Georg Simmel: Probleme der
Geschichtsphilosophie
Eine erkenntnistheoretische Studie
Duncker
& Humblot, Leipzig 1892
2. Kapitel: Von den historischen Gesetzen
Proposmones ex phaenomenis per inductionem collectae,
non obstantibus contrariis hypothesibus, pro veris aut accurate aut quam
proxime haberi debent, donec alia occurrerint phaenomena, per quae aut
accuratiores reddantur aut exceptionibus obnoxiae.
Newton |
Inhalt
Begriff des Gesetzes
Kompliziertheit des historischen Geschehens
Unmöglichkeit von Gesetzen über Gesamtzustände
Allgemeine Schwierigkeit der Entdeckung letzter realer Kräfte
Dualismus erzählender und Gesetzeswissenschaft
Historische Kausalität
Folgen der Tatsache, daß die Menschengeschichte ein Teil der
kosmischen ist
Unterschied des phänomenalistischen Standpunktes für Natur-
und Geschichtswissenschaft
Statistische Gesetze.
Allgemeinbegriffe als Material historischer Gesetze
Bedeutung der historischen Gesetze .
Bedeutung ihrer Widersprüche
Entwicklung über sie hinaus
Als Aufgabe der Geschichtsphilosophie hört man die Auffindung
der historischen Gesetze bezeichnen - auf den ersten Blick eine der auffälligsten
Zumutungen.
Was würde man dazu sagen, wenn dem Forscher in irgend einer anderen
Wissenschaft, in der Physik, der Astronomie, der Psychologie, der Sprachvergleichung
nur die Beschaffung des singulären Materials obliegen, die Feststellung
der Gesetze indes einem Philosophen übertragen werden sollte? Der
Versuch, diese Wunderlichkeit zu erklären, führt uns zur Untersuchung
des Begriffes des historischen Gesetzes selbst.
Gesetz eines Geschehenes überhaupt wird man, ohne Widerspruch zu
finden, als einen Satz definieren können, dem gemäß der
Eintritt gewisser Tatsachen unbedingt - d.h. jederzeit und überall - den Eintritt gewisser anderer zur Folge hat.
Dieser letztere wird nicht in seiner Reinheit äußerlich sichtbar
sein, wenn anderweitige Ereignisse an derselben Stelle von Raum und Zeit
mit ihm zusammentreffen.
Das Entscheidende ist, dass jene ersten Tatsachen, sich selbst
überlassen, zu diesem Resultate führen, und dass sie, mit
irgend welchen anderen zusammenwirkend, diese zu einer Resultate umbiegen,
aus welcher ihr Anteil jederzeit unverkürzt herauserkannt werden kann.
Wir können in diesem Sinne Gesetz auch als die Erkenntnis der Richtung
und des Quantums derjenigen Kraft bezeichnen, die bei einer gegebenen Kombination
zweier Weltelemente frei wird und deren sichtbare Wirkung von gleich- oder
andersgerichteten Kräften abhängig ist, mit denen sie sich an
der gleichen Substanz begegnet.
Nun wirken tatsächlich an jedem Punkte der Welt Kräfte aus
sehr verschiedenen Richtungen und Ursprüngen zusammen.
Inwieweit diese von einander unabhängig sind, oder etwa eine einheitliche
Wirkung nach einheitlichem Gesetz darstellen, ergibt sich daraus, ob jede
Teilwirkung, die wir meinten aussondern zu können, sich noch in anderen
Komplexen findet und, in ganz verschiedene Kombinationen eingesetzt, jedes Mal das gleiche Resultat ergibt.
Wenn wir also zunächst einen Gesamtzustand A in den Zustand B übergehen
sehen, so mag uns diese Folge als gesetzlich erscheinen; nun stellen wir
fest, dass A sich, aus den Bestandteilen a b c, B aus a b g zusammensetzt.
Dass nun etwa a die Folge a gehabt hat, erkennen wir, wenn wir,
eine Folge B' auf A' beobachten, wobei A' aus a d e, B' aus a d e besteht.
Wird dieser Erkenntnisweg nun weiter verfolgt, indem auch a und a in
Teilvorgänge zerlegt werden, deren Beziehungen besonderen Gesetzen
unterliegen, so muss erschließlich an den Elementen alles Geschehens
münden, d.h. an den Gesetzen, welche die Beziehungen der kleinsten
Teile zu einander regeln und deren Zusammenwirken die komplexen Tatsachen
an der Oberfläche der Erscheinungen bestimmt.
Von einem eigentlichen Gesetz des Geschehens kann nun erst da gesprochen
werden, wo die Wirkungen dieser letzten Elemente festgestellt sind.
Denn es folgt zwar selbstredend, dass, wenn einmal B aus A hervorgegangen
ist, es auch bei absolut identischer Wiederholung von A immer wieder aus
ihm hervorgehen muss, und insofern könnte man sagen, es sei ein
Gesetz, dass A die Ursache von B sei; wobei unter A die Gesamtheit
aller bis an die Schwelle von B führenden und es beeinflussenden Umstände
verstanden wird, nicht nur jener übliche abgeschwächte Begriff
Ursache, der nur den positiven und direkten Anstoß zu B, aber nicht
die unzähligen daneben und dazwischen gelagerten Bedingungen enthält,
durch die hin er verläuft und deren Selbstverständlichkeit ihre
doch auch positive Unentbehrlichkeit zu verdecken pflegt.
Allein die leiseste Veränderung der Faktoren, aus denen A besteht,
macht jene Erkenntnis sofort hinfällig und wertlos.
Sind A (= a b c) und B (= a b g) nur als Totalitäten erkannt, so lässt diese Erkenntnis nicht den geringsten
Schluss auf
das Verhalten von B zu, sobald etwa a in a' übergeht; erst wenn wir
wissen, dass die Teilwirkung a von a, b von b und g von c ausging,
können wir der Änderung von B näherkommen, weil wir dann
wissen, dass seine Teile b und g umgeändert bleiben und das Verhältnis
des abgeänderten B zum ursprünglichen nur durch die Änderung
von a bestimmt wird.
Solange wir nur Kollektivwirkungen kennen, stehen wir jeder neuen komplexen
Tatsache in Bezug auf ihre kausalen Verknüpfungen völlig unbelehrt
gegenüber; denn mag sie in noch so vielen Punkten mit einer früher
festgestellten übereinstimmen, so genügt doch die kleinste Abweichung,
um jede Bestimmung ihrer Wirkung illusorisch zu machen, weil wir mangels
der Auflösung in Teilursachen und Teilwirkungen nicht wissen können,
welchen Teil der früher beobachteten Wirkung die Abänderung in
der Ursache alterieren wird.
Die Ereignisse, deren Verknüpfung zu historischen Gesetzen wir
suchen, sind aus so vielen Beiträgen zusammengesetzt, dass man
die genaue Wiederholung des verursachenden an einer anderen Stelle von
Zeit und Raum getrost als unmöglich bezeichnen kann.
Da nun aber das Gesetz, das aus der Beobachtung seiner und seiner Folge
gezogen wurde, nur für seine völlig identische Wiederholung gilt,
und wir mangels der Erkenntnis der elementaren Teilkausalitäten den
Faktor nicht kennen, dessen Variierung dies spätere Ereignis als eine
Funktion des früheren auszurechnen gestattete: so bleibt jenes Gesetz
ein Gesetz in partibus infidelium; es hat seine Bedeutung an jenem einzigen
Fall erschöpft und findet auf nichts weiteres mehr Anwendung.
Verhindert die Unklarheit über die Kräfte der einzelnen Teile,
die ein historisches Ereignis zusammensetzen, schon durch diese Betrachtung
ihres bloßen Nebeneinanderbestehens die Aufstellung eines wirkungsvollen
historischen Gesetzes, so wird die Schwierigkeit eines solchen noch viel
größer, wenn man die individuellen Kräfte und Ereignisse
als die Ursachen betrachtet, die das an der Oberfläche erscheinende
und als Glied eines Gesetzes angesprochene Ereignis erst hervorbringen.
Wir hören z.B. als Gesetz aussprechen, dass die schichte jedes
politischen Ganzen mit der geistigen und bürgerlichen Freiheit Weniger
beginne, von da zu der Mehrerer und endlich zu der Aller fortschreite;
von diesem Höhepunkte finde wieder ein Zurückgehen der Bildung,
Freiheit und Macht zu den Wenigen und den Einzelnen statt.
Nun ist doch die ursprüngliche Beschränkung dieses Zustandes
von Glückseligkeit und Freiheit auf Wenige offenbar nicht die zulängliche
Ursache, aus der er nachher auf Mehrere, und diese Verbreitung nicht die
Ursache, aus der er dann auf Alle übergeht.
Und die Tatsache, dass Alle ihn besitzen, entfaltet aus sich heraus
nicht die reale Kraft, die ihn nachher auf Wenige einschränkt.
Oder es wird uns als Gesetz der historischen Entwicklung genannt, dass die Nationen und die Individuen den Weg über Kindheit, Jugend, Mannheit
und Greisenalter zurückzulegen hätten und dass dem die geistigen
Gesamtepochen der Spekulation, des Glaubens, der Vernunft und des geistigen
Verfalls entsprächen.
Offenbar sind auch hiermit die wirklichen Kräfte nicht bezeichnet,
die ein Zeitalter in du andere überführen.
Wenn eine Nation in einer gewissen Epoche gläubig ist, so begreifen
wir dadurch noch gar nicht die notwendigen Anknüpfungen, die sie dann
in eine Epoche des vernunftmäßigen Forschens überführen.
Die Jugend eines Volkes ist noch durchaus nicht die zureichende Ursache,
durch die es später zur männlichen Reife gelangt.
Vielmehr, angenommen selbst die so ausgesprochene Reihenfolge der Zustände
sei durchgängig beobachtbar, so würde damit noch immer nicht
ihr innerer und kausaler Zusammenhang, d.h. ihr Gesetz, entdeckt, sondern
nur ein - bisher - regelmäßiges Folgen von Phänomenen festgestellt
sein.
In beiden Beispielen werden Gesamtzustände, welche die erscheinende
Folge sehr vieler Einzelbewegungen und Kräfte sind, in ihrer zeitlichen,
Abfolge beschrieben; dass der eine in den anderen übergeht, ist
das Resultat des Wirkens sehr vieler spezieller Gesetze, aber nicht selbst
ein Gesetz.
Es verhält sich dies gerade so, wie wenn man das Gesetz aussprechen
wollte: die Arten der Lebewesen ändern in einer Weise ab, die ihre
Organe in ein Verhältnis immer steigender Anpassung zu den umgebenden
Lebensbedingungen setzt.
Angenommen, dies geschähe wirklich und ausnahmslos, so wäre
es doch nur die Folge unzähliger einzelner Wirkungen zwischen den
Organismen und ihrer Umgebung, welche Wirkungen, jede für sich, besonderen
Gesetzen unterliegen.
Jener Satz bezeichnet nur den Erfolg regelmäßig zusammenwirkender
Gesetze, er ist kein Begründendes, sondern ein Begründetes.
Die zeitlichen Beziehungen so komplizierter Erscheinungen sind nicht
als Gesetze zu bezeichnen, wenn das Gesetz wirklich die Ursache angeben
soll, weiche in der einzelnen Erscheinung wirkt.
Darum dürfen sogar die sogenannten Keplerschen Gesetze nicht als
Naturgesetze im strengen Sinne gelten.
Es ist keine allgemeine Naturkraft anzunehmen, welche nur darauf gerichtet,
deren Inhalt es wäre, dass der Radius vector der Planeten in
gleichen Zeiten gleiche Flächen bestreicht; dass sie sich so
bewegen, ist eine Wahrheit und die Folge von Gesetzen, die an einem gewissen
vorgefundenen Zustand der Materie die Bedingungen ihrer Wirkung finden,
aber nicht der Inhalt eines Gesetzes selbst.
Ein solches ist vielmehr erst das Newtonsche Gravitationsgesetz.
Dieses macht die primäre, zwischen Sonne und Planeten Tatsächlich
wirksame Kraft bekannt, deren Gestaltung zu dem Falle unseres Planetensystems
relativ zufällig ist.
Gesetzmäßig freilich sind die Bewegungen innerhalb dieses,
die Keplers Gesetze beschreiben, durchaus, wie es durchaus gesetzmäßig
ist, dass A dem B auf der Straße begegnet.
Allein man wird darum kein Naturgesetz annehmen, welches diese Begegnung
bestimmte, sondern ihre Gesetzmäßigkeit liegt in den unterhalb
der Erscheinung der Begegnung sich abspielenden Bewegungen, den psychologischen
und physiologischen Impulsen und Atomvorgängen, deren Kreuzung zu
jenem Erfolge führte.
Dass sie sich aber kreuzten, ist nicht wieder in demselben
Sinne gesetzmäßig, wie sie selbst es sind.
Gewiss ist es ein gesetzmäßiger Vorgang, wenn die Freiheit
und die Höhe der Lebenshaltung von der Minorität zur Gesamtheit
auf- und von dieser wieder zu jener absteigt; oder wenn dem Zeitalter der
Spekulation ein Zeitalter des Glaubens und diesem ein solches der Forschung
folgt.
Allein wir dürfen kein besonderes Gesetz annehmen, welches den
einzelnen Ereignissen, deren Erfolg jene Übergänge sind, ihr Zusammentreffen
zu eben diesem bestimmten Gesamtresultat vorschrieb So ist
auch das Leben ein gesetzmäßiger Vorgang, allein es gibt kein
Gesetz des Lebens, wie und weil es keine besonders auf dasselbe gerichtete
Lebenskraft gibt.
Vielmehr ist das Leben ein Erfolg primärer Vorgänge, für
die allein es Naturgesetze gibt.
Sind die Bedingungen für diese gegeben, so entsteht eben Leben
sozusagen von selbst.
Und nun endlich ein einfachstes Beispiel.
Die Palme wächst zu anderer Form auf als irgend ein anderer Baum,
und zwar zweifellos nach bestimmten Gesetzen.
Trotzdem wird niemand behaupten, dass es besondere Palmenwachstumsgesetze
in der Natur gäbe.
So entwickelt sich das historische Material gesetzmäßig zu
bestimmten, von allem sonstigen Weltinhalt unterschiedenen Formen, ohne dass man das Recht hätte, von besonderen Gesetzen des historischen
Werdens zu sprechen.
Es erhebt sich nicht ein höheres Gesetz - des Lebens, der Geschichte
- über den niederen Gesetzen, die die Bewegungen der einzelnen Elemente
regulieren, so dass jedes dieser letzteren einer doppelten Gesetzgebung
- gleich dem Angehörigen eines Bundesstaates - unterläge; dies
wäre ein völliger Anthropomorphismus.
Das einzig Reale sind die Bewegungen der kleinsten Teile und die Gesetze,
welche diese regeln; wenn wir eine Summe dieser Bewegungen zu einem Gesamtgeschehen
zusammenfassen, so kann für dasselbe nicht ein besonderes Gesetz beansprucht
werden, da schon durch jene primären Gesetze, und allein durch sie,
Jede überhaupt stattfindende Bewegung ihre zureichende Erklärung
und Zurückführung auf die verursachende Kraft findet.
Indessen scheint gerade eine Vertiefung dieses Gedankens seine Richtung
umzubiegen.
Die Aufeinanderfolge jener Gesamtepochen geschichtlicher Zustände
konnten wir, selbst für den Fall ihrer ausnahmslosen Beobachtetheit,
als eine bloße Tatsache, aber nicht als den Inhalt eines eigens auf
sie gerichteten Gesetzes bezeichnen.
Allein wenn die Beziehungen der, einfachsten Teile untereinander durch
Kräfte geschehen, welche von unmittelbar wirkenden Gesetzen reguliert
werden, so ist doch im Grunde auch dies nur eine Tatsache.
Auch die Attraktion der Stoffteile im umgekehrten Verhältnis des
Entfernungsquadrates bezeichnet schließlich nur ein beobachtetes
Neben- oder Nacheinander von Lageverhältnissen, und wenn man sie als
Ursache bezeichnet, während die Keplerschen Gesetze nur relativ zufällige
Tatsachen wären, so scheint man einen graduellen Unterschied zu einem
absoluten zu steigern.
Der letzte Grund dieser Schwierigkeit liegt darin, dass wir die
Kraft, die die Bewegungen der Welt wirklich hervorbringt und nach der unser
Erklärungsbedürfnis - gleichviel ob berechtigt oder nicht - verlangt,
eben nicht erreichen können.
Wir bleiben immer bei den wirklichen Bewegungen stehen und können
nur die komplizierteren auf die einfacheren zurückführen, ohne dass diese letzteren uns nun die wirkliche Kraft des Geschehens mehr
offenbarten, wie jene.
Das komplexe Geschehen erscheint uns in dem Maße erklärt,
in dem es in das Geschehen zwischen seinen Faktoren aufgelöst wird;
allein auch für das letztere gilt der Humesche Gedanke, dass die sichtbare Wirklichkeit immer nur das Folgen, aber nicht das Erfolgen
zeigt.
Die Kraft, die eines der Ereignisse in das andere überführt,
wird immer nur subintelligiert, und rein logisch genommen würde nichts
dawider sprechen, sie ebenso als einheitliches Band zwischen zwei historischen
Epochen wie zwischen zwei Atomrepulsionen zu hypostasieren.
Es kommt dazu, dass, wenn selbst die elementarsten Bewegungen und
die Kenntnis ihrer Formen uns einen ganz genügenden Aufschluss über das Weltgeschehen verschaffen könnten, uns derselbe schon
deshalb versagt wäre, weil wir nie wissen können, ob die Analyse
wirklich bis ans Ende gelangt ist.
Die Wesen von absoluter Einfachheit, zwischen denen die Weltkräfte
spielen und alles weitere Geschehen zusammensetzen, sind uns nicht zugänglich.
Das chemische Atom ist potentiell noch immer weiter zerlegbar und gilt
nur für die Zwecke des Chemikers als Atom, weil ihn die weitere Zerlegung
nicht interessiert.
Wie oft sind irgendwelche Wesenheiten für letzte Bestandteile,
ihre Bewegungen für unmittelbare einheitliche Äußerungen
der einfachen realen Kräfte gehalten worden, bis sich ergab, dass es sich auch hier um Resultanten mehrerer im Kräfte, um Formungen
sehr viel einfacherer Elemente handelte.
Jener oben festgestellte Unterschied zwischen dem direkten Fall eines
Gesetzes, das eine Ursache des Geschehens ausspricht, und dem relativ zufälligen
Erfolge und Erscheinung, die dasselbe an einer noch durch andere Umstände
bestimmten Substanz gewinnt - dieser Unterschied ist zwar logisch gewiss,
aber in der Wirklichkeit immer nur mit annähernder Sicherheit aufzuzeigen.
Wenn wir gesehen hatten, dass die Keplerschen Gesetze keine eigentlichen
Naturgesetze, sondern nur sozusagen historische Tatsachen bedeuteten, während
das Newtonsche Gesetz nun die wirkliche, gesetzliche und primäre Ursache
derselben aufdeckte, so ist dieser Unterschied auch von der Seite des letzteren
her ein relativer, weil wir nicht wissen können, ob sich uns die Attraktion
der Stoffe nicht eines Tages auch als ein Erfolg des Zusammenkommens verschiedenartiger
Bedingungen und Kräfte enthüllen wird.
Dann würde die Ursache der Gravitationserscheinungen nicht mehr
in der Gültigkeit eines besonderen Gesetzes liegen, sondern darin, dass die zufälligen Umstände von Zeit und Raum mehreren
Gesetzen die Möglichkeit gaben, zu wirken und sich zu jenem sichtbaren
Erfolge zu modifizieren 1).
Der Dualismus zwischen erzählender und Gesetzeswissenschaft, der
zu so vielen Kompetenzkonflikten Veranlassung gegeben hat, wird hierdurch
allerdings berührt.
Logisch- begrifflich angesehen besteht zwischen beiden der größte
Unterschied, den es überhaupt auf dem Gebiete des Wissens geben kann.
Die Gesetze der Dinge haben mit der Wirklichkeit derselben absolut nichts
zu Tun; sie bleiben in ihrer Geltung bestehen, gleichviel ob der Fall,
den sie beschreiben, einmal oder millionenmal stattfindet; die unbedingte
Ausnahmslosigkeit, mit der sie bestimmen: wenn A ist, muss B sein - bezahlen sie mit der völligen Unfähigkeit, zu bestimmen,
ob
A
ist.
Aus der vollendetsten Kenntnis aller Gesetze der Natur ließe sich
nicht die geringste Kenntnis irgend eines wirklichen Verhaltens derselben
gewinnen, wenn nicht außerdem eine Tatsache gegeben ist, von der
aus weitere an der Hand jener Gesetze gefolgert werden können.
Das Gesetz hat ideellen Charakter, keine Brücke führt von
ihm, zur greifbaren Wirklichkeit, die vielmehr ganz außerhalb seiner
durch einen besonderen Akt gesetzt sein muss.
Insofern also Geschichtswissenschaft zu schildern hat, was wirklich
geschehen ist, indem sie die Wirklichkeitswissenschaft schlechthin ist,
tritt sie in den denkbar schärfsten Gegensatz gegen alle Gesetzeswissenschaft.
Gerade der einzelne nach Zeit und Raum bestimmte Fall, der ihren Inhalt
bildet, ist der letzteren völlig gleichgültig.
Nun steht es allerdings jedem frei, den Begriff der Wissenschaft so
zu definieren, dass er ausschließlich auf die Erkenntnis von
Gesetzen anwendbar ist, und daraufhin zu behaupten, dass Geschichte
solange keine Wissenschaft ist, bis sie zu Gesetzen des historischen Geschehens
vorgedrungen sei.
Dies ist eine bloße Angelegenheit der Terminologie, auf die ein
unbilliger Wert gelegt worden ist.
Das Entscheidende für den Wert einer an sich wahren Erkenntnis
ist doch nur das Interesse, das sich an sie knüpft.
Sie mag einem vorangestellten Begriff von Wissenschaft noch so sehr
genügen, so wird man ihr nicht nachgehen, wenn sie nicht an sich wertvoll
erscheint; tut sie dies aber, so ist wiederum sehr gleichgültig, in
welche formale Begriffskategorie sie gehört.
Nun findet aber Tatsächlich eine solche Wertung des Historischen
als solchen statt.
Die Kenntnis der Tatsachen, die in ihm zusammengefasst sind, interessiert
uns eben; es erscheint uns wertvoll, die einzelnen Personen und die einzelnen
Ereignisse zu kennen, durch die die Entwicklung unseres Geschlechts hindurch
gegangen ist, und dieses Interesse hat völlige Selbständigkeit
und Äquivalenz gegenüber dem an den Gesetzen, die uns nur die
Möglichkeit der Ereignisse und den Zusammenhang ihrer anderweitig
festgestellten Wirklichkeit, aber nicht diese selbst zugängig machen.
Wenn man also selbst bei dieser völligen logischen Divergenz in
den Absichten zwischen historischer und Gesetzeswissenschaft stehen bleibt,
so hat die Erkenntniskritik doch keine Veranlassung, die Auflösung
der ersteren in die letztere als das absolute wissenschaftliche Ideal zu
befürworten, da uns auch die absolute Vollendung der Gesetzeswissenschaft
für sich allein nicht zum geringsten Wissen um dasjenige verhelfen
würde, was denn nun wirklich in der Welt geschieht oder geschehen
ist.
Für die Praxis indes liegt die Versöhnung beider Tendenzen,
wie wir oben angedeutet haben, noch anderswo, als in dieser Trennung ihrer
Rechte, die sich bei ihrer absoluten Realisierung ergibt.
Denn vor der Erreichung dieser findet offenbar ein kontinuierlicher
Übergang der bloß Tatsächlichen Erkenntnisse in die der
Gesetze statt.
Im induktiven Verfahren haben wir zunächst bloße Tatsachenreihen,
in denen die einfachen gesetzlichen Zusammenhänge der Kräfte
durcheinander gehen und sich als solche verbergen; durch Abänderung
der Bedingungen nähern wir uns der Kenntnis der realen Elemente, von
denen wir sicher sein können, dass ihre einmal konstatierte Folge,
weil sie sachliches Erfolgen bedeutet, sich überall und immer geltend
machen wird.
Diese Sicherheit ist eben solange nicht gegeben, als wir nur zusammengesetzte
Gesamtzustände auf einander folgen sehen.
Nun werden aber aus diesen vermittels der Methode der Variierung und
Aussonderung allmählich jene erkannt, wir haben kein absolutes Kriterium
für die Erreichtheit dieses Zieles, und der Weg der Erkenntnis ist
bis zu ihm ein unendlicher.
Deshalb ist in der Wirklichkeit des Forschens jener unbedingte Unterschied
zwischen Gesetzeswissenschaft und tatsächlichem historischem Wissen
nicht vorhanden; wir können nie wissen, ob eine Beziehung zweier Elemente,
die wir als Gesetz, unabhängig von Zeit und Raum und gleichgültig
gegen das Ob und Wie oft seiner Verwirklichungen ansehen - ob diese Beziehung,
sich nicht doch schließlich als eine bloße Beschreibung historischer
Wirklichkeit herausstellt, als ein zufällig oft wiederholter singulärer
Fall; derselbe würde sich zwar ceteris paribus immer wiederholen
- dazu bedarf es überhaupt keines besonderen Naturgesetzes, sondern
nur des Kausalgesetzes - aber er würde nicht die Kraft kenntlich machen,
welche auch unter abgeänderten realen Bedingungen das Endglied der
Ereignisreihe als eine Funktion des Anfangsgliedes auszurechnen gestattete.
Allein diese erkenntnistheoretische Kontinuität zwischen Tatsache
und Gesetz läuft doch nur in einer Richtung und wir können zwar
von keinem Gesetz sicher wissen, ob es jene absolute Geltung hat, die es,
als Gesetz, von einer bloßen Tatsachenfolge unterscheidet; wohl aber
können wir von gewissen Tatsachenfolgen sicher wissen, dass sie
nicht Gesetze strengen Sinnes sind.
Demnach kann man unsere Bedenken gegen den Begriff des historischen
Gesetzes nicht durch die Erwägung beseitigen, dass auch die Gesetze
strengsten Sinnes der möglichen Auflösung in nur zufällige
Kombinationen unterliegen.
Denn was für diese nur Möglichkeit ist, ist für jene Gewissheit.
Die geschichtlichen Erscheinungen sind jedenfalls Resultate sehr vieler
zusammentreffender Bedingungen und deshalb keinesfalls aus je einem Naturgesetz
herzuleiten.
Freilich bringt es die Unzulänglichkeit des menschlichen Wissens,
das unzählige Male das Relative behandeln muss, als wäre
es ein Absolutes, mit sich, dass wir die einfachste Bewegungsform,
zu der die Analyse bis zu dem gegebenen Augenblick gedrungen ist, als den
realen Grundtypus der Bewegungen überhaupt und ihr Gesetz als den
Ausdruck der wirkenden Urkraft ansehen, derart, dass durch die Zurückführung
der komplizierteren Erscheinungen auf dieses die Aufgabe des kausalen Erkennens
gelöst wäre - während wir zugleich es für möglich
halten müssen, dass auch dieses Einfachste sich einmal als Zusammengesetztes
enthülle und so dasjenige, was bisher als verursachendes Moment erschien,
zu einer bloßen Erscheinung tiefer liegender Kräfte wird, welche
erst ihrerseits die zulängliche Erklärung der Folgeerscheinung
abgeben.
Allein zwischen den Gesetzen, die dieser Möglichkeit als bloßer
Möglichkeit unterliegen, und den historischen liegt ein fast unübersehbarer
Weg.
Und wenn wir nun auch prinzipiell wissen, dass das eigentliche
Erfolgen und seine Kraft uns verborgen ist und wir auf die Beobachtung
des bloßen Folgens angewiesen sind, so bleibt doch der empirische
Unterschied zwischen der kausalen und der bloß zeitlichen Beziehung
für die Zwecke unseres Erkennens bestehen.
Mag die Grenze zwischen beiden eine fließende sein; jedenfalls muss sie jenseits des kompliziertesten überhaupt beobachteten
Geschehens liegen; und dieses eben ist die Menschengeschichte.
Wird dies übersehen, so stellt sich noch die folgende Verführung
zu Irrtümern allzu leicht ein.
Wenn wir sagen, ein umfassendes geschichtliches Ereignis habe ein anderes
verursacht, d.h. gesetzmäßig hervorgebracht, so heißt
dies, dass die Teilkräfte, deren Erscheinung das erstere ist,
sich zur Verursachung des zweiten weiter entwickelt haben.
Nun kann aber die gleiche Erscheinungsfolge aus sehr verschiedenen Gruppen
von Ursachen hervorgehen.
Die eigentlichen Kräfte der Geschichte sind uns immer nur vermittels
eines Schlusses von der Wirkung auf die Ursache zugängig und also
von der ganzen Unsicherheit eines solchen affiziert.
Daher ist es möglich, dass zwei völlig gleich erscheinende
Zustände oder Ereignisse in völlig verschiedene Folgen auslaufen;
ja, zwei Entwicklungen können durch so viele Glieder hindurch völlig
parallel gehen, dass die folgenden, die von ihnen kausal bestimmt
sind, gleichfalls notwendig als parallel angenommen werden müssen
- und doch biegen sie von einem bestimmten Punkte an von einander ab und
zeigen damit, dass die wirkenden Kräfte nicht zwischen den Gesamterscheinungen,
sondern zwischen Elementen spielen, welche unterhalb dieser letzteren liegen.
Darum kann man aus der häufigen Aufeinanderfolge komplizierter
Erscheinungen noch nicht schließen, dass ein Gesetz sie verbände,
das das Erfolgen der einen aus der anderen zum Inhalte hätte.
Wenn also selbst konstatiert wird, dass in vielen Fällen auf
die Autokratie die Oligarchie, auf diese die Demokratie und dann wieder
Monarchie gefolgt sei, so beweist dies keineswegs, dass eine neue
Entwicklungsreihe, die in der Folge der ersten Glieder mit jener übereinstimmt,
ihr auch noch weiter parallel gehen muss.
Eine solche Behauptung würde auf einer durchaus missverständlichen und oberflächlichen Deutung des Kausalgesetzes beruhen.
Vielmehr entspricht das Verhältnis der Tatsache, dass zwei
von durchaus verschiedenen Prämissen ausgehende Lehren doch in einem
Teil ihrer Deduktionen genau zusammentreffen können, während
die Verschiedenheit der Gründe, die hier einmal die gleichen Folgen
ergeben hatten, sich erst wieder im weiteren Fortschritt durch neue Differenzen
kundgibt.
So gelangte Goethe von den Prinzipien seiner Farbenlehre aus ganz folgerichtig
zu einer Reihe optischer Phänomene, die er als Beweis für die
Richtigkeit seiner Grundlagen genau ebenso in Anspruch nahm wie es die
Newtonianer für die ihrigen Taten; so konnte man aus dem ptolemäischen
Weltsystem heraus mancherlei astronomische Erscheinungen ganz richtig berechnen
usw. Und doch scheint es gegen das Kausalgesetz zu verstoßen, dass,
wenn wirklich in zwei Zeitmomenten die Erscheinung die absolut identische
ist, verschiedene Folgen aus ihr hervorgehen sollten.
Woraus jene Gleichheit entstanden ist, scheint gleichgültig zu
sein, denn Tatsächlich können sehr verschiedene Ursachen die
gleichen Folgen haben; aber die gleichen Ursachen können immer nur
gleiche Folgen haben.
Jene primären Kräfte sind, wie es scheint, in dem Augenblick
verschwunden, in dem sie die Gesamtwirkungen hervorgebracht haben; wirken
diese ihrerseits weiter und sind sie nach unserer Voraussetzung die genau
gleichen, so müssen nun ihre Wirkungen die gleichen sein.
Durch welche der unzähligen in die gleiche Resultante auslaufenden
Kombinationen von Anstößen auch die Bewegung einer Masse hervorgerufen
wird, ihre weitere Bewegung ist doch einzig durch die ihr nun einmal eingepflanzten
Kräfte bestimmt; und diese haben keinen Januskopf, durch den sie die
rückwärts gelegene Verschiedenheit ihres Ursprunges durch den
Punkt einmal erreichter Gleichheit hindurch wieder in eine Verschiedenheit
des Vorwärtswirkens münden ließen.
Ist wirklich die Bedingung erfüllt, die jenes historische Gesetz
voraussetzt: ist wirklich der Zustand der Oligarchie bei dem Volke A der
genau gleiche wie bei dem Volke B, so schließt dies die Gleichheit
aller der Spannkräfte und Lageverhältnisse ein, die einfach nach
dem Kausalgesetz bei B in dieselbe Folge auslaufen müssen, die bei
A beobachtet wurde.
Diese erhebliche Schwierigkeit, die sich der Ableugnung historischer
Gesetze in den Weg stellt und solche trotz allem notwendig zu machen scheint,
erhält, wie mir scheint, durch die folgenden beiden Erwägungen
die ihr gebührende Einschränkung.
Zunächst ist zuzugeben, dass, wenn die Voraussetzung einer
völligen Gleichheit der Zustände wirklich einträfe, sich
niemand der Konsequenz der gleichen Folge entziehen könnte.
Allein dem gegenüber möchte ich mich nicht mit dem in seiner
üblichen Allgemeinheit sehr schalen Einwürfe begnügen, dass zwei historische Zustände ja niemals völlig gleich sind, und
dass, wenn man von der Wiederholung eines solchen spricht, es sich
immer nur um teilweise und jedenfalls sehr modifizierte Ähnlichkeiten
handeln kann.
Ich komme hierauf noch zurück und betone für jetzt lieber
eine andere Erschwerung für die konsequente Gleichheit historischer
Ereignisse.
Sie liegt darin, dass alle Menschengeschichte doch ein Ausschnitt
aus dem gesamten Weltgeschehen ist, und Weiterentwicklung jeder ihrer Phasen
deshalb von unzählige Umständen abhängig ist, zu denen die
Spannkräfte nicht aus schließlich in dieser Phase, als einer
vom Begriff der Geschichte eingegrenzten, liegen, und die also auch aus
ihr nicht zu berechnen sind.
Die Menschengeschichte verläuft doch nicht als ein in sich abgeschlossenes
Kapitel, von dem etwa nur Anfang und Ende Beeinflussung und Zusammenhang
mit den kosmischen Kräften hätten, sondern sie entwickelt sich
in fortwährender Endosmose und Exosmose mit diesen und erfährt
von ihnen Kraftwirkungen, deren Quellen ganz außerhalb ihrer selbst
fließen und deshalb auch aus der genauesten, Kenntnis des bisherigen
historischen Verlaufs nicht zu berechnen sind.
So wenig man das zukünftige Verhalten eines Menschen bloß
aus seiner Vergangenheit berechnen kann, weil außer den Spannkräften,
die diese in ihm bis zu jedem gegebenen Augenblick aufgespeichert hat,
noch unzählige andere Kräfte auf ihn einwirken werden, die die
Richtung und Intensität jener modifizieren; so wenig innerhalb des
Individuums die psychischen Vorgänge eine geschlossene Kausalität
aufweisen, weil einströmende Empfindungen deren Kontinuität unterbrechen
und fortwährend neue, aus dem bisherigen Status nicht berechenbare
Elemente dem Seelenleben einfügen: so wenig kann man das Leben der
Menschheit als eine, selbstgenügsame Entwicklung ansehen, deren früheren
Stadien, alle Keime enthielten, aus denen eine rein innere Kausalität
alles Spätere hervortriebe.
Einflüsse, die einem allem Bisherigen fremden Kräftekreis
entstammen, unterbrechen ihre immanente Entwicklung und lassen die Gleichheit
der Bedingungen, die diese selbst der Zukunft bietet, in ungeahnte Verschiedenheit
der Erfolge auslaufen.
Nur wenn Menschengeschichte wirklich Weltgeschichte wäre, würde
jeder momentane Zustand derselben die zureichenden Bedingung des nächsten
und übernächsten in sich schließen, ohne ein abbiegenden Einfluss
von außen gewärtigen zu müssen.
Was also z.B. schon für die Kunstgeschichte längst erkannt
ist: dass es so zu sagen keine immanente Kunstgeschichte geben kann,
d. h. keine, die eine künstlerische Erscheinung aus der anderen verständlich
und gesetzmäßig entwickelte, weil die politischen, sozialen,
religiösen etc. Verhältnisse die nächsten Erscheinungen
mitbestimmen und doch ihrerseits aus den vorhergegangenen künstlerischen
nicht berechenbar sind - das gilt auch für die Gesamtgeschichte.
Historische Gesetze wären demnach nur möglich, wenn die zu
den bisherigen historischen Zuständen hinzutretenden und deren Entwicklung
beeinflussenden kosmischen Faktoren konstante wären, so dass sie sozusagen beide Seiten der Gleichung gleichmäßig affizierend,
für die Berechnung der einen aus der andern nicht brauchten in Rechnung
gezogen zu werden; oder wenn sie Gesamtzustände der Welt, statt sehr
variabler Ausschnitte derselben, zum Inhalte hätten.
So unbedingt die Schicksale des Weltganzen in seiner Vergangenheit beschlossen
liegen und jeder Eingriff in dasselbe abgelehnt werden muss, der eine
aus ihm selbst nicht ergründbare Kraft in ihm zur Geltung brächte
- so wenig enthält umgekehrt, bei der durchgängigen Wechselwirkung
aller kosmischen Elemente, irgend eine einzelne Geschehensreihe - die doch
nur nach subjektiven Kategorien abgegrenzt, isoliert und mit scheinbarer
Selbständigkeit versehen ist - in sich die zureichenden Bedingungen
ihrer weiteren Schicksale, sondern muss stets auf Eingriffe vorbereitet
sein, die ihr gegenüber als dii ex machina erscheinen; und dies gilt
für ein einzelnes Menschenschicksal, dessen einzelne Phasen wir zu
einem einheitlichen Verlaufe verknüpfen, nicht mehr, als für
die Schicksale eines einzelnen Volkes oder der Menschheit überhaupt.
Nur sehr viel schwieriger dürfte ein anderer Gesichtspunkt sich
aus der Form bloßer Andeutung, die er in dem Vorhergehenden gefunden,
zu prinzipieller Klarheit bringen lassen, um auch seinerseits zu zeigen, dass trotz des Kausalgesetzes aus gleichen historischen Bedingungen
verschiedenartige Weiterentwicklungen hervorgehen können.
Wir hatten gesehen: wenn ein Zustand gegeben ist, so entwickeln sich
seine realen Folgen allerdings mit absoluter und eindeutiger Notwendigkeit,
gleichgültig gegen die mögliche Verschiedenheit der vorangegangenen
Bewegungen, die ihm die dazu erforderlichen
Spannkräfte verliehen haben.
Allein diejenigen Zustände, deren Kausalität die historischen
Gesetze auszusagen pflegen, sind nicht wirkliche Teile der Entwicklung,
so dass diese durch sie als durch notwendige Stationen hindurchginge,
die ihrerseits alle Spannkräfte der Zukunft in sich bärgen.
Sie sind vielmehr nur Erscheinungen und Abstraktionen von den wirkenden
Kräften; der künftige Zustand entwickelt sich also nicht aus
ihnen, sondern aus diesen letzteren.
Und wenn nun , vermöge des subjektiven Faktors, mit dem die realen
Kräfte zusammentreten, um durch Abspiegelung in ihm die Inhalte der
historischen Gesetze zu erzeugen - wenn vermöge dieses Faktors und
seiner Variabilität sehr verschiedene Wirklichkeiten das gleiche Erkenntnisgebilde
ergeben können, so folgt, dass die scheinbaren Wirkungen gleicher
Zustände durchaus verschieden sein können.
Denn die Kraft, die diese Wirkungen erzeugt, liegt nicht in ihnen, sondern
in jenen Realitäten, die ihre Verschiedenheit in der Verschiedenheit
ihrer Folgen weiter zeigen, nachdem sie durch zufälliges Zusammentreffen
mit einem außerhalb ihrer liegenden Faktor eine Strecke weit gleich
erschienen sind; sie sind unbekümmert darum, ob sie auf einer Station
ihres Weges in dem beobachtenden Geist gleichartige Erscheinungen erregt
haben, welche für wirkende Ursachen gehalten werden und dadurch den
falschen Anspruch einer Gleichheit der Weiterentwicklung provozieren.
Damit scheint freilich eine Schwierigkeit ausgesprochen, die sich nicht
nur gegen die historische, sondern gegen Kausalität überhaupt
richtet.
Die Erkenntnis von dem bloßen Erscheinungscharakter der Welt macht
die objektive Erzeugung einer Realität aus einer anderen, wie die
Kausalität sie fordert, schwer denkbar.
Denn wenn die ganze Reihenfolge möglicher Erfahrungen aus Vorstellungen
besteht, deren jede, wie man höchstens zugeben mag, ihrerseits die
Folge oder das Symbol einer absoluten, aber unerkannten Realität ist,
so bringen doch diese Vorstellungen nicht einander hervor, d.h. unter ihnen
herrscht keine reale Kausalität, sondern eine Reihenfolge, in der
jedes Glied, von den in dieser Reihe ihm vorangehenden unabhängig
und gegen sie isoliert, von anderswoher bestimmt wird.
Da nun aber diese Vorstellungen das einzige sind, was wir kennen und
haben, so ist uns eine eigentliche und objektive Kausalität überhaupt
nicht zugängig.
Die Erscheinung B, welche der Erscheinung A folgt, ist der psychische
Reflex einer absoluten Realität b, und entsteht durch das Zusammenkommen
dieser mit dem subjektiven Faktor, nicht aber aus A.
Dieses A ist seinerseits gleichfalls aus einem psychischen Faktor und
einer Realität a hervorgegangen.
Infolgedessen könnte die Reihe A B nur dann für eine vollgültige
Kausalität wenigstens vikarieren, wenn die Subjektivität, deren
Erregungen durch a und b
A und B darstellen, sich in allen Fällen völlig gleich verhielte,
und zwar so, dass jedem a nur A und nichts
anderes, jedem b nur B und nichts anderes entspräche;
dann wäre sie ein konstanter Faktor, und wenn man auch daraufhin nicht
a und b in ihrem Ansich ausrechnen könnte, so könnte man doch
sicher sein, dass jedes Mal a vorhanden ist, wenn wir A haben etc.
Die Induktion aus hinreichend vielen Beobachtungen der Reihe A B würde
dann zu der Aussage berechtigen, dass B stets auf A folgen wird.
Und dies ist eigentlich nur ein anderer Ausdruck für reale Verursachung,
denn der ganze auffindbare und uns praktisch interessierende Sinn dieser
kann nur sein, dass man in jedem einzelnen Fall des Eintretens von
A der Folge B sicher ist.
Nun sind die genannten Voraussetzungen in Bezug auf äußere
Naturerkenntnis annähernd erfüllt.
Ohne durch die Tatsachen allzuhäufig enttäuscht worden zu
sein, nehmen wir an, dass unser psychischer Organismus sich gegen
diejenigen Erregungen, deren Resultat äußere Sinnesvorstellungen
sind, in sehr gleichmäßiger und genau abgestufter Weise verhalte,
und dürfen im großen und ganzen den Ausdruck adoptieren, dass die Empfindungen, wenn nicht Erkenntnisse, so doch Symbole der absoluten
Realitäten sind.
Und die weiteren psychischen Umänderungen, die Einreihung in Kategorien,
die Ergänzung und Deutung des äußeren Geschehens lassen,
sobald sie nur zur Feststellung der räumlich- dynamischen Beziehungen
der Dinge vorgenommen werden, das primäre Material soweit ungeändert, dass
man hier die psychische Subjektivität Tatsächlich als
konstanten Faktor ansehen und nach einer gewissen Anzahl von Beobachtungen
der Folge B nach A behaupten darf, dass A die Ursache von B ist, d.h. dass diese immer nach jenem eintreten wird.
Schon den singulären historischen Tatsachen gegenüber verhält
sich dies anders und gewinnt der subjektive Faktor ein überwiegende
Bedeutung.
Das erste Kapitel hat die Wichtigkeit ausgeführt, die die Deutung
in der Historik besitzt.
Wen wir nicht hinter das äußere Geschehen einen Sinn, hinter
die äußere Tat eine Absicht, hinter das äußere Bestimmt
werde ein Empfinden legten, so würde es eine Geschichte gar nicht
geben: erst die Deutung gibt ihr Bedeutung.
In dem Prozess also, in dem das objektive Geschehen zur Vorstellung
wird, spielt die subjektive Tätigkeit eine bestimmendere Rolle als
gegenüber der äußeren Natur, deren Erscheinungen so wie
sie sich bieten hingenommen werden; sie werden nicht wie jene sozusagen
erst noch in eine zweite geistige Potenz erhoben, bei welchem Vorgange
dann die individuellen Differenzen der Geister sich in vervielfachtem Maße
geltend machen müssen.
Es vermehrt sich also den historischen Vorgängen gegenüber
die Wahrscheinlichkeit, dass das objektiv Verschiedene gleiche subjektive
Erscheinungen hervorruft - und umgekehrt -, während die Weiterentwicklung
der objektiven Geschehnisse ihr von ihrer Erscheinung abweichendes Wesen
gelegentlich wieder einmal stärker zur Geltung bringen kann, und so
neu resultierende Erscheinungen sich scheinbar als verschiedene Folgen
gleicher Ursachen darbieten.
Denn - dies ist hauptsächlich zu beachten - der Geist verhält
sich nicht wie ein Spiegel, in dem, mag er selbst konkav oder konvex sein,
die Verschiedenheit der Bilder immerhin eine genaue, durch die Brechungsgesetze
bestimmte Proportionalität zu der Verschiedenheit der Objekte besitzt.
Er spiegelt das Verschiedene nicht in dem Maße verschieden, wie
es selbst verschieden ist, sondern verhält sich insbesondere da, wo
es sich nicht mehr um unmittelbare Empfindungen handelt, zu jedem Objekt
in einer besonderen Weise, oft so, dass die Verschiedenheiten im Verhalten
der erkennenden Funktionen innerhalb eines Individuums ganz den entsprechenden
Verschiedenheiten zwischen mehreren Individuen gleichkommen.
Ohne diese wohl nicht bezweifelte Tatsache ausführlich zu beschreiben,
erwähne ich nur, dass auch die höheren Geistesfunktionen
jene Eigenheit besitzen, die man an den Sinnen - hier freilich neuestes
mit Einschränkungen - die spezifische Energie genannt hat; d.h. der
seelische Effekt eines Eindrucks hängt von dem Organe ab, das ihn
aufnimmt, derart, dass Reizungen ganz verschiedener Provenienz, auf
das gleiche Organ treffend, ganz gleiche Vorstellungen auslösen, und
umgekehrt der identische Reiz je nach der Verschiedenheit des aufnehmenden
Organs ganz verschiedene Bewusstseinsvorgänge hervorruft.
Bringt dies manche Schwierigkeiten schon an dem sinnlichen Teile unserer
Erkenntnis hervor, innerhalb dessen wir doch von vornherein die Subjektivität
der Empfindungen zugeben und gar nicht verlangen, dass dieselben ihre
Ursachen wirklich abspiegeln, so wird diese Spezifikation der Energie da
um so bedenklicher, wo die schließliche Vorstellung ein getreues
Bild des sie erregenden Vorganges sein soll.
Wir verlangen doch vom historischen Erkennen, dass der subjektiv
psychologische Vorgang im Erkennenden den objektiv psychologischen Vorgang
der historischen Persönlichkeit abspiegele.
Wirkt nun hier die spezifische Energie derart, dass der einströmende
Reiz gewisse vorlagernde Vorstellungsgruppen oder psychische Kräfte,
zu denen er zufällig Beziehungen gewinnt, aufregt, dass deshalb
gerade nur die für sie spezifischen Vorstellungen resultieren, die
von dem Charakter des Erregten, aber nicht von dem des Reizes abhängen:
so ersieht man, wie leicht verschiedenartige objektive Vorgänge einmal
die gleiche Erscheinung provozieren können, um ein anderes Mal, auf
andere psychische Organe treffend, ganz andere Vorstellungsreaktionen,
d.h. Erkenntnisse ihrer hervorzubringen.
In der Erkenntnis der äußeren Natur mögen wir uns von
der Schwierigkeit befreien, die der Charakter der bloßen Phänomenalität
der Dinge ihrer realen Kausalität bereitet, indem wir das ihnen zu
Grunde liegende und sie hervorrufende Ding- an -sich einfach vernachlässigen,
da es doch niemals in unseren Gesichtskreis treten kann; in der praktischen
Naturforschung behandeln wir mit Recht Erscheinungen als Dinge- an- sich
und sehen ihre Zusammenhänge so an, als ob eine reale und produktive
Kausalität zwischen ihnen herrschte.
In der Geschichtswissenschaft ist diese Einreihigkeit des Erkenntnismateriales
ausgeschlossen.
Das äußere historische Geschehen bildet keine Reihe, in der
die eine Erscheinung als hervorbringende Ursache der nächsten angesehen
werden könnte; sondern diese geht aus der Weiterentwicklung psychischer
Ursachen hervor, die auch schon die erstere erzeugten.
Diese psychischen Ursachen sind uns unmittelbar nicht gegeben, sondern
werden erst in dem auffassenden Intellekt nachgebildet, und zwar in einer
Weise, die man im Vergleich mit der Vorstellung sinnlicher Gegebenheiten
als eine freibildende bezeichnen kann.
Daraus ist offenbar, dass aus unserem Bilde eines historischen
Ereignisses oder eines Stückes der historischen Reihe nicht die Kräfte
gesondert herauserkannt werden können, die das nächstfolgende
Bild hervorrufen.
Ich erinnere als an ein entscheidendes Beispiel für das Hervorgehen
gleicher Erscheinungen aus ganz verschiedenen, aber nur zu erschließenden
Kräften, an die völlig gleichen Handlungen, die aus völlig
divergenten Gesinnungen hervorgehen, insbesondere daran, dass die
sozialen Einrichtungen auf gewissen Gebieten auch den Unsittlichen zwingen,
sich in derselben Form, wie der Sittliche, zu bewegen, während andere
Gebiete noch nicht so durchgebildet sind und ihm deshalb bei der nächsten
Gelegenheit einen völlig anderen Ausdruck seiner Gesinnung gestatten,
während der Sittliche sich auch in dieser wie in der ersten verhalten
wird.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die gleich erscheinenden historischen
Bilder aus sehr verschiedenartigen Ursachenkombinationen hervorgehen, ist
deshalb viel größer, als die der äußeren Natur, und
die beobachtete Reihenfolge derselben darf deshalb in sehr viel geringerem
Maße als bei dieser zur Aufstellung eines Gesetzes, d.h. zur Behauptung
einer unverbrüchlichen Wiederholung dieser Folge führen.
Die meisten dieser Bedenken gegen die Möglichkeit historischer
Gesetze gelten am klarsten gegenüber den sogenannten statistischen
Gesetzen.
Hier ist es leicht einzusehen, dass die Gesetze, nach denen sich
Massenerscheinungen regeln sollen, nicht die wirklichen Kräfte ihrer
Bewegungen ausdrücken, sondern nur die Zusammenfassung von Einzelbewegungen
sind, deren jede für sich von ganz anderen und allein realen Kräften
gelenkt wird.
Wenn sich unter 10 000 jährlichen Todesfällen eine bestimmte
Anzahl von Selbstmorden findet, so ist freilich unter der Voraussetzung, dass das betreffende soziale Ganze völlig ungeändert bleibt,
die Wiederholung dieses Zahlenverhältnisses in jedem weiteren Jahre
eine einfache Folge des Kausalgesetzes, gerade wie die Wiederholung der
historischen Folge ganz zweifellos ist, wenn die historische Verursachung
sich wirklich ohne jede Abänderung wiederholt.
Dazu bedarf es also weder historischer noch statistischer Gesetze, sondern
einfach der Feststellung von Tatsachen; da wir der Wiederholung derselben
unter den im absoluten Sinne identischen Umständen schon nach dem
Kausalgesetze sicher sind, so gibt es so viele Gesetze, wie es Folgen von
Geschehnissen gibt.
Jeder der in Betracht kommenden Selbstmorde ist nur das Resultat sozialer
und psychologischer Kräfte, bez. der Gesetze, welche diese beherrschen;
und dass es in Summa dann so und so viele gibt, ist das Resultat des
Wirkens dieser Gesetze an einem gegebenen Stoff und kann deshalb nicht
selbst ein Gesetz sein.
Wiederholt sich nun das Zahlenverhältnis eine Zeit hindurch kontinuierlich,
so zeigt dies nur, dass die Bedingungen für das Inkrafttreten
jener Gesetze immer weiter vorhanden sind; es drückt also eine Tatsache
aus, aber nicht die Ursache derselben.
Den einzelnen Selbstmörder geht es auch offenbar gar nichts an,
ob neben ihm noch so und so viele Andere gleichfalls Selbstmord begehen,
und unter denjenigen Naturgesetzen, aus deren realen Wirkungen seine Tat
hervorgeht, befindet sich augenscheinlich nicht dies, dass unter 10
000 Todesfällen so und so viele Selbstmorde vorkommen.
Die Addition der Fälle ist eine Synthesis, die der Beobachter vornimmt; dass
sie dies bestimmte Resultat ergibt, ist freilich objektiv begründet,
aber doch nur dadurch, dass jeder seiner Faktoren es ist, während
es einen fehlerhaften Zirkel und eine Art mystischer Teleologie bedeutet,
umgekehrt aus der notwendigen Bestimmtheit des Resultates die der Faktoren
ableiten zu wollen. 2)
Dieses Zurückdatieren des Resultates - und zwar sowohl des sachlich-
objektiven wie des phänomenologisch- subjektiven - an die Stelle der
Ursache, ist ein typischer Fehler des Denkens, ohne den die meisten »historischen
Gesetze« nicht zustande gekommen wären.
Wir hören z.B. das Gesetz der Differenzierung als den bewegenden
Faktor der Weltgeschichte aufstellen.
Die Gesamtheit der Betätigungen, die das Leben zu seiner Erhaltung
fordert, wird in primitiveren Epochen von jedem Einzelnen geleistet, und
der Fortschritt besteht darin, dass sie mehr und mehr verteilt werden,
und ein jeder statt einer Mannigfaltigkeit von Betätigungen nur eine
und eine immer spezialisiertere übt; die Verfeinerung des Gefühlslebens,
die Ausgleichung der Interessen, die Objektivierung des Wollens und Denkens
einerseits, die Lösung gewalttätiger Sozialisierung
und die Stiftung von Verbänden mit steigender Zweckmäßigkeit
andererseits - dies alles sind Wandlungen, die man durchaus unter den Begriff
der Differenzierung bringen kann.
Allein was diese einzelnen Veränderungen hervorbringt, sind einzelne
besondere Kräfte, durch Not oder zufällige Konstellation, durch
Eifersucht oder Genialität erweckt, deren Erfolge erst nachträglich
in dem Begriff der Differenzierung zusammengefasst werden.
Die Differenzierung ist dasjenige, was herauskommt, nachdem alle diese
Kräfte gewirkt haben, und wir können sie nicht als Kollektivkraft
über alle diese, nicht als die einheitliche Kraftquelle setzen, von
der nur durch die Zufälligkeit der Lagen gewisse Teilquanta in verschieden
erscheinende Aktualität gerufen würden.
Ein anderes Beispiel: im Rückblick auf die Gesamtentwicklung eines
Volkes erscheint ein Abschnitt derselben als seine Jugend, und wir leiten
manche Ereignisse, ein gewisses Tempo und Temperament des Handelns, eine
Lust am Erwerb gegenüber der am Besitz, eine Heranbildung von Spannkräften,
die erst in viel späterer Zeit zu offener Entwicklung kommen - diese
leiten wir eben aus seiner Jugend her.
Spätere Erscheinungen ordnen sich mehr dem Bilde des Mannesalters,
noch spätere dem des Greisenalters ein.
Daraufhin wird als »historisches Gesetz« ausgesprochen, dass jedes Volk die Stufen des Jugend-, Mannes- und Greisenalters
durchliefe, und die einzelnen Erscheinungen aus der Kraft und Gültigkeit
eben dieses Gesetzes erklärt.
Hierbei ist übersehen, dass die fraglichen Einzelerscheinungen
ja erst das Bild der verschiedenen Lebensalter zusammensetzen.
Wo ist die »Jugend«, die den einzelnen Vorkommnissen als
ihre Ursache voranginge und sich nach inneren Notwendigkeiten in das Mannesalter
wandelte, das dann seinerseits, andere Ereignisse aus sich hervortriebe?
Der Gesamteindruck, den die Erfolge unzähliger einzelner Triebkräfte
und Umstände hervorbringen, wird fälschlicher Weise als die Ursache
derselben zurückprojiziert.
Das Volk ist jung, weil es diese und diese Spannkräfte enthält,
andere entfaltet, und zwar nach besonderen, jede einzelne Aktion bestimmenden
Gesetzen; aber nicht umgekehrt geschieht dies alles mit ihm, weil es jung
ist.
Jene Umkehrung des wahren Verhaltens ist ein Erbfehler unseres Denkens,
ein Überbleibsel der früheren Teleologie, die, weil im menschlichen, bewussten
Zweckhandeln der spätere Zustand Tatsächlich zur
Ursache wird, insofern er in die Form des Zweckes übergegangen ist,
nun auch in dem unbewussten Geschehen das Resultat als die irgendwie
vorangehende Ursache seiner eigenen Realisierung, und der Realisierung
der Mittel zu ihm vorstellte.
Immer wieder muss man dabei auf das klassische Beispiel der Lebenskraft
zurückkommen.
Die Ernährung der Nerven und Muskeln, die Arbeit des Herzens, die
Verdauung, kurz alle die unzähligen einzelnen Vorgänge in unserem
Körper finden nicht statt, weil wir leben, sondern umgekehrt, wir
leben, weil alle diese Vorgänge, jeder durch besondere Kräfte
und Umstände und Wechselwirkungen der kleinsten Teile, hervorgerufen
werden.
Sie schließen sich erst zu dem Gesamteffekt zusammen, den wir
das Leben nennen, aber nicht geht dieser als Totalität voran und entwickelt
dann erst jene Einzelvorgänge aus sich, wie es von allem, was wir
kennen, allein der Zweck des Menschen tut.
Und wenn das Jugendalter in Mannesalter übergeht, so ist dies nicht
die Umsetzung eines einheitlichen Zustandes in einen anderen; sondern die
einzelnen Entwicklungsreihen, die die relativ gesonderten Teile des Volkslebens
bilden, spinnen sich weiter, gleichgültig dagegen, ob der Beobachter
eine Querlinie durch dieselben legt und alles jenseits derselben Liegende
als Jugend, alles diesseits Liegende als Mannesalter zusammenfasst.
Die Kräfte, welche den Übergang der Einzelzustände in
einander bewirken, werden dadurch in keiner Weise kenntlich gemacht.
Es ist die völligste Selbsttäuschung, wenn man die geschichtliche
Entwicklung aus der Notwendigkeit verstehen will, dass der Jugend
das Mannesalter usw. folge.
Die Jugend entwickelt nicht aus sich heraus das alles, sondern diese
gesamten Erscheinungen sind die Erfolge einzelner Einflüsse und Kräftekombinationen,
die aber so wenig aus der Jugend als solcher hervorgehen, wie die Not eines
Mannes, der unglücklich spekuliert hat, aus seinem vorherigen Reichtum
folgt.
Und wenn man sagen wollte: Jugend und Alter bedeuteten hier keine abstrakten,
über den Dingen schwebenden und sie leitenden Begriffe, sondern die
Komplexe der Einzelzustände, deren einer dem anderen empirisch folgt,
so Ist damit nicht nur die früher behandelte Schwierigkeit einer Kausalität
von Komplexen eingeführt, sondern auch die Erklärungsmöglichkeit
des einzelnen Vorkommnisses aus jenem historischen Gesetz annulliert.
Denn die Wandlungen eines Ganzen, das nur durch das Zusammenkommen verschiedener
Teile entsteht, können unmöglich die Wandlungen eben dieser Teile
erklären.
Sobald der Geschichtsphilosoph der nominalistischen Tendenz soweit entgegenkommt,
dass das Material seiner Gesetze in den Komplexen der Realitäten
bestehen soll, aber nicht in wirklichen Einheiten 3) , die, irgendwie außerhalb
der empirischen Einzelheiten liegend, diesen die Wege bestimmten: in diesem
Augenblick hat er darauf verzichtet, durch sein Gesetz die wirkende Ursache
irgend eines wirklichen Einzelgeschehens anzugeben.
Das historische Gesetz bleibt in jedem Fall der nachhinkende Ausdruck
für Tatsachen, deren jede für sich besonders durch das Zusammenstoßen
psychologischer, physiologischer, physikalischer Gesetzesanwendungen zu
erklären ist - mag sich dies nun in dem Zugeständnis, dass die fraglichen Begriffe nichts als die
zusammengefassten Tatsachen
wären, offenbaren, oder in der Behauptung, dass eine für
sich bestehende Notwendigkeit jener Begriffsfolgen die Einzelentwicklungen
begründe, sich metaphysisch umnebeln.
Alle diese Unzulänglichkeiten der historischen Gesetze ergeben
sich,
wenn man ihren Wert am Ideal des Erkennens misst; anders aber steht
derselbe, sobald man die Unvollkommenheit des Erkennens überhaupt
in Betracht zieht und fragt, ob dasjenige, was keine absolute Erkenntnis
ist, nicht eine relative stufe zu solcher sein kann.
Die Erkenntnis einerseits der Gesetze, die die Bewegungen der kleinsten
Teile regeln und allein die wirksamen Kräfte auch des historischen
Geschehens kenntlich machen würden; andererseits die Einsicht in die
spezielle Formung des Weltinhaltes, aus der unter Voraussetzung jener Gesetze
Jegliches Geschehen verständlich wäre - dies sind Ziele, deren
Erreichung im Unendlichen liegt.
Obgleich uns das Allgemeine erst aus der Vorstellung des Einzelnen entsteht,
ist der Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis doch der, dass zuerst
ganz allgemeine Normen, höchst umfassende Prinzipien aufgestellt werden
und erst ein langer Differenzierungsprozess dazu gehört, um die
einzelnen Teilvorgänge zu Problemen werden zu lassen.
Mit weiten Begriffen und allgemeinen Reflexionen beginnt das wissenschaftliche
Denken, es verengert sich in dem Maße, in dem es exakter wird; mit
wenigen höchsten Vorstellungen will es die Gesamtheit des Seins umfassen
und erst nach unzähligen Versuchen und Verirrungen in den Höhen
der Abstraktion beginnt es mit der Analyse der komplexen Begriffe und Erscheinungen
und verfolgt nun die gesonderten Fäden aus dem Gewebe, das es vorher
als Ganzes und ohne Kenntnis seiner Struktur meinte beurteilen zu können.
Irgend eine Form des Geschehens, die an der Oberfläche der Erscheinungen
beobachtet ist, wird zum allgemeinen Gesetz erhoben, bis man die Zufälligkeit
in dem Zusammenkommen seiner Faktoren erkennt und nun die Form der letzteren
für das wirklich allgemeine Gesetz hält, bis sich oft genug an
dieser der gleiche Prozess wiederholt.
Es ist im ganzen der Weg von der philosophischen zur exakten Erkenntnis
der Dinge, der diese Stationen berührt.
Die metaphysische Reflexion greift eine Erscheinung heraus, die sie
mehrfach wiederholt sieht, und macht sie zum Maß aller Dinge.
Und sie legt dieses Maß nun unmittelbar an die komplexen Verhältnisse
des Empirischen an; ihr Material sind die kompliziertesten Erscheinungen;
sie begnügt sich größtenteils mit dem allgemeinen Eindruck,
den das Zusammenwirken der realen Faktoren auf uns hervorbringt und den
das oberflächliche Bewusstsein auf ein einheitliches Grundgeschehen
projiziert; sie verschmäht es in der Regel, diese Erscheinungen selbst
erst in ihre Bestandteile zu zerlegen.
Die Beweise und Anwendungen, die die metaphysischen Grundsätze
von Heraklit und den Eleaten bis zu Hegel und Hartmann gefunden haben,
beziehen sich auf komplexe, an der Oberfläche liegende Erscheinungen,
aus denen die Prinzipien gezogen werden und die diese unmittelbar erklären
sollen.
So ist Philosophie eine vorläufige Wissenschaft, deren allgemeinere
Begriffe und Normen uns solange zur Orientierung über die Erscheinungen
dienen, bis die Analyse derselben uns zu der Erkenntnis ihrer realen Elemente
und zur exakten Einsicht in die unter diesen wirksamen Kräfte verhilft.
Gerade weil sie das Allgemeinste gibt, entfernt sie sich am meisten
von jener Sicherheit, die in der Beobachtung des Einzelnen liegt.
Wenn man dem philosophischen Denken eine besondere Vertiefung gegenüber
dem auf das Singuläre gerichteten zugesprochen hat, so mag dies im
Sinne einer gewissen subjektiven Qualität des Denkens berechtigt sein;
nach der Seite des Objekts hin, als dränge das philosophische Denken
tiefer in dasselbe ein als das empirische, gilt es entschieden nicht.
Kant, dem man gewiss keine prinzipielle Unterwertung auch derjenigen
metaphysischen Lehren, die er bekämpft, nachsagen kann, lehnt nicht
nur die Forderung der Philosophie, ins transzendente Innere der Natur zu
dringen, energisch ab, sondern fährt dann fort: »ins Innere
der Natur - in dessen allein zulässigem Sinne - dringt Beobachtung
und Zergliederung der Erscheinungen«.
Tiefer hinein kann auch die Philosophie nicht, und es ist nur eine Spiegelung
- zu der physikalische Analogien verlockend nahe liegen -, dass gerade
die höchsten Abstraktionen, gewonnen aus den kompliziertesten Erscheinungen,
aus den Eindrücken von der Oberfläche der Dinge, die erst die
empirische Wissenschaft zu zergliedern lehrte - dass gerade diese
als der tiefste Urquell der Wirklichkeit, als das am weitesten hinter ihrer
Oberfläche Zurückliegende erschienen sind.
Aus diesem Wesen der Philosophie erklärt sich der an sie gestellte
Anspruch, auch ohne besondere Fachstudien zugänglich zu sein und die
Tatsächlich ohne solche in ihr stattfindende Produktivität.
Aus ihm ergibt sich die tiefere Berechtigung davon, die philosophische
Spekulation aus dem Kunsttriebe herzuleiten und ihren Resultaten Wert und
Wesen ästhetischer Leistungen zuzusprechen - denn auch das Kunstwerk fasst nur den Eindruck, nur die Oberfläche der Erscheinungen
und gewinnt durch eine gewisse Synthese und Verallgemeinerung ihrer unmittelbaren
und unzergliederten Phänomenalität die Geltung einer geheimnisvollen
Vertiefung in das Wesen der Dinge.
Daher nun auch die Idee, die Schiller in den Worten zusammenfasst:
»Nur durch das Morgentor des Schönen drangst du in der Erkenntnis
Land« - die ästhetische Vorstellung der Dinge, der sich die
metaphysische nähert, ist die Antizipation des realistischen Erkennens,
sie gibt den Umriss der Erscheinung, von dem aus allmählich verfeinerte
Beobachtung und Zergliederung zur Erkenntnis der inneren Kräfte der
Dinge leitet.
Weit entfernt, dass die Metaphysik ein absolut nicht-empirisches
Wissen enthielte, ist sie vielmehr ganz und gar das Resultat sehr allgemeiner
Beobachtung und Erfahrung.
Es gehört zu den wunderlichsten Paradoxen der Geistesgeschichte,
zu den interessantesten Belegen für die Blindheit auch der größten
Scharfsichtigkeit da, wo es sich um das Erkennen seiner selbst handelt, dass gerade diejenige Wissenschaft, die das Denken, die Methodik,
die Scheidung zwischen Erfahrung und Apriori sich zum besonderen Problem
gemacht hat - dass diese Wissenschaft sich in einer so durchgehenden
Unklarheit über den Ursprung ihres eigenen Inhaltes befindet, den
sie für das Ergebnis spekulativer und rationaler Deduktionen hält,
während er Tatsächlich nur aus sehr allgemeinen empirischen Eindrücken
besteht. 4)
Metaphysische Systeme enthalten durchgehendes ein unklares Durcheinander
logisch- rationaler Deduktionen und kruder, unverarbeiteter Empirie.
Die unglückliche Scheidung zwischen empirischem und absolutem Erkennen,
die formale Verkettung der Sätze über einer Grundvoraussetzung,
mit deren Falschheit alles stürzen musste, schien für sie
nur die absolute Wahrheit oder - den absoluten Irrtum übrig zu lassen,
und so hat sie sich durch diese starre Selbstverblendung über ihren
empirischen Ursprung den Weg allmählicher Vervollkommnung unermesslich erschwert.
Man kann die Philosophie als die unmethodischste Wissenschaft bezeichnen,
obgleich oder vielleicht, weil sie die systematischste ist; in den Spiegel
des gnvji sauton, den sie den anderen Wissenschaften
vorhält, hat sie selbst selten geblickt.
Gerade so vorschnell nun, wie die Philosophie verfährt, wenn sie
Eindrücke und Allgemeinerfahrungen über die komplexen Erscheinungsweisen
der Dinge als der Weisheit letzten Schluss betrachtet, so vorschnell
ist jener Empirismus, der um der falschen Bedeutung willen, die das philosophische
Denken seinen Resultaten zuzusprechen liebt, ihnen jede Bedeutung überhaupt
abspricht.
Gibt man selbst zu, dass die exakten Wissenschaften die Philosophie
abzulösen hätten, so hat diese doch ein Heimatsrecht an den Punkten,
zu denen jene noch nicht gedrungen sind.
Die philosophische Reflexion hat die Rolle des Täufers: sie gibt
Ahnungen und Umrisse, die ein Anderer erfüllt.
Die Zahl der kosmischen Erscheinungen ist eine so bunte, verwirrende,
in tausendfachen Wirbeln und Kreuzungen sich bewegende, dass die erste
Orientierung über sie nicht wohl anders erfolgen kann, als indem man
irgend eine vielfach - in unmittelbarer oder interpretierter Wirklichkeit
- beobachtete Tatsache, wie den Fluss der Dinge oder ihren einheitlichen
Zusammenhang oder eine Beziehung der Körperwelt zum Geistigen oder
die Abhängigkeit von einer unerklärbaren Macht, in den Mittelpunkt
des Weltbildes stellt und nun die Gesamtheit der Erscheinungen darauf zurückzuführen
sucht.
Mag dies nur mit vielem Biegen und Brechen möglich sein, so wird
man immerhin so einen allerersten Leitfaden gewinnen, um sich nicht im
Gewirre der Erscheinungen zu verlieren.
Die Metaphysik hat den formalen Wert, überhaupt ein vollendetes
Weltbild nach durchgehenden Prinzipien anzustreben - ein Wert, der von
den materiellen Irrtümern ihres Inhalts ganz unabhängig ist und
nicht nur bei allem Schwanken und aller Gegensätzlichkeit eben dieses
Inhaltes, sondern selbst dann besteht, wenn ganz andere als philosophische
Denkart überhaupt unserem Erkenntnistriebe Erfüllung gibt.
In ihr zuerst ist die Voraussetzung lebendig geworden, dass die
Welt überhaupt ein zusammenhängendes Ganzes sei und als solches
begriffen werden könne, dass der ganze Umfang ihrer Erscheinungen,
deren weit überwiegenden Teil wir nicht kennen, dennoch mit unseren
Begriffen kommensurabel und ohne Rest durch sie zu verstehen sei - eine
der bedeutsamsten, für die höheren Funktionen des Intellekts
unentbehrlichsten Voraussetzungen, die indes nur an konkreten Lehren in
die Erscheinung treten konnte.
Wie irrtümlich diese auch sein mochten, sie waren doch die ersten
Träger jenes Gedankens, der wahrscheinlich nie entstanden wäre,
wenn er auf einen sachlich fehlerlosen Inhalt hätte warten sollen.
So ist die Philosophie eine Antizipation der realistischen Erkenntnis,
ein intellektuelles Ergreifen der Welt in Pausch und Bogen, das eben, wie
unser Geist nun einmal eingerichtet ist, dem Erkennen ihrer einzelnen und
wahrhaft wirksamen Kräfte vorangehen muss.
Von den unzergliederten Phänomenen, die nach oberflächlichen
und einseitig betonten Ähnlichkeiten auf je eine von ihnen als auf
ihre Substanz und ihr Gesetz zurückgeführt werden, leitet eine
allmähliche Differenzierung zu der Erkenntnis der Elemente und der
primären zwischen ihnen spielenden Kräfte, in denen allein die
Gesetzmäßigkeit der Welt ruht.
Dieses Entwicklungsschicksal unserer Erkenntnis vorn Ganzen der Welt
Wiederholt sich gegenüber den einzelnen Gebieten derselben.
Die kosmische Metaphysik setzt sich in eine Metaphysik der Teile des
Kosmos fort, und mit dem gleichen Recht, solange die Verhältnisse
eines solchen Teiles unserem Erkenntnisvermögen dieselben positiven
und negativen Bedingungen darbieten, wie das Ganze der Welt es tut.
Ich glaube, dass die sogenannten historischen Gesetze in derselben
Weise eine Antizipation der exakten Erkenntnis geschichtlicher Vorgänge
sind, wie die metaphysischen Vorstellungen eine solche für das Weltgeschehen
überhaupt.
In demselben Maß trügerisch, wenn man mit ihnen den Gipfelpunkt
des historischen Erkennens erreicht glaubt, sind sie als Ausgangs oder
Durchgangspunkte für dieses durchaus nützlich.
Die Gesetze, welche die realen Beziehungen der Atome aussprechen, aus
denen das geschichtliche Leben sich zusammensetzt, sind uns vorläufig
unbekannt, und darum halten wir uns, weil unser Geist nun einmal feste
Gesichtspunkte im Fluss der Erscheinungen sucht, an gewisse Regelmäßigkeiten
ihrer Oberfläche; ohne unter diese hinabzusteigen, fassen wir Erscheinungen
zu abstrakten Regeln zusammen, die freilich im tieferen Sinne nichts erklären,
aber doch eine erste Orientierung über die Gesamtheit des geschichtlichen
Lebens an die Hand geben, und durch allmähliche Differenzierung und
immer weitergehende Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen eine
Annäherung an die Bewegungsgesetze der Elemente ermöglichen.
Philosophische Reflexionen schafften zuerst vorläufige Vorstellungen
über Bewegung und Zusammenhang der kosmischen Stoffe, über die
Stufenreihe der organischen Formen und ihre Entwicklung, über die
mathematische Bestimmtheit alles Seins und vieles andere, das die exakte
Wissenschaft dann aus der Form der Ahnung und der Abstraktion, aus den
Wahrnehmungen sozusagen unbewaffneter Augen in die Erkenntnis realer, aber
unter der Oberfläche der Erscheinungen gelegener Kräfte überführte;
und entsprechend bringen uns die historischen Gesetze: über die Differenzierung
und Integrierung der Gruppen, über die materiellen oder geistigen
Triebkräfte ihrer Bewegungen, über den Turnus der Regierungsformen,
über das Anschwellen und Abnehmen ihrer Lebensäußerungen
- diese bringen uns vorläufige Zusammenfassungen der typischen Erscheinungen
der Geschichte, erste Orientierungen über die Masse der Einzeltatsachen;
ebenso wie es die Metaphysik Tat, ist von ihnen anzunehmen, dass die
spätere Erkenntnis der wirkenden Gesetze sie nicht völlig dementieren,
sondern ihnen neben dem unverlierbaren formalen Werte, den sie als Orientierung
und Überblick besitzen, auch noch den einer teilweisen Antizipation
der materiellen Wahrheit lassen wird.
Hier also liegt die Erklärung jener Wunderlichkeit, nach der der
Beginn dieses Kapitels fragte: wieso die Aufstellung der Gesetze der Geschichte
Sache der Philosophen wäre - sie liegt darin, dass sich die augenblicklich
möglichen historischen Gesetze zu den real wirksamen, mit den Naturgesetzen
vergleichbaren, so verhalten, wie sich das philosophische Erkennen zu dem
exakt wissenschaftlichen verhält.
Die philosophische Erkenntnisart ist ein Präliminarstadium, durch
das die Entwicklung jedes Erkenntnisgebietes hindurch muss, eine Zwischenstufe
zwischen der beobachteten komplexen Einzeltatsache und ihrer Konstruktion
aus den Gesetzen, die ihre Elemente bewegen; in diesem Stadium, auf dieser
Stufe befindet sich im Augenblick die Entwicklung, deren ideales Ziel die
Einsicht in die elementaren Beziehungen der einfachsten Teile ist, aus
denen sich das historische Geschehen zusammensetzt.
Von diesem Gesichtspunkt aus werden die Widersprüche der einzelnen
sogenannten historischen Gesetze untereinander weniger unerträglich,
ebenso wie die metaphysischen Prinzipien keineswegs darum allen Wert verlieren,
weil das eine das direkte Gegenteil des anderen behauptet.
Die Weite des Erfahrungskreises, aus dem philosophische Reflexion schöpft,
gewährt den mannigfaltigsten Grundsätzen Anregung und Bestätigung.
Der Wechsel in allem scheinbar Beharrenden wie die Dauer in allem scheinbar
Wechselnden, die zweckmäßige Anordnung wie die sinnlose Zufälligkeit
des Weltgeschehens, der Einfluss der Subjektivität wie die unbeugsame
Bestimmtheit der Natur - jede dieser Verschiedenheiten kann bei hinreichender
Weite des Beobachtungsfeldes mit gleichmäßiger Sicherheit gewonnen
und, auf Grund des Einheitstriebes unserer Natur die übrigen ausschließend,
zum Mittelpunkt der Weltanschauung werden.
Sobald wir mit unseren an dem Verlauf des Tages, oft an der eingeschränkten
Erfahrung längst vergangener Epochen gebildeten Kategorien an die
Gesamtheit der Erscheinungen herantreten, zeigt es sich sofort, dass diese nicht mit einer einzigen von jenen zu erschöpfen ist; die stückweise
und einseitige Bildung unserer Begriffe bewirkt, dass jeder bei seiner
Anwendung auf das Ganze der Welt durch einen oder viele andere ergänzt
werden muss.
So hat jeder von ihnen eine relative Berechtigung, die das metaphysische
Denken zu einer absoluten macht.
Aber dies ist nicht in demselben Maße nutzlos, in dem es irrig
ist.
Denn wie weit sich die Geltung eines Prinzips tatsächlich erstreckt,
ergibt sich in der Regel erst nach dem Versuch, es auf alle überhaupt
vorkommenden Fälle anzuwenden; die Täuschung, die es als ein
konstitutives Gesetz ansieht, hat doch den tatsächlichen Erfolg, dass es als heuristische Maxime gewissermaßen weise angewandt wird, und
so der volle Umkreis seiner Anwendbarkeit festgestellt wird.
Und von diesem Standpunkt einer bloßen Regulative aus ergibt sich
die Berechtigung einander entgegengesetzter Normen.
Wenn man also z.B. durch eine Reihe von Beobachtungen ein gewisses Gesetz
des moralischen Fortschritts in der Geschichte gefunden zu haben glaubt,
so ist es durchaus gerechtfertigt, wenn man auf dasselbe hin nun jede Periode
untersucht, und versucht, ob nicht Analyse und Synthese der Erscheinungen
es uns selbst da entdecken lassen, wo ihr erster Anblick Entgegengesetztes
zu beweisen schien.
Eine ebenso gerechtfertigte Bemühung wird an den Satz gewandt, dass ein moralischer Fortschritt überhaupt nicht stattfände
und dass die wissenschaftliche Untersuchung seines scheinbaren Vorkommens
die durchgängige Unveränderlichkeit des ethischen Quantums ergebe.
Indem beide entgegengesetzte Prinzipien behandelt werden, als wäre
jedes von ihnen das absolut richtige, dringt jedes an die Grenze seiner
Anwendbarkeit, die ihm das andere setzt, und ergibt sich das relative Maß
seiner Berechtigung.
Gesetze freilich sind dies nicht, denn ein Gesetz hat keine Grenze seiner
Gültigkeit.
Allein es sind Vorbereitungen auf Gesetze, indem durch die Erkenntnis
der gegenseitigen Begrenzung der entgegengesetzten Maximen die höhere
gewonnen wird, die der einen oder der anderen die Möglichkeit gibt,
in die Erscheinung zu treten.
So könnte man z.B. das Prinzip der Kraftersparnis als ein höheres
aussprechen, dass die einzelnen Situationen bestimmt, bald ein Bild
stagnierender bald fortschreitender Sittlichkeit zu zeigen.
Und indem nun dieser höheren Norm wieder eine anders gerichtete
entgegenbehauptet wird und das weitere Gesetz gesucht wird, von dem die
Verwirklichungen beider nur durch die wechselnden Umstände bestimmte
Erscheinungen sind - nähern wir uns immer mehr jenen höchsten
Gesetzen, die die Bewegungen der einfachsten Teile bestimmen und durch
deren Zusammensetzung das so allein erklärte Spiel der Geschichte
veranlassen.
Man kann sich die Wirklichkeit so vorstellen - und tut es auch vielfach
-, als ob sich an jedem Punkte ihrer zwei entgegengesetzte absolute Prinzipien
begegneten, durch deren gegenseitige Begrenzung dieser Punkt inhaltlich
bestimmt würde; das »Gesetz« der Individualisierung und
das der Sozialisierung, die Wirksamkeit des blinden Willens und die gleiche
der logischen Idee, das Beharrungsgesetz und das des Flusses der Dinge
- jedes dieser Gesetze und Tendenzen scheint an sich eine absolute Kraft
zur Beherrschung der Wirklichkeit mitzubringen, die aber durch die entgegengesetze
zu einem Kompromiss eingeschränkt wird.
Allein ganz abgesehen von der Frage, ob hiermit nicht vielleicht relative
Elemente der Wirklichkeit willkürlich zu absoluten Kräften ausgesponnen
sind, um nachher die Wirklichkeit wieder von ihnen abzuleiten - davon selbst
abgesehen, würde für die Erkenntnis der Wirklichkeit alles auf
die Bestimmung des Maßes ankommen, in dem das eine und das andere
Gesetz im einzelnen Falle wirkt.
Denn die Behauptung, dass beide überhaupt zusammenwirken, lässt der Gestaltung des einzelnen Falles noch den weitesten
Spielraum; der Inhalt der Gesetze selbst, für sich betrachtet, gibt
durchaus keinen Anhalt für die Konstruktion des gegenseitigen Grenzpunktes.
Es bedarf also einer höheren Instanz, die diesen bestimmt -, worin
aber sollte diese schließlich liegen, als in den Kräften und
Beziehungen der einzelnen Elemente, an denen die Tendenzen jener Gegensatzpaare
erst ihre relativen Quanta gewinnen, und über die hinaus sie bloße
Hypostasierungen sind? - wie Gesetze im juristischen Sinne doch nur soweit
reale Kräfte sind, als die psychologischen Verhältnisse der Individuen
sie auf sich wirken lassen, sie wiedergeben und verwirklichen.
Die historischen Gesetze sind eben Spezialgesetze, sie lassen die Schicksale
eines ganzen Gebietes als einer Einheit auseinander hervorgehen, indem
sie das Gebiet einerseits gegen seine singulären Elemente, andererseits
gegen den weitesten kosmischen Umkreis abscheiden.
Überall da, wo man einem Komplex eine besondere Kraft beilegt,
die ihm als diesem Komplex und unterschieden von der Kräftesumme seiner
Elemente zukäme, und wo man - was nur ein anderer Ausdruck hierfür
ist - seine Bewegungen einer besonderen und einheitlichen Kraft unterstellt,
da kann man sicher sein, sich in einem nur vorläufigen Stadium der
Erkenntnis zu befinden.
Denn auch hier macht sich jene allgemeinste Norm psychischer und sozialer
Entwicklung geltend: sie geht überall aus von einem umgrenzten, gegen
die Umgebung streng gesonderten Gebilde, das seine Bestandteile zu enger,
in sich ungeschiedener Einheit, zusammenschließt; und sie führt
von da aus einerseits zur Sprengung jenes beschränkten Komplexes und
seiner assimilierenden Auflösung in den weiteren und weitesten Kreis,
andererseits zur wachsenden Differenzierung und Selbständigkeit seiner
einzelnen Bestandteile.
Die Tendenzen auf die weiteste Allgemeinheit und auf die äußerste
Einzelheit gehören zusammen und bilden gemeinsam den Fortschritt über
die Komplexe hinaus, deren jeder eine Anzahl einzelner Bestandteile ohne
Berücksichtigung ihrer Individualität in sich schließt
und dafür als Ganzes eine individuelle Besonderheit für sich
beansprucht. 5)
Die gleiche Entwicklungsform hält der hier fragliche Erkenntnisprozess inne.
Dies kleine Segment des Weltkreises, die menschliche Geschichte, schließt
eine große Anzahl einzelner Elemente in sich, die es unter seinen
einheitlichen Begriff bringt, und beansprucht für sich besondere Gesetze.
Der Fortschritt des Erkennens liegt nun darin, dass einerseits
die Besonderheit und Geschlossenheit dieses Komplexes aufgelöst wird, dass er als anderen koordiniertes Glied des Kosmos und nur nach den
allgemeinen Gesetzen dieses, nicht aber nach einem besonderen, nur für
ihn gültigen verstanden wird.
Andererseits aber wird jedes Element seiner in seiner Eigenheit verfolgt,
die in jedem für sich ruhende und entwickelte Kraft beschrieben und
so das Ganze als die Summe der für sich verstandenen Teile verstanden.
Offenbar ist es eine und dieselbe Bewegung, die sich nach diesen beiden
Seiten erstreckt.
Denn die Gesetze der einfachsten Teile, die also die primären und
realen Kräfte aussprechen, sind eben die im gesamten Kosmos herrschenden.
Nur diese haben die Sicherheit wirklich allgemeiner Gültigkeit,
die den Bewegungsformen der Komplexe nach unseren obigen Ausmachungen versagt
bleibt.
Beide Tendenzen, auf das Allgemeinste wie auf das Einfachste, gehen
gleichmäßig über die vorläufige Erkenntnisstufe hinaus,
die den Komplex, in dem eine Anzahl Elemente unter gemeinsamem Gesichtspunkt zusammengefasst
sind, als ein Ganzes mit besonderen Gesetzen ansehen
will.
Es ist ein eigentümliches Selbstbekenntnis, wenn manche Geschichtsphilosophen
ganz naiv aussprechen: jede Periode habe ihre eigenen Gesetze.
Offenbar ist damit nicht nur gemeint, dass jede Periode andere
Erscheinungen darbietet und deshalb die historischen Gesetze in jeder andere
Möglichkeiten ihrer Anwendung finden - wie man sagen kann: der Verdauungsprozess
hat andere Gesetze wie die Telegraphie; dies verstünde sich ganz von
selbst und bedeutet nur, dass die eine Periode irgend wie anders ist
als eine andere; denn diese wird doch nur dadurch anders, dass sie
von anderen Gesetzeserfolgen ausgewirkt ist.
Vielmehr ist die Gedankennüance die, dass selbst die gleichen
Bedingungen in verschiedenen Epochen von verschiedenen Gesetzen aufgenommen
und weitergeführt werden.
Die Vorstellung, dass nicht nur die Dinge, die unter den Gesetzen
stehen, sondern diese selbst einem Wandel unterworfen sind, ist nicht eben
so selten wie sie unklar ist, denn was diesen Wechsel der Gesetze veranlassen
sollte, weshalb irgend eine Zeit andere darbieten sollte, als irgend eine
spätere, ist nicht einzusehen; nur die Tatsache, dass es eben
eine spätere ist, könnte als Grund davon genannt werden, aber
niemand wüsste zu sagen, woher der Zeitform, der man durch Herausnahme
der Gesetze und der Dinge jeden Inhalt genommen hat und die ein völlig
leeres Schema ist, diese Macht käme.
Hat indes »Gesetz« wirklich keine andere und strengere Bedeutung,
als sie den »historischen Gesetzen« eigen ist, so ist jene
Vorstellung nicht ohne Rückhalt an dem Wesen dieser.
Denn wenn in dem Querschnitt durch das geschichtliche Sein jedes gegebene
historische Gesetz irgendwo zu wirken aufhört, um einem anderen Platz
zu machen, wenn etwa statt eines vielfach erwiesenen Gesetzes der Stetigkeit
von einem Punkte an ein Gesetz des Gegensatzes die Erscheinungen beherrscht,
ohne dass in diesen selbst eine spezifische Differenz zu entdecken
wäre, die das Weiterwirken des ersteren Gesetzes unmöglich machte
-, so kann man diesen Wechsel des Regimes mit gleichem Rechte von dem Nebeneinander
der Elemente der Geschichte auf das Nacheinander ihrer Perioden übertragen.
Die gegenseitige Begrenzung entgegengesetzter Maximen könnte ebenso
eine zeitliche wie eine sachliche sein.
An beiden Fällen wird gleichmäßig klar, dass sie
keine Gesetze sind, deren Gültigkeit sich an jedem Punkt von Zeit
und Raum, der ihre Bedingungen verwirklicht, äußern müsste,
sondern komplexe Erscheinungen, die je nach dem Zusammentreffen ihrer Komponenten
bald so, bald anders auftreten und statt etwas zu erklären, selbst
der Erklärung bedürfen.
Der relative Wert der historischen Gesetze bleibt übrigens auch
bei der Annahme ihrer zeitlichen Alternierung bestehen; auch hier zeigen
sie sich als orientierende abstrakte Zusammenfassungen der Erscheinungen,
jede berechtigt, solange als regulatives Prinzip verfolgt zu werden, wie
die Tatsachen es zulassen, und so wirklich die Grenze der Perioden gegeneinander
charakteristisch nachzeichnend; gerade das Anerkenntnis, dass die
historischen Gesetze nicht absolut, sondern in zeitlicher Beschränkung
herrschen, zeigt, dass sie dann - und auch nur dann - ganz falsch
sind, wenn sie dogmatisch ganz richtig zu sein behaupten.
Fussnoten
1) Ich
knüpfe hieran noch die folgende Überlegung.
Die durchgängige Determiniertheit des Weltgeschehens - dass,
wie man es ausdrückt, alles so kommt, wie es kommen muss und
eine absolute Intelligenz jede überhaupt eintretende Bewegung für
alle Zeiten, berechnen könnte - hat drei Voraussetzungen, welche nicht
selbst wieder unter diese Determiniertheit fallen.
Zunächst die Tatsache der Naturgesetze selbst.
Kein Gesetz bestimmt, dass es Gesetzt, und zwar - wenn es sich
um nicht zusammengesetzte handelt - diese bestimmten Gesetze geben müsse,
wir können die Notwendigkeit der letzteren nicht beweisen, ohne einen
fehlerhaften Zirkel zu begehen; denn erweisen ließe sie sich nur
aus einem sie bestimmenden Gesetz, wozu also dasjenige, um dessen Existenz
eben es sich handelt, schon vorausgesetzt würde.
Erst wenn Naturgesetze sind, können wir auf Grund ihrer etwas
beweisen, deshalb sie selber aber nicht - gerade wie die bürgerlichen
Gesetze nicht selbst etwas Legales sind, sondern erst die Handlungen, die
unter Voraussetzung ihrer erfolgen.
Ferner muss die Existenz einer Substanz ganz ebenso als Tatsache
hingenommen werden, ohne dass wir ihre Notwendigkeit beweisen könnten.
Wenn es einmal eine Welt gibt, so muss es logischen und realen
Gesetzen zufolge so und so in ihr zugehen: dass es sie aber überhaupt
gibt, unterliegt nicht dem gleichen Muss und man kann in Gedanken
das gesamte Sein wegdenken, ohne gegen irgend eine gesetzliche Notwendigkeit
zu verstoßen.
Allein diese beiden Voraussetzungen: eines Seins überhaupt und
gültiger Gesetze für die Bewegungen desselben, reichen noch nicht
aus, um es zu dem Spiel der Welt kommen zu lassen.
jedes Naturgesetz kann nur aussagen, dass eine gegebene Form
der Materie in eine andere übergeht; es setzt also immer schon eine
bestimmte Formung voraus und würde über einer völlig undifferenzierten
Substanz, über dem bloßen Sein, ohne Angriffspunkt in der Luft
schweben.
Damit es also zu einer Wirkung der Naturgesetze überhaupt komme, muss
eine gewisse Differenzierung innerhalb des Stoffes, eine erste
Form desselben schon gegeben sein, welche demnach nicht selbst wieder ein
Resultat des Wirkens jener sein kann.
Der erste Zustand der Materie, auf den wir, an der Hand der Naturgesetze
rückwärts schreitend, gelangen, ist ebenso wenig naturgesetzlich
bestimmt, wie die Existenz der Materie und der Naturgesetze selbst.
Dieser ursprüngliche Zustand gibt die Veranlassung, dass an einem gegebenen Punkte das eine Naturgesetz und kein anderes Anwendung
findet; wie er selbst absolut zufällig ist, so bewirkt er in der Weiterentwicklung
der Welt dasjenige, was wir das relativ Zufällige in ihr nennen -
das Zusammenstoßen der Wirkungen mehrerer Gesetze, derart, dass die gesetzmäßige Ausrechnung der einen Geschehensweise für
sich nicht auf das Eintreten der zweiten führt, mit der sie vielmehr
erst eine aus keiner von beiden allein folgende Resultante bildet.
Dass von vornherein eine gewisse Mannigfaltigkeit der Form da
ist, die, von der Wirkung der Naturgesetze aufgenommen und weitergesponnen,
die Komplikationen dieser und die Modifikationen ihrer Erscheinungen ermöglicht,
das ist eben schlechthin zufällig.
Die Zufälligkeit ist aus unserem Weltbild nicht zu entfernen,
weil der Anfang desselben zufällig war und alles Spätere nur
eine Entwicklung dieses ersten Zustandes ist - eine Entwicklung, welche
erst unter Voraussetzung eben dieses nicht mehr zufällig ist.
Hierauf beruht der erkenntnistheoretische Unterschied der einfachen
und der zusammengesetzten Erscheinungen.
Von einer aktuellen einfachen Erscheinung leitet unser Erklärungsbedürfnis
zu der ihr direkt vorangehenden zurück, aus der ein Naturgesetz, eine
einfache und möglicherweise bekannte Naturkraft sie hervorbringt;
die Erkenntnis findet sozusagen die erste Station, an der sie Halt machen
kann, unmittelbar hinter dem Problem.
Einer komplexen Erscheinung gegenüber kann sie in gleicher Weise
nur soweit verfahren, als sie dieselbe in einfache auflöst und nun
jede derselben für sich wie angegeben behandelt.
Die Frage aber, wie sie zusammengekommen sind, woher die Form der
Gemeinsamkeit stammt, zu der diese Fäden sich verweht haben und die
aus keinem von ihnen für sich allein erklärbar ist - diese Frage
weist unmittelbar auf jenen ursprünglichen Zustand der Weltkeime hin,
in dem ihr Zusammen zuerst als Tatsache gegeben war, auf die erste Form,
von der aus der Zustand jedes Materienteiles von dem je für ihn anwendbaren
Naturgesetz aufgenommen und weiterentwickelt worden ist.
Das Zusammen des Einfachen schließt ein Geheimnis ein, das
nicht wie die Bewegung eines einfachen Teiles aus den Spannkräften
des vorherigen Momentes erklärbar ist; denn zu seiner Erklärung
werden wir immer nur weiter auf Einfaches gewiesen, das zwar sonst alles
dazu Erforderliche, aber gerade das nicht enthält, worauf es uns hier
ankommt.
2) Man
könnte dieser Beobachtung gegenüber erwidern, dass es dem einzelnen
von n Selbstmördern zwar gleichgültig und zufällig sei, ob sich
neben ihm noch n- I andere befinden, und dass das Gesetz: unter 10
000 Todesfällen kommen n Selbstmorde vor - insofern keine ihn
bestimmende Kraft ausdrücke; dass aber für die Gesamtheit, deren
Glieder die n Selbstmörder sind, diese Zahl keineswegs zufällig sei,
sondern als diese ganze Zahl aus den Verhältnissen der sozialen
Gruppe gerade so stringent hervorgehe, wie der Selbstmord eines
Individuums aus den individuellen, es affizierenden Umständen.
Sobald wir die in Frage kommende Gesellschaft als ein irgendwie einheitliches
Gebilde ansehen, so ist das Vorkommen von n Selbstmördern eine einheitliche,
in sich kohärente Folgeerscheinung, die freilich als Gesetz ausgesprochen
werden kann, mit der Wirkung, dass bei der Konstatierung von n - r
Selbstmördern innerhalb von 10 000 - p Todesfällen das weitere
Vorkommen von r Selbstmördern bis zur Erreichung des 10 000.
Todesfalls mit relativer Sicherheit vorausgesetzt werden kann.
Die Zufälligkeit, die das statistische »Gesetz«
für den Einzelnen als solchen zu besitzen scheint, verschwände,
sobald man ihn als Glied einer einheitlichen Gesamtheit betrachten dürfte.
Es liegt in dieser Wendung, die, wie ich zeigen werde, mit der als
Gesetz der großen Zahl bezeichneten Überlegung nur eine ganz äußerliche
Ähnlichkeit besitzt, ein Moment, das mir wohl der
Beachtung wert scheint.
Man könnte nämlich annehmen, dass durch das soziale
Zusammenleben von 10 000 Menschen Zustände geschaffen werden, die
unter weiterer Voraussetzung der erfahrungsgemäßen charakterologischen
Differenzierung der Individuen Tatsächlich n von ihnen zum Selbstmord
treiben.
Es sind dazu also die folgenden beiden, hier nur ganz roh skizzierten
Voraussetzungen erfordert:
1. Das Zusammensein der Menschen erzeugt infolge der Verschiedenheit
ursprünglicher Begünstigung an Kraft, Klugheit, Zufälligkeit
der Lage usw. Verhältnisse der Konkurrenz, der Unterdrückung,
der Versagung des Gewünschten; und zwar stellen sich diese Folgen
in verschiedenem Maße ein, je nach der Ausdehnung des sie erzeugenden
sozialen Ganzen
2. Unter so und so vielen Menschen befinden sich so und so viele
Choleriker, Sanguiniker, Phlegmatiker usw. Das Zusammentreffen dieser beiden
empirischen Tatsachen bewirkt als Resultante, dass in einem sozialen
Ganzen von bestimmter Größe eine bestimmte Anzahl von Individuen
zum Selbstmord getrieben wird.
Das Gesetz der großen Zahl sagt nur aus: die Verschiedenheit
der Einflüsse, die jedes Individuum für sich in den hier in Betracht
kommenden Lebensbedingungen bestimmen, gleichen sich für die Beobachtung
aus, sobald man eine sehr große Zahl von Individuen, hier also 10
000, in Rechnung zieht; es ist eine bloße Wahrscheinlichkeit, dass wenn sich auch in weiteren 10 000 vielleicht eine Anzahl sehr extremer
Erscheinungen nach einer Seite hin fänden, unter den übrigen
in Betracht kommenden sich ebenso viel nach der entgegengesetzten Seite
hin extreme finden werden, so dass sich der Durchschnitt wieder herstellt.
Es handelt sich hier also um eine rein subjektive und phänomenologische
Norm der Beobachtung unter unmittelbarem Verzicht auf die Erkenntnis der
realen Kräfte, die jenes Zahlenverhältnis stiften.
Betrachten wir dagegen das soziale Ganze, wie wir es Taten, nicht
nur als eine Summe von Individuen, deren Verschiedenheiten sich für
die Rechnung paralysieren, sondern als eine Einheit, deren innere Beziehungen
ihre Kräfte im Verhältnis der Teilnehmerzahl entwickeln - dann
scheint ein reales und ursächliches Verhältnis zwischen derjenigen
Menschenzahl, bei der sich im vorliegenden Fall das Gesetz der großen
Zahl anwenden lässt, und der Zahl der regelmäßigen
fraglichen Vorkommnisse in ihr zu bestehen.
Wenn wir die Zahl 10000 nicht als eine bloße Zusammenfassung
so vieler Einzelwesen, sondern als ein innerlich verbundenes Sozialwesen,
das als solches besondere Eigenschaften besitzt, ansehen - dann kann der
Satz: unter 10 000 Menschen sind n Selbstmörder, sich dem Sinne eines
wirklichen Gesetzes annähern.
3) Ich habe absichtlich in diesen
Zusammenhängen dem Gedanken, dass allein die einfachen und letzten
Elemente der Geschichte ein Gesetz ihrer Verhältnisse zeigten, keine
Bestimmung darüber zugefügt, was denn nun diese einfachen Elemente
seien.
Für die prinzipielle Ausmachung, auf die es hier ankommt, ist
es gleichgültig, ob man den individuellen Menschen als Ganzes, als
das »historische Atom« gelten lassen will, oder seine einzelnen
Vorstellungen, oder, materialistisch genommen, die Moleküle seines
Körpers, in deren Aktionen und Reaktionen seine Geschichte verläuft,
oder ob man etwa, mit soziologischer Metaphysik, in den Inhalten des Volksgeistes
die einfachen Faktoren des historischen Geschehens zu finden glaubt
4)
Ich erwähne einige der psychologischen Gründe, die zu solcher
Selbsttäuschung Veranlassung geben mochten.
Die abstrakteren und allgemeineren Eigenschaften und Schicksale der
Dinge scheinen deshalb weniger Gegenstand der Erfahrung zu sein, weil diese
in ihrer aktuellen Lebendigkeit das Bewusstsein zunächst mit
ihren direkt fühlbaren und individuellen Seiten ausfüllt, während
das mehr Gattungsmäßige und Abstrakte ihrer erst nachträglich
in das reflektierende Bewusstsein steigt, oft erst, nachdem die konkrete
Erfahrung es schon wieder verlassen hat, so dass dieser gegenüber
die Allgemeinheiten des Erkennens einen über die Erfahrung hinausliegenden,
von ihr unabhängigen Charakter zu tragen scheinen.
Eben dasselbe wird dadurch erreicht, dass die einzelnen Fälle,
an denen die beobachtete Regel in die Erscheinung tritt, sich durch ihre
Massenhaftigkeit und Verschiedenheit für das Bewusstsein gegenseitig
paralysieren.
Endlich ist der Beitrag der einzelnen Erfahrung zu einer sehr allgemeinen
Norm oft äußerst gering; indem erst die psychologische Summierung
sehr vieler solcher Beiträge sie entstehen lässt, ist tatsächlich
keine einzige einzelne Erfahrung namhaft zu machen, aus der der metaphysische
Satz unmittelbar gezogen wäre.
5) Ich habe diese Entwicklung in meinen Untersuchungen
über Soziale Differenzierung, Kap. 3, ausführlich dargelegt.
Georg Simmel: Probleme der
Geschichtsphilosophie
Eine erkenntnistheoretische Studie
Duncker
& Humblot, Leipzig 1892
1.
Kapitel: Von den psychologischen Voraussetzungen der
Geschichtsforschung
2.
Kapitel: Von den historischen Gesetzen
3.
Kapitel: Vom Sinn der Geschichte
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