Georg Simmel: Probleme der
Geschichtsphilosophie
Eine erkenntnistheoretische Studie
Duncker
& Humblot, Leipzig 1892
1. Kapitel:
Von den psychologischen Voraussetzungen
der Geschichtsforschung
"Es schien der Mühe wert, in dem Gewordenen aufbewahrte
Spuren des Werdens ? durch die Phantasie, welche wie aller Poesie so auch
aller Historie Mutter ist, nicht zu einem Ganzen, aber zu dem Surrogat
eines solchen zusammenzufassen."
Mommsen, Römische Geschichte, V, 5. |
Inhalt
Psychischer Charakter der historischen Objekte Das psychologische
Apriori
Ergänzung der Wahrnehmungen
Deutung derselben
Erschwerung durch unbewußte Vorgänge
Verständnis des Psychischen durch Nachbildung
Gleichheit und Getrenntheit von Subjekt und Objekt des historischen
Erkennens
Subjektive Bedingungen der historischen Nachbildung
Nachbildung des nicht Selbst-Erfahrenen
Gruppenpsychologie
Individuelle Voraussetzungen
Charakterologische Einheitlichkeit der historischen Objekte
Wenn Erkenntnistheorie überhaupt von der Tatsache ausgeht, daß
das Erkennen, formal betrachtet, ein bloßes Vorstellen und sein Subjekt
eine Seele ist, so wird die Theorie des historischen Erkennens weiter dadurch
bestimmt, daß seine Materie das Vorstellen, Wollen und Fühlen
von Persönlichkeiten, daß seine Objekte Seelen sind.
Alle äußeren Vorgänge, politische und soziale, wirtschaftliche
und religiöse, rechtliche und technische würden uns weder interessant
noch verständlich sein, wenn sie nicht aus Seelenbewegungen hervorgingen
und Seelenbewegungen hervorriefen.
Soll die Geschichte nicht ein Marionettenspiel sein, so ist sie die
Geschichte psychischer Vorgänge, und alle äußeren Ereignisse,
die sie schildert, sind nichts als die Brücken zwischen Impulsen und
Willensakten einerseits und Gefühlsreflexen andererseits, die durch
jene äußeren Vorgänge ausgelöst werden.
Daran ändert auch die materialistische Geschichtsauffassung
nichts, die die Bewegungen der Geschichte aus den physiologischen Bedürfnissen
der Menschen und ihrem geographischen Milieu ableiten will.
Denn zunächst würde aller Hunger niemals die Weltgeschichte
in Bewegung setzen, wenn er nicht wehthäte, und aller Kampf um die
ökonomischen Güter ist ein Kampf um die Empfindungen der Behaglichkeit
und des Genusses, von denen als Zwecken aller äußere Besitz
seine Bedeutung entlehnt. Und die Beschaffenheit von Boden und Klima würde
für den Lauf der Geschichte so gleichgültig bleiben, wie Boden
und Klima des Sirius, wenn sie nicht direkt und indirekt die psychologische
Verfassung der Völker beeinflußte.
Gäbe es eine Psychologie als Gesetzeswissenschaft, so würde
Geschichtswissenschaft in demselben Sinne angewandte Psychologie sein,
wie Astronomie angewandte Mathematik ist.
Wenn es die Aufgabe der Philologie ist, Erkanntes zu erkennen,
so bildet die Geschichtskunde nur eine Erweiterung davon, indem sie neben
dem Erkannten, d.h. dem theoretisch Vorgestellten, auch das Gewollte und
Gefühlte zu erkennen hat.
Dieser Charakter der Innerlichkeit der historischen Vorgänge,
der für alle Schilderung ihrer Äußerlichkeit den Ausgangspunkt
und den Zielpunkt gibt, fordert nun eine Reihe spezifischer Voraussetzungen,
die die Erkenntnistheorie der Historik darzustellen hat.
Hinter dem absoluten Apriori des Intellekts nämlich, von dem wir
ausgingen, steht ein zweites, innerhalb des Intellekts geltendes und relatives
Apriori.
Wenn vielerlei Einzelvorstellungen zu einem Allgemeinbegriff zusammengefaßt
werden, ein Subjekt und ein Prädikat zu einem Urteil, mehrere Urteile
zu einer Maxime, so ist hier das Material von der Gestalt abtrennbar, die
es so erhält, und jedes von beiden ist für sich allein vorstellbar.
Wie viel oder wenig Apriorisches und Spontanes nun in diesem Material
selbst schon stecken mag, in der hier in Betracht kommenden Beziehung ist
es gegebener Inhalt, an dem der Intellekt eine weitere Funktion vollzieht,
die nun ihrerseits jenem gegenüber a priori ist; in dem Inhalt selbst
liegt sie nicht, sondern wird zu ihm hinzugebracht.
Wenn es aber nach der Kantischen Schematisierung nur dreierlei Arten
von Apriori gibt: das der Sinnlichkeit, das die Empfindungen, des Verstandes,
das die Anschauungen, der Vernunft, das die Urteile zum Material hat ?
oder eigentlich nur eine einzige, da die anderen auf das Apriori des Verstandes
zurückzuführen sind ? so zeigt die empirische Betrachtung leicht
die ungerechtfertigte Enge dieser Einteilung.
Es gibt offenbar sehr viele Stufen des Apriori und sehr verschiedenartige
Mischungen der hinzugebrachten Form mit dem vorgefundenen Inhalt. Und insbesondere
gibt es keine Methode, die uns zu einem festgeschlossenen, gegen Grenzverrückung
gesicherten System der Verbindungsfunktionen führte, mit denen wir
das jeweils gegebene Erkenntnismaterial formen.
Nicht scharfe, systematische Scheidungen, sondern allmählichste
Übergänge bestehen zwischen den allgemeinsten, jedem Material
zugänglichen und selbst über die Einzelerfahrung erhobenen Formen
und den speziellen, selbst empirisch gewonnenen und als Apriori nur für
gewisse Inhalte anwendbaren: also etwa zwischen dem Kausalgesetz oder der
Zusammenschließung des Gleichen an verschiedenen Gegenständen
zu einem Begriff einerseits und den methodischen oder sonstigen Voraussetzungen
für ein besonderes Lebensgebiet, für eine besondere Wissenschaft
andererseits.
Alle Rechtsbildung z.B. setzt die Erwünschtheit eines bestimmten
Zustandes voraus.
Daß die menschlichen Verhältnisse die Erreichung eines
solchen nur durch festgesetzte Normen und durch Strafbestimmungen für
deren Überschreitung ermöglichen, ist ein sehr allgemeines Apriori,
das eine gewisse Gestaltung, d.h. Verbindung vorgefundener Vorstellungen
zur Folge hat.
Allein diese Verbindungsform zur Bildung von Gesetzen ist doch
nicht so allgemein, wie etwa die Kausalverbindung zwischen psychischer
Motivierung und äußerlicher Handlung, die gleichfalls, für
die Rechtsbildung erforderlich, zwischen den Erscheinungen gestiftet, aber
nicht unmittelbar aus ihnen abgelesen werden kann. Andererseits aber ist
das Apriori, das die Rechtsform überhaupt bildet, wieder ein allgemeines
gegenüber den Voraussetzungen, aus denen die Rechtsfindung im einzelnen
hervorgeht.
So bewirkt z.B. der Grundsatz, daß dem Kläger der Beweis
obliegt, oder die verschiedene Geltung des Gewohnheitsrechts eine Formung
der Tatsachen zum Zweck der Erkenntnis, was Rechtens sei ? eine Formung,
die in dem tatsächlichen Material selbst nicht liegt, sondern erst
seine Deutung an ihm vollzieht.
Kant hat mit vollem Recht seinen kritischen Scharfsinn gegen die Empiristen
aufgeboten, welche ihre Forschungen auf das bloße Aufnehmen von sinnlichen
Eindrücken, auf das Registrieren unmittelbar beweislicher Tatsächlichkeiten
beschränken wollten; er hat gezeigt, daß sie, ohne es selbst
zu merken, fortwährend von unbewiesenen metaphysischen.
Grundsätzen Gebrauch machen und vermittelst solcher erst denjenigen
Zusammenhang zwischen den sinnlichen Gegebenheiten stiften, der diese zu
einer verständlichen Erfahrung macht.
Allein der Einfluß und die Notwendigkeit der unbewußten
und unbewiesenen Voraussetzungen erstreckt sich sehr viel weiter, als die
Kantischen Untersuchungen zeigen.
Die Praxis wie die Theorie machen in jedem Augenblick von Verbindungsformen
für das empirische Material, von jenem eigentümlichen plastischen
Vermögen des Geistes Gebrauch, das jeden gegebenen Inhalt durch die
Art, ihn anzuordnen, zu stimmen und zu betonen, in die mannigfaltigsten
definitiven Gestalten gießen kann.
Diese Verbindungen, die, in Satzform ausgesprochen, als apriorische
Voraussetzungen erscheinen, bleiben in dem Maße unbewußt, in
dem sich überhaupt das Bewußtsein mehr auf das Gegebene, relativ
Äußerliche, als auf seine eigne innerliche Funktion richtet.
Unermeßlich viele Denkinhalte gehen durch den Geist, ehe
er überhaupt ein Bewußtsein darüber hat, daß er denkt;
die Gegenstände der Außenwelt beobachtet er lange vor den Vorgängen
in ihm selbst, und je innerlicher, man möchte sagen, je psychischer
der Vorgang ist, desto später gewinnt er das auf ihn selbst zurückgewandte
Bewußtsein für sich, das vielmehr an seinen äußeren
Erregungen haftet; und an diesen um so mehr haftet, als sie durch die Buntheit
ihres Wechsels und die Schärfe ihrer Gegensätze die Unterschiedsempfindlichkeit
der Seele fortwährend reizen, während die formalen Funktionen
dieser selbst von beschränkterer Zahl sind, den mannigfaltigsten Inhalten
sich in immer gleicher Weise darbieten und durch ihre Existenz von jeher
wie durch ihre endemische Allgemeinheit jene Gewöhnung an sich erzeugen,
die das Bewußtsein darüber wie über ein absolut Selbstverständliches
weggleiten läßt.
Auch hier gilt die tiefe Beobachtung von Aristoteles, daß
dasjenige, was in der rationalen Ordnung der Dinge das erste ist ?Erkenntnisfunktion
des Geistes ? für unsere Beachtung und Beobachtung das letzte ist.
Wieweit sich aber diese unbewußte Herrschaft der Verbindungsformen
über das Tatsachenmaterial ausdehnt, das hat Kant wegen seiner scharfen
Trennung des Apriori von allem Empirischen nicht in vollem Umfange erkannt.
Indem wir heute die Erfahrung sich viel höher hinauf erstrecken
lassen, als er es tat, erstreckt sich uns das Apriori viel tiefer hinunter.
Im Verkehr der Menschen untereinander muß jeder in jedem
Augenblick das Vorhandensein geistiger Vorgänge an Anderen voraussetzen,
die er unmittelbar nicht konstatieren kann, ohne die aber die Handlungen
dieser Anderen als eine sinn? und zusammenhangslose Zusammenwürflung
sprunghafter Impulse erscheinen müßten; wir ergänzen sie
hinzu, wie wir den blinden Fleck ergänzen, der unser Gesichtsbild
unterbricht, ohne daß wir wegen der Selbstverständlichkeit der
Ergänzung die Unterbrechung merkten.
Wie wir das Innere nur nach Analogie des Äußeren verstehen,
was die Sprache schon andeutet, wenn sie alle seelischen Vorgänge
nur durch Worte bezeichnet, die aus der Welt der äußeren Anschauung
genommen sind ? so verstehen wir andererseits das Äußere der
Menschen nur nach untergelegten Innerlichkeiten.
Ebendeshalb ergänzen wir aber auch das Äußere
so, wie der einmal angenommene innerliche Zusammenhang es verlangt, bez.
so, daß es überhaupt einen innerlichen Zusammenhang ergibt.
Man kann wohl behaupten, daß kaum ein Berichterstatter uns
von der mitangesehenen Entwicklung eines Ereignisses genau das erzählt,
was er gesehen hat. jede gerichtliche Zeugenvernehmung, jede Erzählung
von einem Straßenauflauf bestätigt dies.
Mit dem besten Bestreben, bei der Wahrheit zu bleiben, setzt der
Erzähler zu dem unmittelbar Gesehenen Glieder hinzu, die das Ereignis
in dem Sinne vervollständigen, den er aus dem wirklich Gegebenen herausgelesen
hat ? wie ja auch der Hörer, nach dem Maße seiner Erfahrungen
und der durch sie bestimmten Phantasie, immer mehr im Geiste sehen muß,
als ihm tatsächlich gesagt wird.
Die Sinnesphysiologie hat uns unzählige Fälle nachgewiesen,
in denen wir an einzelnen Objekten und Bewegungen die fragmentarischen
Eindrücke der Sinne unbewußt so ergänzen, wie unsere bisherigen
Erfahrungen es verlangen.
Bei zusammengesetzten Ereignissen ist dies genau das Gleiche,
und beiden von der Geschichte berichteten wird die äußerliche
Ergänzung im wesentlichen durch psychische Annahmen bestimmt, durch
die Erfahrungen über Kontinuität und Entwicklung des Seelenlebens,
über die Korrelation unter seinen Energien, über den Ablauf der
teleologischen Prozesse.
Alles dieses wird nicht nur auf Anregung durch die äußeren
Verhältnisse hin vorausgesetzt, sondern, nachdem es vorausgesetzt
ist, werden die äußeren Ereignisse soweit ergänzt, daß
sie nun auch, gemessen an den Erfahrungsgesetzen über den Zusammenhang
des Innern mit dem Äußern, eine den innern Vorgängen ununterbrochen
parallele Reihe ergeben.
Gerade diese spontane Ergänzung des Äußerlichen
ist einer der stärksten Beweise dafür, daß auch das Innerliche
nicht einfach aus den Tatsachen abgelesen, sondern auf Grund allgemeiner
Voraussetzungen zu ihnen hinzugebracht wird.
Aus dem rein Äußerlichen, das einer dem anderen bietet,
wird auf unzählige unbewußte Voraussetzungen hin der Schluß
auf die Gedanken und Gefühle jenes gezogen, der doch höchstens
ein Schluß von der Wirkung auf die Ursache ist.
In den alltäglichen Angelegenheiten haben wir allerdings
hinreichende Gelegenheit, die Richtigkeit dieses Schlusses nachzuprüfen,
indem unserem auf ihn hin eintretenden Handeln das vorausberechnete äußere
Verhalten des Anderen wirklich ausnahmslos antwortet.
Allein für höhere und kompliziertere Seelenvorgänge
fallen diese Schlüsse sofort ins Ungewisse, führen zu unzähligen
Irrtümern und liefern eben damit den Beweis, daß sie auch in
jenen sichereren Fällen doch nur Voraussetzungen sind, die an das
Gegebene herangebracht werden und ihre Sicherheit der praktischen Brauchbarkeit,
aber nicht einer inneren Notwendigkeit verdanken, die sie aus jenem Gegebenen
rational hervorgehen ließe.
Diese Voraussetzungen des täglichen Lebens nun wiederholen sich
vollständiger und einflußreicher in der Geschichtsforschung,
als in irgend einer anderen Wissenschaft, ja als in der Psychologie selbst.
Denn diese macht die fraglichen Voraussetzungen selbst zu Gegenständen
der Untersuchung 1).
Die Historie aber nimmt die psychologischen Voraussetzungen ungeprüft
und unmethodisch auf.
Schon wenn diese Voraussetzungen so selbstverständlich wären,
daß jede äußere Tatsache sich unweigerlich und völlig
eindeutig unter die für sie passende rangierte, würde die Feststellung
derselben eine bedeutsame Aufgabe sein.
Sie gewinnt aber an Feinheit und Schwierigkeit außerordentlich
dadurch, daß wir an das gleiche innere Ereignis manchmal ganz verschiedene
äußere Folgen geknüpft sehen.
Dies ist uns nur durch eine Verschiedenheit der seelischen Begleitungen
oder Folgen jenes ersten Ereignisses verständlich, das demgemäß
bald unter die eine, bald unter die andere ganz entgegengesetzte psychologische
Norm gebracht werden muß. z.B. erzählt Sybel (Gesch. d. Revolutionszeit
II, 364) von dem Verhältnis des Wohlfahrtsausschusses zu den Hebertisten
im Jahre 1793: »Sie (die Hebertisten) waren bisher mit Robespierre
vortrefflich ausgekommen, weil dieser sich auf ihre Kräfte gestützt
und folglich ihre Wünsche befördert hatte.
? Aber was sie von nun an unwiderruflich trennte, war der einfache
Umstand, daß Robespierre der Lenker der höchsten Staatsgewalt
geworden, die Hebertisten aber in einer untergeordneten Stellung geblieben
waren.
« Die äußerlichen Tatsachen: Robespierre befördert
die Wünsche der Hebertisten; sie schließen sich an ihn an; jetzt
gewinnt er die herrschende Stellung; sie fallen von ihm ab ? diese Tatsachen
bilden nach den untergelegten psychologischen Voraussetzungen eine durchaus
verständliche Reihe.
Und doch sind diese Voraussetzungen keineswegs so zwingend und
unzweideutig, wie sie zunächst scheinen.
Daß man durch das Befördern der Wünsche jemandes,
durch ihm erzeigte Guttaten seine Zuneigung und praktische Hingebung erwirbt,
kommt oft genug vor, aber doch auch das Gegenteil.
So wird uns aus den blutigen Geschlechterfehden des Trecento von
einem vornehmen Ravennaten erzählt, der seine gesamten Feinde in einem
Hause zusammen hatte und sie ohne weiteres vernichten konnte; statt dies
zu Tun, entließ er sie und beschenkte sie noch reichlich.
Darauf wären sie mit verdoppelter Gewalt und List gegen ihn
vorgegangen und hätten nicht geruht, bis sie ihn vernichtet hätten
? und zwar, wie hinzugesetzt wird, weil die Beschämung über die
ihnen geschehene Wohltat sie nicht hätte ruhen lassen.
Auch hier ist uns die Reihe der äußeren Ereignisse
durchaus verständlich, indem wir als psychologische Voraussetzung
und Vermittlung eben jene Depression des Persönlichkeitsgefühles
ergänzen, die so oft die Wohltat zum nagenden Wurme in dem Empfangenden
und ihn zur Feinde des Wohltäters macht.
Für unseren Zweck ist es gleichgültig, ob etwa in dem
vorliegenden Beispiele direkte Aussagen der Beteiligten überliefert
sind, die ihre angeführte psychologische Verfassung aussprechen, so
daß der Historiker dieselbe nicht als Voraussetzung heranzubringen
brauchte; denn nicht nur, daß er es in unzähligen ähnlichen
Fällen, in denen nur schlechthin Äußeres berichtet ist,
doch muß, so würde er auch jene unmittelbare Überlieferung
doch nur akzeptieren, wenn er die eine und die andere psychologische Verfassung
als eine mögliche kennt und sie vermöge eigener mitgebrachter
Erfahrung nachkonstruieren kann.
Weiter verstehen wir, daß die Erhöhung Robespierres
zum Regierungshaupte feindselige Handlungen der Hebertisten gegen ihn zur
Folge hatte, doch nur daraus, daß sie Haß und Eifersucht dieser
erweckte.
Allein wir würden auch den Bericht des entgegengesetzten
Erfolges ohne weiteres als wahrscheinlich hinnehmen; daß die volle
Entfaltung der mächtigen Persönlichkeit Robespierres, die dominierende
Stellung, zu der er gelangte, jedes Widerstreben jener Partei auch innerlich
gebrochen habe, daß sie in der Erkenntnis, nichts dagegen zu vermögen,
sich wenigstens durch Fügsamkeit und Unterordnung irgend ein Maß
von Mitherrschaft hätten erhalten wollen ? ein Verhalten, das wir
aus vorausgesetzten psychologischen Normen völlig verstehen, wenn
es uns etwa vom römischen Senate in der Epoche der Militärdiktatur
berichtet wird. Wir beruhigen uns in dem einen Falle damit, daß die Wohltat, oder
die Erlangung der Herrschaft einen anschließenden, im anderen Falle,
daß sie einen ausschließenden psychischen Effekt hatte, ohne
in ihr selbst als äußerlicher Hat den Grund dieser Verschiedenheit
aufzufinden.
Vielmehr werden wir über die psychologische Verfassung, die
zwischen beiden entschied, erst durch das folgende Ereignis belehrt, das
aber doch seinerseits erst durch die Annahme eben jenes vorangehenden Seelenaffektes
verständlich wird.
Ich führe nur noch ein zweites Beispiel an.
Knapp (Der Landarbeiter, 82) sagt über die russischen Agrarzustände
nach der Aufhebung der Leibeigenschaft: »die Bauern verpflichteten
sich, gegen Lohn dem Grundherren so und so viel Dienste zu leisten. Das
Taten die Bauern sehr ungern, denn der veränderte Rechtsgrund tröstet
den Bauer nicht über den Fortbestand der Tatsache, daß er für
den Gutsherrn arbeitet; und dem Gutsherrn war damit auch nicht viel geholfen,
denn der nun ausbedungene statt erzwungene Bauerndienst wurde schlecht
geleistet, trotz der Bezahlung.«
Die erste Begründung setzt als selbstverständlich oder
wenigstens nicht weiterer Diskussion bedürftig voraus, daß die
Gefühlsfolge eines bestimmten Zustandes sich nicht ändert, so
lange er äußerlich der gleiche bleibt, auch wenn das innere
Moment ganz geändert ist, das ihm ursprünglich Jene Gefühlsfolge
verschaffte.
Die zweite läßt es wie etwas völlig Klares erscheinen,
daß der Bauer, über den man nicht mehr die volle herrschaftliche
Gewalt hat, sondern mit dem man paktieren muß, schlechter als früher
arbeitet.
Zeigten etwa die Tatsachen, daß die ökonomischen Erträge
in Rußland nach 1864 stetig zugenommen hätten, so würden
genau entgegengesetzte psychologische Gründe Ursache und Wirkung nicht
weniger plausibel verknüpft haben: man hätte ohne weiteres eingesehen,
daß gerade nicht das äußere Tun, sondern die ethische
Grundlage und das Motiv, aus dem es geschieht, darüber entscheidet,
ob mit Lust und Liebe oder mit entgegengesetzten Gefühlen gearbeitet
wird.
Und bezüglich der Erzwingung des Bauerndienstes hören
wir umgekehrt aus Preußen vor Aufhebung der Leibeigenschaft stete
Klage, daß die Fronarbeit die schlechteste, lässigste und gewissenloseste
sei.
Ohne einen billigen und ungerechten Skeptizismus gegen die psychologische
Deutung überhaupt aus solchen Beispielen, die sich auf jeder Seite
jedes Geschichtswerkes finden, zu extrahieren, sollen diese Unterschiede
möglicher Interpretation gerade darauf aufmerksam machen, daß
man sie nicht als einen immer gleichen und deshalb zu vernachlässigenden
Faktor behandeln kann.
Vielmehr entscheidet die Konstatierung des einen oder des anderen
auf Grund eines weiteren äußeren Ereignisses über die psychische
Verfassung, die den Anfangszustand beherrschte und ebendamit ? wie die
Richtung einer Geraden durch zwei festgelegte Punkte bestimmt wird ? über
den Gesamtcharakter der Entwicklung.
Am wichtigsten aber treten diese Voraussetzungen und die Bedeutung
der Wahl unter ihnen in den unzähligen Fällen hervor, in denen
die äußeren Taten nicht zweifelsfrei und eindeutig überliefert
Sind, vielmehr ihre Feststellung und Anordnung von der psychologischen
Wahrscheinlichkeit abhängt.
Aber auch in den sichersten Fällen ist es nicht »die
einfache Tatsache«, die über die Verständlichkeit der Folge
entscheidet, sondern mitgebrachte psychologische Obersätze, zu denen
»die einfache Tatsache« als Untersatz tritt, um das weitere
Ereignis als ein mögliches und verständliches erscheinen zu lassen.
Unter die sichtbaren Handlungen der Menschen subintelligiert man
solche unsichtbaren Zwecke und Gefühle, die erforderlich sind, um
jene Handlungen in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen.
Dürften wir über das wirklich konstatierbare Material
der Geschichte nicht hinausgehen, so wäre es mit der Herstellung irgendwelcher
Entwicklung, mit dem Begreifen irgend einer Einzelheit aus einer anderen
schlimm bestellt.
Helmholtz hat einmal ausgesprochen, daß der Beweis des Kausalgesetzes
ein sehr schwacher wäre, wenn er aus der Erfahrung gezogen werden
sollte; die Fälle seiner lückenlosen Beweisbarkeit seien selten
im Verhältnis zu der ungeheuren Anzahl derer, die sich der vollkommeneren
ursächlichen Einsicht noch entzögen.
Gilt dies schon für die Vorgänge der unterpsychischen
Natur, so muß der Beweis der Kausalität aus der strikten Erfahrung
heraus da noch viel seltener werden, wo sich das verwickelte und dunkle
Glied der Gehirnvorgänge zwischen die sichtbaren Vorgänge schiebt,
nach deren ursächlicher Verbindung mit einander gefragt wird.
Eine vollkommene Einsicht würden wir offenbar dann haben, wenn
wir die äußerlichen und körperlichen Einflüsse und
Umsetzungen, die zwischen den einzelnen Taten einer historischen Persönlichkeit
liegen, völlig durchschauten und außerdem den psychischen Wert
jedes in dieser Reihe befindlichen zerebralen Vorganges kennten.
Da dies aber ein unerreichbares Ideal ist, so helfen wir uns eben
damit, daß wir wenigstens psychische Vorgänge unter und zwischen
die äußerlichen Vorgänge schieben.
Das Hypothetische hierbei, das eine besondere methodische Beachtung
fordert, ist nicht sowohl die Annahme eines Psychischen überhaupt,
das ungreifbar hinter der Erscheinung liegt, als das Was, der spezifische
Inhalt der vermuteten Bewußtseinsvorgänge.
Zwar auch das erstere, so wunderlich es erscheinen mag, es noch
als Hypothese zu betrachten, ist keineswegs so ganz einfaches und unfragliches
Fundament der geschichtlichen Erzählung, und zwar deshalb nicht, weil
das Verhältnis der bewußten zu den unbewußten Vorgängen
in uns ein sehr unsicheres Ist.
Insbesondere wo es sich um die Bewegungen ganzer Gruppen handelt,
die wir doch auch nur aus Zwecksetzungen und gefühlten Impulsen erklären
können, werden oft organische Vorgänge die bestimmenden sein,
die gar keine Bewußtseinsseite haben.
Sowohl hier wie auch bei den Einzelnen wird sehr vieles durch
Suggestion, oder durch einen festgewordenen Bewegungsmechanismus, aus dem
längst die bewußten Glieder ausgeschaltet sind, oder auf unbewußte
Reize hin geschehen, was nachträglich wegen seiner formalen Zweckmäßigkeit
auf innerhalb des Bewußtseins gelegene Ursachen zurückgeführt
wird.
Wie die zweckmäßige Bildung der Lebewesen die reflektierenden
Geister veranlaßte, eine intelligente Ursache für sie anzunehmen,
weil man Zweckmäßigkeit nur als Folge eines bewußten und
überlegten Willens anzusehen gewöhnt ist, so stellen wir uns,
gewiß mit dem gleichen Irrtum, vielerlei menschliche Betätigungen
als Wirkungen einer bewußten Zwecksetzung vor, die aus ganz mechanischen
Einrichtungen und unbewußten Notwendigkeiten hervorgehen.
Wenn die Bewegungen unserer inneren Organe, die Arbeit des Herzens,
die Verdauungsprozesse so vor sich gehen, wie es für die Erreichung
der Lebenszwecke am dienlichsten ist, und zwar ohne daß wir irgend
ein Bewußtsein davon haben, so konnte eben dieselbe Entwicklung,
die diese regulierte, wohl auch unsere Gehirnvorgänge so ordnen, daß
sie das Leben fördern, ohne daß es dazu eines Bewußtseins
bedarf.
Und wenn man selbst behauptet, daß die Geschichtswissenschaft
nur die Geschichte der bewußten Vorgänge zu beschreiben hätte,
so, schieben sich die unbewußten Vorgänge doch so mannigfach
zwischen die bewußten, und bilden so durchgehends den Untergrund
derselben, daß ohne Zuhilfenahme ihrer eine zulängliche Erklärung
des Bewußten nicht erreichbar ist; welche Erklärung eben notwendig
in die Brüche gehen muß, wenn man jeder sichtbaren Handlung
klare Gedanken und bewußte Zweckmäßigkeit unterlegen will.
Diese Frage, ob überhaupt hinter der Handlung ein mit Worten
auszudrückender bewußter Seelenvorgang steckt ? deren prinzipielle
Bejahung die Voraussetzung aller Geschichtserzählung bildet ? wird
insbesondere bei denjenigen Vorgängen schwierig, die die Zweckmäßigkeit
ihrer Form und den Impuls ihrer Ausführung in bestimmten Lagen zwar
wirklich einem Bewußtsein verdanken, dieses aber eingebüßt
haben, indem sich die Handlung allmählich in eine bloß reflektorische
und instinktive umgebildet hat.
Wenn z.B. Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit eine Gruppe
zu mehrfacher Kriegführung veranlaßt haben, so kann sich daraus
eine kriegerische Tendenz entwickeln, bei deren späteren Äußerungen
man in dem Bewußtsein der Handelnden vergeblich nach dem zureichenden
Zwecke suchen würde.
Oder die Unterworfenheit und Servilität eines Standes unter
einen anderen mag aus ganz bewußten Ursachen entstanden sein; haben
diese eine Zeitlang bestanden, so darf man das Bewußtsein der Individuen
nicht mehr um Auskunft nach dem Zwecke des einzelnen einschlägigen
Verhaltens fragen ?mag wirklich ein Zweck noch immer vorhanden sein, so
ist das Bewußtsein seiner jedenfalls untergesunken und die Handlung
kommt ohne dieses zustande.
Es liegt aber auf der Hand, wie leicht sie auch dann noch eintreten
wird, wenn der Zweck nicht mehr besteht, aber irgend eine äußerliche
Anregung oder innere Gewöhnung einen formal verwandten Reiz herbeiführt,
dem sie in reflektorisch gewordener Weise antwortet.
Und es ist deshalb ebenso offenbar, welchen Irrtümern die
naive Voraussetzung unterliegt, die die sinnvolle Verbindung zwischen den
Handlungen der Einzelnen oder der Gruppen ohne weiteres in bewußten
psychischen Vorgängen sucht, aus deren teleologischem Charakter jene
entsprangen.
Tatsächlich arbeitet übrigens die Geschichtswissenschaft auch
mit der Voraussetzung eines halben oder vollen Unbewußtseins.
Wir hören von der Tendenz mancher Volksstämme, unwiderstehlich
um sich zu greifen und wie aus einem Trieb physischen Wachstums heraus
ihre Grenzen unaufhaltsam weiter und weiter zu rücken; von dem dunklen
Drange der deutschen Völker nach Italien wird gesprochen wie von dem
Instinkte der Zugvögel, die völlig unbewußte Antriebe in
bestimmte Himmelsrichtungen führen; andererseits spricht man von der
Bewegungslosigkeit und Indolenz mancher Stämme, die aber gewiß
dem Einzelnen oft genug nicht zum Bewußtsein kommt, sondern sein
Verhalten wie mit einer Naturgewalt bestimmt, während er durchaus
tätig und reaktionsfähig zu sein glaubt.
Endlich ist an Jene objektiven Gebilde zu erinnern, die, als geistiger
Kollektivbesitz, die Gesellschaft als solche eigentlich erst begründen:
Recht und Sitte, Sprache und Denkart, Kultus und Verkehrsform.
Gewiß ware alles dies nicht ohne die bewußte Tätigkeit
der Einzelnen zustande gekommen; allein diese wird sich fast nie auf das
ganze schließlich resultierende Gebilde als auf ihren Zweck gerichtet
haben.
Vielmehr arbeitet jeder an seinem Teil, und das Ganze, dessen
Teil dieser ist, entzieht sich seinem Blick; der Zusammenschluß der
Beiträge, das Zustandekommen der sozialen Form, die dies individuelle
Material annimmt, fällt nicht mehr in das Bewußtsein des einzelnen
Arbeiters.
Er sucht im Zusammensein mit Anderen den besten Ausdruck für
Zuneigung und Zurückhaltung, Gleichgültigkeit und Interesse und
erfindet damit Teile der gesellschaftlichen Verkehrsformen; sein religiöses
Bedürfnis drängt ihn zu Worten und Handlungen, in denen er die
sicherste Brücke zum göttlichen Prinzip zu finden glaubt ? und
er baut damit am Gebäude des Kultus; er sucht sich durch gewisse Vorsichtsmaßregeln
in der Geschäftsführung gegen Übervorteilung zu schützen
und gründet damit die allgemeinen Handelsusancen.
Von jeder Handlung des Eigeninteresses, die nicht schlechthin
destruktiv ist, von jeglicher Beziehung zwischen Menschen bleibt gewissermaßen
als caput mortuum ein Beitrag für die Formung des öffentlichen
Geistes zurück, nachdem ihre Wirkungen durch tausend feine, dem Einzelbewußtsein
entzogene Kanäle hindurch destilliert worden sind.
Für das Gewebe des sozialen Lebens gilt es ganz besonders:
Was er webt, das weiß kein Weber.
Nur unter zweckbewußten Wesen allerdings können die
höheren sozialen Gebilde entstehen; allein sie entstehen sozusagen
neben dem Zweckbewußtsein der Einzelnen, durch eine Formierung, die
in diesem selbst nicht liegt ? schon deshalb nicht, weil zu jenem sozialen
Effekt die Gleichartigkeit und Gleichzeitigkeit unzähliger Handlungen
Anderer erfordert wird, die der Einzelne nur in den seltensten Fällen
voraussehen kann.
Kurz, hinter den sichtbaren historischen Äußerungen
wird keineswegs als eine stetige Funktion ihrer ein volles Bewußtsein
zum Zwecke ihrer Deutung und Verbindung angenommen; sondern, obgleich ein
solches im Ganzen die Voraussetzung des Historikers bilden muß, unterbricht
er dieselbe doch oft genug.
Eine Philosophie der Geschichte hätte nun festzustellen,
in welchen Fällen der Geschichtsschreiber, durch Instinkt oder Überlegung
geleitet, von der bewußten Zweckmäßigkeit in den Handlungen
der Menschen abstrahiert; sie hätte zu untersuchen, wann wir zur Erklärung
eines Geschehens ein bewußtes Wollen und Denken unterlegen müssen
und wann wir auf die Hypothese eines solchen zu verzichten pflegen.
Die eigentliche Aufgabe wird hier nicht darin bestehen, praktische
Gesetze für die Geschichtsschreibung bezüglich der Berechtigung
dieser oder jener Annahme aufzustellen.
Dies wäre nur der Psychologie möglich.
Die Erkenntnistheorie hätte vielmehr nur festzustellen, in
welchen Fällen die eine und in welchen die andere unserem Erklärungsbedürfnis
genügt.
Die historischen Vorstellungen, nicht wie sie sein sollen, sondern
wie sie wirklich sind, müßten nach den Prinzipien gefragt werden,
nach denen sie, selbst unbewußt, sich für die Annahme eines
Bewußtseins oder eines Unbewußtseins hinter den physischen
Handlungen entscheiden.
Unter Voraussetzung dieses Bewußtseins wende ich mich nun
zu der Hypothese seiner Inhalte.
Zunächst handelt es sich auch für diese um eine sehr
allgemeine Voraussetzung.
Ob die psychologischen Verbindungsglieder, die der Historiker
an die Ereignisse heranbringt, objektiv wahr sind, d.h. wirklich die Bewußtseinsakte
der handelnden Personen nachzeichnen, würde kein Interesse für
uns haben, wenn wir diese Vorgänge ihren Inhalten und ihrem Verlaufe
nach nicht verstünden.
Fände dies nicht statt, so könnte jene Richtigkeit durch
irgend welche Mittel erreicht sein ? wie sie etwa in einigen Fällen
nicht der psychologischen Nachkonstruktion durch den Historiker bedarf,
sondern durch Äußerungen und Konfessionen der Persönlichkeiten
anscheinend unmittelbar gegeben wird ? und wir würden ihr dennoch
nicht zusprechen, was wir Wahrheit nennen.
Was aber bedeutet dieses Verstehen und was sind seine Bedingungen?
? Die erste derselben ist offenbar, daß jene Bewußtseinsakte
in uns nachgebildet werden, daß wir uns, wie man sagt, »in
die Seele der Personen versetzen« können.
Das Verstehen eines ausgesprochenen Satzes besagt, daß die
Seelenvorgänge des Sprechenden, die in die Worte ausliefen, durch
eben diese im Hörer erregt werden; sobald eine wesentliche Differenz
zwischen den Vorstellungen beider Personen stattfindet, ist das von Einem
zum Anderen gehende Wort entweder mißverstanden oder unverstanden.
Ein derartig direktes Nachbilden findet indes nur statt und genügt
nur, wo es sich um theoretische Denkinhalte handelt, bei denen es nicht
wesentlich ist, daß sie als Vorstellungen gerade dieses Individuums
ihren Ausgangspunkt nehmen.
Bei objektiven und logischen Erkenntnissen verhalte ich mich zum
Gegenstände des Erkennens genau so wie derjenige, dessen Vorstellungen
darüber ich »verstehe«, er vermittelt mir nur deren Inhalt
und wird nachher sozusagen wieder ausgeschaltet ? der Inhalt besteht fürderhin
in meinem Denken parallel mit dem seinigen und ohne von dem Ursprung aus
diesem letzteren eine Umbiegung oder Modifizierung zurückzubehalten.
Dies Verhältnis ändert sich schon da einigermaßen, wo
es sich nicht um bloß theoretische Gedankenprozesse handelt, die
man sich als Abspiegelung des objektiven, jedem gleichmäßig
sich darbietenden Verhaltens der Dinge in den logischen Formen vorstellen
mag, sondern wo das Verständnis subjektiver Vorgänge in Frage
kommt.
Wir behaupten doch auch jede Art und jeden Grad von Liebe und
Haß, Mut und Verzweiflung, Wollen und Fühlen zu verstehen, ohne
daß die Äußerungen, auf die hin wir solche Affekte verstehen,
uns in die gleiche Befangenheit in ihnen versetzten.
Dennoch kann derjenige Seelenprozeß, den wir das Begreifen
ihrer nennen, nur in einer psychologischen Umformung, einer Verdichtung
oder auch abgeblaßten Spiegelung ihrer bestehen; irgendwie muß
in ihm ihr Inhalt enthalten sein.
Wenn wir oben als Aufgabe der Geschichte bestimmten, nicht nur
Erkanntes zu erkennen, sondern auch Gewolltes und Gefühltes, so ist
diese Aufgabe nur lösbar, indem in irgend einem Modus psychischer
Umsetzung das Gewollte mitgewollt, das Gefühlte mitgefühlt wird.
Denn sonst würde nicht ihr irgendwann vorhergegangenes reales
Empfundensein die Bedingung bilden, unter der allein das eintritt, was
wir ihr Verständnis nennen.
Wer nie geliebt hat, wird den Liebenden nie verstehen, der Schwächling
nie den Helden, der Choleriker nie den Phlegmatiker; und umgekehrt spricht
unser Verständnis der Bewegungen, Mienen und Handlungen Anderer um
so leichter an, je öfter wir selbst die Affekte durchempfunden haben,
für die jene das Symbol sind, und zwar in demselben Maße mehr
oder weniger leicht, in dem unsere augenblickliche innere Lage zu ähnlichen
oder zu abliegenden Empfindungen disponiert und also die psychologische
Reproduktion erleichtert oder erschwert.
In irgend einer Form, von deren Entstehung wir uns freilich noch
kein positives Bild machen können, steckt also die Wiederholung der
im Anderen vorgehenden Bewußtseinsakte in dem Verständnis seiner,
und ist für dasselbe unentbehrlich.
Die so erforderliche Umgestaltung zeigt nun eine bedeutsame Vertiefung,
wenn man statt auf den Inhalt des Verständnisses mehr auf den Umstand
sieht, daß es das Vorstellen eines Anderen, eines Nicht?Ich, also
selbst ein Nicht?Ich ist, um das es sich handelt.
Man hat freilich die erkenntnistheoretischen Folgen der Überlegung,
daß die Erkenntnisobjekte uns nicht in ihrem An?Sich, sondern nur
als Vorstellung gegeben sind, für die menschlichen Objekte in Abrede
gestellt.
In ganz anderer weise, könnte man sagen, sei uns die Geschichte
zugänglich, wie die Natur.
Der Unterschied zwischen dem Ich und dem Nicht?Ich habe, wo beides
Seelen wären, einen völlig anderen Sinn als sonst; denn beide
seien sie nur numerisch, nicht generell verschieden, und wenn kein Geist
ins Innere der Natur dringen könne, so doch in das eines anderen Geistes,
den er völlig adäquat in sich abzuspiegeln vermöge.
Auf einem so leichten Pfeiler läßt sich indes noch
keine Brücke über die Kluft zwischen dem Ich und dem Nicht?Ich
schlagen.
Die generelle Gleichheit beider hebt zunächst die Notwendigkeit
davon nicht auf, daß allerhand Veräußerlichungen, Umsetzungen
und Symbolisierungen zwischen ihnen vermitteln.
Eine unmittelbare Abspiegelung, ein unmittelbares, aus der Wesensgleichheit
folgendes Verständnis wäre Gedankenlesen und Telepathie, oder
setzte eine prästabilierte Harmonie voraus, nicht weniger wunderbar
als die Leibnitzische.
Vielmehr, das Erkennen selbst eines geistigen Vorganges ist doch
auch seinerseits ein Prozeß, der nur angeregt werden kann und schließlich
von dem Subjekt selbst vollzogen werden muß.
Allein dies würde schließlich die sachliche Parallelität
nur aus einer direkten in eine indirekte verwandeln; schließlich
könnte sich trotz aller nötigen Umwege doch ein Seelenvorgang
so genau in einer anderen Seele abspiegeln, wie die Worte, die dem Telegraphenapparat
anvertraut werden, sich an dem der anderen Station reproduzieren, wenngleich
dasjenige, was dazwischen liegt und sie trägt, ihnen völlig heterogene
Vorgänge sind.
Allein die sehr viel tiefer liegende Schwierigkeit ist die, daß
die so produzierten Vorgänge in mir doch zugleich nicht die meinigen
sind, daß ich sie als historische, obgleich ich sie vorstelle und
sie also meine Vorstellungen sind, als die eines anderen denke.
Es genügt auch nicht, wenn wir einen Anderen erkennen wollen, daß
wir seine Seelenvorgänge in uns selbst nachbilden und uns dazu sagen:
aber nicht ich, sondern jener empfindet so!
Denn erstens empfinde ich doch nach der Voraussetzung tatsächlich
so, und jener Zusatz kann auch nicht nachträglich zu dem Inhalt gemacht
werden, wobei dann beides gegeneinander isoliert bliebe, sondern er muß
jenen Inhalt durchdringen , ihn unmittelbar als sein Exponent begleiten.
Dieses Empfinden dessen, was ich doch eigentlich nicht empfinde,
dieses Nachbilden einer Subjektivität, das doch nur wieder in einer
Subjektivität möglich ist, die aber zugleich jener objektiv gegenübersteht
? das ist das Rätsel des historischen Erkennens, zu dessen Verständnis
offenbar unsere logischen und Psychologischen Kategorien noch viel zu plumpe
Werkzeuge sind.
Gewiß ist in diesem Erkennen beides enthalten: das eigene
Vollziehen des fraglichen Aktes und das Bewußtsein, daß er
an Anderen vorgegangen ist; allein dies ist doch nur eine nachträgliche
Zerlegung in Elemente, von denen als solchen der historische Erkenntnisprozeß
selbst kein Bewußtsein aufweist.
Es handelt sich hier doch nicht um ein nachträgliches Zusammenbringen
von Bestandteilen, die vorher getrennt existierten, so wenig wie in der
Anschauung der äußeren Welt die Sinnesempfindung und die Raumanschauung
gesondert vorhanden sind und sich dann zu jener zusammenschließen.
Die Projizierung eines Vorstellens und Fühlens auf die historische
Persönlichkeit ist ein einheitlicher Akt, dessen Vorbedingung allerdings
ist, daß ich die fraglichen psychischen Vorgänge in meinem subjektiven
Leben erfahren habe.
Allein indem sie jetzt als Vorstellungen eines Anderen reproduziert
werden, erfahren sie eine psychische Umformung, die sie von dem eigenen
subjektiven Erlebnis der erkannten Persönlichkeit ebenso abhebt, wie
sie von dem der erkannten Persönlichkeit abgehoben sind.
Wenn also diese beiden letzteren selbst generell übereinstimmen,
wenn auch Liebe und Haß, Denken und Wollen, Lust und Schmerz als
persönliche Ereignisse in der Seele des Erkennenden ebendiesen in
der Seele des Erkannten genau wesensgleich wären, so bildet doch nicht
dieses unmittelbar Gleiche die historische Erkenntnis, sondern jener durch
die Projizierung auf einen Anderen umgeformte Vorstellungsprozeß.
Ganz ähnlich in dem Verhältnis zwischen dem Denken und
der Materie: wenn wirklich das transscendente Substrat der Seele und das
der Außenwelt das gleiche wäre, so würde auch dies noch
nicht mit sich bringen, daß die Vorstellungen, die jene sich von
dieser macht, nun auch wirklich dasselbe wären, wie das Ansich der
Welt, oder eine unmittelbare Abspiegelung desselben bildeten; sondern die
Erkenntnis der Welt würde immer in den ihr eigentümlichen Erfahrungsformen
beharren, unabhängig von der Gleichheit der sie nach beiden Seiten
hin begrenzenden Substrate, wenn auch diese Gleichheit vielleicht die Möglichkeit
des Vorstellens überhaupt herstellt.
In genauer Analogie hiermit begründet im Historischen die
psychologische Gleichheit zwischen Erkennendem und Erkanntem zwar die Erkenntnismöglichkeit
überhaupt, bedeutet aber an sich noch nicht, daß die aus dem
Subjekt herausprojizierte Vorstellung inhaltliche Gleichheit mit dem fraglichen
subjektiven Vorgange in der historischen Persönlichkeit besitze.
Dieser Metamorphose, die mit dem primären Seeleninhalt vorgeht,
indem er objektiviert und eine andere Persönlichkeit mit ihm erkannt
wird, gehe ich hier nicht weiter nach, sondern betone unter Voraussetzung
ihrer die inhaltliche psychologische Gleichheit zwischen Subjekt und Objekt
des historischen Erkennens, die von diesem gefordert wird.
Könnte man geschichtliche Vorgänge nur durch Unterlegung
solcher psychischen Akte verstehen, die von den in der Seele des Betrachters
geschehenden gar zu weit abstehen, so würde man sie tatsächlich
nicht verstehen, und ihre Beschreibung würde so wenig Reaktion in
unserer Seele bewirken, wie eine Rede in einer uns unbekannten Sprache.
Der Historiker macht also erstens die Voraussetzung, daß
seine Seele die psychischen Zustände seiner Personen in sich herstellen
könne, d.h. daß irgend eine wie immer entfernte Analogie ihrer
festgestellten Handlungen mit den seinigen den Schluß gestatte: daß
der Bewußtseinshintergrund, den dergleichen Handlungen bei ihm haben
oder haben würden, auch bei jenen vorhanden sei.
Wenn Ranke den Wunsch ausspricht, er möchte sein Selbst auslöschen,
um die Dinge zu sehen, wie sie an sich gewesen sind, so würde die
Erfüllung dieses Wunsches gerade seinen vorgestellten Erfolg aufheben.
Nach ausgelöschtem Ich würde nichts übrig bleiben,
wodurch man die Nicht?Ichs begreifen könnte.
Die Einmischung des Ich ist nicht eine Unvollkommenheit, die eine
ideale Erkenntnisart entbehren könnte; nur gewisse Seiten des Ich
mag diese eliminieren, das Ich überhaupt aber auslöschen zu wollen,
ist ein logischer Widerspruch, nicht nur weil es doch schließlich
der Träger jedes Vorstellens überhaupt ist ? denn dahin hatte
auch Ranke seine Äußerung restringiert -
sondern weil außerdem auch seine spezifischen Inhalte die unentbehrlichen
Durchgangspunkte jedes Verständnisses Anderer sind.
Dieses Mitfühlen mit den Motiven der Personen, mit dem Ganzen
und Einzelnen ihres Wesens, von dem doch nur fragmentarische Äußerungen
überliefert sind; dieses Sichhineinversetzen in die ganze Mannigfaltigkeit
eines ungeheuren Systems von Kräften, deren jede einzelne nur verstanden
wird, indem man sie in sich wiederspiegelt ? das ist der eigentliche Sinn
der Forderung, daß der Historiker Künstler sei und sein müsse.
Die gewöhnliche Auffassung, als trete diese Forderung erst
nach abgeschlossener Tatsachenforschung und nur mit Rücksicht auf
die Darstellung für den Leser in ihre Rechte, ist durchaus irrig;
denn in der Darstellung muß auch der Physiker, der Philologe, der
Jurist, kurz jeder Gelehrte, der für Andere, insbesondere für
größere Kreise schreibt, Künstler sein.
Aber schon indem der Historiker die Tatsachen so deutet, formt,
anordnet, daß sie das zusammenhägende Bild eines psychologischen
Verlaufs ergeben, nähert sich seine Tätigkeit der dichterischen,
ohne durch die Freiheit, die diese in der Gestaltung des Erzählten
hat, anders als graduell von ihr unterschieden zu sein.
Denn nachdem der Dichter einmal sich für einen bestimmten
Charakter entschieden hat, nachdem einmal die Verhältnisse seine Personen
in eine bestimmte Richtung getrieben haben, ist auch er nicht mehr frei,
sondern alles was er geschehen läßt, hat nur eine begrenzte
Latitüde der Abweichung von der psychologischen Durchschnittserfahrung
über solche Menschen und Fälle.
Findet der dichterische Prozeß, der von der freien Erfindung
ausgehend, die weitere Gestaltung derselben zum schließlichen Kunstwerk
an die bekannten Gesetze des Geschehens anschließen muß, unter
dem Motto statt: »Das Erste steht uns frei, beim Zweiten sind wir
Knechte« ? so kehrt die Historik dies nur um.
Beim ersten, bei dem tatsächlichen Material, an dem ihre
Arbeit beginnt, ist sie gebunden, in der Formung desselben zu dem Ganzen
des historischen Verlaufs ist sie frei, d.h. der Funktionierung subjektiver
Kategorien und dem Gestalten in der Seele des Historikers überlassen.
Was Schopenhauer für das Wesen der ästhetischen Tätigkeit
erklärt: daß der Intellekt die Befangenheit im eigenen Ich aufgibt,
um völlig in dem Objekte aufzugehen, von dem ihn nun keine Wesenszweiheit
mehr trennt, sondern das sich restlos in ihm spiegelt, so daß er
in diesem Augenblick gar nichts anderes ist, als eben dieses Objekt ? das
ist tatsächlich, von der metaphysischen Einkleidung abgesehen, auch
das Entscheidende für den Historiker, ja für jeden, der irgendwie
historische Erkenntnis gewinnt.
Denn jedes Nachbilden und jedes Verstehen eines psychologischen
Objektes bedeutet, daß der Verstehende eben den seelischen Vorgang
in sich zum Ablauf bringt, in dessen Erkenntnis er sich versenkt und der
er ? insofern das Ich in dem jeweiligen Vorstellen besteht ? in diesem
Augenblicke wirklich ist 2).
Für die generelle erkenntnistheoretische Frage steht es nicht so,
daß der Geschichtsschreiber die historischen Persönlichkeiten
begreift, weil er ihnen gleicht, ? denn das ist ja gerade erst festzustellen,
? sondern daß er seine Gleichheit mit ihnen voraussetzt, weil er
sie begreifen will und es auf andere Weise , nicht kann.
Es ist hier das gleiche Verhältnis, das Kant für das
Naturerkennen behauptete: wir erkennen die Wirklichkeit nicht, weil Denken
und Sein übereinstimmen, sondern diese stimmen überein, weil
wir jene erkennen, d.h. weil unser Verstand seine Erkenntnisformen in das
Sein hineinlegt, weil er es zu seiner Vorstellung bildet nach den Gesetzen,
deren er zum Zwecke der Erfahrung bedarf.
Der Historiker weist überlieferte Handlungen als unwahrscheinlich
oder unwahr zurück, wenn sie ihm auf eine psychische Grundlage Anweisung
geben, die ihm beim Hineindenken in den sonst vorausgesetzten psychologischen
Status der Person nicht herstellbar ist und so gegen die Logik der psychologischen
Tatsachen verstößt.
Der Unterschied gegen die Zurückweisung der Überlieferung
bei äußerlicher, physischer Unwahrscheinlichkeit ist offenbar
nur ein gradueller und nur in dem Maße vorhanden, in dem uns die
physischen Naturgesetze sicherer bekannt sind als die psychischen.
Zweierlei Ist für diese Nachbildung der seelischen Ereignisse
durch den Historiker in Betracht zu ziehen.
Zunächst die natürlichen seiner Seele innewohnenden
Kräfte und Kategorien, deren Geltungsbereich den Umfang dessen ausmacht,
was überhaupt verständlich und nachfühlbar durch sein Bewußtsein
gehen kann.
Zweitens die tatsächlichen Erfahrungen, die diesen Vermögen
und Formen den Inhalt geben und ihm zeigen, welche von den Empfindungen
und Gedanken, deren Vollzug seiner Seele überhaupt möglich ist,
in der beseelten Weit um ihn herum verwirklicht werden.
Beides muß die erkenntnistheoretische Kritik wohl von einander
unterscheiden.
Denn ein Historiker mag manche Ereignisse als unmöglich verwerfen,
andere nur in einer bestimmten Weise anordnen, weil die psychischen Prozesse,
die er andernfalls statuieren müßte, ihm nicht verständlich
sind, d.h. von ihm selbst nicht vollzogen werden können.
Es wird sich selbstverständlich hier wie sonst nicht sowohl
um einzelne Gedanken oder Impulse der historischen Personen handeln, sondern
um den Zusammenhang unter ihnen, um das Eintreten eines unter der Bedingung,
daß andere schon angenommen sind.
Andererseits wird er solchen psychischen Ereignissen und bestimmten
Kombinationen unter ihnen, die die Überlieferung darzubieten scheint,
innerlich wohl nachkommen können, wird sie aber modifizieren müssen,
weil seine Lebenserfahrung ihm zeigt, daß dergleichen wohl in der
Phantasie nachzubilden ist, aber in der Wirklichkeit nicht vorkommt.
Hier findet nun die Philosophie der Historik ihre Forschungsobjekte
an den Einflüssen, denen die geschichtlichen Bilder von beiden Seiten
her unterliegen und die wenigstens in den Fällen bemerkt zu werden
pflegen, in denen sie gar zu weit das Durchschnittsmaß der Subjektivität
überschreiten.
Die Unterschiede, die sich nicht nur in der historischen Darstellung,
sondern auch in der Feststellung etwa des Lebenslaufes von Cäsar oder
Gregor VII. oder Mirabeau herausstellen müssen, je nachdem eine groß
angelegte oder eine beschränkte Natur ihr Historiker wird, liegen
auf der Hand; und ebenso diejenigen, die aus dem Erfahrungskreise des Historikers
stammen: ob er in engen, kleinbürgerlichen Verhältnissen oder
im großen Weltverkehr, ob in einem politisch gebundenen oder freien
Gemeinwesen seine Lebensanschauungen gesammelt hat.
Dies wissen wir indes im wesentlichen, weil wir es uns auch ohne besonderes
Hinsehen denken können, und weil einzelne flagrante Beispiele es ganz
unübersehbar machen.
Die wissenschaftliche Erkenntnis davon forderte nun aber Untersuchungen
einer möglichst großen Anzahl von Fällen, auch gerade solcher,
in denen die Subjektivität ganz zurückzutreten scheint ? Untersuchungen,
die jener feinen Spürkraft bedürften, die vor allem in der klassischen
Philologie so glänzende Erfolge gezeitigt hat.
Nun sind subjektive Vorurteile und Färbungen freilich im einzelnen
stets korrigierbar.
In dem Augenblick, wo man sie und ihren psychologischen Ursprung nachweist,
kann man auch von ihnen absehen.
Allein man pflegt dabei zu vergessen, daß auch nach Abwerfung
dieser Schlacken kein reines Gold übrig bleibt, daß die neue
Erkenntnis zwar von dieser bestimmten subjektiven Voraussetzung, aber nicht
von jeder überhaupt frei ist.
Man korrigiert die eine Auffassung, aber man korrigiert sie doch nur
durch eine andere Auffassung.
Nicht nur die Voraussetzungen des Erkennens überhaupt, der intellectus
ipse in seinen allgemeinsten Formen, müssen vor jedem besonderen Erfahrungsinhalt
akzeptiert werden, weil man, im Interesse rein objektiver Wahrheit von
ihnen absehend, überhaupt nicht mehr vorstellen könnte; sondern
diese allgemein gegebenen Formen existieren doch wieder nur in einzelnen
Geistern, also in individueller Färbung und Modifizierung, so daß
dieser individuelle Geist in seiner Gesamttendenz und charakterologischen
Stimmung gewissermaßen das Apriori für das allgemeine Apriori
in seiner momentanen Verwirklichung bildet.
Wie wir uns jene allgemeinen Formen systematisch vorstellen, haben sie
nur die Bedeutung allgemeiner Begriffe, die sich so in der Wirklichkeit
? hier in der Wirklichkeit des Erkennens ? nicht finden, sondern immer
nur mit einer spezifischen Differenz auftreten, die man freilich beseitigen
kann, aber nur, indem man eine andere an deren Stelle setzt.
Was wir unter Einheitlichkeit und Entwicklung des Charakters, unter
der Zusammengehörigkeit von Zweck und Mitteln, unter psychologischer
Verursachung denken, das stellt sich für jeden damit operierenden
Menschen nicht in der abstrakten, sondern in einer persönlichen Form
dar und übt seine Wirkungen auf das historische Material nicht als
logische Kategorie ? das wäre das unerreichbare Ideal des Erkennens
?sondern als psychologische Kraft, die von der Persönlichkeit mit
der Gesamtheit ihrer Erfahrungen, Instinkte, Gefühle getragen wird.
Wie kein Mensch Mensch überhaupt ist und nur aus den allen Menschen
gemeinsamen Eigenschaften bestünde, so ist auch kein Erkennen Erkennen
überhaupt und besteht nur aus der Ausübung der allgemeinen apriorischen
Denkformen.
Und wie man wohl abstrakter Weise und durch Abziehung aller spezifischen
Differenzen sich den allgemeinen Menschen konstruieren kann, sobald man
aber einen wirklichen Menschen haben will, sofort irgendwelches Spezifische
und Individuelle wieder hinzutun muß, ja jenes nur in dem Gewande
dieses anschaulich vorstellen kann ? genau so verhält es sich mit
den apriorischen Denkformen und ihrer realen Bewährung
3).
In der Gestaltung des historischen Materials nach den innere und äußeren
Erfahrungen des Historikers wirkt freilich ein inkommensurable Größe,
die die erkenntnistheoretische Erforschung derselben sehr erschwert.
Wir können nämlich trotz allem, psychische Vorgänge
an Anderen nachkonstruieren und zwar mit dem sicheren Gefühl ihrer
völligen Richtigkeit, die wir weder in uns selbst noch an Anderen
je erfahren haben.
Es ist sehr billig, dies für bloße Umformung reale Erfahrungen
zu erklären.
Denn zunächst dürfte die Grenze zwischen Form und Materie
in dieser Hinsicht doch eine sehr willkürliche sein und mehr eine
nachträgliche Namengebung als eine sachliche Unterscheidung bedeuten
? ganz abgesehen davon, daß die spontane Bildung der Form uns kein
geringe res Rätsel aufgeben würde, wie die eines Stoffes; und
dann würde noch die Frage bleiben, weshalb die eine Form, in die wir
von innen heraus den anderweitig gegebenen Erfahrungsinhalt bringen, eben
Jene subjektive Sicherheit ihrer Möglichkeit und Wirklichkeit besitzt,
während andere, die unsere Phantasie ebenso möglich sind und
der empirischen Bestätigung nicht mehr entbehren wie jene, ein solches
Gefühl nicht mit sich bringen.
Die auffälligste und unausrechenbarste Begabung nach dieser Seite
pflegt man als Genialität zu bezeichnen: der Genius scheint Erkenntnisse
aus sich selber zu schöpfen, die der nicht? geniale Mensch nur aus
der Erfahrung gewinnen kann.
Auf die leisesten Anregungen hin stellt sich ihm ein innerlich zusammenhängendes,
überzeugendes Bild geistiger Vorgänge dar, Verknüpfungen
der Gedanken und Leidenschaften geschichtlicher Personen, für deren
Sinnesweise es längst keine Beispiele mehr gibt; seine Phantasie,
das Entlegenste zusammenbringend, das Wunderlichste deutend, verfügt
dabei über ein Material, das ihm seine Erfahrung nicht zur Verfügung
gestellt haben kann.
Mit der völligen Unerklärtheit dieser psychologisch? historischen
Genialität sich zu begnügen, ist deshalb besonders mißlich,
weil die Frage sich nicht nur gegen die paar höchsten Genies richtet,
sondern zwischen diesen und den Alltagsmenschen unzählige vermittelnde
Erscheinungen stehen, )a die letzteren selbst oft genug gelegentliche Ansätze
zu der scheinbar überempirischen genialen Nachbildung ihnen sonst
fremder Seelenvorgänge zeigen.
Dies liegt um so näher, als der historische Genius doch seine Deduktionen
auch seinerseits nur in Worten niederlegen kann, die die psychischen Prozesse,
auf die es ankommt, bei Anderen nur anregen und erleichtern können,
den Vollzug derselben aber schließlich ihnen überlassen müssen.
Um dieses große Gebiet des Verständnisses nicht selbsterfahrener
Seelenvorgänge nicht ganz als Wunder zu betrachten, können wir
ein solches Verständnis etwa als ein Bewußtwerden latenter Vererbungen
ansehen.
Die früheren Generationen haben die organischen Modifikationen,
die mit ihren Seelenvorgängen in unaufgeklärter Weise verbunden
waren, auf die späteren in irgend einer Form vererbt; die unermeßliche
Fülle, Kleinheit und Gegensätzlichkeit der einzelnen Teile dieser
Erbschaft lassen sie aber im allgemeinen nicht zum klaren Bewußtsein
kommen.
Genie nennen wir nun einen Menschen, in dem dieses Mitgegebene so günstig
angeordnet ist, daß seine Reproduktion leicht, auf minimale Anregungen
hin, und zu klarem Bewußtsein hinreichend stattfindet.
Psychische Prozesse, die seiner individuellen Erfahrung ganz fern liegen,
vollziehen sich in ihm, weil sie als Gattungserinnerungen in seinem Organismus
abgelagert sind und zwar ausnahmsweise derart, daß die unzähligen
Gegenstrebungen und Verdunklungen, die aus der gleichen Quelle fließen,
sie doch nicht vom Bewußtsein ausschließen.
Daraus verstehen wir denn auch leicht die gelegentlichen Genieblitze
sonst ungenialer Personen und die allgemeine Möglichkeit solcher,
dem vom Genius eröffneten Verständnis zu folgen, wenn den auch
in ihnen vorhandenen Vererbungen durch deutliches Aussprechen und Anregen
verwandter Gruppen psychologische Hülfen zum Emporsteigen in das Bewußtsein
gewährt werden.
Jene mystische Lehre Platos, nach der alles Lernen nur ein Wiedererinnern
ist, käme so zu einem ganz realen Sinn.
Wenn wir längst entschwundene Menschen mit der ganzen Fülle
ihrer innerlichsten Triebe in uns nachbilden, wenn uns aus der fragmentarischen
Überlieferung ihr Charakter entgegenblickt, der sich unter völlig
fremden, nie von uns angeschauten Verhältnissen gebildet hat, so ist
es offenbar vergebens, diese Fähigkeit aus den Erfahrungen des individuellen
Lebens erklären zu wollen, ebenso wie man die Zweckmäßigkeit
instinktiver Bewegungen oder Richtung und Richtigkeit sittlicher Impulse
nicht aus dieser Quelle herleiten kann.
Wie unser Körper die Errungenschaften vieltausendjähriger
Entwicklung in sich schließt, und
in den rudimentären Organen noch unmittelbar die Spuren früherer
Epochen bewahrt, so enthält unser Geist, wie die einfachste Besinnung
zeigt, die Resultate und die Spuren vergangener psychischer Prozesse von
den verschiedenen Stufen der Gattungsentwicklung her.
Das ganze Maß unseres Verständnisses auch für solche
Mitlebende, die von unserer eigenen Sinnesart sehr abweichen, mag daher
kommen, daß unsere Erbschaft von der Gattung außer unserem
wesentlichen Charakter doch noch Spuren anderer Ahnencharaktere enthält
und uns so das Verstehen ? d.h. das Vollziehen der gleichen psychischen
Prozesse wie jene ? ermöglicht.
Der geniale Menschenkenner ist nur der nach dieser Seite hin bevorzugte
Erbe der Gattung und der geniale Historiker stellt nur eine Steigerung
von ihm dar.
Denn das historische Verständnis ist doch nur graduell von dem
der gleichzeitigen Personen und Verhältnisse unterschieden.
Auch diese bieten uns nur äußerliche Erscheinungen, nicht
einmal vollständige, und auf die sinnliche Empirie hin angesehen,
ist jeder andere Mensch für uns ein Automat, jedes seiner Worte ein
bloßer Schall, in den wir eine Seele erst aus unserem eigenen Ich
hineinlegen müssen.
Nur quantitativ ist von dem Prozeß des Verstehens, den wir an
der Äußerlichkeit solcher Bilder vornehmen, der des historischen
Erkennens verschieden; dieser findet nur ein viel unvollständigeres
und zusammenhangsloseres Material, noch unsicherere Hinweise, noch größeren
Spielraum der Konjektur und umfassendere Notwendigkeit ihrer.
Müssen wir aber um alles dessen willen auf die dunklen Vererbungen
zurückweisen, die uns auch das nicht Selbsterlebte verständlich
machen, so wird die Scheidung zwischen den allgemein gültigen Voraussetzungen,
die wir an die Ereignisse behufs ihres Verständnisses heranbringen,
und den nur persönlichen Interpretationen außerordentlich erschwert.
Fließt das geniale, aber auch alles sonstige Verständnis
des historischen Geschehens aus solcher Quelle, so ist es unseren Erkenntnismitteln
völlig versagt, jene Voraussetzungen bis ins letzte zu zergliedern
und ihrerseits auf ihre Quellen zurückzuführen; für diese
Fälle wird ein tatsächliches Feststellen und Registrieren ihrer
genügen müssen.
Wenn die psychologische Rekonstruktion des üblichen Geschichtsinhaltes
mit verhältnismäßiger Sicherheit und allgemeiner Zustimmung
vor sich geht, so stammt dies daher, daß es sich hier wesentlich
um die Interessen und Bewegungen ganzer Gruppen handelt, und solche auch
für die Aktionen der historischen Einzelpersonen Grundlage und Zielpunkt
bilden.
Diese aber sind zunächst außerordentlich viel einfacher
und unzweideutiger, als individuellere Verhältnisse.
Bei größeren Massen handelt es sich immer um die primären
Grundlagen der Existenz, um die allgemeinen, großen und groben Interessen,
in denen sich viele Menschen zusammenfinden können und über denen
sich erst die feineren und schwierigeren Individualisierungen der seelischen
Regungen erheben.
Wie eine Gesamtheit die Äußerungen ihres Wollens und Denkens
nicht absichtlich verstellen kann, was dem Einzelnen möglich ist,
so tut sie es auch nicht unabsichtlich, sondern dokumentiert ihre Strebungen,
ihre psychischen Aktionen und Reaktionen so deutlich, wie eben die Äußerungen
der einfachen, einer Masse als ganzen eigenen Triebe gegenüber den
persönlich differenzierten deutlich sind.
Und eben deshalb werden nun ferner die psychischen Grundlagen der geschichtlichen
Bewegungen jedem leicht verständlich sein; um so viel sicherer es
ist, daß sich die niedrigeren und primitiven, also länger vererbten
Interessen, in jedem Einzelnen finden, um so wahrscheinlicher wird diesem
die Reproduktion jener gelingen.
Wo rein individuelle Fragen ins Spiel kommen, wird die Verschiedenheit
der Individualitäten die Reproduktion, d. h. das Verständnis,
oft verhindern; was aber ganze Gruppen wollen und was der Einzelne in Beziehung
zu ihnen weiß, ist eben mit großer Sicherheit in jedem Individuum
vorhanden und also anregbar.
Daher verbirgt sich auch die Subjektivität und Personalität
des Nachfühlens im geschichtlichen Erkennen, die wir gegenüber
einzelpersönlichen Vorgängen leichter zugeben.
Indem wir sozial? psychische Prozesse uns zum Objekt machen, indem wir
sie nachempfinden, haben wir nicht die Vorstellung, auf unsere Subjektivität
und die Zufälligkeit ihrer inneren Erfahrungen angewiesen zu sein,
sondern ein schlechthin Objektives vorzustellen.
Und doch ist dieses Objektive hier wie sonst nur ein sehr allgemeines
Subjektives, und enthält nur Empfindungen, die der Sphäre des
Persönlichen dadurch entrückt scheinen, daß keine Persönlichkeit
sich ihnen entziehen kann.
Aber im Grunde sind auch die Empfindungen, welche soziale Bewegungen
zu Stände bringen (die notwendige Ober? und Unterordnung in der Gruppe,
die Vereinigung zu allgemeinen Zwecken oder die Zerfällung zu individuellem
Nutzen, die Erhebung und Umwandlung durch religiöse und politische
Ideen) nur durch ein persönliches Nachempfinden beurteilbar, ja konstatierbar.
Auch was wir in solchen Bewegungen meinen mit Händen greifen zu
können, können wir doch nur mit der Seele greifen.
Die Verschiedenheit des Apriori, mit dem wir die geschichtlichen Tatsachen
deuten und anordnen, tritt indes eigentlich nur an einem ganz anderen Punkt
in die auffälligste Erscheinung: wenn die Darstellung durch ein inhaltlich
bestimmtes Vorurteil geleitet ist.
Der entschiedenste Fall ist die von vornherein feststehende Tendenz,
die der Forschung das Ziel, zu dem sie zu gelangen hat, angibt und sie
erst in dem Augenblick, wo sie dahin gelangt, für richtig und vollendet
ansieht oder ausgibt ? gerade wie man jegliche Forschung erst dann für
richtig erklärt, wenn sie dem Kausalgesetz genügt.
Wenn wir hier von den ganz oder halb bewußten Fälschungen
absehen, die um praktischer, persönlicher oder Parteizwecke willen
geschehen, so wird namentlich die in der Anmerkung auf S.323 behandelte
Schwierigkeit dem tendenziösen Apriori ein breites Feld öffnen.
Einige Einzelheiten einer Persönlichkeit oder einer Periode sind
gegeben; daraus formt sich ein Bild ihrer Totalität und ihres innerlichen
Charakters; nun werden neue Einzelheiten sehr leicht als apokryph gelten,
wenn sie in dieses schon fixierte Bild nicht passen, oder werden bis zur
Übereinstimmung mit ihm modifiziert werden.
Die objektive Überzeugung nach dieser Seite wird dabei leicht einen
Rückhalt an Interessen des Gemütes erhalten; wenn z.B. auf gewisse
Momente hin der Eindruck eines großartigen oder sehr sittlichen Charakters
entstanden ist, so wird ein persönliches Interesse für denselben
eintreten, das die Voraussetzungen für die Auffassung jeder künftigen
Tatsache in der bestimmten Richtung festhalten wird.
Die psychologische Bedeutung des ersten Eindrucks wird sich auch hier
geltend machen.
Wie die ersten Überzeugungen des Lebens das geistige Feld noch
frei finden und sich vielfach mit ungehemmter Kraft so festsetzen können,
daß sie über Annahme oder Verwerfung aller künftigen entscheiden,
so wiederholt es sich dem einzelnen Gebiet und Problem des Erkennens gegenüber.
Das Urteil, das aus dem ersten Phänomen unbefangen gewonnen war,
wird dem zweiten gegenüber zum Vorurteil, und jedes neu eintretende
findet eine schon eingeschlagene Richtung des Anschauens und Urteilens
vor, von der es oft genug widerstandslos mitfortgerissen oder wenigstens
zu einem Kompromiß gezwungen wird.
- Es ist leicht zu sehen, daß hier ein zweiseitiges Problem vorliegt:
einmal nach der subjektiven Seite, in Hinsicht auf die Schwerkraft des
Denkens, die dieses in der einmal begonnenen Richtung festzuhalten strebt,
auf das subjektive Vorurteil, das das Alte a priori zum Maßstab für
das Neue macht: dann aber nach der objektiven Seite, indem in den Personen
und Ereignissen die Einheitlichkeit und Kontinuität vorausgesetzt
wird, die jene subjektiv? psychologische Tendenz zu ermöglichen und
zu rechtfertigen scheint.
Die Frage nach dem Anteile des Objekts und dem des Subjekts an der Erkenntnis,
von Kant ungebührlicherweise auf die allgemeinsten Verhältnisse
beschränkt, die allen Denkprozessen unmodifizierbar gemein sind, entsteht
auch diesen spezifischen Vorgängen des Erkennens gegenüber, die
durch selbst schon sehr zusammengesetzte Prinzipien geleitet werden.
Jene charakterologische Einheit der Individuen wie der Gruppen gehört
offenbar zu den apriorischen Voraussetzungen jeder Geschichtsforschung
4).
Nun aber ist diese Einheit nichts formales, kein allgemeines Schema,
aus dem sich das Verhältnis seiner empirischen Inhalte von vornherein
bestimmen ließe.
Ein tiefer Irrtum steckt in dem Glauben, man könne aus der Einheit
der menschlichen Persönlichkeit ihr notwendiges Verhalten nach gewissen
Normen und Konsequenzen erschließen.
Umgekehrt vielmehr, wir beobachten eine gewisse Zusammenordnung und
Entwicklungsfolge der psychischen Phänomene als die durchgehende,
und die Einheit der Persönlichkeit ist nur ein Name für die tatsächliche
? nicht rein logisch zu eruierende ? Verknüpfung derselben.
Man versteht unter dieser Einheit im allgemeinen, daß die Handlungen
und Vorstellungen eines Menschen so beschaffen sind, daß wir sie
als Hervorbringungen eines numerisch einfachen und unveränderlichen
Seelenwesens begreifen.
Da dieses nun aber ein bloßes x ist, von dem wir weiter nichts
aussagen können, so bedeutet die Einheitlichkeit des Wesens, daß
wir die Vorstellungen des Menschen aufeinander zurückführen und
auseinander erklären können.
Es bedarf also gewisser Prinzipien, deren Herrschaft uns die Einheit
der Persönlichkeit darstellt, welche unmittelbar nicht wahrgenommen
werden kann.
Wenn wir also die Einheit der Persönlichkeit darin sehen, daß
dieser Mensch, dessen Leben durch schweres Unglück verbittert ist,
auch in der Welt außer ihm nur Leiden und Dissonanzen sieht, wenn
wir sagen, es sei derselbe Zug, infolge dessen er vielleicht für sich
selbst stets neues Unglück fürchtet und seinen Mitmenschen das
Leben schwer macht, so kennen wir eben psychologische Regeln, vermöge
deren wir einen dieser Vorgänge auf den anderen genetisch zurückführen
können.
Diese Synthesen sind nicht verständlich, weil sie einheitlich sind,
sondern wir nennen sie einheitlich, weil sie verständlich sind; und
als verständlich erscheinen sie uns nur, weil wir gewöhnt sind,
sie zu beobachten.
Deshalb stört es auch die Einheit der Persönlichkeit nicht,
wenn man neben eigenem Leid gerade das Bestreben, Andere glücklich
zu machen erblickt, oder neben demselben gewissermaßen zum Ersatz
ein theoretischer Optimismus auftaucht, wie es oft bei körperlich
verunglückten Individuen der Fall ist.
Die Einheit der Persönlichkeit scheint uns bei einem Geizigen ebenso
gewahrt, wenn er das Erworbene um keiner Zukunftschance willen aus Händen
gibt, wie wenn er es mit vollen Händen wegwirft, sobald er wucherischen
Gewinn dafür erhofft.
Die Erscheinungen an und für sich und ihrem Inhalt nach entscheiden
also noch nicht darüber, ob sie eine Einheit bilden, sondern nur dies,
ob man auf irgendwelche bekannten Regeln hin eine Kausalverbindung zwischen
ihnen entdecken kann.
So nehmen wir einerseits eine inhaltliche Ähnlichkeit der Handlungen
eines Individuums untereinander an, andererseits eine gewisse Unähnlichkeit,
wenn nämlich abgeänderte äußere Umstände sein
Handeln beeinflussen.
Und während dies eine Ungeändertheit des inneren Kernes voraussetzt,
gehört doch gerade eine Abänderung in demselben zum Bilde einer
einheitlichen Persönlichkeit, wenn nämlich verschiedene Lebensalter
derselben in Betracht gezogen werden.
Der Schluß, der bei gewissen gegebenen Handlungsweisen einer Person
auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit anderer gezogen wird,
ist nie ein unmittelbar logischer, sondern hängt von einer realen
psychologischen Erfahrung als Obersatz ab.
Welchen Einfluß dies und die Erweiterung davon auf Perioden und
Gruppen, auf die Konstruktion des historischen Verlaufs, auf die Deutung
der Einzeltatsachen, auf die Ergänzung der Überlieferung, auf
die Kritik derselben ausübt, bedarf nur der Andeutung.
Es wäre nun die wichtigste Aufgabe für die Philosophie der
Historik, jene einzelnen Normen festzustellen, die wir auf Grund der »Einheitlichkeit«
der Charaktere zu Kriterien der Überlieferungen und Vehikeln der Darstellung
machen; die Latitüde, innerhalb deren wir abweichende Handlungen dennoch
für möglich erklären; die Entwicklungen und Abänderungen,
die wir als selbstverständlich, aus dem inneren Prinzip der Persönlichkeit
folgend, annehmen und diejenigen, bei denen wir eine Erklärung in
den äußeren Umständen meinen suchen zu müssen.
Denn zweifellos gibt es sehr bestimmte Regulative dieser Art, nach denen
verfahren wird, die zwischen dem Historiker und seinem Leser stillschweigend
vorausgesetzt werden, an deren bewußter Konstatierung es aber noch
mangelt.
Und ein noch tiefer gelegenes Problem eröffnet sich, wenn wir nach
der oben erwähnten Doppelheit der Motivierung für die vorausgesetzte
Einheitlichkeit der historischen Subjekte fragen: inwieweit objektive psychologische
Erfahrung und inwieweit die subjektive Tendenz zur leichtesten Denkmöglichkeit
und Vereinfachung der Erkenntnis zu der Formung der historischen Bilder
mitwirkt ? zu der Formung, die auf gegebene erste Tatsachen hin ein Schema
des weiteren Verlaufs entwirft und so die Weite der charakterologischen
Abweichung von dem zuerst Gesetzten begrenzt.
Bei den allgemeinsten Voraussetzungen, mit denen wir das Erkenntnismaterial
formen: den mathematischen Axiomen, den primärsten Vorstellungen von
Substanz und Kraft, dem Kausalgesetz, den logischen Prinzipien usw. ? kann
diese Frage einfachere Antworten finden.
Der Idealismus wird solche Voraussetzungen ohne weiteres aus dem Subjekte
herleiten und jeglichen Anteil des Objekts und der Erfahrung an ihrem Zustandekommen
abweisen.
Der empiristische Realist wird umgekehrt gerade bei diesen grundlegendsten
Vorstellungen die unbedingte Übereinstimmung mit dem Objekte und ihre
Begründung auf die fortwährende Erfahrung über dieses behaupten.
So klare prinzipienmäßige Abscheidung ist in unserer Frage
nicht möglich.
Schon die generelle Gleichheit zwischen der erforschenden und der erforschten
Seele macht es wahrscheinlich, daß allerallgemeinste Tendenzen der
ersteren in der zweiten ein Gegenbild und so ihre Annahme eine Rechtfertigung
finden und daß das Forschungsresultat von beiden Seiten her im gleichen
Sinne bestimmt sein wird.
Der Realist muß zugeben, daß oft genug und schon ohne besondere
Kritik bemerkbar genug, subjektive Voraussetzungen und Maximen, die der
Einheitlichkeit und Einfachheit des Denkens dienen, über die historische
Formung entscheiden; andererseits wird man, selbst die weitgehendsten psychologischen
Einflüsse auf die letztere einräumend, nicht leugnen, daß
auch bei dem Verzicht auf jede mitgebrachte monistische Überzeugung
die Wirklichkeit noch genug Belege für eine solche darbietet; wie
es denn überhaupt, in je höhere und kompliziertere Gebiete wir
aufsteigen, um so untunlicher wird, zwischen ihren apriorischen und ihren
aposteriorischen Bestandteilen kurzer Hand und mit entschiedenem Entweder-
Oder zu scheiden.
Eine der höchsten Aufgaben der Philosophie der Historik aber dürfte
die Feststellung ihrer Grenze und insbesondere ihrer Wechselwirkung sein,
der gegenseitigen Steigerung zwischen dem subjektiven und dem empirischen
Faktor jener Vorstellung einer Einheitlichkeit in Menschen, Ereignissen,
Gruppen und Zeitabschnitten.
Man kann diese Erörterungen in den Satz zusammenfassen: die Psychologie
ist das Apriori der Geschichtswissenschaft.
Die Aufgabe der Erkenntnistheorie ihr gegenüber ist: die Feststellung
der Regeln, nach denen aus den äußerlichen Dokumenten und Überlieferungen
auf psychische Vorgänge geschlossen wird, sowie derjenigen, welche
zur Herstellung eines »verständlichen« Zusammenhangs zwischen
den letzteren genügen.
Fussnoten
1) Sie setzt freilich auch ihrerseits mancherlei voraus, das implizite
in allen von ihr abhängigen anderweitigen Erkenntnissen steckt.
2) Die besondere Schwierigkeit liegt für den Historiker darin,
daß er das Gesamtbild einer Persönlichkeit nur aus ihren einzelnen
Äußerungen gewinnen, diese Einzelheiten aber nur aus einem schon
zum Grunde liegenden Gesamtbild der Persönlichkeit richtig deuten
und gruppieren kann.
Dieser logische Zirkel wird, wie viele ähnliche,
in der Praxis dadurch gelöst, daß die einander voraussetzenden
Momente sich wechselwirkend und allmählich entwickeln.
Die absolut richtige Erkenntnis des Charakters und der Gesamttendenz
einer Person könnte natürlich nur auf Grund absolut richtiger
Deutung ihrer Äußerungen gewonnen werden, und ebenso umgekehrt;
wenn es sich also gleich um die unbedingte Richtigkeit und Vollständigkeit
von beiderlei Erkenntnissen handelte, so wurde es zu keinem von beiden
kommen können.
Allein da die eine wie die andere stückweise gewonnen
wird, da in beiden eine allmähliche Steigerung von der Vermutung und
versuchsweisen Annahme bis zur Gewißheit stattfindet, so dient ein
auf einer Seite als fest angenommener Punkt zur Fixierung eines solchen
auf der anderen, dessen Zusammenhang mit weiteren nun wieder den ersteren
bestätigt.
Irgendwo muß freilich dogmatisch oder hypothetisch begonnen
werden, und erst die Haltbarkeit der daraufhin erfolgenden Weiterführungen
kann über die Wahrheit der Grundlage entscheiden; im Geistigen trägt
nicht nur das Fundament den Bau, sondern auch der Bau das Fundament.
Das Verhältnis des Ganzen zum Einzelnen, das allenthalben
der Methodik des Erkennens die bedenklichsten Rätsel aufgibt, zeigt
seine Schwierigkeiten eben auch da, wo es sich um das Ganze und um das
Einzelne eines Individuums handelt.
Auch bezüglich des Wesens und der Tendenz ganzer Völker
und Gruppen, ganzer Zeitperioden, ja einzelner Ereignisse gilt die gleiche
Erkenntnisschwierigkeit.
Es wäre eine der feinsten Aufgaben für die Erkenntnistheorie,
den tatsächlich geübten Modus dieser Gegenseitigkeit ins Bewußtsein
zu heben und im einzelnen zu zeigen: wie unsere geschichtliche Auffassung
zunächst die Einzelheiten behandelt, die ohne ein Bild des Ganzen
zweideutig, wenn nicht sinnlos sind; welches die typischen Veränderungen
sind, die die probeweise angenommene allgemeine Tendenz an der Auffassung
der Einzelheiten zuwege bringt; wenn die auf das Einzelne und die auf das
Ganze gerichteten Erkenntnisse schichtenförmig übereinander gelagert
sind ? in welchem Verhältnis diese Schichten breiter werden, je höher
der Gesamtbau geführt ist usw.
3) Es handelt sich hier um ein eigenartiges und in seiner Eigenart
nicht ganz leicht zu erfassendes Apriori.
Wenn wir ein solches in der Erkenntnistheorie zugeben, so meinen
wir damit inhaltlich bestimmte und begrifflich zu fixierende Vorstellungen,
die sich nachher an der fertigen Erfahrung in immer gleicher Weise aufzeigen
lassen: so daß die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Apriori als
sein wesentliches Kennzeichen gilt.
Hier aber handelt es sich um ein Apriori, dessen Inhalt nicht allgemein,
sondern individuell ist, und an dem nichts allgemein und notwendig ist,
als daß diese Stelle der Erkenntnis überhaupt von irgend einem
Apriori ausgefüllt und bestimmt werde, während es völlig
unbestimmt und zufällig ist, welche von den unzähligen möglichen
Erfüllungen ihr in dem gerade vorliegenden Falle werden soll.
Die Frage, die für die Kantische Kritik so bedeutungsvoll wurde:
ob das Apriori des Erkennens selbst a priori erkannt werden kann, findet
für das vorliegende die Erledigung, daß zwar seine generelle
Notwendigkeit a priori feststeht ? die Erkenntnis, daß die logischen
Kategorien nur in der Färbung und Tönung einer ganzen Individualität
wirksam werden ?, aber der spezielle Inhalt dieses Apriori des Apriori
ist völlig variabel und kann nur von Fall zu Fall konstruiert werden.
Daß die psychologisch? historische Erkenntnis dem Apriori der
lndividualität einen viel größeren Einfluß gewährt,
als die Erkenntnis der äußeren Natur, liegt daran, daß
über die Kategorien der Anordnung und Beurteilung, auf die es seinen
Einfluß zeigt, aus naheliegenden Gründen noch keine so große
Einstimmigkeit unter allen Individuen erzielt werden konnte, als es bezüglich
der Kategorien für die Außenwelt der Fall ist.
Für die letztere macht sich die Individualität in der Tönung
der logischen Kategorien nicht geltend, weil gleichzeitig nur verschwindende
? wenn auch für die verschiedenen großen Kulturperioden durchaus
bemerkbare ? Unterschiede der Individualität nach dieser Richtung
hin bestehen.
Das Logische und das Psychologische konnte hier zu einer Einheit
zusammenwachsen, die zu trennen man keine Veranlassung hatte.
4) Durch eine eigenartige Wendung der so vorausgesetzten Einheit
kommt die Schilderung der Äußerungen von ganzen Gruppen zustande.
Es pflegen nur einzelne Stimmen oder einzelne Vorkommnisse zu sein,
die exakter Weise gewußt werden; allein wenn sie innerhalb eines
Kreises liegen, der durch sonst bekannte Interessen oder Verbindungen zusammengehalten
wird, gelten sie als Äußerungen der Gesamtheit dieses Kreises.
Wie vom Individuum immer nur einzelne Wesensäußerungen
bekannt sind, die aber doch für uns die Gesamtheit seiner Persönlichkeit
umschreiben, so erweitern sich einzelne Symptome aus einer Gruppe zu einer
bestimmt charakterisierten seelischen Bewegung der Gruppe als ganzen.
Ich wähle aufs Geratewohl Stellen aus Mommsens Römischer
Geschichte: »Ein Schrei der Entrüstung ging durch ganz Italien.«
II, 145. Marius zeigte sich »als einen Feldherren, der den Soldaten
in Zucht und doch bei guter Laune erhielt und zugleich im kameradschaftlichen
Verkehr seine Liebe gewann«.II, 192.
Die Aristokratie - »gab sich nicht die mindeste Mühe,
ihre Besorgnis und ihren Ingrimm zu verhehlen«. III, 190. »Die
Parteien atmeten auf«. III, 193.
Und aus Burckhardts Kultur der Renaissance: »Mit einer grauenerregenden
Naivität gesteht Florenz von ;eher seine guelfIische Sympathie für
die Franzosen ein«. I, 89. »In schrecklichen Augenblicken erwacht
hier und da die Glut der mittelalterlichen Buße, und das geängstigte
Volk will mit Geißelungen und lautem Geschrei um Barmherzigkeit den
Himmel erweichen«. II, 232.
Während die Einheit der charakterologischen Entwicklung aus
einzelnen gegebenen Momenten eine Vollständigkeit des Nacheinander
aufbaut, findet hier eben dasselbe für das Nebeneinander statt.
Wie dort die individuelle Seele, wird hier sozusagen die Sozialseele
als eine so einheitliche vorausgesetzt, daß das unmittelbar, aber
nur fragmentarisch Gegebene den Schluß auf die gleiche Beschaffenheit
des Nichtgegebenen zuläßt.
Georg Simmel: Probleme der
Geschichtsphilosophie
Eine erkenntnistheoretische Studie
Duncker
& Humblot, Leipzig 1892
1.
Kapitel: Von den psychologischen Voraussetzungen der
Geschichtsforschung
2.
Kapitel: Von den historischen Gesetzen
3.
Kapitel: Vom Sinn der Geschichte
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