Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Erstes Kapitel: Leben und Schaffen
Wenn das Leben des Geistes sich
von dem des nur körperlichen Organismus dadurch abhebt, dass
dieses ein blosser Prozess ist, jenes aber ausserdem noch
einen Inhalt hat, so setzt sich dies im Gebiete der
Praxis dahin fort, dass auch das Handeln zunächst ein blosser
Vorgang ist, eine Szene des kontinuierlichen, selbstgenugsamen
Lebensverlaufes, auf der eigentlich menschlichen Stufe aber ein
Resultat wirkt.
Hier verwebt sich die Folge des
Handelns nicht mehr ganz unmittelbar in die Lebensreihe, aus der seine
Zeugungskräfte stammen, sondern sie besteht als ein irgendwie ausserhalb
dieser beharrendes, wenn auch in sie wieder hineingezogenes Gebilde.
Damit verliert das Leben seine blosse
Subjektivität; denn diese aus ihm hervorgehenden Produkte haben eigene
Normen und verflechten ihre Bedeutungen und Folgen in rein sachliche
Ordnungen.
Diese Möglichkeit, die Ergebnisse der
Lebensenergien aus dem Leben heraus und jedenfalls irgendwie jenseits
des Subjektes zu versetzen, stellt den kulturellen Menschen in einen
Dualismus, den er in einer ziemlich einseitigen Weise zu entscheiden
pflegt.
Der eine Typus der Durchschnittsnaturen
lebt ein nur subjektives Leben, der Inhalt jedes Momentes ist nichts
anderes als die Brücke zwischen dem vorangehenden und dem nachfolgenden
Moment des Lebensprozesses und bleibt in diesem befangen; in
wirtschaftlichem Ausdruck ist dies das Schicksal der Menschen, die heute
arbeiten, ausschliesslich um morgen leben zu können.
Der andere Typus will gerade nur
Objektives leisten, gleichgültig um welchen Preis des eignen Lebens und
mit welchem Ertrage dafür; aller Wertakzent ihrer Arbeit verbleibt für
sie in deren rein sachlichen Normierungen.
Jene kommen, in der Intention ihres
Lebens, nie über sich hinaus, diese nie zu sich zurück, sie schaffen
sozusagen nicht aus sich, sondern aus einer unpersönlichen Ordnung der
Dinge heraus.
Es ist nun das Wesen des Genies, die
organische Einheit dieser sozusagen mechanisch auseinander liegenden
Elemente darzustellen.
Der Lebensprozess des Genies vollzieht
sich nach dessen innersten, ihm allein eigenen Notwendigkeiten - aber
die Inhalte und Ergebnisse, die er erzeugt, sind von der sachlichen
Bedeutung, als hätten die Normen der objektiven Ordnungen, die ideellen
Forderungen der Sachgehalte der Dinge sie hervorgebracht.
Der Eindruck des Exzeptionellen,
der für das Genie wesentlich ist, stammt daher, dass die sonst nicht
oder nur zufällig zusammengehenden Reihen: des Lebens und der Sachwerte
- in ihm eine einzige bilden.
Daher kommt es, dass das Genie, je nach
der Seite, von der her man es sieht, bald als der eigengesetzlichste,
die Welt ablehnende, nur auf sich gestellte Mensch erscheint, bald als
das blosse, reine Gefäss der objektiven Notwendigkeit, des Gottes.
Dadurch wird Goethe zum Typus des
Genies, dass in ihm, vielleicht mehr als in irgendeinem andern Menschen,
das subjektive Leben wie selbstverständlich in der objektiv wertvollen
Produktion in Kunst, Erkennen, praktischem Verhalten ausmündete.
Diese Erzeugung von an sich wertvollen
Inhalten des Lebens aus dem unmittelbaren, nur sich selbst gehorsamen
Prozess des Lebens selbst begründet die fundamentale Abneigung Goethes
gegen allen Rationalismus; denn dessen eigentliches Absehen ist,
umgekehrt das Leben aus den Inhalten zu entwickeln, erst aus ihnen ihm
Kraft und Recht zuzuleiten — weil er dem Leben selbst nicht traut.
Das tiefe Zutrauen zum Leben, das
überall in Goethe zu Worte kommt, ist nur der Ausdruck jener
genialischen Grundformel seiner Existenz.
Gewiss war er einer der »sachlichsten«
Menschen, die es je gegeben hat.
Allein dies war die Bestimmung seiner
Natur selbst und durchaus damit verträglich, dass ihm bei seinem
Schaffen die teleologische Überlegung der »Sachmenschen«: was dabei
herauskommen werde? — ganz fern war.
Noch in seinem 37. Jahr spricht er
davon, »der Betrachtung der Dinge« »sein ganzes Leben zu widmen« — »ohne
mich im mindesten zu bekümmern, wie weit ich kommen werde und was mir
zugeschnitten ist«.
Dies eben bezeichnet den Menschen,
dessen Leben eine Entwicklung aus dem inneren Zentrum heraus ist, nur
bestimmt durch die Kräfte und Notwendigkeiten seiner selbst und bei dem
das fertige Werk nur das von selbst sich ergebende Produkt, aber nicht
der Zweck ist, der das Tun von sich abhängig machte.
Und das bleibt ihm als die wesentliche
Lebensform bestehen, auch als die Subjektivität der Jugend, ihre
Gerichtetheit auf die Vollendung des persönlichen Seins, längst einer
rein objektivischen Lebensbetrachtung, der Richtung auf Wissen und
Behandlung der Dinge Platz gemacht hatte.
Der eigne Lebensprozess stand ihm, in
innerlicher, instinktiver Sicherheit, sozusagen jenseits des
Gegensatzes von Subjekt und Objekt, und er konnte sich ihm mit dieser
Einfachheit und Selbstgenugsamkeit überlassen, weil sein Sein die
Überzeugung in sich trug, dass er eben damit das objektiv Rechte und
Wertvolle erzeugte.
Dieses Sein entsprach am meisten der
Leibnizischen Monade: der vollkommene Spiegel der Welt, der seine Bilder
doch als die Entwicklung seiner eignen Kräfte hervorbringt.
Aus dem Bewusstsein dieser Reihung der
Elemente schreibt er über den Meister an Schiller: »Unendlich viel ist
mir Ihr Zeugnis wert, dass ich im Ganzen, was meiner Natur gemäss
ist, auch hier der Natur des Werkes gemäss hervorgebracht habe.«
Diese Einheit von Leben und Idee liegt der Äusserung zum Grunde: »Meine
Idee vom Vortrefflichen war auf jeder meiner Lebens- und
Entwicklungsstufen nie viel grösser, als was ich auf jeder Stufe zu
machen imstande war.« Gewiss widerspricht dies der üblichen Vorstellung
von dem idealistischen Dichter, der einem absolut Hohen und ewig
Unerreichbaren nachhängen muss; aber es drückt höchst treffend aus, dass
hier die Inhalte des Lebens von dem Charakter seines Prozesses
her ihre Idealität besitzen, und nicht von einem wie auch wertvollen
Ausserhalb her.
Deshalb spannt sich, wo er auf einen
grundsätzlichen Abstand des Werkes gegen das, was es sein sollte,
hinzeigt, dieser nicht zwischen dem Werk und seiner »Idee«, sondern
zwischen ihm und dem innerlichen Leben, das sich mit ihm auswirken will:
»Kindergelall und Gerassel ist der Werther und all das Gezeug gegen das
innere Zeugnis meiner Seele!« Jene Zweckhaftigkeit, wie die Sachmenschen
sie als ihren Ruhm empfinden und mit der der Lebensprozess ein
Gezogenwerden vom Ziel her statt ein Wachsen von der Wurzel her ist, lag
ihm ganz fern, und gewiss gehört dies zu den letzten Motiven, aus denen
er auch der Natur gegenüber alle teleologische Betrachtung vermied.
Wenn er von der Natur sagt, sie »wäre
zu gross, um auf Zwecke auszugehen und hätte es auch nicht nötig«, so
gilt dies in weitem Umfang für ihn selbst.
Auch sein Werk war ihm nicht in dem
gewöhnlichen Sinne das Ziel seiner Arbeit, sondern vielmehr ihr
Ergebnis — welches alles natürlich nur ganz prinzipiell und übersingulär
verstanden werden will.
Aber mehr als ein Zug, mit dem er sein
Wesen selbst charakterisiert, wird erst durch diese Gerichtetheit seiner
Lebensströmung ganz in sie eingefügt.
So seine oftmals wiederholte Bemerkung,
dass von allen Lastern, gegen deren viele er seiner Natur nach
keineswegs gesichert wäre, ihm nur der Neid absolut undenkbar sei.
Wer auf das Werk allein sieht und aus
ihm die Bewegkraft seines Tuns gewinnt, kann leicht neidisch werden,
weil ihm sein Werk neben andern steht, was den Vergleich herausfordert;
wem aber die tätige Entwicklung der eignen Kraft Selbstzweck ist, der
steht von vornherein im Unvergleichbaren; in ihm, dem das Objekt des
möglichen Neides, das Werk, sozusagen nur ein Akzidenz des aktiven
Daseins ist, findet der Neid gar keinen Ansatzpunkt.
Eben deshalb lag ihm an der Anerkennung
der Menschen nicht viel, die sich immer an das Werk knüpft, da er im
Wirken selbst, nicht im Werk seinen Lohn fand — ein reinstes Beispiel
jener Spinozischen beatitudo, die nicht virtutis praemium, sondern ipsa
virtus ist.
Darum sind ihm auch alle Vergleiche von
Persönlichkeiten, die nur auf die Wertdifferenzen der Werke gehen,
offenbar etwas Unbehagliches, darum lehnt er die Vergleichung seiner
selbst mit Schiller so energisch ab, und wenn er sich mit Shakespeare
konfrontiert, stellt er nicht dessen Werke über die seinen (was er
übrigens, den Sachstandpunkt einnehmend, sicher getan hätte), sondern
spricht von Shakespeares Natur, und dass er ein »Wesen höherer
Art ist, das ich zu verehren habe«.
Und, richtig verstanden, ist wohl das
reinste Phänomen dieser entscheidenden Lebensintention in den
merkwürdigen Äusserungen über Beruf und Liebhabertum zu finden.
»Nur nichts als Profession getrieben!
das ist mir zuwider«, äussert er sich als fast Sechzigjähriger.
»Ich will alles, was ich kann, spielend
treiben, was mir eben kommt und so lange die Lust daran währt.
So hab' ich in meiner Jugend gespielt,
unbewusst; so will ich's bewusst fortsetzen durch mein übriges Leben. «
Noch in seinem letzten Lebensjahre tadelt er ein Dichtwerk damit, es
hätte »keine eigentliche Facilität; es sieht immer aus wie ein
Errungenes«.
Was willst du, dass von deiner
Gesinnung Man dir nach ins Ewige sende? Er gehörte zu keiner Innung. Blieb Liebhaber bis ans Ende.
Nichts kann paradoxer scheinen, als
dieses Sich-Einstellen auf Liebhaberei und Spiel bei dem Menschen, der
den Dilettantismus mit leidenschaftlichem Hass verfolgt und dauernd
betont, wie sauer er sich's im Leben habe werden lassen, wie er
gearbeitet habe, wo man sonst jedem zu ruhen vergönnt, wie ihm z. B. in
den fünfzig Jahren seines geognostischen Studiums kein Berg zu hoch,
kein Schacht zu tief, kein Stollen zu niedrig gewesen wäre.
An dem Schnittpunkte dieser
gegeneinander- stehenden Bekenntnisse muss Goethes Wesen ergriffen
werden.
Die Abneigung gegen Profession und
»Innung« ist nichts weniger als ein extremer Individualismus (da er im
Gegenteil auf Zusammenwirksamkeiten drängt und das »Monologisieren« der
Forscher beklagt); sie gilt vielmehr dem Bestimmtsein der Lebensarbeit
von einem fixierten, ideell vorbestehenden Inhalte her.
Das Liebhabertum und das Spielen
bedeutet nichts anderes, als dass die Lebensenergien sich in voller
Unabhängigkeit von all solchem Äussern auswirken sollen, das, wie
wertvoll es an sich sei, dem Leben ein ihm im Prinzip Fremdes als
Direktive vorsetzte.
Ja, er löst sogar das inhaltliche
Ergebnis als das Unwesentliche von dem Lebensprozess los, aus dem es
kommt und aus dem es fliesst: »Nicht insofern der Mensch etwas
zurücklässt«, sagt er, »sondern insofern er wirkt und geniesst und
andere zu wirken und zu geniessen anregt, bleibt er von Bedeutung.« Und
noch monumentaler: »Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf
ein Resultat desselben an.« Es ist im Sinne Schillers: der Mensch sei
erst da ganz Mensch, wo er spielt — d. h. im Spiel, als formalem
Prinzip, habe der Mensch alle von der Sache als solcher herkommenden
Determinierungen abgetan, nur die Energien seines Wesens wollen sich
auswirken, es drängt ihn nicht mehr die schwere Fremdheit sachlicher
Ordnungen, sondern wohin er gelangt, wird durch sein ausschliesslich
eignes Wollen und Können bestimmt.
Solches Spiel aber schliesst die
äusserste Anstrengung, ja, die äusserste Gefahr nicht aus.
In diesem Sinne also war die
ununterbrochene mühselige Arbeit Goethes ein Spielen; der tiefe Ernst
seines Wirkens, die Hingegebenheit an den Gegenstand, das Überwinden
fortwährender Schwierigkeiten — alles wohnt seinem Lebensprozess selbst
ein, wie er sich aus sich selbst und durch seine eignen Wurzelkräfte
vorwärtsgedrängt, entwickelt.
All die vielfältige Mühsal, die den
meisten Menschen aus einer ihnen erst gegenübertretenden, ihrem
eigensten Leben heterogenen Ordnung der Sachen heraus auferlegt wird,
gehörte bei ihm zu der Selbstverständlichkeit und Innerlichkeit des
Lebens selbst; gerade wie die Vollendung des Werkes, die die meisten
Menschen nur um den Preis einer Entselbstung, an der Hand einer von
jenseits ihres Lebens herkommenden Regulative erreichen, für ihn das
selbstverständliche, keiner Antizipation bedürftige Frucht- bringen
eines Reifeprozesses war, der nur in sich vollkommen zu sein brauchte,
damit auch die Frucht es sei.
Daraus erklärt sich auch das ungeheure
Quantum seiner Arbeitsleistung, das ihn doch, wenn ich nicht
irre, niemals über eigentliche Überarbeitung klagen lässt — obgleich er
Beschwerden über solche relativ äusserliche Leiden keineswegs
prinzipiell unterdrückt.
Weil er sich seine Aufgaben in allen
Hauptsachen aus seiner inneren Notwendigkeit und Entwicklung heraus
stellte, waren auch die Kräfte für sie immer verfügbar, und umgekehrt,
er konnte sich für jede verfügbare Kraft eine Aufgabe stellen.
Dem modernen Menschen reisst jene von
Goethe so gehasste »Professionsmässigkeit« unzählige Male die Aufgabe
und die Kraftrichtung auseinander.
Die steigende Objektivierung des Lebens
fordert Leistungen von uns, deren Mass und Folge eine eigne, dem Subjekt
jenseitige Logik besitzt, und damit wird diesem ein mühseliger,
subjektiv unzweckmässiger Kraftaufwand abverlangt.
Das Gefühl des modernen Menschen wird
begreiflich: er habe nicht genug gearbeitet, wenn er nicht zu viel
gearbeitet hätte — denn tat sächlich arbeitet er bei dieser
Konstellation subjektiv zu viel, weil er die Lücken seiner Spontaneität
mit bewusster Anstrengung füllen muss, um der anders orientierten
Objektivität zu genügen; während andrerseits manche seiner Möglichkeiten
und Kräfte keinen Auswirkungsbereich finden.
Dass in den Lebensintentionen so vieler
gegenwärtiger Menschen eine rationalistische, ja bürokratische
Reguliertheit und eine anarchische Formlosigkeit unorganisch
verwachsen, geht, als auf seinen letzten Grund, auf diese Entzweiung
zwischen der subjektiven und der objektiven Bedingtheit des Tuns zurück
— während aus ihrer Einheit heraus Goethe eine sozusagen pausenlose und
intensivste Arbeit »spielend« vollbrachte.
Nun verläuft die Wirklichkeit natürlich
nie in der Absolutheit und Reinlichkeit des Schematismus, mit dem eine
Persönlichkeit dargestellt werden muss, insofern sie als
Verwirklichung einer Idee erscheint; die Annäherung an diese, die auch
dem vollkommensten Naturell nur beschieden ist, muss in der
eigentümlichen Umbildung, die der Mensch in der Ordnung der Idee
erfährt, als restlose Erreichtheit auftreten; denn in dieser Ordnung
kommt es nicht auf ein Mehr oder Weniger, sondern nur auf die
qualitative Bestimmung, auf den Begriff überhaupt an.
In unserm Fall verwirklicht sich dieses
allgemeine Verhalten an gewissen Bestandteilen der Goetheschen
Produktion, die die behauptete Harmonie der beiden Ordnungen gänzlich
zu unterbrechen scheinen.
Goethe hat eine grosse Anzahl von
unbestreitbar völlig minderwertigen Produkten hinterlassen,
Künstlerisches von radikalem ästhetischen Unwert, Theoretisches von der
erstaunlichsten Flachheit und Falschheit.
Aber so sind sie nur innerhalb der
Skala reiner Inhaltsbedeutungen abzuschätzen.
Daneben fühlen wir sie als notwendige
Durchgangspunkte einer als ganzer unermesslich wertvollen Entwicklung,
als Ruhe- und Haltestellen, als Umwege durch das Leere, als
Wunderlichkeiten, die in einer geheimnisvollen Weise zu den
tatsächlichen (nicht den inhaltlich-logischen) Bedingungen des Ganzen
gehören.
Ihre vitale Innenseite hat eine ganz
andre Bedeutung, als ihre Objektivation in deren eigenen Ordnungen.
Man kann ganz allgemein bemerken, dass
grosse Künstler oft so schwache Leistungen hinterlassen, wie sie von
mittelguten epigonenhaften Künstlern überhaupt nicht begegnen.
Diese nämlich schaffen von einem
gegebenen, irgendwie wertvollen Begriff aus, der ihnen als Muster und
Kriterium feststeht und immer gegenwärtig ist.
Wer aber mit originaler Produktivität,
aus der letzten und eigensten Lebensquelle heraus schafft, dessen Werk
unterliegt den Schwankungen des Lebens, bei ihm ist die Idee zwar mit
dem Lebensprozess identisch, während sie bei jenen äusserlich zu diesem
hinzutritt, aber dafür muss sie das Leben auch durch seine Tiefstände
und unvermeidlichen Mattheiten hindurch begleiten.
Gerade was Goethes Werk so
unvergleichlich macht: dass es in jedem Augenblick der unmittelbare
Pulsschlag seines Lebens ist, macht es in vielen dieser Augenblicke
schwächer, als das Werk des sekundären Künstlers, das von einer dem
Leben bereits gegenüberstehenden Norm reguliert ist.
Damit liegt aber auch hier eine
objektive Bedeutung vor, die diese Äusserungen jenseits der blossen
Tatsache ihres momentanen seelischen Erzeugtwerdens besitzen: innerhalb
des Daseins Goethes, innerhalb der Ordnung, die von der Kategorie
Goethe objektiv normiert wird, sind sie genau so an ihrer Stelle und
genau so legitimiert, wie Tasso und die Wahlverwandtschaften in den
Ordnungen, die unter den objektiven Kategorien der Ästhetik stehen.
Dies ist keineswegs bei allen
Äusserungen eines Individuums überhaupt der Fall, deren unzählige
vielmehr in dieser Hinsicht ein eigentümliches Verhalten,
gewissermassen ein Gegenbild der »Verantwortungslosigkeit« zeigen.
Vielerlei Akte vollbringen wir, für die
wir, als ihre zweifellosen Subjekte, die volle äussere Verantwortung
tragen, von denen wir aber dennoch empfinden, dass sie sich mindestens
teilweise aus Quellen nähren, die nicht in uns entspringen, sondern nur
durch uns hindurchfliessen: aus sozialem Zwang, aus Traditionen, aus
physischen Angelegtheiten.
Solche Akte gehören sozusagen von ihrem
terminus a quo her nicht zu uns, sie gehen nicht von uns allein aus.
Nun aber gibt es gewisse andere Akte
unseres Verstandes und unseres Willens, die vielleicht völlig in uns
entspringen, aber sich der Entwicklung und dem zusammenhängenden Bilde
unserer Persönlichkeit nicht anfügen, sie liegen wie zufällig und
unverbunden in dem seelischen Raume um unser eigentliches Ich herum,
dieses ist nicht ihr terminus ad quem, sie gehen nicht auf uns zu.
Dabei mögen sie einer ausserhalb unser
gelegenen objektiven Ordnung wertvoll und bedeutend zugehören und mögen
sie erbauen helfen — nur zu der Ordnung und dem Sinn unseres Ich sind
sie keine Bausteine.
Schliesslich ist unser Ich doch auch
ein objektives Gebilde und was in der blossen Tatsächlichkeit unserer
Seele entspringt, kann an diesem Gebilde vorbeigleiten und für seinen
Aufbau, für die allmähliche Veranschaulichung seines Sinnes genau so
wirkungslos bleiben, wie für das wissenschaftliche oder das
künstlerische oder das soziale Wertsystem.
Sie können aber auch, wie gesagt, für
diese von erheblicher Bedeutung sein, ohne noch dadurch der Idee und dem
Aufwachsen unseres Ich, als einem einheitlichen Wertzusammenhang, einen
Beitrag zu leisten.
Hier steht also eine besondre
Bedeutungskategorie unserer Akte in Frage, deren Erreichtheit oder
Verfehltheit durchaus nicht davon abgelesen werden kann, ob sie, an den
im gewöhnlichen Sinne objektiven Wertskalen gemessen, klug oder
töricht, zulänglich oder schwächlich, gut oder böse sind.
Die Zufälligkeit des Verhältnisses, das
zwischen unsern Akten als blossen seelischen Tatsachen und als Werten
innerhalb sachlicher Reihen besteht, findet demnach eine Fortsetzung
zwischen jenen ersteren und der Bedeutung ihres Inhalts für den Aufbau
unser selbst als einer objektiven Persönlichkeit, eines geschlossenen
Lebensgebildes.
Diese Zufälligkeit nun ist es, die
gerade wie die erstere, mehr als wir es sonst von Menschen wissen, in
Goethes Existenz überwunden scheint.
Wo den Äusserungen seines inneren
Lebens die Sachbedeutung in intellektueller, ästhetischer, ja vielleicht
in moralischer Hinsicht abgeht, da ersetzen sie diese durch ihre
Bedeutung für den Sinn, die Notwendigkeit, die Totalität seiner
Persönlichkeit, die doch eine objektive Idee und Gestaltung ist.
Und hierin liegt allerdings das — von
jenem ersteren Standpunkte aus sehr anfechtbare — Recht, auch das
Misslungene, sachlich Unbegreifliche, scheinbar Zufällige seiner
Äusserungen als ein irgendwie Wertvolles und von einer Idee Geleitetes
zu bewahren und zu schätzen.
Sein Bild bietet einen, vielleicht bei
keiner geschichtlichen Persönlichkeit so hohen Grad von
Kultiviertheit eben dadurch: jedes Objektive, das er schuf, kam aus
seinem Ganzen, jedes, das er aufnahm, ging in sein Ganzes.
Dies alles eingerechnet, besteht hierin
das — dem Masse nach — Einzige dieser Existenz: dass die Inhalte ihres
Wirkens an jedem Punkt ein Einheitliches sind, mag man sie von der Seite
des Lebensprozesses und als dessen natürliche Ergebnisse betrachten
oder von der ideellen Ordnung her, unter die sie als Sachgehalte gehören
und als hätten diese Normen sie gebildet, wie gleichgültig gegen die
lebendig-persönliche Vermittlung.
Es war die grosse Wahrscheinlichkeit
gewesen, dass eine Natur, die so ausschliesslich dem eigenen Gesetz
folgte, gerade die Gesetze der Dinge in den zufälligsten Winkeln querte.
Die Chance der Spannung war ungeheuer,
und umso ungeheurer das Glück und das Wunder der Harmonie, oder: umso
ungeheurer das Glück des Gefühles, dass es kein Wunder war.
Mit völliger Deutlichkeit und
Selbstverständlichkeit spricht er es einmal am Anfang der italienischen
Reise aus: »Manchmal macht's mich fürchten, dass so viel auf mich
gleichsam eindringt, dessen ich mich nicht erwehren kann — und doch
entwickelt sich alles von innen heraus.« Sind diese beiden
Bedeutungen der geistigen Inhalte nach Wert und Sinn ihrer Intention
getrennt, so bekommt ihre Produktion leicht etwas Unorganisches, ja
Mechanisches, weil sie sich aus einem dem Leben entgegengesetzten
Prinzip zu entwickeln und damit mehr ein aus vorbestehenden Teilen
Zusammengesetztes, als ein lebendig Gewachsenes zu sein scheint.
Goethe selbst hat diesen Unterschied,
und zwar ersichtlich in lebhaftem Selbstbewusstsein, empfunden. »— —
was es heissen wolle, dass der Dichter und alle eigentlichen Künstler
geboren sein müssen. Es muss nämlich ihre innre produktive Kraft jene
Nachbilder, die im Organ, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft
zurückgebliebnen Idole freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen, lebendig
hervortun, sie müssen sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen und
zusammenziehen, um aus flüchtigen Schemen wahrhaft gegenständliche
Wesen zu werden. Je grösser das Talent, desto entschiedener bildet sich
gleich anfangs das zu produzierende Bild. Man sehe Zeichnungen von
Raffael, Michelangelo, wo auf der Stelle ein strenger Umriss das, was
dargestellt werden soll, vom Grunde loslöst und körperlich einfasst.
Dagegen werden spätere obgleich treffliche Künstler auf einer Art von
Tasten ertappt; es ist öfter, als wenn sie erst durch leichte, aber
gleichgültige Züge aufs Papier ein Element schaffen wollen, woraus
nachher Kopf und Haar, Gestalt und Gewand sich bilden solle.«
Er charakterisiert damit sehr gut den
Mangel jener Einheit, in der die Elemente der Produktion ihre
Sonderwirklichkeit gegenüber dem von innen quellenden Schöpfertum
aufgeben.
Wer herumprobiert, ob sich die Sache
aus der Skizze bilden wolle, ob diese von selbst allmählich ein Bild
hergibt, der erwartet das Produkt von einer äusseren, wenn auch
ideellen Fügung her, es ist nicht in demselben Sinn und Mass sein
Gebilde, wie das des eigentlichen Schöpfers, in dem es sich nach dem
Gesetz und durch die selbstverantwortlichen Kräfte des reinen Innern
erbaut.
Es wird sich auch sonst noch als ein
bedeutungsvoller Zug dieser, mit der Objektivität der Dinge
geheimnisvoller und zugleich deutlicher als andere Menschen verbundenen
Natur zeigen, dass schon ihre physisch-sinnlichen Eigenheiten sich zu
Symbolen ihrer geistig-höchsten Bewährungen bieten.
So ist diese Lebensformel: dass er
seine Energien gleichsam nur sich selbst zu überlassen brauchte, damit
ein an der objektiv ideellen Norm Zulängliches entstehe, in folgendem
sinnlich präformiert.
Johannes Müller erzählt einmal von dem
seltenen Vermögen mancher Menschen, vor dem Einschlafen völlig klare und
plastische Gegenstandsbilder bei geschlossenen Augen zu erblicken.
»Ich erklärte, dass ich durchaus keinen
Einfluss auf Hervorrufung und Verwandlung derselben habe, und dass bei
mir niemals eine Spur von symmetrischer und vegetativer Entwicklung
vorkomme. Goethe hingegen konnte das Thema willkürlich angeben, und dann
erfolgte allerdings scheinbar unwillkürlich, aber gesetzmässig und
symmetrisch das Umgestalten.«
Diese geschilderte Konstellation, mit
der die seelische und die sachliche Reihe ihre metaphysische Einheit
erfahrbar machen, wird natürlich von der ersteren her erlebt; und
solche Kraft hatte das Goethesche Erleben, dass es ihm sozusagen auf
dessen Gegenstand nicht ankam.
Natürlich nicht so, als ob der
behandelte Gegenstand nicht die höchste und heiligste Wichtigkeit für
ihn gehabt hätte; sondern in dem Sinne, dass es eigentlich gleichviel
war, welchen Gegenstand sein Wirken ergriff.
Wer seiner Lebenseinheit mit der Idee
der Dinge sicher ist, dem wird leicht jeder Inhalt seines Wirkens jedem
andern äquivalent sein, da das im Tiefsten Wesentliche: dass der
Ausdruck des Seins sich in dem Ausleben des Ich realisiert — an einem
jeden gelingt.
Darum kann er zu Eckermann äussern:
»Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehn und
es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte
oder Schüsseln.« Aber in welchem Sinne symbolisch? Was wird durch sein
Wirken und Leisten symbolisiert? Gewiss ein letzter, unaussprechlicher
Sinn der Dinge; aber ebenso auch das Persönlich-Innerlichste, die reine
Dynamik seines Lebens.
Das Werk, wie es als konkreter Inhalt
dasteht, ist nur ein Zeichen dieser tiefsten Lebendigkeit, ihres
Rhythmus und ihrer Schicksale.
Eine Äusserung Werthers kann wohl,
trotz des dazwischenliegenden halben Jahrhunderts, wegen der
merkwürdigen Gleichheit des Ausdrucks, die Deutung jener Worte
bestätigen: »Meine Mutter möchte mich gern in Aktivität haben.
Bin ich jetzt nicht auch aktiv? Und
ist's im Grunde nicht einerlei, ob ich Erbsen zähle oder Linsen? — Ein
Mensch, der um andrer willen, ohne dass es sein eignes Bedürfnis ist,
sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor.«
Nun ist freilich jeglichem menschlichen
Werkinhalt diese Doppelbestimmung eigen: was als unser Werk dasteht,
kann auf der einen Seite als Gleichnis höherer, geahnter Werte und ihrer
Zusammenhänge gelten und hierin sein eigentliches Wesen und Recht
finden; auf der andern Seite ist es Zeichen und Erweis des inneren
Lebens, zwar vielleicht nur wie wir die Kontinuität eines Laufes mit den
Punkten markieren, an denen wir sein jeweiliges Vorgedrungensein
gleichsam erstarren lassen, oder wie das Meer seinen Schaum am Ufer
ablegt, Erzeugnis und Zeugnis seiner Wellen, deren Form und Kraft es
freilich in sich zurücknimmt.
Aber diese beiden Richtungen, nach
denen hin der Inhalt unseres Tuns symbolisch ist, setzen sich in
Wirklichkeit nicht an einen jeden gleichmässig an.
In der Regel wird zugunsten der einen
die andre atrophisch, und auch, wer sein Wirken und Leisten nach den
beiden Seiten hin symbolisch ansieht, wird sie meistens als
untereinander ungleich, verschieden verteilt, in ihren Massen
unharmonisch empfinden.
Dennoch ist auch in dieser Hinsicht das
Exzeptionelle an Goethe nicht von quantitativer Absolutheit.
Er hat nur die Symbolik, die alles
Menschenwerk umgibt und trägt, vollkommner und reiner offenbart, als es
andern gelingen will, weil in seinem Sein und Tun deren beide, sonst
gegeneinander als zufällig erscheinende Seiten wie in einer notwendigen
Proportion und inneren Einheit erwachsen.
Dass die Produktivität nach dem eigenen
Gesetz und Trieb bei Goethe so die vollkommenste Angemessenheit zur Welt
zeigt, ist zwar in der letzten metaphysischen Beschaffenheit seines
Naturells verankert; innerhalb der bezeichenbareren Schichten aber wird
es von der ungeheuren Assimilationskraft seines Wesens gegenüber allem
Gegebenen getragen.
Diese Schaffenskraft, die
ununterbrochen aus dem einheitlichen Quell der Persönlichkeit zeugte,
nährte sich ebenso ununterbrochen aus der Wirklichkeit um sie herum.
Seine Geistigkeit muss eine Analogie zu
dem Vermögen des ganz gesunden physischen Organismus gehabt haben, die
Nahrungsmittel bis ins Letzte auszunutzen, das Unverwendbare störungslos
auszuscheiden, das Zurückbehaltne dem Lebenskreislauf so
selbstverständlich einzuverleiben, als bildeten beide schon von
vornherein eine organische Einheit.
Darum gehören bei ihm die polaren
Erscheinungen durchaus zusammen: dass er einerseits Dingen und Ideen,
aus denen er das ihm Gemässe gezogen hatte, auch mit grosser
Entschiedenheit aus seinem Leben entliess — »sobald ich eine Sache
einmal durchgesprochen habe«, schreibt er an Schiller, »ist sie auf eine
ganze Zeit für mich wie abgetan«; dass er sich aber andrerseits bewusst
war, all sein Schaffen sei gleichsam nur ein Hindurchgehen der Dinge
durch seinen Geist, ihr Eingehen in dessen Form.
In dieser Tiefe wurzelt seine bekannte
Äusserung über seine Gedichte, sie alle seien Gelegenheitsgedichte, sie
seien durch die Wirklichkeit angeregt und hätten darin Grund und Boden;
von Gedichten, aus der Luft gegriffen, halte er nichts.
In dieser Eckermannschen Überlieferung
klingt der Satz etwas philiströs und nicht eben tief.
Aber er offenbart nun doch jene letzte
Wesenseinheit und Angemessenheit zwischen der Wirklichkeit und seinem
produktiven Leben, das Erleben der Welt setzte sich ihm gleichsam ohne
Energieverlust in Schaffen um, es gehörte ihm nach dem Gleichnis, das er
so gern gebrauchte, zusammen, wie Einatmen und Ausatmen.
Bei den so begnadeten Menschen wird
sozusagen der göttliche Schöpfungsprozess rückläufig: wie in ihm die
Schöpferkraft zur Welt wird, so wird bei jenen die Welt zur
Schöpferkraft.
Da er bei der Gesundheit und
Instinktsicherheit seiner Organe nur das aufnahm — von äusserem und, so
paradox es klingt, auch von innerlichem Erleben —, was ihm angemessen
war, da Aufnehmen und Schaffen sofort zur Einheit seines
Lebensprozesses wurde, so erschien ihm begreiflich sein Schöpfertum
durch das Erleben der Wirklichkeit bedingt.
Liebesgedichte, sagt er, machte ich
nur, wenn ich liebte.
Die Einheit von Wirklichkeit und
geistigem Wirken liess ihn den Grund dieser Bedingtheit darin finden,
dass die Wirklichkeit den Geist enthielt und man ihn nur herauszuholen
brauchte.
Von den vielen, dahin gerichteten
Äusserungen nenne ich nur die besonders entschiedene: »Das Benutzen der
Erlebnisse ist mir immer alles gewesen; das Erfinden aus der Luft war
nie meine Sache, ich habe die Welt stets für genialer gehalten, als mein
Genie.«
Und nur dass alledem jenes
Einheitsgefühl zugrunde lag, macht genau gegenteilige Äusserungen
begreiflich, die tatsächlich nur die gleiche Einheit von der andern
Seite sehen, mit denen er nur den Akzent auf ihr anderes Element rückte
— was er konnte, weil sie ihm als Einheit eben fraglos war: »Die Kunst,
wie sie sich im höchsten Künstler darstellt, erschafft eine so
gewaltsame lebendige Form, dass sie jeden Stoff veredelt und
verwandelt.
Ja, es ist daher dem vortrefflichen
Künstler ein würdiges Substrat gewissermassen im Wege, weil es ihm die
Hände bindet und ihm die Freiheit verkümmert, in der er sich als Bildner
und als Individuum zu ergehn Lust hat.«
Er leistet also der naturalistischen
Modelltheorie keinen Vorschub, in deren Nähe die Erlebnistheorie leicht
und bedenklich rückt.
Es ist ein Irrtum ersten Ranges zu
meinen, dass nur das Geringste für das Verständnis einer dichterischen
Gestalt damit gewonnen wäre, wenn man ihr Modell aufzeigt — das
bestenfalls nur das eine benennbare Erfahrungselement aus den tausenden
ist, die zu der Gestalt beigetragen haben und die, auch wenn man sie
alle aufzählen könnte, die dichterische Gestaltung als solche, um
derentwillen man sich überhaupt auch um jene kümmert, mit keinem Atom
berühren würden.
Das Aufgraben des Modells als der
vor-künstlerischen Gegebenheit hebt gerade das hervor, was ja mit dem
Kunstwerk, das als Kunstwerk in Frage steht, überhaupt nichts zu tun
hat.
Diese, durch die ganze populäre und
wissenschaftliche Kunstbetrachtung gehende, übertriebene Wertung des
Modells ist nichts Zufälliges.
Sie entstammt vielmehr der
mechanistisch-mathematisierenden Weltanschauung, die alle Wirklichkeit
dann und erst dann verstanden glaubt, wenn sie in Gleichungen aufgelöst
ist.
Indem man in der Wirklichkeit dasjenige
gefunden hat, womit das Kunstwerk anscheinende »Gleichheit« besitzt,
meint man dies »erklärt« zu haben — und fügt damit jener Inthronisierung
der Gleichung noch ihre äusserste Vergröberung hinzu dass zwischen
Ursache und Wirkung eine Gleichheit bestehen müsste.
Schliesslich ist es die Milieutheorie,
mit all ihrer Grobheit und Äusserlichkeit, die in der Überschätzung des
Modells als Erklärungsgrundes des Kunstwerks zu Worte kommt.
Es ist immer das von aussen kommende
und sich mechanisch in das Innere Übertragende, wodurch die
Produktivität dieses Inneren begriffen oder vielmehr ersetzt werden soll
— während es doch durch solches Äussere höchstens zu seinem Eigenleben,
also zu einer, jenen Elementen durchaus heterogenen Formung veranlasst
werden kann.
Wenn man nun neuerdings in dem
»Erlebnis« die Quelle des Kunstwerks findet, so ist damit die Genesis
aus Milieu und Modell keineswegs grundsätzlich verlassen, sondern nur
subjektivisch verfeinert.
Denn auch aus dem Erlebnis wächst
unmittelbar keine Überleitung zu der künstlerischen Spontaneität.
Im Verhältnis zu ihr ist auch das
Erlebnis etwas Äusseres — mag sich auch beides im Umfang des Ich
abspielen.
Man muss diesen ganz allgemeinen
Begriff erheblich bestimmter und lebendiger fassen, um dem genetischen
Begreifen des Kunstwerks aus Gegebenheit und Erlebnis das Recht, das
Goethe ihm gibt, zu vindizieren.
Die Möglichkeit der Verbindung liegt
darin, dass der Lebensprozess mit seinem beharrenden Charakter,
Intention und Rhythmus als die gemeinsame Voraussetzung und Formgebung
sowohl für das Erleben wie für das Schaffen wirkt.
Es gibt vielleicht eine — für jedes
Individuum andere — allgemeinste, nicht in Begriffe zu fassende
Wesensformel, nach der seine seelischen Vorgänge sich bestimmen, ebenso
das Hineinnehmen der Welt in das Ich im Erlebnis, wie das Hinausgeben
des Ich in die Welt im Schöpfertum.
Dass ein solches typisches Gesetz des
individuellen Lebens dessen gesamte Phänomene beherrsche, scheint Goethe
sehr früh bemerkt zu haben; er schreibt 1780 in sein Tagebuch: »Ich muss
den Zirkel, der sich in mir umdreht, von guten und bösen Tagen näher
bemerken, Leidenschaften, Anhänglichkeit, Trieb, dies oder jenes zu tun.
Erfindung, Ausführung, Ordnung, alles
wechselt und hält einen regelmässigen Kreis, Heiterkeit, Trübe, Stärke,
Elastizität, Schwäche, Gelassenheit, Begier ebenso.« In dem Masse nun,
in dem diese fundamentale Wesensbewegtheit selbst schon den Charakter
überwiegender Spontaneität und künstlerischen Gestaltens trägt — in
eben dem wird auch schon das Erlebnis von vornherein und in der Art eben
seines Erlebtwerdens die Züge des Schöpfertums und der künstlerischen
Werte an sich tragen.
Wo die Wurzelsäfte der Persönlichkeit,
von denen die Wirklichkeit assimiliert und zum Erlebnis gestaltet wird,
künstlerisch tingiert sind, da ist das Erlebnis sozusagen schon ein
artistisches Halbprodukt und seine prinzipielle Fremdheit gegen das
Kunstwerk aufgehoben.
Dies ist in irgend einem Masse bei
jeder wirklich artistischen Natur der Fall und ist der Grund, weshalb so
viele Künstler von grösster Stilisierungskraft und souveränster
Umgestaltung des Wirklichen aufrichtig überzeugt sind, nur treue
Abschriften des Natureindrucks, der unmittelbaren Erlebtheit, zu
schaffen.
Der gewöhnliche Mensch erlebt die Welt
— d. h. setzt das objektive Geschehen in ein subjektives um — vermöge
der Kategorien, die für das praktische Handeln zweckmässig sind; diese
bilden das Handwerkszeug, mit dem er aus der Totalität des Seins das
herausschneidet und zusammenfügt, was für ihn die Welt ist: jene letzte
Einheitsformel des Gesamtwesens ist bei ihm praktisch gefärbt.
Und da nicht nur dieser Typus Mensch
die ungeheure Majorität bildet, sondern auch die anders gerichteten in
einem sehr grossen Abschnitt ihrer Interessen und Notwendigkeiten auf
dem gleichen Boden der praktischen Existenzführung stehen, so nennen wir
das in dieser Formung erlebte Weltbild die Wirklichkeit schlechthin;
tatsächlich aber ist es nur eine Wirklichkeit, nur das Erlebnis, geformt
durch die Kategorien, die von der durchschnittlich-praktischen
Interessiertheit ausstrahlen.
Eine ganz andre »Wirklichkeit« sieht
etwa der religiöse Mensch sich gegenüber; denn gemäss der Formel seiner
Wesenseinheit erlebt er die Einflüsse des Objektes sogleich so, dass
sie ihm der Ort und die Bestätigung seiner religiösen Inhalte sind; er
kann sie gar nicht anders erleben, weil sie eben nur in ursprünglicher
Formung durch die religiösen Kategorien zu seinen Erlebnissen werden.
Wie nun — um ein etwas grobes Beispiel
zu wählen — der Gläubige überall den »Finger Gottes« sieht, weil sein
Sehen die Dinge a priori so ordnet, dass sie für ihn in einen göttlichen
Weltplan hineinpassen und mögliche Beweise eines solchen hergeben, so
sieht der Künstler die Dinge der Welt von vornherein als mögliche
Kunstwerke, sie werden ihm von denselben Kategorien aus zum Erlebnis,
durch deren nur noch aktivere, noch selbstherrlichere Funktionierung sie
zum Kunstwerk werden.
Aber der Künstler ist nicht nur
Künstler.
In unendlichen quantitativen
Abstufungen erfüllt die hier angedeutete Erlebnisgestaltung seine
Lebenstotalität.
Jene Einheit des individuellen Ganzen
deckt sich in ihrem Charakter natürlich niemals mit dem blossen, reinen
Begriff des Künstlerischen, so wenig wie mit dem des Religiösen oder des
Praktischen.
Durch diese festgeschlossenen und
exklusiven Begriffe geht die lebendige Wirklichkeit vielmehr mit sehr
ungleichmässigen und wechselnden Berührungen hindurch und auch wo ihr
Kern sich auf eine von jenen fixiert, lässt ihre Peripherie sich noch
immer in mannigfaltigen Massen an andere aufteilen.
Dass nun für Goethe die Beziehung
zwischen Erlebnis und Kunstwerk von so unbedingter Enge war, dass er,
auf den ersten Blick schwer begreiflich, einen förmlich deskriptiven
Naturalismus der Poesie verkündete, geht einfach aus dem unvergleichlich
hohen Masse hervor, in dem die künstlerische Grundform die Tatsachen
seines Lebens durchdrungen hat.
In einem gewissen Grade ist dies, wie
gesagt, bei jedem wirklichen Künstler der Fall und unterscheidet ihn von
demjenigen, der nur »Kunst macht«; denn dieser bringt an den
ursprünglich unter ganz anderen Kategorien erlebten Inhalt eine ihm
irgendwie gegebene Kunstform heran und gestaltet mechanisch jenen nach
dieser, während dort der künstlerische Organismus das Gebilde
einheitlich-innerlich erwachsen lässt.
Bei Goethe aber scheint dieser Prozess
sich mit einer so selbstverständlichen Unmittelbarkeit, einer souveränen
Ungestörtheit durch Kategorien anderer Richtung vollzogen zu haben, und
vor allem über eine so weite Gesamtheit einer höchst differenzierten
Existenz hin, wie bei keiner uns sonst bekannten Erscheinung.
Sogar die Hingabe an das Erkennen und
an reine Wissenschaft war nicht imstande, die Herrschaft seiner
künstlerischen Kategorien in Weltbild und Erlebnis zu durchbrechen.
Und all seine eigenartigen Äusserungen
eines Realismus der Kunst sind nichts anderes als die Objektivierungen
dieser Wesensbeschaffenheit.
In dem funktionellen Sinn der
künstlerischen Natur ist er vielleicht die grösste, von der wir wissen.
Gewiss, wer seinen einzelnen Werken
gegenüber behaupten wollte: keines reiche an Wucht und Vollkommenheit an
die Orestie oder den Lear, an die Mediceergräber oder Rembrandts
religiöse Bilder, an die H-Moll-Messe oder die Neunte Symphonie — den
wird man nicht gerade widerlegen können.
Aber bei keinem andern Künstler reichte
die organisierende Kraft des Künstlertums mit solcher Breite und so
unbedingt formgebend in die Einheit der Persönlichkeit hinab, dass ein
so weiter Kreis von Welt und Erlebnis durch sie gleichsam zu
potenziellen Kunstwerken geschaut und erlebt wurde.
Dass die innere Dynamik, durch die
überhaupt Vorstellungen und Leben zu seinen Vorstellungen und seinem
Leben wurden, eine künstlerische Apriorität war — dafür ist es nur der
theoretische Ausdruck, wenn er in seinen Kunstwerken nichts anderes als
die gegebene Realität auszusprechen meinte.
Sein Schaffen machte nur anschaulich,
was sein Lebensprozess schon bei der Empfängnis der Lebensinhalte
geformt hatte — vielleicht das grösste und höchste Beispiel, dass wir,
nicht nur erkennend und geniessend, sondern auch schaffend aus dem Leben
nur nehmen, was wir selbst hineingelegt haben; sein Schaffen schien ihm
von dem Erleben nicht getrennt, weil schon sein Erleben ein Schaffen
war.
Georg Simmel: Goethe
3. überarbeitete Auflage - Leipzig: Klinckhardt & Biermann 1918. VII, 264 S.
Vorwort
1.
Kapitel: Leben und Schaffen
2.
Kapitel: Wahrheit
3.
Kapitel: Einheit der Weltelemente
4. Kapitel: Getrenntheit der Weltelemente
5. Kapitel: Individualismus
6. Kapitel: Rechenschaft und Überwindung
7. Kapitel: Liebe
8.
Kapitel: Entwicklung
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