinem Begriffe nach Formlose und
deshalb ein Indefinitum und Infinitum, kann sowohl als Ganzes
wie in jedem Stück schlechthin nur einmal da sein; die Form
umgekehrt, das Begrenzte und Begrenzende, ist unbegrenzte Male
zu realisieren.
Daher ist sie das Objektive, weil sie über jede einzelne ihrer
Verwirklichungen, auch wenn sie zum ersten und zum letzten Male
nur an dieser aufträte, dennoch hinausgreift, weil es für sie in
ihrem ideellen Bestande gleichgültig ist, ob sie an diesem oder
an jenem, an einem oder an tausend Stücken des Stoffes
verwirklicht wird.
Dies ist ihre Objektivität, dies macht jede konkrete Existenz
ihr gegenüber zu etwas Zufälligem und auf sich selbst
Angewiesenem, Subjektivem; und solche Existenz wird in dem Masse
objektiv, in dem man eben an ihr die Form spürt.
Je mehr unser Handeln, Denken, Gestalten sich der gegebenen
Unmittelbarkeit, der blossen Stofflichkeit entringt, um von Form
durchdrungen zu werden, desto objektiver steht es da, desto mehr
teilhabend an jener ideellen Freiheit des Formprinzips von der
verfliessenden Einmaligkeit subjektiven Daseins.
Dies ist der Grund, weshalb die Alterskunst, in deren
Souveränität gegenüber den historisch geprägten Formen sich eine
Abweisung des Formprinzips überhaupt versteckt, der blossen
Subjektivität anheimzufallen schien.
Aber vielleicht steht hier eine Überwindung des ganzen
Gegensatzes in Frage; vielleicht ist das Subjekt, das hier
heraustritt, gar nicht mehr das zufällige, vereinzelte, erst
durch Formung zu erlösende, wie es in der Jugend der Fall ist.
In ihr bedarf die subjektivische Formlosigkeit der Aufnahme in
eine historisch oder ideell vorbestehende Form, durch die sie
zugunsten einer Objektivität entwickelt wird.
Im Alter aber hat der grosse gestaltende Mensch — ich spreche
hier natürlich von dem reinen Prinzip und Ideal — die Form in
sich und an sich, die Form, die jetzt schlechthin nur seine
eigene ist; mit der Vergleichgültigung alles dessen, was die
Bestimmtheiten in Zeit und Raum uns innerlich und äusserlich
anhängen, hat sein Subjekt sozusagen seine Subjektivität
abgestreift — das »stufenweise Zurücktreten aus der
Erscheinung«, Goethes schon einmal angeführte Definition des
Alters.
Jetzt braucht der Mensch keinen umfassenden Rahmen mehr, um die
Einzelheiten seiner Äusserungen und Betätigungen zu spannen,
weil jede einzelne schon die ganze Lebensweite, die in diesem
Menschen wirklich und ihm möglich ist, unmittelbar darstellt.
Es ist also gerade das Gegenteil von Impressionismus, da dieser
ein Erlebnis, eine Relation zwischen dem Subjekt und dem, was in
irgendeinem Sinne ausserhalb seiner ist, nur von der
Einseitigkeit des Subjekts selbst her vorträgt — während hier
die absolute Verinnerlichung vorliegt, mit der das Subjekt
reine, objektiv geistige Existenz wird, so dass ein Äusseres ihm
sozusagen gar nicht mehr existiert.
Da nun aber auch der alte Mensch schliesslich in der Welt lebt,
so fern ihm auch ihre Einzelheiten und Äusserlichkeiten rücken
mögen, da er als Künstler schliesslich von ihr und den Dingen in
ihr reden muss — so ist begreiflich, dass seine Rede, ja sein
ganzes geistiges Dasein symbolisch wird; d.h. dass er die Dinge
nicht mehr in ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Eigenexistenz
ergreifen und benennen will, sondern nur insoweit die
Pulsschläge seines mit sich allein lebenden, sich selbst Welt
seienden Innern Zeichen für sie sein können, oder sie selbst
Vertretungen und Gleichnisse jener.
Goethe spricht, wie ich schon anführte, im hohen Alter einmal
von der Äquivalenz verschiedenster Lebensinhalte und begründet
das damit, dass er »all sein Wirken und Leisten immer nur
symbolisch angesehen« habe.
Aber darin offenbart sich sein, mit dem Alter immer steigender,
oft um hohe Preise durchgesetzter Wille zur Einheit des Lebens.
Denn vielleicht ist jenes symbolische Erfassen der Lebensinhalte
überhaupt unser einziges Mittel, das Leben einigermassen als
eine Einheit vorzustellen.
Unser »Wirken und Leisten« ist in seinen Zielen und Werten,
seinen Zufälligkeiten und Notwendigkeiten, seinem Erreichen und
Verfehlen etwas so unendlich Zersplittertes, Zusammenhangloses,
in sich Divergentes, dass das Leben, auf seine unmittelbaren
Inhalte hin angesehn, als eine wüste Vielheit erscheint; erst
wenn man sich entschliesst, alles einzelne Tun nur als ein
Gleichnis anzusehen, unsere praktische Existenz, wie sie sich
empirisch bietet, als ein blosses Symbol einer tieferen,
eigentlich wirksamen Realität -- so ist darin die Möglichkeit
einer Einheit gewonnen, einer verborgenen, ungespaltenen Wurzel
des Lebens, die all jene auseinanderstrebenden Einzelbewährungen
aus sich entlässt.
Eben damit aber ist der mystische Charakter dieser
Alterssymbolik dargetan.
Goethe hat einmal, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst,
»Quietismus« und »Mystik« als die Wesenszüge des Greisenalters
bezeichnet.
Unter Mystik versteht er hier sicherlich das, was ich das
Symbolische nannte; es ist der Chorus mysticus, der den
Symbolcharakter aller gegebenen Welt verkündet: »Alles
Vergängliche ist nur ein Gleichnis.« Goethe hat mit jener
Doppelqualität die Altersperiode — insofern sich eben Elemente
ihrer spezifisch von seinen früheren Existenzformen abheben —
unzweideutig bezeichnet.
Dieser »Quietismus« ist nichts anderes als jenes
»Zurückgetretensein aus der Erscheinung«, die In-sich-Existenz
des Subjekts, das jetzt einen ganz anderen und nicht mehr den
relativen Sinn hat, als da es noch ein Objekt sich gegenüber
hatte.
Er ist jetzt selbst alles, was er von Welt sein und was er von
Welt wissen kann und hat deshalb zu der sogenannten Welt nur
noch das Verhältnis des »Symbolischen«.
Zwischen diesem Subjekt und der objektiven »Form« entfällt damit
der ganze Gegensatz.
Denn die Objektivierung, die sonst die irgendwie
präexistierende, jenseits des Subjekts, wenn auch in seinen
eigenen Schöpfungen bestehende Form diesem Subjekt zutrug, die
hat es, nun von sich selbst und zu sich selbst erlöst, in der
Unmittelbarkeit seines Lebens und Sich- Äusserns.
Es ist fast schon zu viel, hier von der »eigenen Form« zu
sprechen, die die vollendete Altersexistenz und Alterskunst
zeigte.
Ihrer reinen, wenngleich ersichtlich nie empirisch ganz
realisierten Idee und Intention nach hat dieses Leben überhaupt
keine »Form« mehr, die von dem Stoff seiner Subjektivität zu
scheiden wäre: das ganze Prinzip der Form ist gegenüber diesem
schlechthin objektives Selbstsein gewordenen Subjekt belanglos.
In diesem Sinn kann man sagen, dass jene Formlosigkeiten, jener
Zerfall der Synthese in Goethes hohem Alter das Anzeichen davon
ist, dass seine grosse Lebensbestrebung: die Objektivation des
Subjekts, sich in seinem höchsten Alter vor, wenn auch
vielleicht nicht in einer neuen, geheimnisvoll absoluten
Vollendungsstufe gesehen hat.
Ist hierdurch der Nerv der letzten Epoche Goetheschen Lebens,
insoweit sie sich von den anderen unterscheidet, getroffen —
obgleich sie ihr Unvergleichliches nur mit Andeutungen und
Ansätzen in das Weiterleben dieser früheren mischt —, so
verbindet sich gerade damit ein Aspekt für die Totalität dieses
Lebens.
Es ist vielfach ausgesprochen worden, dass auch die
wissenschaftlichen Theorien Goethes ebenso wie seine ganze
Lebensauffassung, beides sowohl in dem Grossen und Bedeutenden
wie in dem Zweifelhaften und Unwirksamen, von seinem Künstlertum
bestimmt seien.
»Für's Ästhetische«, schreibt er in späterem Überblick, »bin ich
eigentlich geboren.« Seine Art der Naturverehrung, die
Überzeugtheit von dem sichtbaren Einwohnen der Idee in der
Erscheinung, die »Anschaulichkeit« seines Denkens, die Bedeutung
der »Form« in seinem Weltbild, die Leidenschaft für Harmonie und
Abgerundetheit des theoretischen wie des praktischen Daseins —
alles dies sind, namentlich in ihrem Zusammenkommen,
Bestimmtheiten der seelischen Existenz nach dem Apriori des
Künstlertums; es ist das »Urphänomen« zu seinen
Lebensphänomenen, dass er Künstler ist.
Nun aber hat er selbst angedeutet, dass hinter den Urphänomenen,
dem letzten für uns Ergreifbaren und Erforschlichen, noch
irgendein Allerletztes steht, das sich allem Blick und
Bezeichnung entzieht.
Und so nun hat das artistische Fundament und Funktionsgesetz
seines Wesens noch etwas Tieferes hinter sich, eine nicht
benennbare Wesenheit, die auch seine ganze künstlerisch
bestimmte Erscheinung noch trägt und umgreift.
Natürlich ist dies nicht sein Privileg, sondern in eben diese
Schicht streckt sich die letzte Realität jeder menschlichen
Existenz.
Nur ist sie bei Goethe in besonderer Weise fühlbar, weil eben
die Einzelheiten, die primären Phänomene seines Wesens schon zu
einer Einheit, zu einem anschaulichen, sie alle tragenden oder
durchdringenden Urphänomen — dem künstlerischen — zusammengehen,
wie es bei den wenigsten anderen Menschen der Fall ist.
Er hat — gerade in und mittels der Spannung sowohl der
gleichzeitigen wie der Entwicklungsgegensätze seiner
Persönlichkeit — schon eine Einheit innerhalb des Empirischen,
wie wir andern sie erst in der dunkeln Vorstellung jenes
noumenalen Absoluten in uns suchen müssen.
Dadurch hebt sich bei ihm dasjenige, was überhaupt empirisch und
aussagbar ist, von dem andern, das Geheimnis bleiben muss,
reinlicher ab, als wo die unmittelbaren Einzelheiten grade in
diesem zu konvergieren scheinen.
Die ganze Weite seiner Existenz, auch insoweit sie von dem
Urphänomen des Künstlertums beherrscht scheint, wäre gar nicht
möglich, wenn dieses selbst nicht die Ausstrahlung oder die
Handhabe eines Höheren, Allgemeineren oder, wenn man will,
tiefer Persönlichen gewesen wäre; innerhalb einer mehr
empirischen und psychologischen Schicht mag man das so
ausdrücken, dass der Künstler eine gewisse letzte Grösse auch
rein als Künstler nicht erreicht, wenn er nicht mehr als bloss
Künstler ist.
Zweifellos vertieft es das Goethesche Bild in der richtigen
Richtung, wenn man alle Äusserungen seines Lebens, auch die
intellektuellen, die ethischen, die rein personalen, auf den
Generalnenner des Künstlertums zurückführt — aber die letzte
Instanz ist damit noch nicht erreicht.
Nur dass diese freilich nicht in Begriffen zu fixieren, sondern
nur in einer inneren, gefühlsmässigen Anschauung zu
vergegenwärtigen ist.
Und zwar nicht nur wegen der transzendentalen Tiefe, in der dies
Letzte der Persönlichkeit bei Goethe, wie bei allen Menschen
überhaupt wohnt, sondern weil es sich bei ihm, dem
unspezialistischsten aller Menschen, noch mehr als bei allen
anderen gegen jede Benennung seiner Färbung wehrt, die
unvermeidlich etwas Einseitiges und Exklusives wäre.
Deutlicher als gegenüber irgendwelcher sonstigen historischen
Gestalt fühlen wir hier diese eigentümliche, noch wenig
betrachtete Kategorie, die uns für jeden Lebenden, sobald wir
ihn einigermassen kennen, bestimmend ist: das Allgemeine seiner
Persönlichkeit, das aber nicht als Abstraktum aus seinen
einzelnen Zügen und Betätigungen zu gewinnen ist, sondern eine
Einheit, die nur einem unmittelbaren seelischen Kennen zugängig
ist.
Es ist eine andere Wegerichtung, das Allgemeine über Einzelnem
zu erfassen, als sie der begriffebildende Verstand geht.
Auch diesem versagen sich ja jene singulären Phänomene des
Individuums nicht, und er führt z. B. bei Goethe zu dem
Künstlerhaften, das wir als den gemeinsamen Zug aus seinen
empirischen Mannigfaltigkeiten abstrahieren können.
Wie wir nun aber jeden uns näherstehenden Menschen jenseits
solcher, noch so umfassender Angebbarkeiten »kennen«, in einer
besonderen, nicht verstandesmässigen, nur erlebbaren Kategorie,
gleich der Unverwechselbarkeit und gleichzeitigen
Unbeschreibbarkeit seiner Gesichtszüge — so haben wir von
Goethe, als dem grössten historischen Beispiel dieser
Möglichkeit, eine Wesensanschauung, die nicht in seinen
einzelnen Qualitäten und Leistungen aufgeht, auch nicht in ihrer
Summe oder dem Allgemeinen, das wir aus ihnen begrifflich
gewinnen könnten; und nun wirkt diese gerade in dem Eindruck
jeder solchen Einzelheit mit, wie für den metaphysischen
Menschen alle Einzelheiten des Gegebenen von der absoluten
Seinseinheit begründet und durchdrungen sind, die nicht durch
eine von ihnen benennbar oder durch Abstraktion aus ihnen
gewinnbar ist.
Wer nicht hinter und in Goethe dem Dichter, Goethe dem soundso
Lebenden, Goethe dem Forscher, Goethe dem Liebenden, Goethe dem
Kulturschöpfer — dieses Personal-Allgemeine, dessen Einheit
nicht eine aus Vielem zusammengesetzte ist, spürt, diese
sozusagen formale Rhythmik und Dynamik, die nicht in der
Relation zu der Welt des Vielfachen, sondern zu der »schweigend
zu verehrenden« Einheit des Seins ihr Wesen hat — wer dieses
nicht spürt, für den leistet Goethe nicht, was nur er leisten
kann.
Ich glaube, von jeder Idolatrie für ihn frei zu sein; es mag
stärkere, tiefere, anbetungswürdigere Existenzen und Leistungen
gegeben haben, als die seinige.
Aber in jenem ist er, dem Grade nach, einzig: ich weiss von
keinem Menschen, der den Nachlebenden mit dem, was doch
schliesslich nur als seine einzelnen Lebensäusserungen dasteht,
die Anschauung einer so hoch über all dies Einzelne erhabenen
Einheit seines Seins überhaupt hinterlassen hätte.
Sucht man nun das diesem Höchsten und nur als Anschauung
Erfassbaren Nächstgelegene, eben noch Beschreibbare auf, so
begegnet man vielleicht einem noch Allgemeineren, die
Persönlichkeit noch mehr nach ihrer Form Charakterisierenden,
als dem Künstlertum.
Es erscheint als das vollkommenste Leben, wenn man nur aus dem
geistigen Detumeszenztrieb heraus, aus dem Bedürfnis, das
subjektive Leben zu äussern, existiert und sicher ist, damit das
objektiv Wertvolle zu schaffen, das vor den bloss auf die
Inhalte gehenden Kriterien bestehen kann.
Ich habe es oft ausgesprochen, dass ich hierin die durchgehende
Formel des Goetheschen Lebens sehe, und wenn diese letzten
Seiten zeigten, dass er in der Jugend den subjektiven Prozess,
im Alter die objektiven Inhalte dominieren liess, so waren das
doch nur Akzentverschiebungen und Entwicklungsstadien innerhalb
jener Gesamtrelation seines Lebens zum Weltsein.
Die innerpersönlichen Faktoren nun, deren Verhältnis diese
Eudämonie seiner Existenz trugen, kann man bezeichnen als: das
Mass der Gesamtkraft der Natur und die Talente.
Wie sich beides sonst am Menschen findet, scheint es in
erheblichem Masse von einander unabhängig zu sein.
Wie viele sind in Unfruchtbarkeit, in ein Missverhältnis gerade
zu dem ihnen äusseren Dasein gefallen, ja, sind zugrunde
gegangen, weil ihre Kraft nicht für ihre Talente oder ihre
Talente nicht für ihre Kraft ausgereicht haben! oder weil ihre
Begabungen so angeordnet waren, dass die Kraft sich in ihnen
unwirksam verzehrte, oder dass sie sich in einer Reihenfolge
entwickelten, die der allmäligen Entfaltung der Kraft nicht
entsprach! Die Maschine hat mehr Dampf, als ihre Konstruktion
vertragen kann, oder diese ist auf eine grössere Leistung
angelegt, als zu der ihr Dampf zureicht.
Aber von allen glücklichen Harmonien, die man dem Goetheschen
Wesen zugesprochen hat, liegt hier vielleicht die tiefste, die
sozusagen von ihm selbst aus entscheidende.
Gewiss hat auch seine Kraft sich hier und da in »falsche
Tendenzen« verrannt, hat einen Aus- lass da gesucht, wo das
Talent ihr keinen hinreichend breiten Kanal bot.
Sieht man aber genau hin, so waren das immer nur
Anlaufrückschritte, nach denen sich das Gleichgewicht zwischen
Kraft und Talent um so vollkommener herstellte — jene dem
subjektiv aus sich herauslebenden Leben entsprechend, dieses das
Mittel, durch das dieses Leben dem Dasein ausserhalb seiner und
den objektiven Normen gemäss verlaufen kann.
Damit also wurde die Harmonie seiner inneren Struktur zum Träger
jener Harmonie ihrer selbst mit allem Objektiven.
Diese formale Grundsubstanz seines Lebens sahen wir nun sich in
den Stilgegensätzen zwischen Jugend und Alter entfalten, wie sie
so radikal unter den grossen uns bekannten Menschen sich
vielleicht nur bei Friedrich d. Gr. spannen — abgesehen von den
(unter besonderen Bedingungen stehenden) religiösen
Innenrevolutionen, bei denen man aber nicht recht von einer
Entwicklung zwischen den Polen, sondern von Umspringen von einem
zum andern sprechen kann.
Hieran zeigt sich nun die weitere grosse Gleichgewichtsform
seines Lebens: in dessen Bilde ist dasjenige Mass von
Beharrendem, Gleichbleibendem, zu fühlen, das den Eindruck des
sich Wandelnden, lebendig sich Umgestaltenden auf ein Maximum
bringt — und dasjenige Mass von Wechsel, auf Grund dessen das
Einheitlich-Durchhaltende zu seiner grössten Eindrucksstärke
gelangt.
Indem jede dieser Vitalformen ihren Gegensatz und sich an ihrem
Gegensatz aufs vollkommenste entfaltete, realisiert sich der
spezifisch organische Charakter dieses Daseins, da uns der
Organismus doch als das Wesen erscheint, das, im Unterschied
gegen allen Mechanismus, den Fluss unaufhörlichen Wandels mit
einem beharrend identischen, nur mit dem Wesen selbst
zerstörbaren Selbstsein in Eins fasst.
An Friedrich d. Gr. ist dieser durchhaltende Faden, der sich in
Jugend und Alter zu so anders aussehenden Geweben verspinnt,
viel weniger zu fühlen.
Nun muss man freilich auch bei Goethe nicht nach einem durch
Jugend und Alter hindurch konservierten Inhalt von Leben und
Geist suchen; wäre dieser auch zu finden (etwa in dem
Künstlertum oder der pantheistischen Tendenz), so würde er doch
nicht das hier Entscheidende sein.
Ein beharrender Inhalt ist als solcher immer etwas Starres, ganz
genau gesehen ist er nicht dasjenige Bleibende, das dem Leben
den Dienst leistet, seine Wandlungen zusammenzuhalten; viel
enger vielmehr ist jenes Bleibende diesen Veränderungen
verbunden, als ein begrifflich fixierbarer Inhalt es könnte.
Es ist vielmehr ein Funktionelles oder ein Gesetz, das nur von
und in Veränderungen existiert oder — bildlich gesprochen — ein
Anstoss, der die individuelle Existenz von Anfang bis Ende trägt
und sie als der reine und gleiche durch alle ihre Richtungen und
Windungen hindurchträgt.
Für Goethes Überzeugung selbst lebt der Charakter des Menschen
nur an seinen Handlungen: »die Quelle«, sagt er in bezug darauf,
»kann nur gedacht werden, insofern sie fliesst«; und: »die
Geschichte des Menschen ist sein Charakter«.
Mit alledem sei nur ausgedrückt, dass die Einheit und Permanenz
in den Entwicklungswandlungen des Lebens, davon das Goethesche
vielleicht das anschaulichste Beispiel ist, nichts irgendwie
ausserhalb dieser Wandlungen Stehendes ist; vielleicht ist sogar
der Gegensatz des Bleibenden und des Sich- Verändernden nur eine
nachträgliche Zerlegung, durch die wir die an sich
unbegreifliche Tatsache des Lebens in unsere Auffassung
überführen.
Für die Art nun, wie sehr entgegengesetzte Entwicklungsmomente
die durchhaltende, geformte Einheit in sich tragen, gibt Goethe
einen, gerade in bezug auf sich selbst höchst bedeutsamen
Hinweis.
Es gehört nämlich zu seinen grossen Geistesmotiven, dass das
Leben in jedem Augenblick, an jeder seiner Entwicklungsstellen
ein in sich vollkommenes, selbständig und nicht erst als
Vorbereitung auf ein Endstadium oder als Vollendung eines
vorangegangenen wertvolles wäre oder jedenfalls sein kann.
»Der Mensch wird in seinen verschiedenen Lebensstufen wohl ein
anderer, aber er kann nicht sagen, dass er ein besserer werde.«
Dann beschreibt er die Anforderungen, die ein Schriftsteller auf
allen Stufen seines Schaffens erfüllen soll und fährt fort:
»Dann wird sein Geschriebenes, wenn es auf der Stufe recht war,
wo es entstanden, auch ferner recht bleiben, der Autor mag sich
auch später entwickeln und verändern wie er wolle.« Im Tiefsten
diesem Motiv zugehörig ist die Bemerkung, das Werk eines grossen
Künstlers sei in jedem Stadium seines Vollendetwerdens ein
Fertiges.
Diese Selbstgenügsamkeit jedes Lebensmomentes, als welche sich
die Fundamentalwertigkeit des Lebens überhaupt ausspricht, liegt
nicht nur in der Unabhängigkeit von der Zukunft, sondern auch in
der von der Vergangenheit.
Ich verweise auf die wunderbare Äusserung von der »Erinnerung«,
die er »nicht statuiert«, weil das Leben dauernde Entwicklung
und Höherbildung wäre und sich nicht an ein Starres, als
vergangen Gegebenes binden könne, sondern dies nur als
dynamische Wirkung in die dadurch erhöhte Gegenwart aufnehmen
dürfe.
Er ist 82 Jahre alt, als er sagt: »Da ich immer vorwärts strebe,
so vergesse ich, was ich geschrieben habe, wo ich dann sehr bald
in den Fall komme, meine Sachen als etwas durchaus Fremdes
anzusehen.« Seine tiefe Abneigung gegen alle teleologische
Betrachtung muss damit zusammenhängen: seiner Überzeugtheit von
dem in sich zulänglichen Sinn jedes Existenzmomentes widersprach
es, dass irgendein solcher erst von einem über ihn
hinausliegenden Endzweck seine Bedeutung entlehnen sollte.
Wenn man will, kann man auch die pantheistische Tendenz, für die
jedem Daseinsstück die Totalität des Daseins überhaupt
innewohnt, keines also über sich hinaus kann und hinaus braucht,
hier auf den Zeitverlauf des Lebens übertragen sehen.
Jede Lebensperiode enthält die Ganzheit des Lebens in sich, nur
jedesmal in anderer Form, und es liegt kein Grund vor, ihre
Bedeutung aus einer Relation zu einem Vorher oder Nachher zu
schöpfen; jede also hat ihre eigene Möglichkeit der Schönheit
und Vollendung, der jeder anderen unvergleichbar, aber als
Schönheit und Vollendung gleich.
Dies ist die Art, wie er von der Kategorie des Wertes aus und
von der unmittelbaren Wertempfindung seines Lebens her, die
Unaufhörlichkeit der Wandlung und die schroffe
Entgegengesetztheit der Lebensperioden mit einem durch sie alle
hindurchgelebten Einen und Gleichen zusammenfühlen konnte.
Weil aber jede dieser Perioden — wenigstens der Idee und
Annäherung nach — in sich vollendet war, darum hat er sich auch
wirklich ausgelebt.
War es der grosse Zauber dieses Lebens, seine rastlose
Entwicklung mit eben dieser Vollendung und Selbstgenugsamkeit
seiner Abschnitte zu vereinen, so hatte nun auch das
Greisenalter seine Perfektion in sich.
Es war nicht, wie bei vielen andern, nur der Abschluss der
Vergangenheit, der nur von dieser sozusagen formalen Würde und
im übrigen nur von dem Inhalte dessen, was war, getragen war und
seinen Sinn bezog, wie die abendlichen Wolken noch von der
Sonne, die versunken ist, mit ihren Farben gekrönt werden.
Sondern seine Bedeutung verdankte es sich allein, unvergleichbar
mit allem Früheren, mit dem es dennoch durch eine
kontinuierliche Entwicklung verbunden war.
Aber eben um dieser geschlossenen Positivität willen wies es
auch nicht auf ein überirdisches Weitergehen hin, sondern es war
dem Hier verhaftet, wie die ganze Goethesche Existenz, und nur
soweit in ein Transzendentes hinüberreichend, wie diese ganze
Existenz an jedem ihrer Punkte es war.
Dagegen scheint sich natürlich sofort die Äusserung zu Eckermann
zu wenden, die Natur sei verpflichtet, ihm eine weitere
Existenzform anzuweisen, wenn die jetzige seinen Kräften nicht
mehr aushielte.
Ich sehe hier von seinem Unsterblichkeitsglauben überhaupt ab,
dessen spekulative Mystik mit den Entwicklungsstadien des
empirischen Lebens nichts zu tun hat.
Nur die Begründung aus der unausgelebten Kraft, den
unausgeschöpften Möglichkeiten geht uns an.
Und ich kann nicht leugnen, dass ich hier an eine
Selbsttäuschung Goethes glaube — eine Unbeweisbarkeit natürlich,
die sich nur auf einen aus vielen Imponderabilien
unkontrollierbar erwachsenen »Eindruck« gründet.
Der Reichtum seiner Natur gab seiner Gesamtkraft nur
ausserordentlich viele Ausformungsmöglichkeiten und weil er
jeweils nur eine von ihnen ergreifen konnte, in die dann auch
seine ganze Kraft ging, so blieben alle die statt dieser
möglichen natürlich unrealisiert — und im Gefühl davon meinte
er, dass er auch zu all diesen die Kraft gehabt hätte.
Weil er allerdings Töpfe oder Schüsseln machen konnte, schien es
ihm, er hätte Töpfe und Schüsseln machen können.
Ich glaube vielmehr, dass er seine Kraft wirklich zu Ende gelebt
hat; und das ist kein Manko, sondern gehört gerade zu den
Wundern seiner Existenz; er gehörte zu denen, die wirklich zu
Ende kamen und keinen Rest hinterliessen.
Hier kommt ersichtlich dasjenige zu seiner letzten Formulierung,
was ich vorhin über die Harmonie zwischen seiner Kraft und
seinen Talenten sagte: nicht nur haben sich seine Talente in
seiner Kraft ohne Rückstand entfaltet, sondern auch seine Kraft
hat sich in seinen Talenten erschöpft.
Soweit wir überhaupt in solchen Dingen urteilen dürfen, sind nur
abstrakte Möglichkeiten seines Wesens unrealisiert geblieben
(was sozusagen nur ein logischer, aber kein vitaler oder
metaphysischer Ausfall ist), seine konkreten Möglichkeiten aber
hat er ausgeschöpft und brauchte ihretwegen nicht »in die
Ewigkeit zu schweifen«.
All diese in seiner »Idee« angelegten und näher zu ihr, als
irgend sonst, anschaubar gewordenen Vollendungen kann man nun
endlich als die der reinen, durch keinen speziellen Inhalt
differenzierten Menschlichkeit überhaupt ansprechen.
Wir empfinden seine Entwicklung als die typisch menschliche —
»auf deinem Grabstein wird man lesen: Das ist fürwahr ein Mensch
gewesen«, in gesteigerteren Massen und klarerer Form zeichnet
sich an ihm, in und unter all seinen Unvergleichlichkeiten, die
Linie, der eigentlich jeder folgen würde, wenn er sozusagen
seinem Menschentum rein überlassen wäre.
Auch dass er in vielem ein Kind seiner Zeit war und historisch
überwunden ist, gehört dazu: denn der Mensch als solcher ist ein
historisches Wesen, und sein allen andern Wesen gegenüber
Einziges ist, dass er zugleich ein Träger des Überhistorischen
in der Form der Seelenhaftigkeit ist.
Gewiss ist Unklarheit und Missbrauch genug an den Begriff des
»Allgemein-Menschlichen« gebunden worden.
Es ist auch vergebens, ihn analytisch aus den Individuen heraus
abstrahieren zu wollen.
Er geht vielmehr auf eine noch wenig untersuchte und auch hier
nicht näher zu untersuchende, praktisch aber fortwährend
ausgeübte Fähigkeit unsres Geistes zurück: in einer
vorliegenden, insbesondere seelischen Erscheinung unmittelbar zu
unterscheiden, was ihr rein Individuelles und was ihr Typisches,
aus ihrer Art oder Gattung ihr Zukommendes ist; durch einen
intellektuellen Instinkt oder durch die Wirksamkeit einer
Kategorie spüren wir an gewissen Seiten einer menschlichen
Erscheinung ein Schwergewicht, ein breiteres Hinausgreifen über
dies einmalige Vorkommen, das wir als das Allgemein-Menschliche
bezeichnen und mit dem wir ein dauerndes Besitztum oder
Entwicklungsgesetz der Gattung Mensch, einen zentralen Nerv, der
ihr Leben trägt, meinen.
Und dies ist nun das unsäglich Tröstende und Erhebende der
Erscheinung Goethe: dass einer der grössten und exzeptionellsten
Menschen aller Zeiten genau den Weg dieses
Allgemein-Menschlichen gegangen ist.
In seiner Entwicklung ist nichts von dem sozusagen Monströsen,
qualitativ Einsamen, mit nichts in Parallele zu Stellenden, das
der Weg des grossen Genies so oft zeigt, mit ihm hat das
schlechthin Normale erwiesen, dass es die Dimensionen des ganz
Grossen ausfüllen kann, das ganz Allgemeine, dass es, ohne sich
selbst zu verlassen, zu einer Erscheinung von höchster
Individualität werden kann.
Alles untergeistige Wesen steht jenseits der Frage von Wert und
Recht, es ist schlechthin.
Höhe aber und Bedrängnis des Menschen presst sich in die Formel
zusammen, dass er sein Sein rechtfertigen muss.
Er glaubt das dadurch vollbracht, dass er, über das Allgemeine
der menschlichen Existenz überhaupt hinaus einen einzelnen
Inhalt ihrer zu einer Vollendung bringt, die sich an einer
sachlichen, nur für diesen Inhalt geltenden Skala misst: einen
intellektuellen oder religiösen, einen dynamischen oder
gefühlshaften, einen praktischen oder künstlerischen.
Goethe aber hat — das höchste Beispiel einer unendlichen
Annäherungsreihe — in der Summe und Einheit seiner Leistungen,
in deren Verhältnis zu seinem Leben, in dem Rhythmus, der
Tönung, der Entwicklungsperiodik dieses Lebens, das allgemein
und absolut Menschliche jenseits oder über all jenen einzelnen
Perfektionen nicht nur als Wert gefordert, sondern als Wert
gelebt: er ist die grosse Rechtfertigung des blossen
Menschentums aus sich selbst heraus.
Er bezeichnet einmal als den Sinn aller seiner Schriften »den
Triumph des Rein-Menschlichen«; es ist der Gesamtsinn seiner
Existenz gewesen.
Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Vorwort
1.
Kapitel: Leben und Schaffen
2.
Kapitel: Wahrheit
3.
Kapitel: Einheit der Weltelemente
4. Kapitel: Getrenntheit der Weltelemente
5. Kapitel: Individualismus
6. Kapitel: Rechenschaft und Überwindung
7. Kapitel: Liebe
8.
Kapitel: Entwicklung
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