Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Drittes Kapitel: Einheit der Weltelemente
Von dem
unmittelbaren Phänomen der Dinge, wie es der sinnlichen
Anschauung gegeben ist, geht unser Geist nach zwei Richtungen
weiter.
Er zerlegt einmal
diese Gegebenheit in Elemente, die sich als die gleichen an noch so
fremden und gegensätzlichen Gesamterscheinungen finden.
Indem er die
Gesetzlichkeiten in Wesen, Bewegungen und Verbindungsarten dieser
Elemente erforscht, lernt er, aus ihnen — die entweder überhaupt nicht
unmittelbar oder wenigstens nicht isoliert wahrzunehmen sind — die
Gesamterscheinungen wieder zusammenzusetzen und sie so zu »begreifen«.
Auf der andern
Seite aber fasst er diese noch einmal zu höheren Gesamtheiten zusammen,
die in noch prinzipiellerer Weise als jene Elemente sich der Ebene der
Erscheinungen entheben und in spekulativer Weise die Begriffe der Dinge
zu höchsten Einheiten steigern: sei es zu »Ideen«, sei es zu einem
metaphysischen Bilde des Seinsganzen.
Mag man im ganzen
jene Richtung als die des »Naturforschers«, diese als die des
»Naturphilosophen« bezeichnen — so schreibt Goethe 1798, er habe sich
diesen beiden gegenüber »in meiner Qualität als Naturschauer wieder aufs
neue bestätigt gefunden«, und bezeichnet schon in dem vorhergehenden
Jahre sehr scharf sein Verhältnis zu jenen beiden Erkenntniswegen.
»Für uns, die wir
doch eigentlich zu Künstlern geboren sind, bleiben doch immer die
Spekulation sowie das Studium der elementaren Naturlehre (d. h. Physik
und Chemie) falsche Tendenzen.« Die positive Ergänzung zu diesen
Ablehnungen gibt, zwei Jahre zuvor, eine Äusserung zu A. v. Humboldt:
»Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen von der Gestalt
ausgehen«, usw.
In der grössten
Einfachheit und Entschiedenheit ist damit das Prinzip festgelegt, mit
dem Goethe sein Verständnis der gesamten Natur aufbaut und das sich als
ein völlig selbständiges neben jene, in traditionellem Sinne
wissenschaftlichen Methoden stellt.
Man kann es als das
im eminenten Sinne »synthetische« bezeichnen.
Auf der einen Seite
steht die Erkenntnis der »Elemente«, die physikalisch-chemische
Wissenschaft, die prinzipiell im Gebiet der reinen Erscheinung
verharrt, Erscheinung durch Erscheinung erklärt; denn »Naturgesetze«
ebenso wie »Energien« sind hier nichts als die Formeln für die zwischen
den Erscheinungen bestehenden Verknüpfungen, und auch die letzten
Elemente der Analyse, mag man sie als Atome oder anders bezeichnen,
stehen prinzipiell — wenn auch für unsere Sinne nicht realisierbar —
innerhalb des Wahrnehmungsgebietes.
Auf der andern
Seite erhebt sich die »Idee«, die eben prinzipiell nicht Erscheinung
ist, sondern diese nur als Abfall, Schattenbild, subjektives Phänomen
zulässt oder sie als Erscheinung überhaupt aufhebt, indem die sinnlich
gegebene Gestalt sozusagen gar keine solche ist, sondern auch ihrerseits
in der logisch sich entwickelnden Idee besteht.
Diesen polaren
Tendenzen gegenüber ist für die Goethesche Synthese die Gestalt als
solche die unmittelbare Offenbarung der Idee.
Alles was man mit
dem Begriff dieser meint: Sinn, Wert, Bedeutung, Absolutheit, Geist,
Übereinzelheit — bildet für ihn nicht mit der sinnlichen Gestaltung
jenen Dualismus, dessen verschiedene Seiten die auf die »Elemente«
gehende Naturwissenschaft und die auf »Ideen« gehende Spekulation
ergriffen haben.
Insoweit die
Gestalt sichtbar gegeben ist, hat sie die volle, von keiner nicht
sichtbaren Instanz erst zu entlehnende Realität; ebenso weit aber ist
für den richtig eingestellten Blick all jenes Ideelle in ihr sichtbar.
»Vom Absoluten im
theoretischen Sinne«, so spricht er dies erschöpfend aus, »wag' ich
nicht zu reden; behaupten aber darf ich: dass, wer es in der Erscheinung
anerkannt und immer im Auge behalten hat, sehr grossen Gewinn davon
erfahren wird.« Und nichts andres meint er mit dem mehr symbolischen
Satz: »Ich glaube einen Gott.
Das ist ein schönes
und löbliches Wort; aber Gott anerkennen, wie und wo er sich offenbare,
das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden.«
Hiermit ist die
Grundformel der künstlerischen Weltanschauung ausgesprochen.
Es ist zu leicht
missverständlich, wenn man den Künstler als den »Sinnenmenschen«
charakterisiert, als den, der »mit den Sinnen lebt« — denn es macht das
Entscheidende nicht kenntlich: was denn beim Künstler über das
Passivistische, nur Hinnehmende und Geniessende dazukäme, welches die
Sprachkonvention als »Sinnlichkeit« versteht.
Dies Entscheidende
ist doch wohl, dass der Künstler eben nicht nur mit den Sinnen
wahrnimmt, nicht nur ein Gefäss für jenes passive Aufnehmen und Erleben
ist, sondern dass sein Wahrnehmen sogleich oder vielmehr zugleich
schöpferisch ist.
Das aktiv bildende
Element, das vielleicht in jedem Anschauungsakte überhaupt vorhanden
ist, gewinnt bei dem Künstler eine Fülle, eine Wirksamkeit, eine
Freiheit, von der durchdrungen seine »Sinnlichkeit« beinahe zum
Gegenteil von dem wird, was man beim Durchschnittsmenschen unter ihr
versteht.
Sein Schöpfertum
nun ist Gestalten von Weltelementen nach einer Idee (und ist dies auch
in der naturalistischen Kunst, die sich darüber nur zu täuschen pflegt,
weil sie unter Idee immer nur eine ausserkünstlerische oder wenigstens
ausserhalb des jeweiligen Kunstbezirks gelegene vorstellt, der Maler z.
B. eine literarische, der Dichter eine moralische usw.).
Da sich aber dies
Schöpfertum untrennbar mit den Akten seines Anschauens und Erlebens
entfaltet, des Anschauens und Erlebens, das Objekte, Wirklichkeiten
feststellt und in sich einzieht — so ist der Künstler unvermeidlich
überzeugt, dass er die Idee anschaut! Es ist eine allbekannte Tatsache,
dass fast alle bildenden Künstler (bei den Dichtern liegt es nur
komplizierter, aber nicht prinzipiell anders) genau die »Natur«
wiederzugeben, nur das zu machen meinen, was sie »sehen« — auch wo sie
für jedes andere Auge aufs freieste mit der Naturvorlage umgehen, die
sichtbare Wirklichkeit aufs selbstherrlichste stilisieren; auch die
reine Fantasiekunst scheint die Schauung durch eine innere Sinnlichkeit
vorauszusetzen, die dem Künstler nicht weniger Gegebenes und Bindendes
ist, als die sogenannte äussere Sinnlichkeit.
Goethe hat nur mit
der souveränen Intellektualität, die ihm immer über sich selbst
Rechenschaft gab, ausgedrückt, was der Künstler als solcher tut: dass er
»die Idee mit Augen sieht«.
Dass die Idee in
der unmittelbaren Realität der Dinge wohnt und wahrnehmbar ist, ist
nichts andres als der objektivierende Ausdruck für die Produktivität des
Künstlers, dessen Anschauen schon ein Gestalten ist.
Schaute er nur in
der gewöhnlichen Bedeutung der Sinnlichkeit an, so wäre er nicht
produktiv, sondern rezeptiv (»das Anschauen«, sagt Goethe, »ist von dem
Ansehen sehr zu unterscheiden«).
Indem er nun
tatsächlich produziert, d. h. aus der Idee heraus produziert, dabei aber
doch Sinnlich-Wirkliches vor Augen hat und eben solches schafft — so
ist es eben seine, bewusste oder bloss tatsächlich wirksame,
Voraussetzung, dass das Sinnlich-Wirkliche, die »Gestalt«, als solche
die unmittelbare Verkündigung und Sichtbarkeit der Idee sei.
Dies formgebende,
geistige, schöpferische Sehen war Goethe im höchsten Masse eigen und kam
ihm vielleicht gerade darum zu besonderem Bewusstsein, weil er kein
bildender Künstler war, so dass der innere Akt nicht wieder in ein
sinnliches Bild mündete.
Man mag seine
Attitüde als intellektuelle Anschauung bezeichnen, das Wort im
Gegensinne zu der zeitgenössischen Philosophie verstanden.
Denn was der
philosophische Idealismus, insbesondere Schelling, so benennt, hiesse
besser: anschauende Intellektualität.
Hier handelt es
sich darum, dass der Denker seinen Gegenstand ohne sinnliche
Vermittlung, also nicht in der durch die subjektive Besonderheit der
Sinne bestimmten Erscheinung, ergreife.
Das Anschauen in
sinnlicher Bedeutung soll hier also gerade übersprungen werden, der
Geist soll leisten, was sonst nur die Sinne leisten: sich der
Wirklichkeit des Seins und So-Seins zu versichern.
Während also der
Intellekt hier sinnliche Funktion hat, besitzt beim Künstler die
Sinnlichkeit intellektuelle Funktion, und dies macht seine Begabung aus;
der Philosoph sieht das Ideelle, weil er es weiss, der Künstler weiss
es, weil er es sieht.
Insbesondere sein
Verhältnis zu allem Rationalismus (nicht als einer Theorie, sondern als
einer, diese weit übergreifenden Wesensbeschaffenheit) muss mit so
scharfer Umkehrung bezeichnet werden: für den Rationalisten ist die
Vernunft ein Instinkt, für Goethe ist sein Instinkt eine Vernunft.
Von etwas weiterer
Peripherie her ausgedrückt, liegt das Ziel alles Wissens um die Welt da,
wo — um Goethesche Terminologie zu gebrauchen — »Denkkraft« und
»Anschauen« zusammengefallen sind; in dem Masse, in dem sie
auseinander- oder gegeneinanderstehen, besteht Schwierigkeit,
Ungelöstes, Widerspruch; deshalb führt in das ganz Definitive seiner
Weltanschauung der Satz: »Alle Versuche, die Probleme der Natur zu
lösen, sind eigentlich nur Konflikte der Denkkraft mit dem Anschauen.«
Insoweit also ihm eine Lösung zu gelingen schien, lag sie an jenem Punkt
der Vereinheitlichung beider: an dem künstlerischen, da, wo das
Rezeptive der Anschauung die Idee, die Forderung der »Denkkraft«,
unmittelbar ergriff.
Dies ist das
Apriori des Künstlers: die Sichtbarkeit der »Idee« in der »Gestalt«; und
dies ist Anfang und Ende der Goetheschen Weltanschauung.
Es muss freilich
mit Sorgfalt festgehalten werden, was Goethe unter »Gestalt« versteht —
dasjenige nämlich, was der reine, im genauen Sinne unvermittelte
Eindruck der Sinnlichkeit gibt.
Darum ist das, was
er die elementare Naturlehre nennt, die Erkenntnis der entweder nicht
mehr wahrzunehmenden oder nur künstlich zu isolierenden Elemente des
Seins, hier ausgeschlossen, obgleich diese prinzipiell gleichfalls in
der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung liegen.
Damit aber scheint
in die Substanz oder das Fundament des Goetheschen Weltbildes etwas
Zufälliges zu kommen.
Denn welche Masse,
welche Formen, welche Genauigkeitsgrenzen gerade unsere unbewaffneten
Sinne dem Dasein entnehmen und zu Bildern gestalten — das scheint zu
diesem Dasein selbst ein rein zufälliges, durch dieses Dasein selbst
keineswegs prinzipiell determiniertes Verhältnis zu haben.
Durch welche Fügung
sollte gerade das auf diese Weise Gewonnene die Substanz der Wahrheit,
der Träger der Idee sein, während die durch künstlich verschärfte Sinne
gewonnenen Bilder, dem Seinsganzen jedenfalls nicht nach zufälligeren
oder subjektiveren Prinzipien entlehnt, nicht »Gestalt«, nicht
Offenbarungen der Idee wären? Aber gerade hierin kommt Goethes letzte
Überzeugung von der Weltstellung des Menschen zu Worte.
Dass die rein
naturhafte physisch-psychische Ausstattung des Menschen ihm diejenigen
Bilder des Daseins liefert, die für ihn die richtigen sind, die seine
Welt zu bilden haben, denen er den ideellen Gehalt der Wirklichkeit
entnimmt—das ist keine teleologisch auf das Beste oder auf die
Lebenserhaltung des Menschen zielende Einrichtung, sondern eine Folge
oder eine Seite der Einheit des natürlichen Kosmos.
Innerhalb und
vermöge ihrer steht jedes Wesen an einer ihm zugewiesenen Stelle und ist
für sie ausgerüstet; ob zu seinem »Nutzen« oder nicht, ob zu einem
irgendwo realisierten Wert oder Unwert — das kommt jetzt nicht in
Frage.
So sehr seine
Anschauungen vom Künstlertum her bestimmt werden, so geschieht dies
doch in dessen so weitem Sinne, dass er sich nicht einmal in
künstlerischer Hinsicht eine Teleologie der Naturbetrachtung gestattet,
da auch so die grosse Einheit des Ganzen partikularistisch gestört wäre;
er sagt deshalb an einer Stelle, die gerade die Bedeutung seiner
Naturkenntnis für seine Dichtung herausstellen will: »Ich habe niemals
die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet.« Man könnte es etwa in
seinem Sinne die Geordnetheit des Daseins nennen (die Natur lässt
»Geordnetes gedeihen«), die dessen letzter, sich selbst genügender, in
keinen definitiveren Wert erst ausstrahlender Sinn ist.
Hat die Natur dem
Menschen die Sinne gegeben, die er an sich vorfindet, so ordnet er sich
eben mit diesen und ihrem normalen, durch sie selbst vorgezeichneten
Gebrauche in die Einheit des Ganzen ein.
Wesen, die das
Einheitsgebot des Ganzen mit andrer Organisation erfüllen, mögen andres
und anders anschauen; aber auch sie hätten sich, gerade wie der Mensch,
mit den gesunden Funktionen eben dieser Organisation zu bescheiden —
was nicht den Verzicht auf ein besseres Wissen, das man ersehnen könnte,
bedeutet, da gerade nur das der jeweiligen Wesensart entsprechende
Anschauungsbild diesen Wesen den Zugang zu der kosmischen Realität
öffnete; hinüber- oder heruntergreifend verfehlt es die Stelle, an der
es zum Ganzen, zum Sein ausserhalb seiner in Relation steht.
Die unmittelbare
Anschauung, von der naturgegebenen Sinnlichkeit allein und rein
bestimmt, liefert uns »Gestalten« — was weder die konkrete Analytik der
Elementarwissenschaften, noch die abstrakte Synthetik der Spekulation
tut.
Diese beiden müssen
ihm nicht nur als irreführend, sondern — das gleiche von der andern
Seite gesehen — als ύβρις erscheinen, als
unfromm, weil jene Einheit des Weltseins bedrohend, in der sich jedes
Wesen nur durch Ausübung der ihm natürlichen Fähigkeiten erhalten kann.
Er schreibt: »Wie
sehr mich die Howardsche Wolkenbestimmung angezogen, wie sehr mir die
Formung des Formlosen, ein gesetzlicher Gestaltenwechsel des
Unbegrenzten erwünscht sein musste, folgt aus meinem ganzen Bestreben in
Wissenschaft und Kunst.« Hier also beglückt ihn offenbar jene
Gesetzlichkeit, die an der unmittelbaren, sinnlichen, totalen Gestalt
aufgezeigt wurde, die entdeckte Norm des unzerlegt dargebotenen
Naturbildes, die kein Zurückgehen auf die unsinnlichen Elemente
forderte.
Ich lasse
dahingestellt, ob man nicht selbst unter Anerkennung dieses Apriori
unsren natürlichen Fähigkeiten einen weiteren Umfang zusprechen und die
Schaffung sogenannter künstlicher Sinnesschärfungen zu ihnen rechnen
könnte.
Goethe hat nun
einmal die Grenze an der »Gestalt« gesetzt — an die Stelle also, auf die
sich das künstlerische Interesse richtet.
Indem dies für ihn
bedeutet, dass sich, allem Kleineren und allem Grösseren gegenüber,
gerade hier die Anschaulichkeit der »Idee« bietet, war gewissermassen
der Beweis geliefert, dass sich in dem Unmittelbaren der sinnlichen
Gegebenheit — in der sich ihm freilich die natürliche Totalität des
Menschen äusserte — die Wahrheit und der Sinn des objektiven Daseins
überhaupt erschloss. — Mit wahrhaft genialer Synthetik ist an den Punkt,
wo diese Forderungen sich treffen, der Begriff des »Urphänomens«
gesetzt.
Denn mit ihm ist,
was man als Gesetz, Sinn, Absolutes der Daseinsformen bezeichnen muss,
innerhalb der Ebene der Erscheinungen selbst aufgezeigt.
Das Urphänomen — so
die Entstehung der Farben aus Hell und Dunkel, die rhythmische Zu- und
Abnahme der Anziehungskraft der Erde als Ursache des Witterungswechsels,
die Entwicklung der Pflanzenorgane aus der Blattform, der Typus der
Wirbeltiere — ist der reinste, schlechthin typische Fall einer Relation,
einer Kombination, einer Entwicklung des natürlichen Daseins, und
insofern einerseits etwas andres als das gewöhnliche Phänomen, das
diese Grundform in trübenden Mischungen und Ablenkungen zu zeigen
pflegt, andrerseits aber doch eben Erscheinung, wenn auch nur in
geistiger Schauung gegeben, gelegentlich aber doch »irgendwo dem
aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen gestellt«.
Wir stellen
gewöhnlich das allgemeine Gesetz der Dinge als irgendwie ausserhalb der
Dinge gelegen vor: teils objektiv, indem seine zeit- und raumlose
Gültigkeit es von dem Zufall seiner materialen Verwirklichung in Zeit
und Raum unabhängig macht, teils subjektiv, indem es ausschliesslich
Sache des Denkens ist und unsren sinnlichen Energien, die immer nur das
Einzelne, niemals das Allgemeine wahrnehmen können, sich nicht
darstellt.
Diese Getrenntheit
will der Begriff des Urphänomens überwinden: es ist das zeitlose Gesetz
selbst in zeitlicher Anschauung, das unmittelbar in Einzelform sich
offenbarende Allgemeine.
Weil dies besteht,
kann er sagen: »Das Höchste wäre, zu begreifen, dass alles Faktische
schon Theorie ist.
Die Bläue des
Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik.
Man suche nur
nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.« Die
Grundintention des Goetheschen Geistes vollzieht damit eine sehr
merkwürdige Wendung des Erkenntnisproblems.
Während aller
Realismus sonst von der theoretischen Erkenntnis als dem Ersten und
Unmittelbaren ausgeht und ihr die Fähigkeit zuspricht, das objektive
Dasein aufzunehmen, abzubilden, getreu auszudrücken, wird der Fusspunkt
hier wirklich im Objekt selbst genommen; das Ineinander-Aufgegangensein
zwischen ihm und dem Erkenntnisgedanken ist keine
erkenntnistheoretische, sondern eine metaphysische Tatsache.
Nicht in dem
Spinozistischen Sinne, als wären das äussere Ding und sein
theoretisches Äquivalent zwei Seiten oder Qualitäten eines
einheitlichen Absoluten; denn hier haben beide Momente einen
abstrakten, unsinnlichen Charakter, während für Goethe die sinnliche
Gestalt schon, in unmittelbarer Einheit, geistiger Erkenntnisinhalt ist.
Diesen letzteren
für sich stellt unsre an Kant orientierte Denkgewohnheit stets voran und
gewinnt erst von ihm aus ein entweder einheitliches oder diskrepantes
Verhältnis zu den Dingen; darum ist es uns schwer, uns in die
Goethesche Attitüde hineinzudenken, für die nicht das Erkennen, sondern
der Weltzusammenhang das Erste und Letzte ist.
Dieser lebt
unmittelbar an den Phänomenen und alles »Erkenntnisvermögen« eines
jeweiligen Subjekts ist ihm so an- und eingepasst, dass es keinen Inhalt
für sich jenseits der ihm gegebenen Erscheinungen suchen kann; sondern
indem es das Phänomen aufnimmt, das in der Sinnlichkeit, d. h. in der
unmittelbaren Relation von Subjekt und Objekt entsteht, hat es alles,
was für uns Wahrheit, Theorie, Gesetz, Idee sein kann.
Mit unsern
gewöhnlichen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und Kategorien ist
dies nicht zu deuten, sondern es fordert, um begriffen (gleichviel, ob
dann gebilligt oder verworfen) zu werden, eine von jenen völlig
abweichende Grundposition.
Dass die erfahrene
Gestalt, das sinnliche Phänomen, wenn nur in seiner Reinheit und
Ursprünglichkeit, zuhöchst als Urphänomen erfasst, an und mit sich
selbst schon das ideelle Gesetz, die Form des Begreifens und Erkennens
darbietet — das ist selbst ein Urphänomen, über das innerhalb dieser
Weltanschauung nicht hinausgefragt werden kann.
Die Schwierigkeit,
diese Ineinsbildung von Sinnlichem und Intellektuellem wirklich von
innen her zu verstehen, hat Goethe gerade durch die
Selbstverständlichkeit gesteigert, mit der er sie empfand; so dass er
den gleichen Ausdruck für jeden Teil dieser Synthese ohne weiteres in
dem gewöhnlichen Sinne und in seinem besonderen, prägnanten gebrauchte.
»Was uns so sehr
irre macht«, sagt er einmal, »wenn wir die Idee in der Erscheinung
anerkennen sollen, ist, dass sie oft und gewöhnlich den Sinnen
widerspricht.
— Die Metamorphose
der Pflanzen widerspricht unsern Sinnen.« Für den allgemeinen
Sprachgebrauch ist doch die Erscheinung dasjenige, was innerhalb und
vermittels der Sinne besteht; dass also in der Erscheinung etwas gesehen
werden soll, was den Sinnen widerspricht, erscheint ganz unsinnig.
Und gerade die
Metamorphose der Pflanzen verteidigte er gegen Schiller, der sie in das
Ideenreich verweisen wollte, als das mit Augen Sichtbare.
Begreiflich ist
alles dies nur dadurch, dass ihm, als dem Künstler, die Sinnlichkeit
eben von vornherein mehr war, als sie dem Sprachgebrauch ist, dass in
ihr das intellektuelle Vermögen wirkte, dass er mit den »Augen des
Geistes« »anschaute«.
Den Sinnen in jener
gewöhnlichen Bedeutung widerspricht das Ideelle, es muss und soll ihnen
widersprechen, weil es auf die Seinstotalität geht und jene
Sinnlichkeit ein ganz partielles, sozusagen künstlich isoliertes
Vermögen ist, das also auch nur eine Einseitigkeit und Abgestücktheit
des Wirklichen erfassen kann.
Wo der ganze Mensch
anschaut, jenseits der Goethe so verhassten Getrenntheit der »oberen und
unteren Seelenvermögen«, da fällt der Widerspruch fort und die volle
Wirklichkeit, d. h. die in der Erscheinung offenbarte Idee wird mit den
Sinnen erschaut, die jetzt nur der Kanal für die ungeteilte
Lebensströmung sind.
Dass auf diese
Weise jene Harmonie von Bewusstsein und Sein erreicht wird, ist
Gegenstück und Ergänzung des früher dargestellten Grundmotivs des
Erkennens: dass der Träger der Wahrheit an der »wahren« Vorstellung im
tiefsten Grunde nicht der Inhalt in seiner ideellen Abstraktheit und
logischen Verantwortung ist, sondern die Rolle, die diese Vorstellung
als Lebensmoment, als Prozess, als tatsächliche Relation zwischen Mensch
und Welt spielt.
Hier stehen wir an
einer äussersten Grenze der Goetheschen Prinzipienbildung, die deshalb
so schwer darstellbar ist, weil er gerade diese letzten Dinge nur
fragmentarisch, oft nur andeutend ausgesprochen hat und in Sonderfärbung
durch den jeweiligen Gegenstand, die jeweilige Stimmung, die die
Äusserung hervorriefen.
Es handelt sich
schliesslich immer um das grosse Motiv, das man, etwas verschwimmend
und unzähliger Modifikationen bedürftig, als die Identität von
Wirklichkeit und Wert bezeichnen muss — »der Begriff vom Dasein und der
Vollkommenheit ist ein und eben derselbe«, heisst es in einer kleinen
Studie aus der Mitte seiner dreissiger Jahre.
Auch der
theoretische Wert hat seine letzte, prinzipielle Begründung nicht in den
logisch-sachlichen Verhältnissen der sozusagen freischwebenden Inhalte,
die ein abstraktes Wahrheitsrecht unabhängig von aller seelischen —
ebenso wie physischen — Verwirklichung einschlössen; sondern gerade aus
der Wirklichkeit ihres Vorgestelltwerdens und aus dem realen Verhältnis
von Einheitlichkeit und Förderlichkeit zwischen dem Subjekt und der
Welt, das sich durch sie ausdrückt oder herstellt, entsteht ihr
Wahrheitswert, oder vielmehr, das ist ihr Wahrheitswert, bzw. sein
Gegenteil.
Wie es also auf der
Seite des subjektiven Vorstellens eine Wirklichkeit ist, die unmittelbar
auch Wahrheitswert ist — so sind auf der Seite des Objekts die Phänomene
selbst »die Lehre«.
Nur das Reine, das
Urphänomen an ihnen braucht unverworren angeschaut zu werden, damit sie
die Wahrheit selbst seien.
Wie es im Subjekt
der Lebensprozess ist, der seine Inhalte erzeugt und ihnen
ausschliesslich aus seiner Kraft, Geordnetheit, Weltrelation heraus auch
ihre theoretische Bedeutung gibt, die sie aus keiner bloss ideellen,
lebensfreien Norm ziehen könnten — so schafft der rastlose Prozess des
Daseins, jene kontinuierliche Dynamik, die sich sogar als »ewige
Mobilität aller (organischen) Formen« äussert, die einzelnen als
Daseinsinhalte dastehenden Phänomene.
Darum ist das
Gesetz, die Idee, die dem abstrahierenden Verstande gewissermassen
jenseits dieser zu stehen und sie in das zufällige Dasein zu entlassen
scheint, in ihnen, an ihnen selbst sichtbar.
Jedes Ding ist nur
ein Pulsschlag des Weltprozesses, und offenbart deshalb, richtig
beschaut, dessen Totalität von Wirklichkeit und Wert, Sinnenbild und
Idee.
Dies hat die
wichtige Folge: wenn in der richtig aufgefassten, die Wahrheit
bedeutenden Sinneserscheinung oder Gestalt die Idee wohnt und
anschaulich ist — so ist also diejenige Erscheinung nicht wahr, sondern
muss ein Trugbild sein, in der die Idee nicht aufzeigbar ist, die deren
Forderungen nicht genügt! Ist Wirklichkeit und Wert im metaphysischen
Grunde eines, so kann Wirklichkeit nicht sein, wo nicht Wert ist.
Der Realismus des
Goetheschen Weltbildes, auf den er so entschiednen Ton legt, die strenge
Treue gegenüber dem gegebenen Objekt, die er fordert, ist also dem
»Idealismus«, der Sichtbarkeit oder, in metaphysischem Bilde, der
Wirksamkeit der Idee so wenig entgegengesetzt, dass vielmehr die
herauserkannte Idee uns erst sicher macht, die objektive Wahrheit der
Erscheinung ergriffen zu haben.
Hier offenbart sich
von neuem, was man das metaphysische Glück seiner Existenz nennen
könnte: die Harmonie oder Parallelität des bewussten persönlichen
Daseins und Sich-Entwickelns mit dem sachlichen Bilde der Struktur der
Dinge.
Wie wenige Menschen
der höchsten geistig-sittlichen Ordnung hat er sich der Gegebenheit
seiner Kräfte und Triebe, der Realität seines Lebensprozesses
überlassen, in dem tiefen Vertrauen, dass gerade so dieser Prozess seine
wertvollsten Inhalte erzeugen, gerade so den Forderungen der Idee
genügt würde.
Jene
Lebensgestaltung aus der Realität der natürlichen Kräfte heraus schloss
freilich genug Arbeitsmühen, Selbstüberwindung, Rechenschaft über sich
ein: »was andern Menschen gemein und leicht ist, wird mir sauer
gemacht«, schreibt er mit 37 Jahren.
Aber aller innere
Kampf, alles Sich-über-sich-selbst-Hinausringen war eben von vornherein
in der übergreifenden Einheit dieser Natur und ihrer Triebgegebenheit
beschlossen.
Nie hat man bei ihm
den Eindruck, den die individuelle Existenz sonst oft bietet: als wäre
sie nur der Schauplatz, auf dem das »eigentliche« Ich sich im Kampf,
Ausgleichung, Über- und Unterordnung mit Mächten wertvoller oder
gegenwertiger Art befindet.
Die Einheit seines
Lebensprozesses, die dessen Spannungen und Gegensätzlichkeiten nicht
eigentlich überwand, sondern von vornherein als ihre Elemente und
Stadien in sich begriff, war sich ihres Wertes in dem Masse bewusst, in
dem sie es ihrer Wirklichkeit war.
Aber auch dieser
Wert, diese mit der Realität seines Lebens zusammenfallende Idealität
war keineswegs eine widerspruchslose und schattenfreie Wertgleichheit
aller Momente.
Sondern wie sich in
die Einheit seines Lebensprozesses unzählige Zweiheiten und Widersprüche
einbauten, so übergreift ein sozusagen dem Leben immanenter Wert alle
seine wertmässigen Zweifelhaftigkeiten und Kontraidealitäten — wie es
etwa schon in der Tagebuchnotiz des Einunddreissigjährigen liegt: »Ich
habe so manches getan, was ich jetzt nicht möchte getan haben, und doch,
wenn's nicht geschehen wäre, würde unentbehrliches Gutes nicht
entstanden sein.« Und diese Einheit subjektiver Vollendung, in die der
menschliche Weg die positiven wie die negativen Wertpunkte einbezieht,
spricht er ganz allgemein ein Vierteljahrhundert später aus: »Bei
strenger Prüfung meines eigenen und fremden Ganges in Leben und Kunst
fand ich oft, dass das, was man mit Recht ein falsches Streben nennen
kann, für das Individuum ein ganz unentbehrlicher Umweg zum Ziele sei.
Jede Rückkehr vom
Irrtum bildet mächtig den Menschen im einzelnen und ganzen aus.«
Ich glaube, dass
eine viel missbrauchte Wortbildung diese entscheidende Anschauung seines
eigenen Lebens allerdings begrifflich formuliert: als Über-Wert empfand
er die Idee und Wirklichkeit seines Daseins — d. h. als ein Wertvolles,
Bedeutsames, Richtiges, in einem absoluten Sinne, mit dem es sich über
den Gegensatz in den Relationen von Gut und Schlecht, Hoch und Niedrig,
Gelingen und Verfehlen erhebt.
Wie der Prozess des
wirklichen Lebens durch alle diese Gegensätze flutet und seine Einheit
sie alle trägt — so hat ihm das Leben offenbar einen Wert, der jenseits
ihrer, d. h. jenseits aller Inhalte steht, die nur durch Abstand,
Unterschiedenheit, Relativität als Werte oder als deren Gegenteile
empfunden und feststellbar sind.
Wir verstehen
gewöhnlich Wert nur in diesem relativistischen Sinne (worüber ich, auch
in Hinsicht der als »absolut« geltenden Werte, an andrer Stelle
spreche), und zwar vielleicht, weil wir ihn nur an die Inhalte des
Lebens, die verselbständigten, gegeneinanderstehenden, je als
geschlossene Einheiten behandelten knüpfen; einen ganz anderen Sinn
können wir seinem Begriffe verbinden, wenn wir ihn an den Prozess des
Lebens in seiner kontinuierlichen Einheit wenden, der nichts Relatives
ist, weil er die funktionelle Gesamtheit des Ich ist, die sozusagen
nichts sich gegenüber hat, sondern unser Totales und Absolutes ist.
Je mehr wir das
Leben so empfinden, desto mehr kommt ihm eine Bedeutung, ein »Wert« zu,
den wir mit unsern, an lauter Relativitäten grossgewordenen Kategorien
nur sehr unvollkommen bezeichnen können; ich nannte ihn Überwert, nur um
sein Freisein von der Relativitätsbedingtheit der einzelnen Werte zu
charakterisieren.
Innerhalb dieser
Kategorie gibt es natürlich sehr verschiedene Grade, die aber
eigentlich keine Relativität bedeuten, da jeder an seiner Stelle etwas
Absolutes ist.
Nur die
Unterschiede der seelischen »Entelechien«, von denen Goethe in
geheimnisvoller Weise spricht, und auf die hin die verschiedenen Seelen
in verschiedenem Masse unsterblich sind, bedeuten die Grade jenes
Überwertes, der dem individuellen Leben als solchem und gelöst von allen
Einzelbestimmtheiten seiner Inhalte zukommt.
Er selbst hatte
offenbar das Selbstgefühl einer »Entelechie mächtiger Art«; die Einheit
seiner Existenz war für ihn, über alle ihre Zerspaltenheiten und alle
Wertschwankungen ihrer Einzelinhalte hinweg, mit ihrem Wert identisch,
und so hatte er im Bewusstsein seiner selbst das Prototyp seines
Wertbewusstseins, das auf der Identität von Wirklichkeit und Wert
ruhte.
Was sich freilich
dieser Identität als Hemmung und Gegenrichtung vorbaut, wird das nächste
Kapitel behandeln.
Aus dieser höchsten
strukturellen Voraussetzung seines Daseinsbildes war es zwar
begreiflich, dass er »die Idee« als »einzig« bezeichnete und sich gegen
den Gebrauch des Plurals erklärte, und zwar gerade im Zusammenhang des
Satzes: »Alles was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind
nur Manifestationen der Idee.« Dennoch glaube ich mich berechtigt, den
Begriff in einem etwas weiteren Sinne nehmend, von einer Mehrzahl von
Ideen zu sprechen, die Goethe als die Formbildner der Wirklichkeit
ansieht.
Es sind gleichsam
die Spezifikationen der »Idee«, oder die von ihr ausgehenden
Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen, die zwischen ihr und diesem
vermitteln, dasjenige etwa, was er selbst als die »grossen Maximen« der
Naturbetrachtung bezeichnet; mit der schon erwähnten Konsequenz, dass
ihm die Wahrheit der Erkenntnis, die Realität der Erscheinung erst dann
gewährleistet scheint, wenn ihm diese Ideen anschaulich geworden sind.
Ich beginne mit der
Idee der Schönheit.
Man hat jetzt
wahrscheinlich gemacht, dass Shaftesburys Satz: »jede Schönheit ist
Wahrheit« — von früh an einen entscheidenden Einfluss auf Goethe gehabt
habe; zugleich freilich wird behauptet, dass er seit der Verbindung mit
Schiller davon wieder abgerückt sei.
Ich möchte indes
glauben, dass er jedenfalls die Umkehrung dieses Satzes: jede Wahrheit
ist Schönheit — in allen Perioden, wenn auch nicht in allen Stunden,
festgehalten hat und dass sie schon vor der Bekanntschaft mit
Shaftesbury in ihm dominierte.
Wenn alle Wahrheit
Schönheit ist, so folgt, dass, wo wir keine Schönheit mehr zu entdecken
vermögen, wir jedenfalls nicht auf dem Wege zur Wahrheit sind; und dass
wir, wo unsere Erkenntnisversuche die Schönheit der Dinge zerstören, uns
eben jenen Weg selbst verbauen.
Ein kleines
Gedicht, das noch auf seine Leipziger Studentenzeit zurückgeht,
offenbart dies eigentlich schon mit voller Deutlichkeit.
Er entzückt sich an
den Farben einer Libelle, will sie in der Nähe sehen, verfolgt und fasst
sie und sieht — »ein traurig, dunkles Blau«.
»So geht es dir,
Zergliedrer deiner Freuden.« Es ist ersichtlich nicht seine Meinung,
dass jenes erste erfreuende Bild ein Schein und Trug gewesen sei, den
die nun gewonnene Wahrheit zerstört hätte.
Sondern jene
beglückende Farbigkeit ist echt und wahr gewesen — es ist nicht eine
Wahrheit gewonnen und darüber eine Schönheit verloren, sondern eine
Schönheit zerstört und eben damit die Wahrheit verloren worden.
Das »Zergliedern
der Freuden« ist nicht die Zerstörung einer Illusion, sondern die Tötung
eines real Lebendigen.
Seine Polemik gegen
Newton wurzelt mindestens zum Teil in der Aversion gegen das
Hindurchquälen der Spektra durch viele enge Spalten und Gläser, das
deren unmittelbar ästhetisches Bild zerreisst — während er die Versuche
im Sonnenschein, unter blauem Himmel, als besonders beweisend preist.
Die Ablehnung der
Naturerkenntnis mittels Hebeln und Schrauben entspricht sicher nicht nur
dem anderwärts erörterten erkenntnistheoretischen Motive: dass die der
menschlichen Natur angemessene Erkenntnis auch nur durch ihre
natürlichen Hilfsmittel zu gewinnen sei, sondern auch der Scheu vor der
Zerstörung ihres ästhetischen Bildes durch solche Mittel; wie er sich
denn auch die Anerkennung der Geognosie nur
schwer abringt, da sie »doch den Eindruck einer schönen (!)
Erdoberfläche vor dem Anschauen des Geistes zerstückelt«.
Der »Schleier«,
dessen sich Natur nicht berauben lässt, ist von demselben Gewebe, wie
der Schleier der Dichtung, den er ja »aus der Hand der Wahrheit« nimmt.
Sogar von dem
Mathematiker sagt er, er wäre (als solcher) nur insofern vollkommen,
»als er das Schöne des Wahren in sich empfindet«.
Nur liegt in
alledem nicht, wie man es allzu einfach gedeutet hat, die blosse
sinnliche Verführbarkeit des Künstlers, ein innerhalb des
Erkenntnisinteresses illegitimer Eudämonismus, nicht die Beschränkung
auf den »schönen Schein«, der, gegen alle Wesenheit und Objektivität
gleichgültig, seine Bedeutung und Geschlossenheit nur nach den Gesetzen
subjektiver Befriedigung gewönne, da er doch die naturwissenschaftlich
ergreifbaren Elemente und Vorgänge überspränge; vielmehr die tiefe
metaphysische Überzeugung, dass alle Wirklichkeit von der Idee getragen
ist und dass die Sichtbarkeit der Idee eben Schönheit ist.
Wo diese vernichtet
ist, da ist also die Garantie für Wirklichkeit verschwunden, und nur ein
Zerr- und Scheinbild steht da.
Es ist also nicht
das Haften am Schein, das ihm die Schönheit als die für das
Erkenntnisverfahren zu respektierende Grenze setzt; sondern, auf der
Basis jener Überzeugung, gerade das Bedürfnis nach einem objektiven
Kriterium, das in der Fülle der möglichen Aspekte, Zerlegungen,
Anordnungen das Symptom, noch Wirklichkeit vor uns zu haben, abgebe.
Die Erfassung der
Dinge in der Schönheit und Vollkommenheit ist zugleich — nicht im
Nebeneinander, sondern in unmittelbarer Identität — das Begreifen ihres
tiefsten Sinnes, wie die künstlerische Formung der menschlichen
Erscheinung im Porträt, vollzogen nach den ästhetischen, rein auf
Zusammenhang und Reiz ihrer Anschauungselemente gerichteten
Forderungen, zugleich die wahrhafte, unzweideutigste Offenbarung der
Seele ist.
Ganz erschöpfend
drückt er selbst es aus: »das Schöne ist eine Manifestation geheimer
Naturgesetze« (die für die gewöhnliche Betrachtung gerade mit jenem,
als der Form der äusserlich resultierenden Erscheinung, überhaupt
nichts zu tun haben), »die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären
verborgen geblieben«.
Das zeigt sich doch
eben allenthalben als das Einzige dieser Persönlichkeit, dass
Erkenntnisse, die sich aus seiner individuellen Eigenart als Ergänzung
oder Ausdruck seiner Subjektivität entwickeln, damit den Charakter einer
objektiven Weltgemässheit besitzen.
Aus dem tiefen
Wissen um sein eignes Wesen heraus schreibt er: »Es ist etwas
unbekanntes Gesetzliches im Objekt, welches dem unbekannten Gesetzlichen
im Subjekt entspricht.« Nun mag der (einzelne) Inhalt solcher
Erkenntnisse annehmbar oder irrig sein; aber immer haben sie die
Beziehung zu einem Zentrum, die Zusammengeschlossenheit jedes in sich
und mit allen andern, die zum Bilde einer Welt gehört und sich von der
Isoliertheit und inneren Zufälligkeit, den Wesenszügen des bloss
Subjektiven, unbedingt unterscheidet.
Die Bestrebung
seines Lebens: sein Subjekt zu objektivieren — hat nur den
Objektivitätscharakter seines von innen her bestimmten Daseinsbildes,
die Gabe seines Genius, aufgenommen und weitergeführt.
Die Forderung,
Goethes Weltbild auszulegen, kann auf psychologischem Wege immer nur zur
Hälfte gedeckt werden.
Nach der
Denkrichtung seiner Zeit wie nach seiner ganz persönlichen verband sich
ihm mit der Idee der Schönheit aufs engste die der Einheit.
Hier ist zunächst
das Motiv wirksam, dass jedes Kunstwerk, im Masse seiner Vollendung, ein
Gegenbild des Naturganzen ist.
Das höchste Schöne
wäre — so hebt er in einem Exzerpt aus K. Ph. Moritz hervor — der als
Einheit umfasste Zusammenhang der Natur.
Die Einheit des
Schönen ist nur ein andrer Ausdruck für seine Selbstgenugsamkeit, d. h.
für seine von Goethe stets verfochtene Unabhängigkeit von allen
»Zwecken«, von aller Verflechtung in ein anderweitiges Ganzes, innerhalb
dessen es nur Träger oder Mittel wäre.
Das Schöne muss
gemäss seiner Souveränität, seiner Freiheit von allem, was ausserhalb
seiner liegt — einer Freiheit, die ihr absolutes Urbild eben nur an der
Totalität des Seins überhaupt besitzt —, Einheit sein.
Nur mit diesem Wort
ist der in sich zentrierende, völlig in sich beschlossene Zusammenhang
der Teile zu bezeichnen, mit dem das Kunstwerk sich vollendet.
Gerade aber weil
die Einheitsidee unmittelbar mit der ästhetischen Idee zusammenhängt,
greift sie, auf Grund der kosmischen Bedeutung der letzteren, über sie
hinaus und wird ihrerseits ein Kriterium für die Richtigkeit der
Erkenntnisbilder.
Darauf komme ich
noch zu sprechen und deute jetzt noch auf Verknüpfungen der Einheitsidee
mit anderen wesentlichen Motiven der Goetheschen Geistigkeit hin.
Dass er die
Totalität des Seins als Einheit denkt und jedes Stück des Daseins
gewissermassen als eine Vertretung oder Wiederholung dieser Einheit (»Du
findest nur Bekanntes, das Ihm gleicht« — was dann seine häufige Maxime,
dass die Natur im kleinen genau dasselbe täte wie im grossen, nur aus
dem Metaphysisch-Absoluten in das Empirisch-Relative überträgt) — das
setzt von neuem die auch hier festgehaltene »Anschaulichkeit« in
entschiedenen Gegensatz zu allem Sensualismus.
Denn aller
Sensualismus wird in seinem tiefsten Wesen dadurch bezeichnet, dass er
am einzelnen haftet, dass er das Stück nur, als Stück nimmt und Synthese
nur als Zusammenfügung des Singulären, das seiner Natur nach auch immer
ein Singuläres bleibt, anerkennt, nicht aber als Symbol einer inneren,
aller Singularisierung vorangehenden Einheit.
Dies ist der Grund,
aus dem die sensualistische Tendenz sich gern mit praktisch-egoistischer
verbindet.
Denn was wir
Egoismus nennen — ich habe dies an andrer Stelle ausgeführt — ist immer
eine Willensbeziehung zu irgendwelchen Einzelheiten der gegebnen Welt.
Die Vereinzelung,
in die sich das egoistische Subjekt begibt, findet — keineswegs zufällig
— ihr Korrelat in der Vereinzelung seiner Willensziele; man kann sagen,
dass der Egoismus die praktische Welt atomisiert — gerade wie der
Sensualismus die theoretische.
Denn ihm erscheint
das synthetische Vermögen des Geistes als etwas Subjektives und
Sekundäres, dem in der objektiven Ordnung der Dinge nichts entspräche.
Dies ist der genaue
Gegensatz der Goetheschen Geistesrichtung, die überall Ganzheiten und
Einheitlichkeiten zu erfassen strebt, deren pantheistische, die
Welteinheit irgendwie in sich tragende Grundstimmung sich so in seine
Sinnlichkeit fortsetzt, dass er allenthalben Verbundenheit,
Zusammengehören, Zusammenstimmen erblickt.
Ihm ist das Ganze
vor den Teilen, und höchst charakteristisch bezeichnet er darum das
In-Übereinstimmung-Bringen des Entgegengesetzten einmal als ein »
Wiedervereinigen«.
Im Gegensatz zu der
sensuellen Anschauung, die nur Einzelheiten sieht, war die seine die
intellektuelle, die nur Einheiten sieht.
Ein weiteres Motiv,
das die Einheit zum Range der Idee und zum Wahrheitskriterium der
erkannten Gestalt erhebt, ist ihre Bedeutung für das Lebendige als
solches.
Für das Organische
ist ihm alle äussere Zusammengesetztheit, die es nie zu einer wirklichen
Einheit bringt, das schlechthin feindliche Prinzip.
Nur aus Gründen
einer praktischen Empirie sei uns »der atomistische Begriff so nah und
bequem zur Hand; deshalb wir uns nicht scheuen, ihn auch in organischen
Fällen anzuwenden«.
»Um mich zu retten,
betrachte ich alle Erscheinungen als unabhängig voneinander und suche
sie gewaltsam (!) zu isolieren; dann betrachte ich sie als Korrelate,
und sie verbinden sich zu einem entschiedenen Leben.« Und nur dem
Ausdruck nach abweichend, dem Sinne nach aber gleich: »Man kann das
Lebendige zwar in Elemente zerlegen, aber aus diesen nicht wieder
zusammenstellen und beleben.« Von diesem »wissenschaftlichen
Verlangen«, das Äussere der lebendigen Bildungen »im Zusammenhange zu
erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in
der Anschauung gewissermassen zu beherrschen«, sagt er, dass es mit dem
Kunsttriebe »nah zusammenhänge«.
Als eine
Bestätigung des Rechtes, bei der Betrachtung der Organismen von einer
Einheit auszugehen, aus ihr die Teile zu entwickeln und sie wieder auf
sie zurückzuführen, erscheint es ihm, »dass wir den vollkommensten
Zustand der Gesundheit nur dadurch gewahr werden, dass wir die Teile
unsres Ganzen nicht, sondern nur das Ganze empfinden«.
Darum muss er die
damals verbreitete Zeugungstheorie der »Einschachtelung« verwerfen, da
diese doch schliesslich auf ein Nebeneinander, Aussereinander dessen,
was in und aus einem Lebewesen entsteht, herauskommt — während die
Entwicklung ein einheitlicher, von einem einheitlichen Leben
getriebener Prozess ist.
Diese Einheit als
Lebensform hat natürlich nicht den Sinn der numerischen Eins:
Kein Lebendiges ist Eins
Immer ist's ein Vieles.
Die Einheit hat
sozusagen gar keine Funktion, wenn nicht ein Vieles da ist, das sie eben
vereinheitlicht — während in der unorganischen Natur (wenigstens solange
man nicht die Welttotalität, sondern Stück für Stück betrachtet) das
eine einfach neben dem andern liegt, so dass hier das Dasein ein Vieles
ist und bleibt; wobei dann jedes Stück für sich als »Eins« gelten kann.
Umgekehrt ist der
Organismus niemals ein solches numerisches »Eins«, dagegen ist seine
Vielheit funktionell zur Einheit verbunden und diese Verbindung ist das
Leben.
Dies ist die
Grundform, kraft deren der Organismus für Goethe zum Symbol der Welt,
aber auch, wie man wohl sagen kann, die Welt zum Symbol des Organismus
wird.
Niemand ist mit
grösserer Gewissheit, ja Leidenschaft, von der Einheit des Kosmos
überzeugt gewesen; niemand aber hat sich entschiedener von jenem
Monismus abgewendet, für den alles Mannigfaltig-Bunte, alles
differenziell Gestaltete und Bewegte in die dürre und starre
Begrifflichkeit des »Eins« verschwindet.
»Durch die
Alleinheitslehre«, sagt er, »wird soviel gewonnen als verloren, und
zuletzt bleibt das so tröstliche als untröstliche Zero übrig.« Wie das
Lebendige, so ist ihm die Welt nicht Eins, sondern immer ein Vieles; und
wie das Lebendige, so ist ihm die Welt die Einheit dieses Vielen.
Er hat die Welt
organisch verstanden, d. h. Idee und Wirksamkeit des Ganzen als einer
Einheit dominiert ihm so sehr alles Einzelne und die
Wechselwirksamkeiten innerhalb des Einzelnen, wie in dem Organismus
jeder Teil von dem Ganzen bestimmt wird und das Leben jedes Teiles
nichts andres ist, als das in ihm sich vollziehende Leben des Ganzen.
Tiefer aber greift
vielleicht der eben angedeutete Ausdruck: nicht die Welt ist ihm wie ein
Organismus, sondern der Organismus ist ihm wie die Welt.
An der Welt hat er
die Existenzform gefunden oder gefühlt, die für weniger umfassende
Anschauungsweisen nur am Organismus hervortritt; dieser erscheint
gewissermassen als ein Mikrokosmos, als eine Analogie in engen Massen
für die Form, in der die Welt als eine Einheit und sozusagen von ihrem
metaphysischen Zentrum aus lebt.
Die organische
Form, d. h. das Leben des Teiles aus dem Ganzen heraus, ist ihm der Sinn
der Welt überhaupt.
— Es zeigt sich
damit die ganze Roheit und Oberflächlichkeit der Kritik, die die grossen
Denker der Vermenschlichung der Welt eines atavistischen Fetischismus
beschuldigt, wenn sie die Gesamtheit des Daseins nach den Kategorien
des Menschlichen, des Lebendigen, des Seelischen deuten.
Wenn Schopenhauer
das Wesen der Welt als Wille bezeichnet, so macht er damit nicht den
kleinen Weltausschnitt des menschlichen Willens zum Masse der
Unendlichkeit, sondern umgekehrt: die geheimnisvolle Beziehung des
grossen Philosophen wie des grossen Künstlers zur Ganzheit des Seins
gibt ihm eine bestimmte, seiner seelischen Artung entsprechende
Empfindung und Deutung dieses Ganzen; und erst von dieser her wird der
Punkt innerhalb des seelisch-menschlichen Daseins ergriffen, an dem
solcher Sinn des Seins sich etwa am anschaulichsten und unzweideutigsten
für uns darstelle.
Und so ist Goethes
Bild der organischen Welteinheit nicht eine mythologisierende
Übertragung der empirischen Vorstellung vom Organismus auf das Dasein
überhaupt, sondern ein Gefühl oder Bild dieses Daseins, das nur am
Organismus seine Aussprechbarkeit, vielleicht auch nur sein Symbol
gewinnt.
Das rastlose
Werden, das stetige Gestalten und Umgestalten, wie das Leben allein es
in sich anschaulich macht, ist die einzige Vermittlung zwischen den
Polen, an denen, als Weltprinzipien, Goethe gleichmässig festhält: an
der Einheit alles Seins und an dem Bestande und Werte des Individuellen.
Denn nur dadurch,
dass das Eine ein Werdendes ist, kann es ein Mannigfaltiges sein.
Was das einzelne
Leben im Nacheinander entfaltet: die kontinuierlich wechselnde Fülle der
Zustände, äusserlich ganz divergente Erscheinungen, die doch nur die
Stadien einer einzigen Entwicklung sind — das zeigt das Leben
überhaupt, zeigt der Kosmos ausserdem im Nebeneinander.
In der Vielheit der
Erscheinungen, deren jede ihre unverminderte Besonderheit bewahrt,
erblickt Goethe — mit diesem Paradoxon, das später noch seine
Verbreiterung finden wird, kann man seine Weltanschauung wohl
formulieren — das zeitlose Leben der kosmischen Einheit; gibt er doch
selbst dem Letzten, »Unschaubaren«, uns für immer Problematischen einmal
den geheimnisvollen Ausdruck: »das ewig tätige Leben in Ruhe gedacht«!
Der Alleinheitslehre Spinozas konnte es nicht gelingen, der Einheit und
der Vielheit gleichmässig und synthetisch gerecht zu werden, weil ihm
der Lebensbegriff fehlte.
Dass Spinoza das
Werden dem Sein opferte, ist nur ein andrer Ausdruck dafür, dass er das
Viele dem Einen opferte.
Er fand die Brücke
nicht vom Einen zum Vielen, die für Goethe in dem stetigen Werden,
Entfalten, Umbilden des Lebensprozesses lag.
Von hier aus
gesehen ist der Begriff der »Metamorphose« nicht mehr ein
Einzelerkenntnis über die Organismen, sondern die verdeutlichende
Steigerung des Lebensbegriffes.
»Soviel getraue ich
mir zu behaupten, dass, wenn ein organisches Wesen in die Erscheinung
hervortritt, Einheit und Freiheit des Bildungstriebes ohne den Begriff
der Metamorphose nicht zu fassen sei.« Die Metamorphose erscheint hier
also als ein Synonymum des Lebens überhaupt, das die Ausformung eines
Einen zum Vielen, d. h. zu der Freiheit mannigfaltigster,
individualisierendster Gestaltung bedeutet.
Dies also ist
ungefähr Sinn und Grund, mit dem die Einheit als fundamentale Kategorie
des Goetheschen Weltbildes auftritt, als eine Seite der »Idee«, deren
Manifestation die Erscheinungswelt ist.
Und weil sie ihm
der Formungsgrund des Seins ist, ist sie auch der Rechtsgrund der
Erkenntnis; d. h. — und damit komme ich wieder auf unsern Leitgedanken
zurück — wo das Erkennen die Einheit seines Gegenstandes zerstört, hat
es sich eben dadurch als unrichtiges erwiesen.
Die Zerlegung der
Autorschaft Homers schien er zuerst, unter dem Zwang der Wolfschen
Beweise, anzuerkennen; sobald sich aber auch nur die Möglichkeit zeigte,
ihre Einheit wieder herzustellen, nahm er sie mit Leidenschaft auf und
seine Äusserungen machen es ganz klar, dass ihm die Zerstückelung, eben
weil sie Zerstückelung war, als irrig erschien.
Noch unter dem
Eindruck jener Untersuchungen Wolfs formuliert er die Einheit Homers
zunächst als etwas ganz Ideelles, als die innere,
organisch-künstlerische Wertform:
Ewig wird er euch sein der Eine, der sich in Viele
Teilt und einer jedoch, ewig der Einzige bleibt.
Findet in Einem die Vielen, empfindet die Vielen wie Einen,
Und ihr habt den Beginn, habet das Ende der Kunst.
Allein dieser
ästhetischen Korrelation von Einheit und Vielheit wird jedenfalls
innerhalb der Realität eher durch Einheit als durch Vielheit der
Autorschaft genügt.
Und so wird ihm die
Einheit, von der er als von der Idee, der immanenten Forderung des
Kunstwerks, nicht lassen kann, zum Kriterium über Wahrheit und
Falschheit der Wirklichkeitserkenntnis: die Wolfsche Hypothese ist ihm
falsch, weil sie die Einheit, die imperativische Kategorie von Sein und
Kunst, zerreisst.
— Innerhalb der
geologischen Theorien widerstreben ihm vor allem die vulkanistischen,
die die Oberfläche der Erde durch plötzliche Eruptionen, gewalttätige
Katastrophen erklären wollen; die ruhigen und langsamen Wirkungen von
der Art, wie sie täglich zu beobachten sind, scheinen ihm auch die
ausserordentlichsten Konfigurationen zustande zu bringen.
Sieht man die
Ausdrücke an, mit denen er den Vulkanismus charakterisiert: gewaltsames
Aufregen, vermaledeite Polterkammer der neuen Weltschöpfung usw. — so
möchte es scheinen, als wäre der Hass seiner »konzilianten Natur« gegen
alles Gewalttätige, Ungeordnete, Abrupte das letzte Motiv der Polemik.
Dennoch scheint mir
etwas noch Allgemeineres hier zum Grunde zu liegen.
Goethe war
keineswegs, trotz jener Konzilianz, eine so weichmütige und unkräftige
Natur, dass er Kampf und Aufruhr der Elemente im Weltbild nicht ertragen
hätte und sich durch persönliche Antipathie dagegen eine objektive
Theorie hätte aufdrängen lassen.
Ich glaube
vielmehr, dass das entscheidende Motiv in der Fortsetzung jener vorhin
angeführten Äusserung über die geognostische »Zerstückelung der schönen
Erdoberfläche« liegt: jene Eruptionen und Katastrophen durchbrechen ihm
das einheitliche Bild der Natur, indem sie Kräfte einführen, die
gegenüber den beobachtbaren, alltäglichen, fremd und dualistisch sind.
Nicht die
Gewaltsamkeit an und für sich erscheint ihm als Beweis gegen den
Vulkanismus, sondern dass sie gleichsam in der Ordnung der Natur nicht
vorgesehen ist und ihre Einheit zerreisst.
Und zwar die
Einheit gemäss seiner Naturmetaphysik, die morphologische, an der
»Gestalt« bestehende.
Gegen die Einheit
der mechanistischen Naturgesetzlichkeit verstösst der Vulkanismus in
keiner Weise.
Die Bewegungen der
kleinsten Teile folgen der allgemeinen Gesetzlichkeit genau so, wenn
sie ein für die menschliche Auffassung der Phänomene ruhiges, normales,
kontinuierliches Bild, wie wenn sie ein uns gewaltsam und durchrissen
vorkommendes ergeben.
Wohl aber mochte
Goethe die Einheit der anschaulichen Form, die sich sozusagen mit der
Ununterbrochenheit gleichmässiger Wirkungen in das Nacheinander
überträgt, als zerstört empfinden, wenn in die Konstanz ruhiger, uns
dauernd vor Augen liegender Umformungen ein plötzliches Heben und
Schleudern, Brechen und Beben hineinfahren sollte.
Der scheinbar
unwesentliche Unterschied der Begründungen ist tatsächlich von tiefer
Bedeutung; denn er führt das nur subjektiv-gefühlsmässige, eigentlich
recht anthropomorphe Motiv der Aversion gegen Gewalttätigkeit und
Ungestüm in der Natur auf das weltanschauungsmässige der Einheit des
Naturbildes zurück.
Die Einheit der
Natur für Goethe ist der Einheit zu vergleichen, die der Maler oder
Plastiker unter den Elementen einer menschlichen Gestalt herstellt, im
Unterschied gegen die physiologische, unter der Oberfläche durch den
Kreislauf und das Wechselspiel der kleinsten Teile hergestellte
Einheit.
Die künstlerische
Einheit spielt sich rein innerhalb der Erscheinung ab, verbindet deren
Teile rein nach den Forderungen der Anschaulichkeit, hat nur das
Interesse, dass das Auge des Beschauers und die auf dessen Spuren sich
in das Objekt einfühlende Seele die Vorstellung des Zusammengehörens
der Oberflächenelemente gewinne; wie diese durch den realen, aber
unsichtbaren Lebensprozess verbunden sind, geht die künstlerische
Einheitsforderung nichts an.
Sie ist relativ
subjektiv, aber ihr Gegenstand ist die unmittelbar empirische
Gegebenheit.
Umgekehrt ist für
die wissenschaftliche Erkenntnis der Lebenseinheit ein solches
Zusammenfassen der zufälligen Oberflächenteile ganz bedeutungslos, sie
ist relativ objektiv, aber sie lebt in der Überwindung des unmittelbaren
Augenscheines.
Das Einzigartige
und Entscheidende der Goetheschen Weltanschauung liegt darin, dass er
jene morphologisch-künstlerische Synthese des Anschaulichen zu
kosmisch- metaphysischer Bedeutung hebt.
Nun liegt die
Oberfläche der Dinge nicht mehr wie eine ablösbare Haut oder ein vom
Subjekt her über sie hingestreuter Schein ihrem eigentlichen Wesen,
ihrer Wirklichkeitstiefe auf; sondern, wenn sie nur recht nach der
Eigengesetzlichkeit der Idee beschaut wird, ist sie die volle
Offenbarung des Seins:
Nichts ist drinnen,
nichts ist draussen, Denn was innen, das ist aussen.
Es ist — natürlich
nicht mit systematischer Symmetrie — das Gegenstück zu der
»Kopernikanischen Tat« Kants.
An die Stelle der
herrschenden philosophischen Meinung: die empirische Erscheinung habe
mit dem eigentlich Wahren des Daseins nichts zu tun, dieses vielmehr
stelle sich nur einem unsinnlichen Vernunftvermögen — setzte Kant die
Erkenntnis: die Erscheinung ist die volle Wirklichkeit, sie ist
keineswegs nur die Schale eines transphänomenalen Innern, welches
vielmehr »eine blosse Grille« ist; sie ist freilich auch nicht blosse
Sinnesimpression, sondern die Formgebung durch den Verstand bringt sie
auch als Erscheinung erst zustande.
Vielleicht ist
diese These im Grunde nicht weniger paradox als die Goethesche: dass in
der Erscheinung das letzte Wesen der Dinge sich unmittelbar darstelle —
sobald sie nicht blosse Sinnesimpression sei, sondern gemäss den
Forderungen der »Idee« angeschaut würde.
Für Kant ist es die
intellektuelle Formung, die der Sinneserscheinung die volle, von aller
transzendenten Problematik entlastete Realität gibt — für Goethe die
künstlerische Formung; denn so kann man es ja wohl bezeichnen, dass die
Erscheinung dem klaren Blick in sich selbst die Idee entgegenträgt.
Wie deshalb für
Kant diejenige Erscheinung real ist, deren sinnlich gegebener Inhalt den
Kategorien des Verstandes entspricht, so erkennt Goethe nur dasjenige
Bild als im höchsten und definitiven Sinne richtig an, dessen sinnliche
Gegebenheit den Forderungen der Idee genügt.
Darum wird ihm nun
diese zum Kriterium der Richtigkeit einer Vorstellungsweise, und darum
erkennt er, aus der Idee der Einheit heraus, weder die Vielheit der
Homeriden noch den Vulkanismus an — nicht weil diese Bilder seinem
ästhetischen Gefühl unangenehm wären, sondern weil, auf Grund seiner
metaphysischen Überzeugung von der absoluten Realität der ideengeformten
Erscheinung, die ästhetische Unzulänglichkeit jener Erscheinungen ihm
das Signal für ihre theoretische, ja, mit dieser identisch ist.
Indem die
Erscheinung in ihrer anschaulichen Wirklichkeit als in sich einheitlich
gelten kann, ist sie auch mit der Idee einheitlich.
Jenes anderwärts
behandelte Wort: »Wer mit sich einig ist, ist es auch mit andern« —
zeigt sich damit als ein Fall einer ganz allgemeinen metaphysischen
Maxime.
Die Einheit der
Erscheinung in sich selbst bedeutet eine Vollendung ihrer, mit der sie
gleichsam über sich hinausgreift und ihre Einheit mit den Realitäten
oder Idealitäten ausserhalb ihrer selbst offenbart.
Hier liegt eine,
wenn auch entfernte Verwandtschaft mit Goethes merkwürdiger Äusserung
vor: »Alles in seiner Art Vollkommene müsse über seine Art
hinausgehen.« So ist die vollkommene innere Einheit eines Stückes der
Welt entweder der Erkenntnisgrund oder die Bedingung oder die Folge
davon, dass auch zwischen ihm und dem, was jenseits seiner ist, Einheit
besteht.
— Erfasst man die
Idee der Einheit in ihrer ganzen Lebendigkeit und Weite, mit der sie in
Goethes Weltanschauung wirkt, so kann sie wohl als deren Fundament
gelten; alle übrigen Ideen, deren Offenbarung er in den Erscheinungen
sucht und die ihm zu Kriterien für deren richtige Erkenntnis werden,
lassen sich als irgendwie von jener abhängige, als ihre Ausgestaltungen
oder Bedingungen deuten.
Ich behandle noch
drei Formmotive dieser Art: die Kontinuität, die Polarität, das
Gleichgewicht.
Jene Abneigung
gegen den Vulkanismus ist ohne weiteres als Glaube an die Kontinuität im
Sein und Geschehen der Natur anzusprechen.
Ich führe eine
entscheidende Stelle an: »Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die
wir in der Erfahrung bemerken, hängen auf die stetigste Weise zusammen,
gehen ineinander über — jene Tätigkeiten, von der gemeinsten bis zur
höchsten, vom Ziegelstein, der dem Dach entstürzt, bis zum leuchtendsten
Geistesblick, der dir aufgeht und den du mitteilst, reihen sie sich
aneinander.« In ganz eminentem Sinne ist diese Maxime für die Goethesche
Seinsbetrachtung charakteristisch: denn keine andere bindet Formung,
Ordnung, Gesetz so unbedingt an die Erscheinung der Dinge, an die
morphologische Wirklichkeit.
Beschränkt man sich
ganz rein auf die Erscheinungen, deren unabsehliche Individualisiertheit
man zugeben muss, so kann man ihre »Einheit«, die Gestaltung eines
Ganzen aus ihnen eben nur auf jene abgestuften Ähnlichkeiten hin
zustande bringen.
Die Betrachtung der
Wesen nach der »Gestalt« hat an und für sich etwas Isolierendes und es
ist die gigantische Bestrebung des Goetheschen Naturverstehens, diese
Umschlossenheit und Vereinzelung der Gestalten von einem einheitlichen,
vibrierenden, Alles mit Allem verbindenden Leben durchfluten zu lassen.
Insoweit man nun in
dieser Tendenz nicht von einem innern Lebensprinzip ausgeht, sondern die
Einheitsform den unmittelbaren Erscheinungen abgewinnen will, so müssen
diese, mögen es Gestalten des Ruhenden oder des Bewegten sein, in eine
Reihe sich ordnen lassen, in der sozusagen kein Unterschied der kleinste
ist, sondern zwischen je zwei differente Glieder noch immer weitere
sich einstellen und die Vermittlung durch morphologische Zusammenhänge
ins Unendliche geht.
»Welch eine Kluft«,
sagt er in Hinsicht einer ihm besonders wichtigen Reihe, »zwischen dem
os intermaxillare der Schildkröte und des Elefanten, und doch lässt sich
eine Reihe Formen dazwischen stellen, die beide verbindet.« Zwischen der
»Kontinuität« im Sinne einer stetig fliessenden Bewegtheit und der
singulären Einheitlichkeit der Gestalt besteht, wie ich oben sagte, eine
tiefe Diskrepanz; aber die Kontinuität im Sinne der Aufreihbarkeit der
Gestalten nach ihrer morphologischen Berührung vermittelt zwischen
beiden, sie ist gleichsam das statische Symbol für jene Labilität.
Auf das Gesetz von
Hervorbringung, Wachstum, Entwicklung soll gerade dies deuten: »Alle
Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern.« Durch das ideelle
Verbundensein von Gestalt mit Gestalt, sei diese Ereignis, sei sie
substanzielles Wesen, wird die Verbindung jedes Einzelnen mit dem Ganzen
erreicht, ohne die »in der lebendigen Natur nichts geschieht«.
Zerlegt man den
stetigen Fluss der Entwicklung in einzelne »Zustände«, so ist deren
Kontinuität genau so wie die der singulären Gestalten zu betrachten.
»Wie ein Wesen in
seiner Erscheinung beginnt, so schreitet es fort und endigt auf gleiche
Weise«; nur durch Kontinuität der Zustände kann sich diese
Wesenseinheitlichkeit mit der fortwährenden Unruhe, dem Gestalten und
Umgestalten, Trennen und Verbinden innerhalb des Lebendigen vertragen.
Eine Disposition zu
der so angenommenen Kontinuität der Erscheinung liegt, wie ich glauben
möchte, schon in einer sinnlichen Besonderheit von Goethes Naturanlage:
in dem Ineinander-Übergehen der Eindrücke ganz verschiedener Sinne.
Vor der ungeheuren
Einheitlichkeit seines Wesens verschwindet gleichsam die Disparität der
Sinnesgebiete, ohne weiteres reiht sich ein Stück des einen in das
andere ein; man hat das Gefühl, als verliefe sein inneres, insbesondere
sein dichterisch ausgedrücktes Leben, in seinem tiefsten Grunde, als ein
eigentlich nur dynamischer Wechsel, ein An- und Abschwellen oder auch
ein polares Umspringen einer Daseinsintensität, und als seien alle
qualitativen Mannigfaltigkeiten, in denen diese sich darbietet, dadurch
innerlichst verbunden; als übergriffe die Einheit dieses Lebens alle
Abstände, die seine Inhalte zeigen, sobald sie aus dem Leben heraus und
in blosse isolierte Sachlichkeit gestellt werden.
Als erlebte lassen
sie ihre logische oder dinghafte Disparität in eine Kontinuität über-
gleiten, die auch jede Sinnesimpression mit jeder verwandt macht und
jeden Stellenwechsel unter ihnen legitimiert.
Da diese Linie in
seinem Bilde vielleicht noch nicht hinreichend herausgehoben ist, führe
ich die Stellen an, die mir zur Hand sind.
In einer
symbolischen Darstellung des Orpheusmythus äussert er: »Das Auge
übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres« — in der Ausführung
des Gedankens, dass die Architektur eine »verstummte Tonkunst« ist.
Es gilt für den
Marmor wie für den Busen der Geliebten: »Sehe mit fühlendem Aug', fühle
mit sehender Hand«; und aus ihren Augen hört er ein »lieblichstes
Getön«.
Ja, selbst »die
Kühle« schleicht ihm »durchs Auge« ins Herz — und Wasser und Höhle
sprechen Laute, die der »Künstlerblick vernimmt«.
Geruch und
Geschmack sind nicht ausgeschlossen: der Wasserfall verbreitet »duftig
kühle Schauer«.
»Von buntesten
Gefiedern — Der Himmel übersät — Ein klingend Meer von Liedern —
Geruchvoll überweht.« »Ich habe nichts dagegen, wenn man die Farbe sogar
zu fühlen glaubt; ihr eignes Eigenschaftliche würde nur dadurch noch
mehr bestätigt. Auch zu schmecken ist sie. Blau wird alkalisch, Gelbrot
sauer schmecken.
Alle
Manifestationen der Wesenheiten sind verwandt.« Gerade gelegentlich des
»Stufenweges vom Unvollkommnen zum Vollkommnen« äussert er: »Die
wundersame Erfahrung, dass ein Sinn an die Stelle des andern einrücken
und den entbehrten vertreten könne, wird uns eine naturgemässe
Erscheinung, und das innigste Geflecht der verschiedensten Systeme hört
auf, als Labyrinth den Geist zu verwirren.« Und endlich klingt der
Gedanke des Ineinander-Aufgehens der Sinne in dem Vers des Divan an:
»Ist somit dem Fünf der Sinne Vorgesehn im Paradiese, Sicher ist es, ich
gewinne Einen Sinn für alle diese.« Was im Empirischen als blosse
Kontinuität und Grenzvermischung der Sinne erscheint, ist hier zu
phantastisch-metaphysischer Vollendung geführt.
Die Stetigkeit in
der Reihe der Gestaltungen, die an solchen Äusserungen ihr
persönlich-sinnliches Symbol findet, wird ihm zum Erkenntniskriterium,
gerade wie die Einheit und die ästhetische Bedeutsamkeit der
Einzelgestalt; denn erst indem all diese »Ideen« in der Wirklichkeit
aufzeigbar sind, oder, von der andern Seite gesehen, nur das, was sie
aufzeigt, als Wirklichkeit anerkannt wird, realisiert sich das
entscheidende Grundmotiv: das Zusammen von Wirklichkeit und Wert.
So folgert Goethe
weiterhin, dass man sich in der Naturwissenschaft nie mit einem
isolierten Faktum begnügen dürfe, sondern durch Versuche alles, was
irgendwie daran grenzt, erkunden müsse.
Diese Reihung und
Folgerung »des Nächsten aus dem Nächsten« hätten wir von der Mathematik
zu lernen, in der sich »jeder Sprung in der Assertion offenbart«.
Hier also wird die
Kontinuität zum Erkenntnismittel: wo sie nicht hergestellt oder
herstellbar ist, wird die Wirklichkeit nicht erfasst.
Das Weltbild, das
so gewonnen — oder vielleicht vorausgesetzt — wird, charakterisiert sich
durch seinen Gegensatz zu aller »Systematik«.
Denn an der
Auffassung des Daseins als eines Systems oder als einer Kontinuität
scheiden sich tiefste geistige Wesenstendenzen.
Der Systematiker
setzt die Dinge mit scharfer begrifflicher Abgrenzung aussereinander
und gewinnt Einheit für sie, indem er ihre begrifflichen Inhalte in ein
symmetrisch gebautes Ganzes einstellt.
Wie das einzelne
Element, so ist auch das Ganze ein Fertiges, Abgeschlossenes, eine feste
Form aus festen Formen, geordnet nach architektonisch-einheitlichem
Prinzip, das jedem überhaupt denkbaren Element seine Stelle gleichsam
vorbestimmt.
Gegen diese Tendenz
nun wendet sich Goethe nach einer fast fünfzigjährigen
naturwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Worten: »Natürlich
System: ein widersprechender Ausdruck.
Die Natur hat kein
System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum,
zu einer nicht erkennbaren Grenze.
Naturbetrachtung
ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im
Ganzen nach Breite und Höhe die Spur verfolgen.« Von der hiermit
angedeuteten Dynamik des Lebens abgesehen, gestattet ihm schon die
Stetigkeit der Erscheinungen kein System.
Denn wo Kontinuität
ist, verbietet sich jene Abgrenzung von Einheit gegen Einheit, die
Unterschiede werden zu unmerklich, um eine begriffliche Hierarchie zu
bilden.
Da es jetzt keine
Stelle gibt, die nicht ein Crescendo und ein Diminuendo neben sich
hätte, so ist auch ein Abschluss des Ganzen nicht möglich, das
Verhältnis der Elemente kann sich nicht zu einer irgendwie genugsamen
Einheit zusammenschliessen, da zwischen je zweien eine unübersehliche
Zahl von Zwischenstufen sich drängt, für die das System als ein Bau aus
Begriffen keinen Platz hat.
Am schönsten und
reinsten hat Goethe in den Berichten über sein botanisches Studium
diesen Gegensatz entwickelt, in dem Partei zu nehmen ihn freilich die
Geltung des Linneschen Systems besonders aufreizen musste.
Dies ganze System
ruht für ihn auf der praktischen Zweckmässigkeit des Zählens; es setze
also ein genaues Trennen der einzelnen Pflanzenteile gegeneinander
voraus, die Feststellung jeder Form als eines von allen übrigen, von den
vorhergehenden wie den folgenden völlig verschiedenen Wesens.
Da nun aber ein
Organ, eine Form in die andre mit unfassbaren Übergängen gleitet, so
muss das System »alles Wandelbare als stationär, das Fliessende als
starr, das gesetzlich rasch Fortschreitende als sprunghaft, das aus
sich selbst hervorgestaltete Leben als etwas Zusammengesetztes« ansehen.
Er gesteht,
angesichts der fortwährenden Umbildungen und Beweglichkeiten der
Pflanzenorgane den Mut zu begrifflichen Fixierungen und Grenzsetzungen
verloren zu haben.
»Unauflösbar schien
mir die Aufgabe, Genera mit Sicherheit zu bezeichnen, ihnen die Spezies
unterzuordnen.« Und schon lange vorher habe das »scharfe Absondern«
Linnes in seinem Innern einen Zwiespalt erzeugt: »Das, was er mit Gewalt
auseinanderzuhalten suchte, musste, nach dem innersten Bedürfnis meines
Wesens, zur Vereinigung anstreben.« Der Systematik gegenüber, für die
»alles fertig« ist, die »nur ein Versuch ist, viele Gegenstände in ein
gewisses fassliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng genommen,
untereinander nicht haben« — ist es seine Denkweise »das Ewige im
Vorübergehenden« zu schauen.
Alle Pflanzenorgane
sind ihm die in absatzlosen Prozessen vollzogenen Umbildungen eines
einzigen Grundorgans — wie er auch von allen »vollkommenen organischen
Naturen«, von den Fischen bis zum Menschen, behauptet, dass sie nach
einem ideellen Urbilde geformt seien, »das nur in seinen sehr
beständigen Teilen mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch
täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet«.
Sehr früh schon
scheint er die Gefahr der Systematik empfunden haben: dass das System,
wegen seiner logisch geschlossenen, bequem zu handhabenden,
architektonisch befriedigenden Form sozusagen um seiner selbst willen
gesucht und namentlich festgehalten wird und uns hindert, dem jeweiligen
Verhalten der Dinge vorurteilslos und anschmiegsam nachzugehen; so dass
ihm das System ganz einfach zum Gegenteil der Sachlichkeit und selbstlos
gesuchten Wahrheit wird — der Wahrheit, in der sich alles in Einheit und
Kontinuität aneinanderschliesst: »Soviel Neues ich find'«, schreibt er,
»finde ich doch nichts Unerwartetes; es passt alles und schliesst sich
an, weil ich kein System habe und nichts will, als die Wahrheit um ihrer
selbst willen.« Goethe hatte das stärkste Gefühl, die entschiedenste
Vorstellung von dem unstaubaren Flusse alles Lebens, alles Geschehens;
so trivial der Gedanke der unaufhörlichen Bewegtheit des Daseins ist, so
schwierig und, wie ich glaube, selten ist es, dass damit wirklich und
restlos Ernst gemacht wird.
Der relativen
Grobheit und Langsamkeit unserer Sinne, vor allem unserm praktischen
Verhalten zu den Dingen entspricht es, uns an die Fiktion fester
Querschnitte und beharrender Zustände zu halten.
Goethe aber gehörte
zu den heraklitischen Menschen, deren eigne innere Lebendigkeit und
stillstandslose Entwicklung ihnen gleichsam einen
physisch-metaphysischen Sinn gibt für die rastlosen Pulsationen, das
stetige Sterben und Werden, Sich-Entwickeln und Herabsinken unter der
Scheinstarrheit aller Oberflächen.
In höchst
schwierigem und fragwürdigem Verhältnis aber zu dieser Absolutheit von
Werden und Wandel steht Goethes plastischer Sinn, der auf die »Gestalt«
in ihrer klassischen Ruhe, auf die Geschlossenheit und den Ewigkeitszug
der Erscheinungen geht.
Mit wie viel
Vorbehalten auch nur man derartige prinzipielle Gegensätze historisch
lokalisieren darf: es ist der griechisch-italienische Geist, der hier
gegen den germanischen steht, und man hat schon lange hervorgehoben,
dass Goethes Lebensarbeit und Lebensintention im Antagonismus, Wechsel,
Vereinheitlichung dieser weltgeschichtlichen Parteien verläuft.
Ich lasse
dahingestellt, ob er selbst ein theoretisches Bewusstsein über die
Tiefe des Abgrundes hatte, der sich zwischen der künstlerischen
Umgrenztheit und Selbstgenugsamkeit der »Gestalt« und der Unendlichkeit
des Werdens auftut, sobald das eine und das andere zur Dominante des
Weltbildes wird.
Er bringt die
Gegensätze ganz nahe zusammen: »Geprägte Form, die lebend sich
entwickelt« — darin liegt das ganze Problem.
Denn das ist ja
eben die Frage, die diese Formulierung gar nicht als Frage anerkennt:
wie die Form leben kann, wie das schon Geprägte sich noch entwickeln
kann, oder ob überhaupt Geprägtheit und Entwicklung nicht eine
Unvereinbarkeit sind.
Immerhin spricht er
das seelisch-metaphysische Problem als einpraktisches höchst deutlich
aus: »Dass dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben gewinne, Lass die
belebende Kraft stets auch die bildende sein.« Ja, einmal scheint es,
als wolle er ihm überhaupt nur im praktischen Sinne eine Stelle
zuerkennen: »Das Höchste, das Vorzüglichste am Menschen ist gestaltlos
und man soll sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten.« Im
theoretischen Sinne indes liegt hier die letzte Bedeutung des
Kontinuitätsprinzips.
Wenn die pausenlose
Umgestaltung, die kosmische Strömung an dem, was wir Ding, Form, Gestalt
nennen, Halt zu machen, und die einzelnen Erscheinungen damit dem
Gesetz des allgemeinen Lebens entrissen, aus diesem auskristallisiert zu
sein scheinen — so bieten sie jedenfalls eine um so deutlichere Spur
jenes Gesetzes, je näher sie nach ihren Qualitäten aneinanderrücken, je
unmerklicher dem betrachtenden Geist der Übergang von einer zur andern
wird.
Dies subjektive
kontinuierliche Gleiten des Blickes ist Gegenbild und Symbol der
Stetigkeit des objektiven erzeugenden Prozesses, der aus den so
anzuordnenden Erscheinungen verschwunden ist.
Die fertigen
Gestalten, wie der praktische und der künstlerische Blick sie
ausschneiden, gehen nicht funktionell ineinander über; aber das Mass
ihrer Ähnlichkeit, ihrer möglichen Anordnung in Reihen nach zu- und
abnehmenden Qualitäten ist das Mass, in dem sich die Einheit der
erschaffenden Funktion in ihnen gleichsam abgelagert hat und sich an
ihnen verrät.
Gewiss wird die
tiefe Fremdheit zwischen der Welt als stetig-lebendigem Werden und der
Welt als Summe von Gestalten dadurch nicht verneint, dass diese
Gestalten Reihen bilden, in denen kein Unterschied der kleinste ist und
für die die Welt, um den Abstand je zweier zu füllen, jedesmal eine
Unendlichkeit abgestufter Zwischenerscheinungen anbietet; Begrenztheit
bleibt eben Begrenztheit und wird nicht Bewegung über die Grenze hin, so
nahe man auch die Inhalte der Begrenztheiten aneinanderrückt.
Aber das so
entstehende Bild gewinnt allerdings eine ins Unbegrenzte wachsende
Beziehung zu dem des absoluten Werdens; eine von dem letzteren
beherrschte Welt muss allerdings, zu Gestalten verfestigt, diese in
Reihen mit unendlich kleinem Abstand je zweier Nachbarwesen einstellen
lassen.
Die Idee der
Kontinuität, scheinbar nur das äusserliche Nebeneinander der Phänomene
ordnend, enthüllt sich so als der Punkt, an dem die grossen
weltgeschichtlichen Gegensätze in Goethes Wesen und Welt sich
zueinanderneigen — deshalb auch als ein regulatives Prinzip, wie
Schönheit und Einheit, nach dessen Durchführung im Reich der Erfahrung
er unablässig strebte, weil das Mass ihrer Erfüllung zugleich das Mass
der Wahrheit über die Wirklichkeit war. —
Die Vielheit der
Erscheinungen, die Mannigfaltigkeit der Stadien, an denen die Welt
ebenso wie die Seele ihre Einheit leben, ist aber noch einer anderen
Formung zugängig, die ihre Inhalte der Zufälligkeit entkleidet und sie,
rein als Inhalte, aufeinander anweist.
Es ist das Prinzip
der Polarität oder der Bewegung und Gegenbewegung, oder, mit dem
Gleichnis, das er so gern gebraucht: des Einatmens und Ausatmens.
Eigentlich scheint
dies in einer gewissen Fremdheit, ja Unverträglichkeit neben dem
Prinzip der Kontinuität zu stehen.
Aber wenigstens
andeutungsweise zeigt sich auch hier die grossartige Fähigkeit des
Goetheschen Geistes, die Herrschaft eines Prinzips auch gerade an
seinem Gegensatz aufzuweisen, indem eine höhere Bedeutung und Kraft
seiner die Relation zwischen ihm selbst und diesem Gegensatz übergreift.
Er habe seit langem
gewünscht, schreibt er, den Begriff der Polarität in die Farbenlehre
einzuführen.
Denn dadurch fühle
er sich imstande, »die Farbenlehre an manches Benachbarte anzuschliessen
und mit manchem Entfernten in Reihe zu stellen«.
Die
Erscheinungskreise also, deren jeder in sich dem Gesetze der Polarität
untertan ist, werden durch diese Formgleichheit einander zugeordnet, so
dass sie sich nach den Massen, in denen sie dies Gesetz offenbaren, in
die Kontinuität eine Reihe zu schliessen vermögen.
Alle Dinge also
leben in einer unaufhörlichen Entzweiung mit sich selbst und mit
anderen, die sich unaufhörlich versöhnt, um sich wieder zu spalten: »Der
mindeste Wechsel einer Bedingung, jeder Hauch manifestiert gleich in
den Körpern Polarität, die eigentlich in ihnen allen schlummert.« Ein
Inhalt, ein Zustand, ein Geschehen fordert seinen Gegensatz und diese
Spannung oder Alternierung
offenbart eben dasselbe Leben, das
sich im nächsten Augenblick als Einheit der Gegensätze
dokumentiert; er bestimmt Polarität
als die Erscheinung »des Zwiefachen, ja Mehrfachen in einer
entschiedenen Einheit«.
Darum ist ihm der
Magnetismus von grösster Wichtigkeit, als
ein ganz reines Beispiel der
»Entzweiung, die doch wieder nur
eine Vereinigung ist«.
Dies ist ihm »ein
Urphänomen, das
unmittelbar an der Idee steht und nichts Irdisches über sich
erkennt«.
»Das Geeinte zu entzweien,
das Entzweite zu einigen ist das Leben der
Natur; dies ist die ewige Systole und
Diastole, die ewige Synkrisis und
Diakrisis, das Ein- und Ausatmen
der Welt, in der wir leben, weben und sind.« Auch ist es
ihm klar, — was für unsern
Zusammenhang das wesentliche ist —
dass hiermit ein Organisierungs-,
ein Lebensprinzip für die Masse des Daseienden gegeben sei.
Aus Kants Theorie der
Anziehung und Abstossung als Wesen
der Materie, so berichtet er, sei ihm »die Urpolarität aller
Wesen hervorgegangen, welche die
unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durchdringt
und belebt«.
Als künstlerisches
Organisationsprinzip
hat ihm die Polarität von
vornherein gedient, indem die wichtigsten seiner Dichtungen in je einem
Paar von Männern die Polaritäten der
menschlichen, genauer, der männlichen Natur
in ihr Zentrum stellen:
Weislingen-Götz, Werther-Albert, Clavigo-Carlos,
Faust-Mephisto, Egmont-Oranien, Orest-Pylades, Tasso-Antonio,
Eduard-der Hauptmann, Epimetheus-Prometheus.
Dies setzt sich in das
Individuum selbst fort,
indem eine Äusserung
seines hohen Alters die Urbestandteile
unsres Wesens
ausschliesslich aus Gegensätzen bestehen lässt:
»Unser Geist scheint zwei
Seiten zu haben, die ohne einander
nicht bestehen können.
Licht und Finsternis,
Gutes und Böses,
Hohes und Tiefes, Edles und Niedriges und noch so viele
andere Gegensätze scheinen,
nur in veränderten Portionen,
die Ingredienzien der
menschlichen Natur zu sein.« Endlich in das ganz
Intime hinein und in negativem Ausdruck: »Wirst
du deinesgleichen kennen lernen, So
wirst du dich gleich wieder entfernen.« Dieses
Wirklichkeitsverhältnis wendet sich in
das Verhalten der Betrachtung:
»Jedes Existierende ist ein
Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein
immer zu gleicher Zeit gesondert und
verknüpft.
Folgt man der
Analogie zu sehr, so
fällt alles identisch zusammen; meidet man sie,
so zerstreut sich alles ins Unendliche.
In beiden Fällen
stagniert die Betrachtung, einmal
als überlebendig, das andere Mal als getötet.« Und damit zeigt sich nun
die Einheit gleichsam in höherer Instanz.
Sie legt sich nicht nur in
Gegensätze und polare Getrenntheiten
auseinander, mit dieser Korrelation
sich in latentem Zustand zeigend
und in der Wiedervereinigung sich aktualisierend; sondern Entzweiung und
Vereinigung sind selbst Pole
und Pendelschwingungen der höchsten, innigsten
Lebenseinheit! Antithesis und
Synthesis sind die Momente der
eigentlichen und absoluten Synthese,
die absolute Einheit von
Dasein, Leben, Seele steht über der relativen, die ihre Ergänzung,
ihr Korrelat in der Antithesis findet.
Hiermit erst ist
Spinoza wirklich überwunden — nicht
im Sinne von Abwendung und
Widerlegung, sondern durch Gewinn der höheren
Stufe.
Solange Entzweiung und
Einung sich sozusagen als
Parteien gegenüberstehen,
zwischen denen die Entscheidung pendelt, wird die Einung einen gewissen
Wertakzent haben, als wäre sie das eigentlich
Definitive, zu dem das Aussereinander,
die Differenziertheit hinstrebt.
Hier wird die
Spinozistische, auf das absolute Eins gehende und
die Vielheit im Letzten
ausschliessende Tendenz immer im Vorteil sein. Anders aber,
wenn Getrenntheit und Einheit
selbst wieder als die differenzierten
Momente einer höheren Einheit: des Lebens selbst —
vorgestellt werden, wenn jene
beiden selbst nur wieder eine
Vielheit sind, durch die oder in der
das Leben pulsiert, in deren
Spannung und Wechsel es seine
Einheit vollzieht.
Hier wie sonst werden sich die Elemente seiner Weltanschauung
nach demselben Gesetz erwachsen zeigen, das sein persönliches Leben
formt.
Aber
hier wie sonst handelt es sich
nicht
um einen Egomorphismus, bei dem das Phänomen, das
der Mensch sich selbst bietet,
die Art, wie er sich subjektiv anschaut, ihm zum Modell seines
Weltvorstellens wird.
Vielmehr: die objektive,
wesenhafte Kraft, die das »Persönliche« seines Charakters und seines
Erlebens in die Erscheinung ruft, formt auch seine Intellektualität,
bestimmt den Brechungswinkel, mit dem die Objekte in ihn einstrahlen
und zum Weltbild zusammengehen.
Die Verbindung stellt sich also bei
Goethe nicht gleichsam nachträglich und durch direkte Beeinflussung
zwischen den gegeneinander selbständigen Faktoren der Subjektivität und
der objektivischen Betrachtungsweise her, sondern beide sind analog,
weil sie einer letzten Wurzel entwachsen sind.
»Ist das ganze Dasein«, sagt er, »ein
ewiges Trennen und Verbinden, so folgt auch, dass die Menschen im
Betrachten des ungeheuren Zustandes auch bald trennen, bald verbinden
werden.« Ganz zweifellos meint er damit nicht die Kopie des gegebenen
Daseins in dem dazukommenden menschlichen Betrachten, sondern dass
dieses Gesetz des »ganzen Daseins«, da »die Menschen« ja in diesem
befasst sind, ihre Betrachtung ebenso gestalten muss, wie deren
Gegenstände gestaltet sind.
So also hat die Systole und Diastole,
deren Wechsel ihm als Weltformel erscheint, auch sein subjektives
Dasein rhythmisiert.
Es lag in seinem Wesen, wie er selbst
und andere es aussprachen, von einem Extrem ins andere umzuspringen:
»Wie oft sah ich ihn schmelzend und wütend in einer Viertelstunde«,
berichtet Stolberg im Jahre 76. In einer Äusserung, mehr als zwanzig
Jahre später, erscheint die Spaltung seines Wesens sozusagen mehr formal
und ihr Wechsel mit dessen Einheitlichkeit tritt hervor: die Philosophie
lehre ihn mehr und mehr, sich von sich selbst zu scheiden, »das ich um
so mehr tun kann, als meine Natur, wie getrennte Quecksilberkügelchen,
sich so leicht und schnell wieder vereinigt«.
Ersichtlich aber werden nicht nur die
Perioden der inneren Getrenntheit einfach von denen der Vereinigtheit
abgelöst, sondern Getrenntheit und Vereinigtheit bilden zusammen wieder
eine Periode, eine Pendelschwingung des tiefsten Lebens,
zusammengehalten von dem Gefühl einer Lebenseinheit, die die Vielheit
und die Einheit als relative Gegensätze gleichmässig dominiert.
Ja sogar das Schicksal half durch die
Art des Menschen, mit denen es ihn zusammenführte, diese Formel
vollstrecken.
Naturen wie Herder, der Herzog, die
Stein machten ein ganz kontinuierliches, in dem gleichen Nähemass
verbleibendes Verhältnis schwer möglich; in all diesen Beziehungen war
zwar wohl ein »Urphänomen« enthalten, allein dies lebte sich in einem
häufigen Wechsel von Angezogen- und Abgestossenwerden aus, von Sympathie
und Verstimmung, von Gefühl des Zusammengehörens und empfundener
Distanz Antithesis und Synthesis sind bei ihm nicht definitive Parteien;
wie sich vielmehr in ihnen nur eine höchste Lebenssynthese auseinander-
und wieder zusammenlebt, deutet schon eine jugendliche Äusserung über
Wieland an: er liebe ihn und er hasse ihn — das sei eigentlich eins — er
nehme Anteil an ihm.
Jene höchste Einheit kann sich nicht
unmittelbar, sondern nur in der Rhythmik relativer Synkrisis und
relativer Diakrisis zeigen — wie der Rhythmus überhaupt die einfachste
Form ist, die Entgegengesetztheit von Akzenten als Einheit zu begreifen
und sein Geheimnis darin hat, dass in seiner Wechselgestalt ein
Höheres, in keinem seiner Elemente Aufgehendes, lebt; was die
wunderbare Rhythmik des Goetheschen Lebens als ganzen, mit seiner fast
regelmässigen Periodik von Sammlung und Zerstreuung offenbart.
Die Polarität aber
weist von sich aus endlich auf die Formidee hin, mit der ich diesen
Umriss der Goetheschen Kategorien der Weltanschauung beschliesse: auf
das »Gleichgewicht«.
Alle diese Ideen
oder Maximen finden ihren Generalnenner in der Einheit und bilden (dies
wird nachher tiefer zu begründen sein) gewissermassen deren
Ausstrahlungen in die Welt der Besonderheiten und des an diese
geknüpften Lebens — oder, in der andern Richtung gesehen, die ideellen
Kanäle, durch die diese Besonderheiten und durch- und gegeneinander
spielenden Lebendigkeiten der Welt in deren geheimnisvoll-göttliche
Einheit zurückfliessen.
Muss dieses nun,
seinem Begriffe nach, als das Absolute, in keine Relation Hineinziehbare
bezeichnet werden, so ist Gleichgewicht jedes Wesens in sich das
relativistische Symbol jener Einheit, mit ihm spricht sich diese in der
Sprache der in lauter Relationen lebenden Welt aus.
Welche
Einzelgestaltungen aber unter den Begriff des Gleichgewichtes, als
einer ebenso wirklichen wie idealen Form des lebendigen Daseins,
gehören, ist nicht ganz einfach zu bestimmen; denn hier kann sein Sinn
immer nur ein vermittelter oder symbolischer sein, da sein
anschaulich-unmittelbarer, als etwas rein Mechanisches, nicht in Frage
kommt.
Goethe hat offenbar
die Vorstellung gehabt, dass jedem Wesen ein bestimmtes Mass von Kraft,
Vitalität, Bedeutung, oder wie man die innere Lebenssubstanz nennen
mag, zugeteilt ist, ein Mass, das eine gewisse Schwankungsbreite und
innerhalb dieser ein Optimum besitzt.
Wo nun die
Verteilung der Eigenschaften und Betätigungen eines Wesens dieses
Optimum, die für das Wesen »richtige« Lebenssumme darbietet, da befinden
sich die einzelnen Elemente im »Gleichgewicht«.
So fasst er das
Wesen der Organisation auf: »Siehst du also dem einen Geschöpf
besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur gleich: wo leidet es
etwa Mangel anderswo? — Finden wirst du sogleich Zu aller Bildung den
Schlüssel.« So ungleich also auch die Entwicklung der Organe oder Kräfte
bei unmittelbarem Gegeneinander- halten erscheinen mag, so lässt sie
doch das Wesen im Gleichgewicht, insofern dies nur die verschiedene
Verteilung eines konstanten Vitalitätsquantums bedeutet — während es
allerdings in Disharmonie fällt, sobald die Einheit dieses Quantums
sich nicht durch die Diskrepanzen der Organe hindurch verwirklichen
kann.
Es kommt nicht
darauf an, ob er für dieses Verhältnis überall das Wort Gleichgewicht
gebraucht; sondern darauf, dass der Sache, der innerlich wirksamen
Realität nach, diese Kategorie für ihn besteht, als gestaltende,
ordnende; wertbestimmende Form in seiner Weltanschauung.
Dass zwei Organe
oder Funktionen sich im Gleichgewicht befinden, ist ihnen unmittelbar
nie anzusehen; denn es gibt für sie, als lebendige, keine Waage und
keinen Meterstab, an dem ihre Grössen sich miteinander konfrontieren
liessen.
Das Gleich-
Gewichtige an ihnen ist, dass das eine in seinem bestimmten Masse genau
so wichtig für die Gesamtexistenz des Wesens ist, wie das andere; anders
ausgesprochen: dass bei gegebenem Masse des einen diese Gesamtexistenz
und ihr Optimum entscheidet, welches Mass dem andern zukommt.
Jenes durch
»besonderen Vorzug« bezeichnete Organ des Geschöpfes befindet sich mit
dem »Mangel leidenden« dennoch im Gleichgewicht, weil sie in Hinsicht
des Dienstes, den sie beide üben, gleichmässig richtig, gleichmässig
wichtig sind; dies ist die innere Harmonie des Organischen.
Sie ist der
Ausdruck für die Masse, die die Elemente eines Wesens bewahren müssen,
wenn aus ihnen die Vollkommenheit und Einheit dieses Wesens erwachsen
soll.
Dass ein derartig
sinnvolles Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen des Lebendigen
die quantitativen Proportionen der letzteren bestimme, ist eine in
Goethes Weltbild allenthalben bemerkliche Idee.
Aber sie erscheint
bei ihm allerdings noch in andrer, von der bisherigen Voraussetzung
abweichender Form.
Die einander
entgegengesetzten Bestimmtheiten des Lebendigen, so sagte ich, haben
keinen gemeinsamen Massstab, an dem sich ihre Ausgeglichenheit objektiv
feststellen liesse; es müsse vielmehr der Zustand des Wesens als Einheit
entscheiden, von welchem Masse der einen das gegebene Mass der andern
richtig balanciert würde.
Über diese
gewissermassen subjektivische Norm geht Goethe aber zu einer
objektiveren Idee des Gleichgewichts über: indem er nun doch eine
unmittelbare Messbarkeit für den Sachgehalt jener Bestimmtheiten
voraussetzt.
Vielleicht jedes
Wesen, mindestens aber der Mensch (nur für diesen gelten die hier
heranzuziehenden Äusserungen) steht seiner Idee nach gleichsam im
Mittelpunkte vieler Linien, deren jede diesseits und jenseits seiner in
einem absoluten Pol abschliesst.
Er hat seine
richtige Stellung immer zwischen zwei einander entgegengesetzten
Extremen; und der Punkt dieses »Gleichgewichts« wird nicht, wie es
vorhin schien, durch sein sonst gegebenes Lebensoptimum bestimmt, so
dass er bei den verschiedensten Lagen auf jenen Linien noch immer der
richtige sein könnte; sondern umgekehrt, nur die objektiv gleiche
Distanz von dem einen und dem andern Pol bestimmt seine Richtigkeit. So
also:
Wiege
zwischen Kälte
Und Überspannung dich im Gleichgewicht.
Eine andere
Polarität, jetzt in negativem Ausdruck:
Unsrer
Krankheit schwer Geheimnis
Schwankt zwischen Übereilung
Und zwischen Versäumnis.
Aus dem Ethischen
erweitert sich dies zu allgemeiner geistiger Norm: »Wie wir Menschen in
allem Praktischen auf ein gewisses Mittleres angewiesen sind, so ist es
auch im Erkennen.
Die Mitte, von da
aus gerechnet, wo wir stehen, erlaubt wohl auf- und abwärts mit Blick
und Handeln uns zu bewegen! Nur Anfang und Ende erreichen wir nie, weder
mit Gedanken noch Tun, daher es rätlich ist, sich zeitig davon
loszusagen.« Im ganz Persönlichen (aber mit unverkennbarer Andeutung
eines Typischen) spricht er einmal gelegentlich des Verhältnisses zu
zwei Freunden von »dem Allgemeinen, das mir gemäss war« — und
charakterisiert dies als ein Mittleres, da von diesem aus der eine ganz
in das Einzelne ging, der andre ganz in ein Allgemeinstes, »wohin ich
ihm nicht folgen konnte«.
Der Aristotelische
Gedanke, die Tugend sei immer ein Mittleres zwischen einem Zuviel und
einem Zuwenig, scheint hier in sehr vertiefter Gestalt aufzuleben.
Denn während
Aristoteles jede objektive und überindividuelle Bestimmung dieser
»Mitte« ausdrücklich ablehnt, steht offenbar vor Goethes Augen ein
ideeller, geistig-sittlicher Kosmos, auf dessen Mittelpunkt der Mensch
angewiesen ist (um andre Wesen mag sich ein andrer bauen) — vielleicht
von dem Gefühle aus, dass wir die Totalität des Daseins doch am
weitesten beherrschen, wenn wir uns in ihrer Mitte halten.
In ein Extrem
schwingend mögen wir nach dieser einen Seite ins Weite und Weiteste
gelangen; aber dies muss mit so grosser Einbusse an der
entgegengesetzten Richtung bezahlt werden, dass in der Schlussbilanz der
Verlust den Gewinn überwiegt.
Hier zeigt sich der
tiefste Sinn jener »Ausgeglichenheit«, die, wenn nicht die Wirklichkeit,
so doch die Norm des Goetheschen Lebens gewesen ist, und die dem
oberflächlichen Blick als Kühle erschienen ist, als Versicherung gegen
die Gefahr der Extreme, als die »goldene Mittelstrasse« des
Philisteriums, als Harmonisierung um jeden Preis und aus einem
ästhetisierenden und wohlweisen Klassizismus heraus.
In Wahrheit gibt
das von ihm gepriesene und erstrebte »Gleichgewicht«, das »Mittlere«,
den Punkt der Souveränität an, von dem aus die Gebiete des Lebens am
weitesten beherrschbar, seine Kräfte am vollkommensten verfügbar sind:
ein Herrscher pflegt auch nicht an der Grenze seines Landes, sondern,
aus den entsprechenden Gründen, möglichst in seinem Zentrum zu
residieren.
Indem ihm das
objektive und das subjektive Sein in Polaritäten auseinandergeht und
dieses freilich schon ein ideell einheitliches Formprinzip bezeichnet,
zieht sich dies sozusagen praktisch in den beiden Bedeutungen des
»Gleichgewichts« noch einmal zu grossen Maximen zusammen: dem
Vitalitätsmass, das jedem Wesen nach seiner Grundform, seinem Typus
eignet und das sich gleichmässig durch alle Formverschiebung seiner
Organe hindurch erhält — und der menschlichen Angewiesenheit auf das
»Mittlere«, als auf die zentrale Position, von der sich nach den jeweils
entgegengesetzten Polen des Lebens ein Maximum beherrschten und
bereicherten Gebietes spannt.
Gehen diese Formen
und Normen des Lebens weit über allen schematischen und billigen Sinn
der »harmonischen Existenz« hinaus, so finden nun auch sie in der
Gestalt seines persönlichen Daseins ihr Symbol und eine tiefe
Fundamentierung.
Goethes Existenz
wird durch das glücklichste Gleichgewicht der drei Richtungen unsrer
Kräfte charakterisiert, deren mannigfaltige Proportionen die Grundform
jedes Lebens abgeben: der aufnehmenden, der verarbeitenden, der sich
äussernden.
In diesem
dreifachen Verhältnis steht der Mensch zur Welt: zentripetale
Strömungen, das Äussere dem Inneren vermittelnd, führen die Welt als
Stoff und Anregung in ihn ein, zentrale Bewegungen formen das so
Erhaltene zu einem geistigen Leben und lassen das Äussere zu einem
empirischen, zu unsrem Ich-Besitz werden, zentrifugale Tätigkeiten
entladen die Kräfte und Inhalte des Ich wieder in die Welt hinein.
Wahrscheinlich hat
dieses dreiteilige Lebensschema eine unmittelbare physiologische
Grundlage, und der seelischen Wirklichkeit seiner harmonischen Erfüllung
entspricht eine gewisse Verteilung der Nervenkraft auf diese drei Wege
ihrer Betätigung.
Beachtet man nun,
wie sehr das Übergewicht eines derselben die anderen und die Gesamtheit
des Lebens irritiert, so möchte man ihre wundervolle Ausgeglichenheit in
Goethes Natur als den physisch-psychischen Ausdruck für deren Schönheit
und Kraft ansehen.
Er hat innerlich
sozusagen niemals vom Kapital gezehrt, sondern seine geistige Tätigkeit
war fortwährend von der rezeptiven Hinwendung zur Wirklichkeit und
allem, was sie bot, genährt; seine inneren Bewegungen haben sich nie
gegenseitig aufgerieben, sondern seine ungeheure Fähigkeit, sich nach
aussen hin handelnd und redend auszudrücken, verschaffte jeder die
Entladung, in der sie sich völlig ausleben konnte: in diesem Sinne hat
er es so dankbar hervorgehoben, dass ihm ein Gott gegeben hat, zu sagen,
was er leidet.
Und ganz
verallgemeinert und in die Idee des Menschenlebens überhaupt, von der
hier die Rede ist, hinüberweisend: »Der Mensch erfährt und geniesst
nichts, ohne sogleich produktiv zu werden.
Dies ist die
innerste Eigenschaft der menschlichen Natur.
Ja, man kann ohne
Übertreibung sagen, es sei die menschliche Natur selbst.« In den
mannigfaltigsten, auch negativen Formen, ist in seiner persönlichen
Lebenskonfiguration das »Gleichgewicht« nach jenen beiden Bedeutungen
zu erkennen, als Verteilung einer konstanten Dynamis auf objektiv sehr
verschieden entwickelte Betätigungsweisen — und als Gewinn eines
zentralen Punktes von entschiedenster Herrschaft gegenüber den polar
erstreckten Interessengebieten.
So, wie er
angesichts der Lücken seiner Begabung die Totalität und Ausgeglichenheit
seines Wesens wenigstens ideell herstellt: »Ich hörte mich anklagen, als
sei ich ein Feind der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher
schätzen kann als ich, da sie gerade das leistet, was mir zu bewirken
völlig versagt worden.« »Je weniger mir eine natürliche Anlage zur
bildenden Kunst geworden war, desto mehr sah ich mich nach Gesetzen und
Regeln um; ja ich achtete weit mehr auf das Technische der Malerei, als
auf das Technische der Dichtkunst; wie man denn durch Verstand und
Einsicht dasjenige auszufüllen sucht, was die Natur Lückenhaftes an uns
gelassen hat.« Und nach der andern Seite hin: »In den hundert Dingen,
die mich interessieren, konstituiert sich immer eins in der Mitte als
Hauptplanet und das übrige Quodlibet meines Lebens treibt sich indessen
in vielseitiger Mondgestalt umher, bis es einem und dem andern auch
gelingt, gleichfalls in die Mitte zu rücken.« Er fühlte sich sozusagen
immer im Mittelpunkte seiner Existenz.
Er selbst deutet
öfters an, wie leicht sein Geist in die eine oder andre Tendenz oder
Interessiertheit hineinglitt, jedesmal damit gleichsam ein besonderes
Geistesorgan ausbildend, und wie leicht er von diesen einseitigen
Bewegtheiten sich wieder zu Zentralität und Gleichgewicht zurückfand.
Es ist damit
aufgezeigt, wie wenig dies Gleichgewicht ein starres und irgendwie
mechanisches war; es war vielmehr ein lebendig labiles, aus
fortwährender Verschiebung fortwährend neu zu gewinnendes — wie er denn
dauernd und noch einmal kurz vor seinem Ende sich rühmt, dass er »sich
leicht wiederherstellte«, freilich in Verbindung damit — und vielleicht
bedingt dadurch —, dass er »heiter entsage«.
Gerade dass er sich
dauernd entwickelte, sich stets auf dem Wege zu einem idealen inneren
Ziel befand, liess ihn seinen Zustand in jedem Augenblick als einen
»mittleren« empfinden.
Vielleicht gilt
dies sogar für die tiefste und breiteste Entwicklung seines Lebens, für
den Übergang von der subjektivischen Jugend zu dem objektivischen Alter.
Dass er gerade in
seinen ganz späten Jahren noch einmal von Shakespeare als von dem
»höheren Wesen« spricht, an das er nicht heranreiche, mag sich darauf
gründen, dass Shakespeare die absolute, das Subjekt ganz ablösende
Objektivität besitzt, zu der er sich, in so unerhörtem Masse er sie auch
erworben hatte, seinem eigenen Gefühl nach immer erst auf dem Wege fand.
Damit freilich
hatte er auch zu dieser Objektivität wieder eine Distanz, er sah auch
seine Objektivität objektiv an, gerade wie seine Subjektivität.
Gerade mit der
rastlosen evolutiven Bewegung von einem Pol zum andern gewann er das
stets verschobene und in dieser Verschiebung sich als lebendiges
bewahrende Gleichgewicht, das den Reichtum des subjektiven und den des
objektiven Daseins aufs harmonischste zusammenschloss.
Diesen ganzen
Lebensprozess dominierte das Glück seiner Natur mit ihrer einzigen
Vereinigung von Beweglichkeit und Balance: dass jene grossen Richtungen,
in denen das Weltleben des Menschen steht, die zentripetale, zentrale
und zentrifugale — völlig gleiche Kräfte in die Labilität seines Lebens
einzusetzen hatten.
Er hat die Welt
gleichsam ohne Stockung durch sich hindurchgeleitet, das Gleichgewicht
seines inneren Daseins war nichts anderes als das Gleichgewicht in
seiner aufnehmenden und abgebenden Beziehung zur Welt.
Und so wird er das
Gleichgewicht nicht als eine kosmische Idee statuiert haben, weil er es
zufällig in seinem Subjekt besass; sondern dieser Besitz war nur die
Innenseite seines Lebensverhältnisses zur Welt und erst damit der
Rechtstitel dazu, einen persönlichen Zustand zur Maxime des
Weltverständnisses zu machen.
Betrachtet man nun
diese einzelnen Kategorien in dem Zusammenhang der Weltanschauung, die
sich mittels ihrer erbaut, so können sie alle als die Hülfen eines
einzigen strukturellen Motivs gelten.
An der Basis jener
Weltanschauung steht die Idee der Einheit; Goethe ist der eminent
synthetische Geist, in dessen Natur, wie er selbst sagt, »Trennen und
Zählen nicht lag«.
Diese Einheit aber
in ihrer logischen Absolutheit, für die alle Unterschiede und alle
Mannigfaltigkeit verschwinden, ist das Starre und Unfruchtbare, bei dem
alles Denken aufhört; denn es hat, weil keine Unterschiede, auch keine
Inhalte und ist das leere abstrakte Sein überhaupt.
Diese Bedeutung und
Konsequenz der »Welteinheit« sieht Goethe vor sich und alles kommt für
ihn darauf an, ihr zu entgehen; er kann seiner ganzen Natur nach mit
einer starren und logischen Einheit nichts anfangen, sondern nur mit
einer lebendigen — nur dass das Lebendige, als ein Vielfaches,
Bewegliches, innerlich Unterschiedenes nicht zugleich mit der absoluten
Einheit denkbar scheint! Alle jene grossen Maximen oder formalen Ideen
sind nun die Mittel, um die Welteinheit als lebendige vorstellen zu
können; damit erweitert sich eine vorherige Ausführung zum Fundament der
Weltanschauung in ihrer Gesamtheit.
Es ist das grosse
Problem: wie kann die Welt, diese mannigfaltig reiche, in Gegensätze
differenzierte, in unendlichen Entwicklungen bewegte sein — und doch
Einheit? Welches sind die Arme, die sie ausstreckt, um das Einzelne aus
seiner Buntheit und Zerspaltenheit heraus in sich einzuziehen, ohne ihm
doch diese Besonderung und Bewegtheit zu rauben, die das Leben als
solches bedingen — welches die allgemeinen kategorialen Formen der
Weltinhalte, durch die sie gleichsam der Welteinheit erlebbar werden?
Durch die ganze Geschichte der philosophischen und der religiösen
Weltdeutungen zieht sich dieses Bedürfnis: Vermittlungen aufzufinden
zwischen dem Einen, das der Gedanke oder die religiöse Sehnsucht setzte,
und dem unübersehbar Vielfältigen der Einzelheiten.
Als Ideen oder
Emanationsstufen, als Hierarchie der Heiligen oder Materialisationen
der Gottheit, als Kategorien oder Schemata — immer scheinen Gebilde
vonnöten, die sozusagen mit ihrer einen Seite dem Absoluten und Einen,
mit ihrer anderen dem Besonderen und Vielfältigen zugewandt sind, die
als Mittler an beiden Naturen Anteil haben.
Sie üben immer die
gleiche Funktion, mögen sie metaphysischen, ideellen oder
erkenntnistheoretischen Wesens sein, mögen sie dem Einen noch
unmittelbar anwohnen oder nur an den singulären Erscheinungen aufzeigbar
oder gleichsam halbwegs zwischen beide Pole gesetzt sein.
In diese Reihe
gehört, was ich hier als Maximen oder Ideen behandle, die für Goethe
»die Idee« an den Erscheinungen sichtbar machen, den Zusammenhang des
Einzelnen mit der Welteinheit gewährleisten und eben damit die
Richtigkeit der Erkenntnis, die sie an den Phänomenen erschaut.
Nur dass sie für
Goethe nicht nur zwischen den logischen Gegensätzen des Einen und des
Vielen vermitteln, sondern zwischen der ruhenden Absolutheit des Einen
und dem Leben, der bewegten Vielfältigkeit der gegebenen Welt.
Darum müssen die
Dinge schön sein, um wahr zu sein, müssen die Teile des Einzelnen in
lebendiger Wechselwirkung zusammengeschlossen sein, müssen die
Erscheinungen in polarem Sich-Entsprechen aufeinander hinweisen,
müssen sie, mit aller Selbständigkeit, doch in kontinuierliche Reihen
anzuordnen sein, müssen sie allenthalben zum Gleichgewicht streben und
erst mit seiner Erreichung ihr Sein vollenden.
Alles dies sind
Formen der angeschauten Erscheinungen, durch die sie, unmittelbar oder
symbolisch, ihre Lebendigkeit, das Differenzierungs- und
Wechselwirkungsspiel ihrer Individualitäten, als in der absoluten
Einheit des Ganzen zusammengehalten zeigen.
Schönheit wie
Polarität und Gleichgewicht, Organisiertheit und Kontinuität bringen dem
Einzelnen Erlösung aus seiner Einzelheit, ohne es doch in die logische
Starrheit des blossen ununterschiedenen Eins sinken zu lassen.
Sie sind die wahren
»Mittler«, indem sie sich nicht mit irgendeiner metaphysischen Realität
zwischen das Eine und die Summe der Einzelheiten schieben und dadurch,
wie so viele der sonst behaupteten Träger der gleichen Funktion, ebenso
trennen wie verbinden — sondern sie sind der an den Einzelheiten selbst
anschauliche Beweis, dass »die Idee«, das Göttliche, die übergreifende
Einheit in ihnen besteht; sie sind die Formen, die die Kluft zwischen
dem Einen und dem Leben verschwinden machen, in dem Masse ihrer
Verwirklichung offenbart sich, dass die All-Einheit lebt und dass das
Leben eine Einheit ist.
Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Vorwort
1.
Kapitel: Leben und Schaffen
2.
Kapitel: Wahrheit
3.
Kapitel: Einheit der Weltelemente
4. Kapitel: Getrenntheit der Weltelemente
5. Kapitel: Individualismus
6. Kapitel: Rechenschaft und Überwindung
7. Kapitel: Liebe
8.
Kapitel: Entwicklung
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