Pierre Teilhard de Chardin:

Visionär oder Evolutionsmystiker

Vera Haag

 

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Evolutionstheorie Pierre Teilhard de Chardins

2.1 Biografischer Abriss
2.2 Die Evolutionstheorie Teilhard de Chardins

2.2.1 Die Geogenesis oder die Vorstufe des Lebens
2.2.2 Die Biogenesis oder die Entstehung des Lebens
2.2.3 Die Noogenesis oder das Erscheinen des Menschen
2.2.4 Die Christogenesis oder das höhere Leben

2.3 Kritik und Würdigung

3 Die grossen Evolutionstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts

3.1 Der Lamarckismus
3.2 Der Neolamarckismus
3.3 Der Darwinismus
3.4 Der Neodarwinismus
3.5 Die Synthetische Theorie
3.6 Verortung der Theorie Teilhard de Chardins

4 Kriterien einer Evolutionstheorie

4.1 Wissenschaftliche Theorie
4.2 drei Grundfragen der Evolutionstheorie

5 Konklusion

6 Bibliographie


"Die wahre Wissenschaft ist die Wissenschaft von der Zukunft, die nach und nach durch das Leben verwirklicht wird." 

Pierre Teilhard de Chardin, aus "Geheimnis und Verheissung der Erde", S. 50

1 Einleitung

Im Rahmen des Seminars "Theorien gesellschaftlicher Evolution" im Sommersemester 1998 habe ich zwei Evolutionstheoretiker, Herbert Spencer und Pierre Teilhard de Chardin, vorgestellt. In der vorliegenden Seminararbeit beschränke ich mich auf die Betrachtung von Pierre Teilhard de Chardin, weil die beiden Exponenten sehr verschiedenen sind und kaum Berührungspunkte haben. Spencers Theorie war dem lamarckschen Mechanismus der Vererbung erworbener Eigenschaften und Darwins natürlicher Selektion verpflichtet. Sie war ein Ausdruck des liberalen Glaubens des späten 19. Jahrhunderts und erlangte vor allem in Amerika und England beachtliche Popularität, weil die allgemeine Idee der progressiven Evolution als Hintergrund für bestimmte Formen der Sozialpolitik nutzbar gemacht werden konnte. Von Spencer stammt auch der Begriff "survival of the fittest", der von Darwin übernommen wurde (Bowler 1995: 312ff).

Teilhard de Chardins Theorie hingegen ist der Versuch, die Entstehung der Welt auf geistiger Ebene zu erklären. Er stützt sich auf die Erkenntnisse aus der Biologie und der Anthropologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und fügt eine geistige Komponente hinzu, wodurch er zeit seines Lebens sowohl in naturwissenschaftlichen Fachwelt als auch in der katholischen Kirche sehr umstritten war. Bis heute ist sich die Fachwelt nicht einig, ob Teilhard lediglich Evolutionsmystik betreibt, oder ob man ihn als Wissenschaftler ernst nehmen kann.

Die auseinanderklaffenden Unterschiede der Theorien und die umstrittene Akzeptanz Teilhards haben mich dazu bewogen, mich ausschliesslich mit seiner Theorie zu beschäftigen. In der vorliegenden Seminararbeit versuche ich in einem ersten Schritt, Teilhards Theorie den grossen Strömungen der Evolutionstheorien des vergangenen Jahrhunderts und deren Ausläufern zuzuordnen bzw. ihn davon abzugrenzen. In einem zweiten Schritt versuche ich festzustellen, ob Teilhards Evolutionstheorie nach von wissenschaftlichen und fachspezifischen Kriterien Geltung hat. Schliesslich geht es mir um die Frage, ob man Teilhard als einen Evolutionstheoretiker bezeichnen kann, oder ob es lediglich Evolutionsmystik war, die er betrieben hat.

In der verwendeten Literatur habe ich mich bewusst eingeschränkt, die ausgewählten Werke jedoch detailliert betrachtet. In der Analyse der Evolutionstheorie Teilhards stütze ich mich insbesondere auf sein Werk "Der Mensch im Kosmos".

Inhalt


2 Die Evolutionstheorie Pierre Teilhard de Chardins

2.1 Biografischer Abriss

Am 1. Mai 1881 wird Marie-Joseph Pierre Teilhard de Chardin in der Nähe von Clermont-Ferrand geboren. Seine Eltern entstammen beide dem Landadel der Auvergnaten. Sein Vater ist Bibliothekar und weckt in seinem Sohn als Jäger und Hobby-Naturwissenschaftler schon frühzeitig den Sinn für Minerale, Pflanzen, Insekten, die Vogelwelt und damit auch die Beobachtungsgabe. Von seiner Mutter übernimmt er eine religiöse Grundhaltung, die die Atmosphäre in der Familie bestimmt. Pierre Teilhard wächst in einer "(...) schützenden Hülle unproblematischer, katholischer Frömmigkeit (...) heran" (Hemleben 1987: 12). 1899 tritt Teilhard in Aix-en-Provence als Novize in den Jesuitenorden ein. Sein Juvenat absolviert er in Laval-sur-Mayenne und auf der Kanalinsel Jersey. (ebd: 10ff)

1905 fährt er als Lehrer für Physik und Chemie nach Ägypten, an das Collège de la Sainte-Famille in Kairo. 1908 wird Pierre Teilhard nach Hastings gesandt, um das theoretische Scholastikat auf dem Weg zur Priesterweihe zu absolvieren, die er 1911 emfpängt. In dieser Zeit liest er das Buch "Schöpferische Entwicklung" von Henri Bergson, der auf philosophischem Wege die Versöhnung von Schöpfung und Entwicklung herbeizuführen versucht. Auf Teilhard macht dieses Buch den grössten Eindruck. Die Verbindung der Christologie mit der Lehre von Lyell, Huxley und Darwin kann Bergson in seinem Werk nicht herstellen, um so mehr wird es zum Lebensthema Pierre Teilhard de Chardins. (ebd: 27ff)

In den Kriegsjahren 1914 bis 1919 arbeitet Teilhard als Priester an der Front, unter anderem in Reims, Verdun und in den Vogesen. Von dort aus schickt er regelmässig Briefe und Aufsätze an seine Cousine Marguerite Teillard-Chambon, die sich als Schriftstellerin Claude Aragonnès nannte. In den Kriegsjahren macht Teilhard Grenzerfahrungen, die sein Leben nachhaltig beeinflussen werden. Dass des Menschen Seele und Geist zur Evolution, zum Wachstum bestimmt sind, gehört von nun an zu den Grundüberzeugungen Teilhards. Nach dem Krieg beginnt Teilhard in Paris das Studium der Geologie und Paläontologie, das er 1922 mit einer Dissertation abschliesst. Zugleich wird Teilhard Präsident der "Société géologique de France". (ebd: 45ff)

1923 unternimmt Teilhard seine erste China-Reise. Als er 1924 zurück nach Paris kommt, stellt er fest, dass es die Obrigkeit der Kirche nach Einsicht in seine neusten Schriften aus China bevorzugt, ihm jede Lehrtätigkeit zu untersagen. Wieder in China entsteht 1926 "Der göttliche Bereich", eines der wichtigsten Werke von Teilhard. Es ist kein naturwissenschaftliches Werk, sondern eher die Darstellung seines Geistes. Die Veröffentlichung wird ihm vorerst untersagt und erfolgt erst zwei Jahre nach seinem Tod. (ebd: 70ff)

1927 bricht Teilhard erneut auf nach Peking auf. Er gehört zu den ersten Geologen, die die Bedeutung der neuen Funde, insbesondere des Peking-Menschen, erkennen. Er folgt mit lebhaftem Interesse den Ausgrabungen und berichtet in wissenschaftlichen Arbeiten hauptsächlich über die Wirbeltierfaunen von Choukoutien (China). Bei Kriegsausbruch 1939 ist Teilhard gezwungen in China zu bleiben, wo er sein Lebenswerk "Le phénomène humain" ("Der Mensch im Kosmos") schreibt, auf das sich auch diese Arbeit bezieht. Die Veröffentlichung erfolgt wiederum erst nach seinem Tod. (ebd: 99ff)

Das Jahr 1950 ist durch zwei markante Einschnitte in Teilhards Leben gekennzeichnet: Die französische Akademie der Wissenschaften ernennt Pater Teilhard de Chardin zu ihrem Mitglied. Damit wird ihm die grösste Ehrung zuteil, die Frankreich an seine Wissenschaftler zu vergeben hat. Gleichzeitig wird ihm in Rom nahegelegt, auf eine ihm angebotene Professur am Collège de France zu verzichten. Teilhard folgt auch hier den Forderungen der Kirche. Auf einer Reise in Südafrika schreibt er: "(...) fest entschlossen bin [ich], ein Kind des Gehorsams zu bleiben. (...) ich kümmere mich (...) nicht mehr um die Verbreitung meiner Ideen (sondern suche sie nur persönlich zu vertiefen)." (ebd: 147) Teilhard als Paläontologe hat sich in Fachkreisen den Ruf eines soliden Forschers und umfassenden Kenners von Wirbeltier-Fossilien erworben. Teilhard als Reformer der christlich-katholischen Theologie und Begründer einer neuen Weltsicht bleibt der Welt vorerst unbekannt.

Nach seiner Afrika-Reise zieht er 1951 nach New York, wo er am 10. April 1955 stirbt. Kaum hat Teilhard die Augen geschlossen, beginnt der Kampf um sein Werk. Ein Wirbelsturm erhebt sich, wie ihn die literarische Welt kaum je zuvor erlebt hat. Natur- und Geisteswissenschaftler, Protestanten und Reform-Katholiken stimmen Teilhard freudig zu. In Paris wird darauf die Fondation Teilhard de Chardin eingerichtet. (ebd: 149ff)

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2.2 Die Evolutionstheorie Pierre Teilhard de Chardins

Die Evolutionstheorie Teilhard de Chardins soll im Folgenden anhand seines bedeutendsten und naturwissenschaftlichsten Werk "Der Mensch im Kosmos" aufgezeigt werden. Das Werk entstand in China während des Zweiten Weltkrieges. Veröffentlicht wurde das Buch erst 1959, vier Jahre nach seinem Tod.

2.2.1 Die Geogenesis oder die Vorstufe des Lebens

Alle Materie ist zunächst gekennzeichnet durch ihre Vielheit, denn Einheiten, so klein sie auch sein mögen, lassen sich immer in noch kleinere Einheiten zerlegen, bis man sich in der schwindelerregenden Zahl an Kleinheit verliert. Je mehr man aber die Materie spaltet, desto mehr zeigt sich ihre fundamentale Einheitlichkeit. Alle Materie, so unterschiedlich sie auch sein mag, ist in ihrem Kern, ihrem Wesen und Verhalten nach, eine homogene Einheit. Die Energie ist dabei die Bindungskraft. Der Kosmos ist also ein System (infolge seiner Vielheit), ein Totum (infolge seiner Einheit) und ebenso ein Quantum (infolge seiner Energie). Die Evolution der Materie kann man auf den stufenweise sich komplizierenden Aufbau der Elemente zurückführen. Teilhard de Chardin geht davon aus, dass aus dem Einfachen (Protonen, Elektronen, Neutronen) durch die harmonische Reihe der Elemente (von Wasserstoff bis Uran), aus den daraus entstehenden Verbindungen schliesslich das Leben entsteht. (Teilhard de Chardin 1959: 14ff) So schreibt er:

"Diese grundlegende Entdeckung, dass alle Stoffe sich von der Ordnung eines einzigen Atom-Urtypus herleiten, ist der Blitz, der uns die Geschichte des Universums erleuchtet. Auf ihre Weise gehorcht die Materie von Anfang an dem grossen biologischen Gesetz der zunehmenden Verflechtung (Komplexifikation). (...) Genetisch gesehen konzentriert sich der Stoff des Universums in immer höher organisierten materiellen Formen." (ebd: 22ff)

Teilhard de Chardin möchte Materialismus und Spiritualität verbinden. Er betrachtet daher sowohl die materielle Seite des Stoffes (Aussenseite) sowie dessen Bewusstsein (Innenseite). Damit möchte er eine ganzheitliche, allumfassende Erklärung der Entstehung der Welt liefern und ist sich bewusst, dass er damit in unentdeckte Gebiete der Wissenschaft vorstösst:

"Das Bewusstsein erscheint evident im Menschen (...), es hat daher, wenn auch nur blitzartig gesehen, eine kosmische Ausdehnung und damit die Aura unbegrenzter räumlicher und zeitlicher Fortsetzung. (...) Dieser Schluss ist folgenschwer. Und dennoch ist es mir unmöglich zu sehen, wie wir ihn vermeiden sollen, sofern wir in Analogie mit der übrigen Wissenschaft verbleiben wollen." (ebd: 31)

Der Stoff ist demnach von zweiseitiger Struktur. Ein Innen, ein Bewusstsein und eine Spontaneität meinen bei Teilhard die gleiche Sache. In ihrem prävitalen Zustand findet man keine konkrete Spur von Bewusstsein. Nach Teilhard ist das Bewusstsein dort ebenso körnig vorhanden, wie die Materie auf dieser Stufe selbst. Die Elemente des Bewusstseins werden wie die Elemente der Materie im Lauf der Dauer komplizierter und differenzierter. So erscheint das Bewusstsein aufgrund von veränderter Intensität. Teilhard beschreibt es wie folgt:

"Ein Bewusstsein steht um so höher, als es einem reicheren und besser organisierten stofflichen Aufbau entspricht. (...) Geistige Vervollkommnung (oder bewusste Zentriertheit) und stoffliche Synthese (oder Komplexität) sind nur die beiden Seiten oder die zusammenhängenden Teile ein und derselben Erscheinung." (ebd: 36)

Zunehmende Zentrierung also auf geistiger und zunehmende Komplexität auf materieller Ebene. Ebenso besitzt jedes Teilchen zwei Arten von Energien: eine tangentiale und eine radiale. Die tangentiale Energie macht das Element mit allen anderen Teilchen solidarisch, die derselben Ordnung angehören, die dasselbe Mass an Zusammengesetztheit oder Komplexität besitzen. Die radiale Energie zieht es in Richtung eines immer zentrierteren Zustandes. Das so konstituierte Teilchen ist imstande, seine innere Komplexität um einen gewissen Wert zu erhöhen. Es gesellt sich den benachbarten Teilchen zu, und durch das Wachsen der Zentriertheit steigert es seine radiale Energie. Diese wird auf tangentialem Gebiet in Gestalt einer Neuordnung wirksam werden. (ebd: 40)

Die Entstehung der Erde beschreibt Teilhard als einen Glücksfall und gesellt sich somit unter die Betrachtungweise der Vertreter des mechanistischen Weltbildes:

"Vor einigen tausend Millionen Jahren löste sich ein Fetzen einer aus besonders beständigen Atomen gebildeten Materie von der Oberfläche der Sonne ab. Anscheinend geschah dies nicht im Lauf eines regelmässigen Prozesses der Evolution der Sternenwelt, sondern infolge eines unglaublichen Glücksfalls. (...) Und ohne die Bande, die ihn an das übrige knüpften, durchzureissen, gerade in angemessener Entfernung vom Mutter-Gestirn, um dessen Strahlen in mittlerer Stärke zu empfangen, ballte sich dieser Lappen zusammen, rollte sich um sich selbst, nahm Gestalt an." (ebd: 43)

Nach Teilhards Schilderungen bildete sich zuerst eine Welt der Gesteine, die in ihrer Fähigkeit zu wachsen beschränkt war. Auf dem Weg der Erdelemente zur Kristallisation löste sich eine Energie ab und wurde frei. Diese Energie vermehrte sich um solche, die beständig durch den Atomzerfall der radioaktiven Stoffe geliefert wurde. Unter Wärmeverbrauch ging die Energie in den Aufbau gewisser Kohlenstoff-, Stickstoff-, Wasserstoff-Verbindungen oder Hydrate ein. Durch Polymerisation entstanden die organischen Verbindungen. (ebd: 44ff)

2.2.2 Die Biogenesis oder die Entstehung des Lebens

Den Beginn des Lebens beschreibt Teilhard de Chardin mit der Entstehung der Zelle als "natürlicher Keim des Lebens" (ebd: 57). Durch die Zelle tritt die molekulare Welt "in Person" an die Oberfläche, wo sie sich schliesslich in den höheren Stufen des Lebens verliert:

"Genau so wie der Mensch nach Ansicht der Paläontologen anatomisch mit der Masse der ihm vorausgehenden Säugetiere verschmilzt – so ertrinkt die Zelle qualitativ und quantitativ in der Welt der chemischen Gebilde, wenn man sie in absteigender Richtung verfolgt. Unmittelbar nach rückwärts verlängert, konvergiert [die Zelle] sichtbar mit dem Molekül." (ebd: 60)

Teilhard geht also davon aus, dass eine natürliche Funktion das Mikro-Organische mit dem Makromolekularen verbindet. Die Zelle ist demnach ein Konstrukt, das eine neue Methode gefunden hat, eine grössere Masse von Materie zu einer Einheit zusammenzufassen. Die Zelle zeichnet sich aus durch eine höhere Komplexität und folglich durch einen höheren Grad an Innerlichkeit, das heisst an Bewusstsein. Nach Teilhard de Chardin ist der Ausgangspunkt des Lebens mikroskopisch und unzählbar. Ebenso geht er davon aus, dass sich die Umwandlung der Makromoleküle zu Zellen bis heute vollzieht und um uns herum fortdauert. Alle Moleküle der lebenden Substanzen sind auf dieselbe Weise asymmetrisch gebaut und enthalten genau dieselben Vitamine. "(...) Je komplizierter die Organismen werden, desto deutlicher wird ihre geburtgegebene Verwandtschaft" (ebd: 79). Der Zelltyp zeichnet sich also aus durch absolute Gleichförmigkeit, durch eine Ähnlichkeit der Methode, um sich zu höheren Organismen zu vereinen (durch Verschmelzung zweier Zellen entsteht eine Dritte) und schliesslich durch allgemeine Entwicklungsgesetze, die Ontogenese, also die Entwicklung des Individuums von der Eizelle zum geschlechtsreifen Zustand, und die Phylogenese, also die Stammesgeschichte der Lebewesen. Der Gesamtprozess, der rund um uns herum abläuft, ist nach Teilhard nicht periodisch und bestimmt die ganze Entwicklung des Planeten. Teilhard drückt es wie folgt aus:

"Eine Kurve, die sich nicht mehr zurückneigt und deren Transformationsstufen sich folglich nicht wiederholen. Auf einer solchen bedeutsamen Kurve (...) muss wohl (...) das Phänomen des Lebens angesetzt werden. (...) Unter diesem Gesichtspunkt (...) enthüllt und verkörpert die Revolution der Zelle einen auf der Kurve der Erdrevolution gelegenen entscheidungsvollen und einzigartigen Keimpunkt, – einen Augenblick, der seinesgleichen nicht hat." (ebd: 81)

Durch die Tatsache, das sich das Leben verdoppelt, hat es nach Ansicht Teilhards eine ungeheure Expansionskraft:

"Durch die erste geschlechtliche Verbindung zweier Elemente (mag, was sie als männlich und weiblich unterscheidet, noch so gering gewesen sein) hat sich das Tor zu jenen Zeugungsarten geöffnet, durch die ein einziges Wesen sich in eine Myriade von Keimen zerstäuben kann. Und zugleich war ein endloses Spiel begonnen: die Kombination der Charaktere, deren Analyse von der modernen Vererbungswissenschaft mit grösster Genauigkeit betrieben wird. Über diese wunderbare Erfindung staunen wir sowenig wie über das Feuer, das Brot oder die Schrift. Und doch, – wieviele Zufälle, wieviele Versuche, wieviel Zeit brauchte es bis zur Reife dieser grundle-genden Entdeckung, der wir unser Dasein verdanken!" (ebd: 87)

Indem sich die einen zu den anderen fügen, wächst die Summe in einer ganz bestimmten Richtung, was Teilhard mit Orthogenese bezeichnet. "Ohne Orthogenese gäbe es nur Ausbreitung; mit Orthogenese gibt es unwiderstehlich einen Aufstieg im Leben". (ebd: 90) Die allgemeinen Verhaltensweisen, die das Leben charakterisieren bezeichnet Teilhard mit Verschwendung, Erfindungsgeist und Gleichgültigkeit (ebd: 90). Verschwendung ergibt sich aus dem unbeschränkten Vermehrungsprozess. Der Erfindungsgeist ist die Bedingung bzw. die "konstruktive Seite der Additivität". (ebd: 91) Die Gleichgültigkeit meint, dass das Individuum sich in einer Abstammungslinie einreiht. "Das Leben ist wichtiger als die Leben." (ebd: 93) Die Phylogenese beschreibt Teilhard mit dem Bild des Baches:

"Breitet sich eine Wasserfläche auf dem Boden aus, so wird sie unverzüglich in einem Rinnsal und dann in richtigen Bächen abfliessen. In gleicher Weise suchen die Fibern einer in Umwandlungsprozessen begriffenen lebenden Masse (...) sich in Richtung einer kleinen Zahl vorherrschender Strömungen (...)zu gruppieren, sich aneinanderzuheften. (...) An einem bestimmten Grad gegenseitiger Bindung angelangt, lösen und vereinigen sich die Fortpflanzungslinien zu einer geschlossenen Garbe (...). Die Spezies hat sich individualisiert. Das Phylum (...) ist entstanden." (ebd: 95ff)

2.2.3 Die Noogenesis oder das Erscheinen des Menschen

Die Noogenese beginnt mit dem Erscheinen der ersten Menschen. Die Wissenschaft ist sich heute einig, dass der Pithecanthropus und der Sinanthropus ihrer Anatomie nach bereits den Hominiden angehören. Für das mittlere Quartär hat man ebenso nie in Frage gestellt, dass sich dort Spuren befinden, die Vertreter unserer Rasse zurückgelassen haben: weitgehende Gehirnentwicklung, Werkzeugherstellung in den Höhlen und Beispiele von Bestattung. Kurz, alles was einen wirklichen Menschen auszeichnet. Die Frage ist, woher dieser neue Mensch kam. Teilhard neigt zu der Vorstellung von Überlagerung und Ersetzung und nicht von Kontinuität und Verlängerung. Er nennt es das "Gesetz der Ablösung":

"Ich neige zu der Vorstellung, der Neuankömmling sei einer autonomen, lange verborgenen, wenn auch heimlich aktiven Entwicklungslinie entsprossen, die eines Tages triumphierend zwischen allen anderen auftauchte (...). Der Mensch, den wir am Ende des Quartärs auf der Erde wahrnehmen, ist wirklich bereits der heutige Mensch – und zwar in jeder Hinsicht." (ebd: 189)

Das Neolithikum ist ein entscheidungsreiches und folgendschweres Zeitalter, da es die Kultur gebar. Die Zahl der Individuen wächst rasant an, infolge dessen wird der Raum enger. Es entsteht die Notwendigkeit, am Aufenthaltsort selber zu produzieren und zu konservieren, was man früher in der Ferne suchte. So treten Viehzucht und Ackerbau anstelle des Sammelns. Der Hirt und der Bauer erscheinen. Zudem entsteht im Menschen die Neigung zum Forschen. Der Warenaustausch und die Übermittlung von Ideen erhöht die gegenseitige Aufnahmefähigkeit. So bilden sich Traditionen heraus und ein kollektives Gedächtnis bildet sich. Gleichzeitig entsteht Assimilation anstelle von Ausrottung. In Teilhards Worten begegnen wir "der Synthese des Homo Sapiens". (ebd: 198) Er nennt fünf Brennpunkte, wo die Mischung der Rassen anstelle der Ausrottung entstand: die Mayakultur in Zentralamerika, die polynesische Kultur bei den Meeren des Südens, die chinesische Kultur im Becken des Gelben Flusses, die indische Kultur in den Tälern des Ganges und des Indus sowie die Ägypter und Sumeren am Nil und in Mesopotamien. Für Teilhard verläuft die Hauptachse der Anthropogenese jedoch durch die Kultur des Abendlandes:

"In dieser glühenden Zone des Wachstums und der universellen Umgestaltung wurde alles gefunden, was heute den Menschen ausmacht (...). Denn selbst was seit langem anderswo bekannt war, hat seinen endgültigen menschlichen Wert erst erlangt, als es sich in das System der europäischen Ideen und Wirkungsbereiche eingliederte." (ebd: 201)

Die Zäsur bei der Herausbildung der modernen Erde sieht Teilhard am Ende des 18. Jahrhunderts. Es vollziehen sich Änderungen in der Wirtschaft, durch die Dynamisierung des Geldes über die Grenzen hinweg, Änderungen in der Industrie, von Feuer und Muskelkraft hin zu Erdöl, Elektrizität, Atomphysik, Maschinen, sowie Änderungen in der Gesellschaft:

"Das biologische Faktum einer Noogenese enthält für mich keinen ergreifenderen und keinen aufschlussreicheren Vorgang als die Anstrengung des Verstandes, der sich seit den Anfängen bemüht, Schritt für Schritt die ihn einkreisende Illusion der Nähe zu überwinden." (ebd: 206)

Teilhard bezeichnet die Darwinsche Hypothese des Transformismus ebenso hinfällig wie die Laplacsche Auffassung des Sonnensystems oder Wegeners Verschiebung der Kontinente (ebd: 208f.). Er fordert die Unterordnung aller wissenschaftlichen Disziplinen unter die Gesetze der Evolution:

"Man muss wirklich blind sein, um die Reichweite einer Bewegung nicht zu sehen, die die Grenzen der Naturwis-senschaften bei weitem überschritten und Chemie, Physik, Soziologie, sogar Mathematik und Religionsgeschichte allmählich gewonnen und überflutet hat. (...) [Evolution] ist die allgemeine Bedingung, der künftig alle Theorien, alle Hypothesen, alle Systeme entsprechen und gerecht werden müssen, sofern sie denkbar und richtig sein wollen." (ebd: 209)

So wie die Evolution zunächst nur in der Gegenstandswelt erkannt wurde, ist sie jetzt daran, die seelischen Zonen zu erobern. Teilhard sieht hinter der modernen Unruhe eine "organische Krise der Evolution" (ebd: 221). Er ist sich sicher, dass die Noogenese nur gelingen kann, wenn sie Erfolg verspricht. "Niemals wird der Mensch auch nur mit einem Schritt einen Weg einschlagen, von dem er weiss, dass er versperrt ist." (ebd: 221) Spätestens ab diesem Punkt verlässt Teilhard den empirisch erhärteten Boden und begibt sich in die Glaubenswelt:

"Mögen exakte und kritische Geister reden, die neue Generation (...) glaube nicht mehr an eine Zukunft und an eine Vervollkommnung der Welt. Haben die Leute (...) auch nur daran gedacht, dass alle geistige Bewegung auf Erden stillstände, wenn sie recht behielten? Sie scheinen zu glauben, das Leben würde seine Kreise friedlich weiterziehn, selbst wenn es des Lichtes, der Hoffnung, der Verlockung einer unerschöpflichen Zukunft beraubt wäre. Irrtum! Vielleicht brächte es noch ein paar Jahre lang aus Gewohnheit Blüten und Früchte. Doch sein Stamm wäre endgültig von seinen Wurzeln getrennt. (...) Sowenig sich unsere Intelligenz den einmal erblickten Perspektiven der Raum-Zeit entziehen könnte – ebensowenig könnte unsere Zunge den Geschmack eines allgemeinen und dauernden Fortschritts vergessen, hätte sie nur einmal davon gekostet." (ebd: 222f.)

Die moderne Krise lässt sich also folgendermassen beschreiben: Entweder ist die Natur unseren Zukunftsforderungen verschlossen, womit das Denken eine totgeborene Frucht eines Bemühens von Millionen Jahren in einem absurden Universum wäre. Oder sie ist offen, und es gibt eine Über-Seele über unseren Seelen. In diesem Sinne gibt es nur absoluten Pessimismus oder absoluten Optimismus. Weder das eine noch das andere kann jedoch empirisch überprüft werden. Teilhard erklärt sich wie folgt:

"Damit wir hoffen können, laden Vernunftgründe zu einem Akt des Glaubens ein. (...) Es gibt für uns in der Zukunft nicht nur ein Fortleben, sondern ein höheres Leben. Wir müssen, um diese höhere Existenzform zu erahnen, zu entdecken und zu erlangen, immer entschiedener in jener Richtung denken und weitergehen, in der die von der Evolution durchlaufenen Linien sich am engsten zusammenfügen." (ebd: 225)

2.2.4 Die Christogenesis oder das höhere Leben

Im Verlauf der menschlichen Phylogenese bleibt nach Teilhard de Chardin die Differenzierung der Gruppen bis zu einem bestimmten Grad bestehen. Die Divergenz macht aber später einer Bewegung der Konvergenz Platz und ordnet sich ihr unter. In ihr festigen sich Rassen, Völker und Nationen und vollenden sich durch gegenseitige Befruchtung. Gruppenbildung, Zuchtwahl, Kampf ums Dasein sind demnach Sekundärfunktionen, die dem Streben nach dem Zusammenschluss der Menschen untergeordnet sind. Teilhard spricht sich vehement gegen die Rassenlehre aus, bei der eine auserwählte Rasse zu einem höheren Bewusstsein gelangt:

"Um an die Sonne zu dringen, bedarf es des harmonischen Wachstums des gesamten Geästes. Der Ausgang aus der Welt, die Tore der Zukunft, der Eingang zum Übermenschlichen eröffnen sich weder einigen Privilegierten noch einem einzigen Volk, das auserwählt wäre unter allen Völkern! Die Pforten öffnen sich nur, wenn alle zusammen nach einem Ziel drängen, in dem sich alle zusammen (wenn auch unter dem Einfluss und der Führung von Einzelnen – einer "Elite") vereinigen, um sich in einer geistigen Erneuerung der Erde zu vollenden." (ebd: 237)

Humanität bezeichnet Teilhard als das erste Leitbild, in welchem der moderne Mensch seine Hoffnungen auf eine unbegrenzte Zukunft mit der Aussicht auf seinen unvermeidbaren Tod zu versöhnen suchte. Die Wissenschaft ist dabei die "Zwillingsschwester" der Humanität. Der Gang der Menschheit entwickelt sich im Sinne der Beherrschung der Materie. Der heimliche Traum des menschlichen Forschens ist, die Herrschaft über die Grundenergie zu erlangen. Seit der jüngeren Steinzeit zeichnet sich nach Teilhard eine "doppelte Krise" ab. Zum einen ist die Menschheit durch ihre Planetisierung zu einem so hohen Grad an wirtschaftlicher und psychischer Abhängigkeit gelangt, dass sie nur noch in wechselseitigem Durchdringen wachsen kann. Zum anderen sind durch den Einfluss der Maschine sowie der Überhitzung des Denkens eine ungeheure Vielzahl an unverwendeten Kräften freigeworden, dass der moderne Mensch nicht mehr weiss, war er mit seiner Zeit anfangen soll. Ein Übermass an Reichtum und Arbeitslosigkeit sind Zeichen dafür. Die Tendenz, das Übermass in die Materie zurückzudrängen, bezeichnet Teilhard als ungeheuerlich, er sieht die Lösung in einer anderen Richtung:

"Ein neuer Bereich psychischer Expansion: das ist es, was uns fehlt, und doch steht er dicht vor uns, wenn wir nur die Augen öffnen wollten. Friede im Erobern, Arbeit in Freude: das – und nicht ein Reich, das an-deren Reichen feindlich ist – erwartet uns bei dem inneren Zusammenschluss der Welt zu einem Ganzen, bei der einmütigen Gestaltung eines Geistes der Erde." (ebd: 246)

Die Evolution hat eine Richtung. Ebenso strebt das Bewusstsein in eine höhere Richtung. Ohne Ziel, wäre dieser Prozess sinnlos. Daher führt Teilhard de Chardin an dieser Stelle das Konzept des Punktes Omega ein, ein Zentrum, das alles zu sich heraufzieht:

"Alle unsere Bedenken und Widerstände, die den Gegensatz zwischen dem Universum und der Person be-treffen, würden sich verlieren, sobald wir begreifen würden, dass die Noosphäre und im weiteren Sinne die Welt strukturell nicht nur eine geschlossene, sondern eine zentrierte Gesamtheit darstellen. Weil die Raum-Zeit das Bewusstsein enthält und hervorbringt, ist sie notwendigerweise konvergenter Natur. Daher müssen sich ihre Schichten (...) irgendwo auch wieder zusammenfalten, in einem Punkt vor uns – nennen wir ihn Omega – der sie in sich verschmilzt und zur Gänze aufnimmt." (ebd: 252f.)

Omega addiert und vereinigt die Menge des auf der Erde durch die Noogenese freigewordenen Bewusstseins. Man könnte es auch Gott nennen, ein "im Herzen des Systems strahlendes Zentrum" (ebd: 256). Teilhard de Chardin stellt sich vehement gegen den Individualismus. Nach ihm liegt der Irrtum in der heutigen Zeit in einer Verwechslung von Individualität und Persönlichkeit. Der Gipfel unserer Einzigartigkeit, damit auch Unabhängigkeit und Mobilität, ist nicht unsere Individualität, sondern unsere Person. Die Persönlichkeit, im Gegensatz zur Individualität, kann man nur in der Vereinigung finden: "Kein Geist ohne Synthese, von oben bis unten durchwegs dasselbe Gesetz." (ebd: 257) Nur wenn ein Element universell wird, gewinnt es Persönlichkeit, nach dem Vorbild und dank der Anziehungskraft von Omega.

Das allumfassende Prinzip, das die Menschheit auf ihrem Weg begleitet, ist die Energie Liebe, die nicht auf den Menschen allein beschränkt ist:

"Wenn nicht schon im Molekül – gewiss auf unglaublich rudimentärer Stufe, aber doch schon angedeutet – eine Neigung zur Vereinigung bestünde, so wäre das Erscheinen der Liebe auch auf höherer Stufe, in ihrer menschlichen Form, physisch unmöglich. Mit den Kräften der Liebe suchen die Fragmente der Welt einander, auf dass sich die Welt vollende. Dies ist kein Gleichnis – und viel mehr als Dichtung. Die Liebe in allen ihren Schattierungen ist nichts Anderes und nichts Geringeres als die mehr oder minder direkte Spur, die das Universum in seiner psychischen Konvergenz zu sich selbst in das Herz des Elementes einprägt." (ebd: 258f.)

Teilhard ist gleich aller Anhänger der positivistischen Strömung dem Fortschrittsglauben verpflichtet. Den Grundfehler der positivistischen Glaubensbekenntnisse sieht er aber in ihrer Unfähigkeit, den Tod endgültig auszuschliessen. Um den höchsten Formen unseres Wirkens gerecht zu werden, sollte daher Omega vom Sturz der Evolutionskräfte unabhängig sein. Ebenso wenig wie die Positivisten vermag Teilhard das Ende der Welt vorherzusagen, er versucht lediglich, gewisse Szenarien darzustellen:

"Das Ende der Welt ist unvorstellbar. Es beschreiben zu wollen, wäre unsinnig. Doch unter Verwendung der oben konstruierten Hilfslinien können wir bis zu einem bestimmten Punkt seine Bedeutung voraussehen und seine Form beschreiben." (ebd: 268f.)

Katastrophen, biologischer Zerfall oder Wachstumsstillstand sind Szenarien, die Teilhard ausschliesst "im Vertrauen auf unsere Kenntnis der Geschichte der Evolution" (ebd: 270). Obwohl sie theoretisch möglich wären, könnten wir sie "eines höheren Grundes wegen" (ebd: 270) ausschliessen.

Teilhard geht davon aus, dass zwischen dem Endzustand der Erde und der modernen Erde von heute viel Zeit liegt, die nicht durch Verlangsamung, sondern gerade durch eine Beschleunigung und das endgültige Aufblühen der Evolutionskräfte gekennzeichnet sein wird. Drei Bedingungen sind dabei zu erfüllen: Zum Ersten ist dies die Organisation der Forschung. Für Teilhard steckt die Wissenschaft von heute in den Kinderschuhen. Er sieht in ihr jedoch eine der führenden Kräfte für die zukünftige Entwicklung:

"Wir wagen uns zu rühmen, in einem wissenschaftlichen Zeitalter zu leben. Wenn wir dabei nur an eine Morgen-röte denken, im Vergleich zu der vorhergehenden Nacht, so haben wir recht (...). Zwar sind wir auf die For-schung stolz und ziehen Vorteil aus ihr; doch mit welcher Knauserei an Geist und Mitteln und in welcher Unordnung betreiben wir auch heute noch unser Suchen! (...) Berechnen wir den Prozentsatz des Geldes, das in den Staatshaushalten zur Erforschung klar umschriebener Probleme, deren Lösung für die Welt lebenswichtig wäre, bestimmt ist. Die Antwort würde uns erschrecken. Weniger Aufwand für die Forschung im Jahr in der Welt als für einen Panzerkreuzer! Werden unsere Urenkel nicht mit Recht behaupten, wir seien Barbaren gewesen?" (ebd: 273f.)

Die zweite Bedingung für die weitere Entwicklung in der Noogenese ist die Konzentration der Wissenschaft auf das Objekt Mensch. Seine Forderung ist, den Menschen in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung zu stellen:

"Alten Gewohnheiten treu, sehen wir immer noch in der Wissenschaft nur ein neues Mittel zu leichterem Gewinn derselben alten Dinge: Boden und Brot. (...) Der Augenblick wird kommen (...), wo der Mensch (...) erkennen wird, dass die Wissenschaft für ihn nicht eine Nebenbeschäftigung ist, sondern eine wesentliche Form seines Wirkens und tatsächlich ein naturgegebenes Mittel, die Überfülle der Energien aufzufangen, die durch die Maschine ständig frei werden. (...) Man kann voraussagen, dass (...) eine künftige Ära menschlicher Wissenschaft im höchsten Mass eine Ära der Wissenschaft vom Menschen sein wird: der wissende Mensch, der endlich wahrnnimmt, dass der Mensch als Gegenstand des Wissens der Schlüssel der ganzen Naturwissenschaft ist." (ebd: 275f.)

Die dritte Bedingung schliesslich ist die Verbindung von Wissenschaft und Religion, deren Beziehung in der Vergangenheit vom Gegenteil – von gegenseitiger Bekämpfung – gekennzeichnet ist:

"Nach fast zwei Jahrhunderten leidenschaftlicher Kämpfe ist es weder der Wissenschaft noch dem Glauben gelungen, sich wechselseitig herabzusetzen; im Gegenteil, es bewahrheitet sich, dass sie nur zusammen sich normal entwickeln können; einfach, weil dasselbe Leben beide beseelt. Weder in ihrem Antrieb noch in ihren Theorien kann die Wissenschaft bis an ihre Grenzen gehen, ohne sich mit Mystik zu färben und mit Glauben aufzuladen." (ebd: 279)

Teilhard glaubt, dass wir noch keine Vorstellung von der Grösse der Noosphäre haben. Sie ist in ständigem Wachstum begriffen. Die wichtigsten Elemente sind, um es noch einmal kurz zusammenzufassen: Annäherung der denkenden Elemente; Synthesen von Individuen und Synthesen von Nationen und Rassen; die Notwendigkeit eines persönlichen, autonomen und höchsten Brennpunkts (Omega), um die Einzelpersönlichkeiten zu verbinden, ohne sie zu beeinträchtigen. Dies unter vereinter Wirkung von zwei Krümmungen: Rundung der Erde und kosmische Konvergenz des Geistes – in Übereinstimmung mit dem Gesetz von Komplexität und Bewusstsein. Zur Beschreibung des Endpunkts soll an dieser Stelle noch einmal Teilhard zu Wort kommen:

"Die Noosphäre, die das äusserste Mass ihrer Komplexität und zugleich ihrer Zentrierung erreicht hat, kehrt durch eine nach innen gerichtete Gesamtbewegung zu sich selbst zurück. Das Ende der Welt: ein Umsturz des Gleichgewichts, der den endlich vollendeten Geist aus seiner materiellen Hülle löst, um ihn künftig mit seiner ganzen Schwere auf Gott-Omega ruhen zu lassen." (ebd: 284)

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2.3 Kritik und Würdigung

Teilhard de Chardin beschreibt in seiner Evolutionstheorie die Entwicklung der Erde von der Geogenesis, in der die Materie in organisiertere Formen übergeht, zur Biogenesis, in der das Leben der Zelle entsteht, zur Noogenesis mit der Entstehung des Menschen bis schliesslich zur Christogenesis mit dem Punkt Omega, der die Entwicklung der Erde zu sich hinaufzieht. "Der Mensch im Kosmos" ist der Versuch, die Erscheinungswelt "als gewordenes Sein" (Hemleben 1987: 127) von innen her zu verstehen. Sein Bemühen gilt dem Aufsuchen einer Achse der Entwicklung, die entsteht, wenn Anfang, Mitte und Ende des Werdeprozesses von Erde und Mensch erfasst sind. Das Leitmotiv der ganzen Theorie ist, dass nichts in der Welt durch die verschiedenen Stadien der Entwicklung hindurch als Endzweck in Erscheinung treten kann, was nicht schon am Anfang, wenn auch unscheinbar, vorhanden gewesen wäre. (ebd: 127ff)

Teilhard geht davon aus, dass eine wissenschaftliche Annäherung an die Welt neben der Methodik und der Theoriebildung eine dritte Grösse braucht, die Betrachtung der grossen Linien, aus welchen sich die Wirklichkeit entwickelt, was mit Hyperphysik bezeichnet werden kann. Teilhard nennt Hyperphysik auch Phänomenologie, weil sie die Linien nachzuziehen versucht, die die Gesamtheit der uns bekannten Phänomene sinnvoll in Erscheinung treten lassen. Phänomenologie beruht auf einer Schau der wissenschaftlichen Tatsachen in einer ganz bestimmten Perspektive. Diese ist nicht ein reines Ergebnis des menschlichen Geistes, denn ihre Richtung wird von den Phänomenen bestimmt. (Delgaauw 1971: 31ff)

Teilhard de Chardin spricht von einer dynamischen Entwicklung, die sich fortwährend wandelt. Die gesamte materielle Wirklichkeit, aus der das Leben hervorging, zeigt eine ganz bestimmte Gangart, innerhalb derer sich stets das kompliziertere Wesen aus der einfacheren Wesenheit ergibt. In der Geschichte des Weltalls entstehen aus dem Zusammenschluss von Atomen Moleküle, daraus Einzeller und aus mehreren Zellen höher geartete Wesen. Das Weltall ist nicht nur in der Kontinuität, sondern gleichzeitig im Aufstieg begriffen. Im Verlauf der Evolution des Weltalls und des Lebens entsteht stets das Höhergeartete aus dem Niederen. Das Höhergeartete ist in der materiellen Struktur das mehr Komplexe und damit parallel zugleich das mehr Vitale und mehr Bewusste. Kontinuität impliziert auch Diskontinuität, denn aus dem Entwicklungsprozess geht das Andere hervor. Zwar entsteht Leben aus dem Leblosen, ist aber zugleich anders als das Leblose. Man könnte das in Teilhards Sicht auf die Evolution "das dialektische Moment" (ebd: 35) nennen.

Dass sein Werk Zeit seines Lebens von der Kirche abgelehnt wurde, wurde bereits eingangs erwähnt. Auch in der Wissenschaft war er umstritten, da sich Teilhard mit seiner Evolutionstheorie auf Neuland, um nicht zu sagen auf eine Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Glauben, begab. In der folgenden Kritik sollen drei Autoren zu Wort kommen.

Nach seinem Tod wurde der Weltöffentlichkeit klar, dass es sich bei Teilhard um einen führenden Denker, Mystiker, Wegbereiter des New Age und was es deren Bezeichungen mehr gibt, gehandelt hat.

Über Teilhard als Wissenschaftler ist die Fachwelt bis heute geteilter Meinung. Edward O. Dodson schreibt in seinem Buch "The Phenomenon of Man Revisted": "That he was a major Christian mystic is unquestionably true, but it is perhaps unfair to stigmatize him as only secondarily a scientist, for he was one of the leading geologists and paleontologists of his time (...)" (Dodson 1984: 225). Weiter unten hingegen stellt er fest, dass Teilhard in seiner Forschung nicht genügend Datenmaterial vorgelegt habe, auf welchem seine Generalisierungen basieren. Er schreibt, dass seine Überlegungen manchmal induktiv, sein Schreibstil sehr poetisch und daher irreführend oder unverständlich sei für jene, die seine Schriften als technische Schriften lesen. Er kommt zum Schluss, dass es einen Rest des Werks gibt, der nicht unterstützt werden könne, nämlich das Innere, das biologisch Kollektive sowie der Punkt Omega: "They are not scientific (...) yet they are concepts which could only be formed against a scientific background." (ebd: 226)

Johannes Hemleben bringt einen anderen weit verbreiteten Vorwurf hervor. So schreibt er in seiner Biographie über Teilhard de Chardin: "Teilhard verlässt zu schnell den Boden der Tatsachen naturwissenschaftlicher Forschung. Unmerklich wechselt er vom Wissen zum Glauben über." (Hemleben 1987: 157) Etwas später schreibt er, dass Teilhard "mehr oder weniger willkürlich" (ebd: 158) die Aussagen der Naturwissenschaft übernahm und in sein Weltbild integrierte, wobei "die Grenzen zu einer materialistischen Naturbetrachtung" (ebd: 158) an manchen Stellen "kaum erkennbar" seien.

In seinem Buch "Schöpfungsglaube und Endzeiterwartung" hebt Ernst Benz vor allem die Sprache Teilhards hervor. Er schreibt, dass dem Beobachter deutlich werde, dass einige Gebiete der Anthropologie bei Teilhard de Chardin fehlen, "(...) vor allem der Blick auf die Sprache und ihren Anteil an der Evolution" (Benz 1965: 177). Weiter unten kritisiert er, dass Teilhard viele neue Wortschöpfungen in Analogie zu physikalischen Begriffen kreiert habe, wie zum Beispiel "ionisation" (von Ionisierung), "amorisation" (von amour). Einige Begriffe liessen sich auch aus dem theologischen Kontext ausmachen, schreibt Benz weiter. Schliesslich kommt er jedoch zum Schluss, dass deutsche Autoren, die über Teilhard de Chardin schreiben, über eine oberflächliche Information und kurzschlüssige Kritik nicht hinaus kämen und deren Kritik auf "Unkenntnis der französischen Quellen" (ebd: 233) beruhe.

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3 Die grossen Evolutionstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts

Im folgenden Kapitel soll der Ansatz Teilhard de Chardins in Zusammenhang mit den grossen Evolutionstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts gebracht werden. Dabei soll aufgezeigt werden, von welchen Strömungen er beeinflusst wurde. Es kann nicht von der Evolutionstheorie die Rede sein, sondern es müssen mehrere Evolutionstheorien auseinandergehalten werden. Insbesondere die unterschiedliche Beurteilung der Evolutionsmechanismen führt zu verschiedenen Theorien. (Wuketits 1988: 14)

3.1 Der Lamarckismus

1809 erscheint Lamarcks "Philosophie zoologique". In diesem Werk erkennt Lamarck die Evolution der Organismen. Er lebt in einer Zeit, in der Evolution noch kein Thema ist. Lamarck war der erste, der eine detaillierte Evolutionstheorie vorlegen konnte. Es sind zwei Thesen, die seine Evolutionstheorie kennzeichnen: 1. Bei jedem Tier, welches den Höhepunkt seiner Entwicklung noch nicht überschritten hat, stärkt der häufigere und dauernde Gebrauch eines Organs dasselbe allmählich, entwickelt, vergrössert und kräftigt es proportional zu der Dauer dieses Gebrauchs; der konstante Nichtgebrauch eines Organs macht dasselbe unmerkbar schwächer, verschlechtert es, vermindert fortschreitend seine Fähigkeiten und lässt es schliesslich verschwinden. 2. Alles, was die Individuen durch den Einfluss der Verhältnisse, denen ihre Rasse lange Zeit hindurch ausgesetzt ist, und folglich durch den Einfluss des vorherrschenden Gebrauchs oder konstanten Nichgebrauchs eines Organs erwerben oder verlieren, wird durch die Fortpflanzung auf die Nachkommen vererbt, vorausgesetzt, dass die erworbenen Veränderungen beiden Geschlechtern oder den Erzeugern dieser Individuen gemein sind. (ebd: 35ff)

Wichtig für diese Theorie ist die Annahme, dass an der Umbildung der Organisation der Tiere deren Bedürfnisse massgeblich beteiligt sind. Lamarcks Evolutionstheorie besagt, dass sich phylogenetische Änderungen sehr häufig über die aktive Betätigung der Organismen und in der Folge über eine ontogenetische Umgestaltung abspielen. Der Theorie liegt die Vorstellung einer aktiven Anpassung zugrunde. Spricht man heute von Lamarckismus, bezieht man sich meist auf die These von der Vererbung erworbener Eigenschaften. (ebd: 41)

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3.2 Der Neolamarckismus

Unter Neolamarckismus wird eine heterogene Gruppe von Evolutionstheorien zusammengefasst. Der Psycholamarckismus geht von einem buchstäblich verstandenen Willen zur Anpassung bzw. zur Veränderung der Lebewesen aus und ist daher nicht mehr lamarckistisch im engeren Sinne. Ihre Vertreter (zum Beispiel Pauly) haben das lamarckistische Konzept "Bedürfnis" auf "Willen" oder "Wunsch" ausgeweitet. Weiter waren sie der Meinung, dass ein Bewusstsein die Entwicklung vorantreibt. Mit seiner Vorstellung des "élan vital", einer Lebensschwungkraft, kam auch Bergson (1921) dieser Meinung sehr nahe. (ebd: 42/52)

Eine andere Gruppe von neolamarckistischen Theorien sind die Orthogenesis-Theorien, deren Repräsentanten von einer gerichteten Evolution ausgehen und so die Ansicht kundtun, dass sich die Organismen in der Zeit gleichsam vervollkommnen. Das "schöpferische Moment" kommt dabei ins Spiel, beispielsweise bei Russell (1945). (ebd: 53)

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3.3 Der Darwinismus

Darwin der erste, der die Evolutionstheorie salonfähig macht und gleichzeitig derjenige Wissenschaftler, den man heute mit dem Wort "Evolution" assoziiert. Seine Theorie lässt sich in einige Beobachtungen und daraus gezogenen Schlussfolgerungen zerlegen: Er erkannte, dass die Individuen einer Art untereinander verschieden sind, dass "kein Ei dem andern gleicht". Er erkannte weiter, dass nicht alle Nachkommen eines Elternpaares in der Natur überleben, bzw. dass alle Lebewesen mehr Nachkommen produzieren als tatsächlich zur Reife gelangen. Weiter beobachtete er, dass die Populationsgrösse trotz zeitweiliger Schwankungen in der Regel relativ stabil bleibt, weil der Nachkommenüberschuss kompensiert wird. Schliesslich macht er die Beobachtung, dass die Ressourcen (Nahrungsquellen) stets beschränkt sind. Indem Darwin diese Beobachtungen kombiniert, kommt er zum Schluss, dass die Individuen in einem natürlichen Wettbewerb ums Dasein stehen, dass in diesem Wettbewerb nur die Tauglichsten überleben, und dass es so über viele Generationen hinweg zu einer Veränderung der Arten kommt. Darwins Selektionstheorie war in erster Linie eine Synthese, bestehend aus oben erwähnten Teilschritten. Einfach gesagt lautet sie wie folgt: Nachkommenüberschuss plus beschränkte Ressourcen bewirken einen Existenzkampf. Natürliche Auslese bewirkt in der Zeit eine Evolution. Darwin war überzeugt, dass die natürliche Auslese der wichtigste Evolutionsfaktor ist. (ebd: 46ff) So schreibt er in seinem Hauptwerk "The Origin of Species by Means of Natural Selection": "Akzeptiert man die natürliche Auslese als den wichtigsten Evolutionsfaktor, dann ist damit die Idee der Teleologie, der Zweckmässigkeit in der Natur, verabschiedet. (...) Die Selektion ist (...) ein mechanisch wirkendes Prinzip. Dies (...) bedeutet, dass jede Finalität, jeder Endzweck der Natur ausgeschlossen ist. (...) Unter diesem Gesichtspunkt (...) bleibt kein Platz mehr für den Glauben an eine kosmische Teleologie, den glauben also, dass die Lebewesen einer universellen Zweckmässigkeit untergeordnet sind." (ebd: 50)

Ernst Haeckel stellt in seinen "Welträtseln" (1899) fest: "Damit [mit der Selektionstheorie] ist der transcendente Zweckbegriff unserer teleologischen Schul-Philosophie beseitigt, das grösste Hindernis einer vernünftigen und einheitlichen Natur-Auffassung. (ebd: 51)

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3.4 Der Neodarwinismus

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stehen die Diskussionen um die Evolution massgeblich im Zeichen der Genetik. Ein wichtiger Schritt in der Biologie war die Wiederentdeckung der Arbeiten Mendels ("Versuche über Pflanzenhybriden" [1866]). Nach Mendel liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die elterlichen Erbfaktoren, in der Zygote kombiniert, nicht ihre Identität verlieren, sondern sich in der nächsten Generation neu zusammenordnen. Erst auf diese Weise ist die auch für die Evolution enorm wichtige genetische Vielfalt zu erklären. Unter Neodarwinismus bezeichnet man üblicherweise Darwins Selektionstheorie plus Genetik. (ebd: 54f.)

Die Mutationstheorie, die auf de Vries zurückgeht, basiert auf der Annahme einer Allmacht der Mutation, also der sprunghaften Änderung im Erbgefüge bzw. der plötzlichen Erzeugung einer diskontinuierlichen Variante. Eine Art könnte demnach ohne Übergang sprunghaft entstehen. Diese Auffassung mündet in jene Vorstellung einer sprunghaften Evolution. Diese Vorstellung widerspricht jedoch der These Darwins von einer allmählichen Entwicklung. Der Neodarwinismus wurde zum Ausgangspunkt für die Synthetische Theorie, die zur "Lehrbuchtheorie" der Evolution stilisiert wurde. (ebd: 57)

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3.5 Die Synthetische Theorie

Die Synthetische Theorie korrespondiert mit Ergebnissen aus der Genetik. In gewissem Sinne ist die Theorie aus der Erörterung genetischer Vorgänge hervorgegangen. Für die Synthetische Theorie muss man die Bedeutung der Populationsgenetik in Erinnerung rufen. Dieser Ansatz beruht jedoch auch auf Resultaten anderer biologischer Disziplinen und verdient unter diesem Aspekt ihren Namen. Klassiker der Synthetischen Theorie sind Theodosius Dobzhansky, Julian Huxley, Ernst Mayr, Bernhard Rensch und George G. Simpson. Sie publizierten ihre evolutionstheoretischen Hauptwerke zwischen 1935 und 1955. Huxley (1942) konnte vor allem vergleichend-biologisches und entwicklungsbiologisches Material ausbreiten. Simpson (1953) setzte sich mit den Wesenszügen der organischen Evolution als Paläontologe – und Arbeitskollege und Freund Teilhard de Chardins – auseinander. (ebd: 61ff)

Die Synthetische Theorie ist insofern eine Synthese, als das Zusammenspiel mehrerer Evolutionsfaktoren darin als Erklärung für die Evolution dargestellt wird. Das Wechselspiel von Selektion und genetischer Variation wird präzise formuliert, wie auch die Bedeutung anderer Mechanismen. Die "Moderne Synthese" bedeutet auch das Anheben der Betrachtung der Evolutionsphänomene auf ein neues Niveau in der Hierarchie biologischer Systeme, nämlich auf das Niveau der Population. Somit zeichnet sie sich auch durch eine grundlegende Erweiterung des Bezugsrahmens für die Wirkung der Evolutionsfaktoren aus. (ebd: 67)

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3.6 Verortung der Theorie Teilhard de Chardins

Teilhard de Chardin beschreibt die Entwicklung der Erde von Anfang an als ein Prozess von zweiseitiger Struktur, nämlich die Zunahme an Komplexität auf materieller Ebene sowie die Zunahme an Zentriertheit auf geistiger Ebene. Er bestreitet weder die Erkenntnisse Lamarcks, wonach die Evolution aufgrund von Gebrauch bzw. Nichtgebrauch eines Organs sowie durch Vererbung erfolgt, noch die Selektrionstheorie Darwins explizit, setzt den Akzent jedoch anders, indem er im ersten Teil seiner Theorie vor allem die Entstehung des Bewusstseins zurückverfolgt. Ebenso hat er die Erkenntnisse der Vererbungswissenschaft zur Kennntis genommen und setzt diese seiner Theorie zugrunde. Teilhard de Chardin geht von einer gerichteten Evolution aus, wonach die zunehmende Komplexität der Elemente in eine Richtung streben. Weshalb sie das tun, aufgrund eines Willens im Sinne der Psycholamarckisten, erklärt er nicht explizit. Eine eindeutige Parallele lässt sich jedoch im Vergleich mit den Orthogenesis-Theoretikern ausmachen, die ebenso von einer gerichteten Evolution und einer Vervollkommnung der Organismen ausgehen. Auch bei ihnen kommt ein schöpferisches Moment hinzu. (vgl. Kapitel 3.2).

Im Vergleich mit Darwin lassen sich zwei Punkte ausmachen, die von Bedeutung sind. Die Erkenntnisse aus der Selektionstheorie nimmt Teilhard als gegeben, er spricht sich gegen die Rassenlehre aus, die jedoch lediglich eine Folge der Selektionstheorie ist und nicht genuin darwinistisch. Ein markanter Unterschied zwischen Darwin und Teilhard liegt in der Auffassung vom Gang der Evolution. Während Darwin von einer graduellen Entwicklung im Sinne der natürlichen Auslese ausgeht, betrachtet Teilhard die Evolution als sprunghaft (Überlagerung und Ersetzung statt Kontinuität und Verlängerung, vgl. Kapitel 2.2.3). Diese Auffassung teilt Teilhard mit den Neodarwinisten und den Vertretern der Synthetischen Theorie. Der zweite Unterschied betrifft die Evolutionsmechanismen: Während Darwin davon ausgeht, dass die Evolution durch natürliche Auslese vorangetrieben wird, also quasi von unter her, liegen bei Teilhard die Triebkräfte der Evolution im Punkt Omega, der die Entwicklung der Elemente bewirkt, indem er sie zu sich hinaufzieht (vgl. Kapitel 2.2.4).

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4 Kriterien einer Evolutionstheorie

Wenn man sich einen Überblick über die Literatur verschafft, die über Teilhard de Chardin erschienen ist, wird deutlich, dass kaum jemand den Versuch unternommen, ihn in einer Strömung der Evolutionstheorien klar einzuordnen. Interessanter ist der ihm häufig gemachte Vorwurf, Evolutionsmystik zu betreiben, statt stringente naturwissenschaftliche Aussagen zu machen. So schreibt beispielsweise Frank M. Wuketits in seinen "Evolutionstheorien": "Glaubt man, aus naturwissenschaftlichen Aussagen religiöse Wahrheiten ableiten zu können, dann hat man (...) zwei fundamental verschiedene Denkebenen miteinander verwechselt. Das Ergebnis ist dann ein eigenartiges Gemisch aus wissenschaftlicher Theorie und Mystik und jedenfalls für einen in halbwegs klaren Linien denkenden Menschen schwer zu verdauen, so wie die Evolutionsmystik eines Pierre Teilhard de Chardin (...)." (ebd: 14)

Dieser Vorwurf soll im Folgenden anhand zweier Kriterien überprüft werden. Zum einen prüfe ich, ob die Theorie Teilhard de Chardins den Anforderungen an eine wissenschaftliche Theorie standhält, zum anderen vergleiche ich seine Theorie mit den von Franz. M. Wuketits beschriebenen drei Grundfragen, die eine Evolutionstheorie zu beantworten hat.

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4.1 Wissenschaftliche Theorie

An eine wissenschaftliche Theorie werden strenge Massstäbe gelegt: Sie muss logisch und/oder empirisch überprüfbar sein; und sie muss prinzipiell falsifizierbar sein. Auf die Frage, wie aus Leblosem Leben entstehen kann, liefert Teilhard eine unkonventionelle Antwort: Dadurch, dass das Leblose nicht wirklich leblos ist, sondern dass alle Materie bereits einen Keim von Leben bzw. Bewusstheit enthält. Das Leben im Leblosen kann jedoch nicht gesehen, sondern nur angenommen werden. Teilhard betrachtet die Erde, die sich entwickelt, auf der in einer bestimmten Periode ihrer Entwicklung Leben entsteht. Beginnend mit einzelligen Formen zeigt es immer kompliziertere Strukturen. Er sieht, dass das Lebende nach dem Leblosen entsteht und dass es sich aus Stoffen zusammensetzt, die auch in der leblosen Natur anzutreffen sind.

Diesen Gedanken sind verschiedene Thesen zugrunde gelegt: 1. Das Leben kommt nach dem Leblosen. Dies ist eine wissenschaftlich feststellbare Tatsache. 2. Das Lebende setzt sich in gleicher Weise wie das Leblose aus Materie zusammen, nämlich aus chemischen Verbindungen. Auch dies ist eine wissenschaftlich feststellbare Tatsache. Der Schluss der These, dass das Lebende aus dem Leblosen entstanden sei, ist keine wissenschaftlich feststellbare Tatsache mehr, sondern lediglich eine Hypothese. (Delgaauw 1971: 64f.) Somit muss man sagen, dass Teilhards Evolutionstheorie wohl logisch stringent ist, sie ist jedoch mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln in den Wissenschaften nicht falsifizierbar. Man kann weder beweisen, noch widerlegen, dass in der Materie, wenn auch rudimentär, eine Bewusstheit ist. Somit kann Teilhards Theorie aus heutiger Sicht nicht als wissenschaftliche Theorie betrachtet werden.

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4.2 Drei Grundfragen der Evolutionstheorie

Franz M. Wuketits zählt drei Grundfragen auf, die eine Evolutionstheorie beantworten muss:

  1. Haben sich die Organismenarten verändert, hat eine Evolutions stattgefunden?

  2. Wie verlief bzw. verläuft die Evolution im allgemeinen und in den einzelnen Stammesreihen im besonderen? Das Problem ist hier die Rekonstruktion, man kann dies beispielsweise mittels Stammbäumen tun. Wie genau diese sind hängt vom zur Verfügung stehenden empirischen Material und der Theorienbildung ab. Ein weiteres Problem ist, ob sich die Evolution allmählich, schrittweise oder sprunghaft entwickelt.

  3. Welche Mechanismen liegen der Evolution zugrunde (Triebkräfte der Evolution, Evolutionsfaktoren)?

Die erste Frage kann, unabhängig von Teilhard, eindeutig mit ja beantwortet werden. Die zweite Frage hat Teilhard anhand von Stammbäumen beantwortet und gesagt, je weniger eine Gruppe spezialisiert ist, d.h. je weniger "verästelt" sie ist, desto mehr Chancen bestehen zur Entwicklung. Teilhard legt der Evolution, wie schon gesagt, eine sprunghafte Entwicklung zugrunde. Die Mechanismen, die Triebkräfte der Evolution liegen bei Teilhard in einer Anziehung durch den Punkt Omega, der die Entwicklung der Organismen zu sich hinaufzieht.

Die drei Grundfragen, die eine Evolutionstheorie kennzeichnen, beantwortet Teilhard in der Tat. Somit ist seine Theorie zwar nicht wissenschaftlich im strengen Sinne, aber eine Evolutionstheorie! Somit gelange ich zu den Schlussbetrachtungen dieser Arbeit.

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5 Konklusion

Wie im vorhergehenden Kapitel festgestellt wurde, hat Teilhards Betrachtung der Entstehung der Welt als Evolutionstheorie Gültigkeit, sie ist jedoch keine wissenschaftliche Theorie nach heutigen Massstäben. Dieser Punkt soll jetzt noch einmal aufgegriffen werden. Teilhard versucht die Frage zu beantworten, wie das Leben entstanden ist. Ohne diesen Schluss zu bewerten, begibt er sich somit in ein Gebiet, das von der gängigen Evolutionstheorie gar nicht berührt wird. Es gibt somit keine alternative Erklärung zur Entstehung des Lebens. Für eine Erklärung der Entstehung des Lebens hat man folgende Wahl:

  1. Man kann annehmen, das Leben habe sich aus dem Leblosen entwickelt, was Teilhard macht.

  2. Man kann die Frage nach der Herkunft des Lebens unentschieden lassen und zurückweisen mit der Antwort: Wir wissen nicht und werden nicht wissen. Dies ist der Standpunkt der heute praktizierten Wissenschaft.

  3. Man kann schliesslich annehmen, dass Leben habe einen völlig anderen Ursprung, es sei eine Neuschöpfung Gottes nach der Erschaffung des leblosen Kosmos.

Die erste Position ist die der wissenschaftlichen Hypothese. Die zweite Position ist die eines wissenschaftlichen Agnostizismus, der die rationale Erkennung des Göttlichen leugnet, was die –"Wissenschaft nicht fördert" (ebd: 66). Die dritte Position gibt auf eine wissenschaftliche Frage eine theologische bzw. philosophische Antwort. Somit bleibt die einzige wissenschaftliche Hypothese, dass sich das Leben aus dem Leblosen entwickelt. Die positive Wissenschaft beschreibt Erscheinungen und schliesst aus diesen auf Zusammenhänge. Diese beiden Aspekte der Wissenschaft stehen nicht neben einander, sie bedingen sich gegenseitig. Die Ausübung positiver Wissenschaft besteht darin, dass man stets weiterschreitet in der Herstellung von Zusammenhängen zwischen Erscheinungen. (ebd: 67) Genau dies ist der Versuch Teilhards. Aus diesem Grund wurde oben angeführt, dass Teilhards Theorie aus heutiger Sicht nicht als wissenschaftlich gelten kann.

Teilhard möchte in seinem Werk den Dualismus von Seele und Leib, von Körper und Geist überwinden, wie dies auch in der Existenzphilosophie, der Tiefenpsychologie und der Psychosomatik zum Ausdruck gelangt (ebd: 22). Die Kritik, die gegen Teilhard erhoben wird, dass seine Theorie in wesentlichen Punkten Glaubensmomente enthält, wird zu Recht erhoben. Gleichzeitig kennzeichnet diese Kritik auch "(...) die Grösse und Tragweite des abendländischen Grundproblems, das durch den Zwiespalt von Glauben und Wissen entstanden ist" (Hemleben 1987: 160). Johannes Hemleben beschreibt dies wie folgt:

"Weder Naturwissenschaft noch Kirche haben ein Verständnis für das eigentliche Anliegen Teilhards – und können es auch, der Enge ihres Gesichtswinkels wegen, nicht haben. Aber es ist ihnen ein leichtes, das im Sinne ihrer eigenen Blickrichtung Unzureichende in Teilhards Werk zu entdecken, ohne eigene Lösungen anbieten zu können." (ebd: 159)

Ich schliesse mich dieser Aussage an. Interessanterweise stellen sich jedoch auch Wissenschaftler, die Teilhard kritisieren, die selben Fragen nach der Validität, bzw. ob das vorhandene wissenschaftliche Instrumentarium heute noch ausreicht. So schreibt Franz M. Wuketits:

"Heute sind die meisten Biologen der Meinung, dass Darwin im Prinzip recht gesehen hat, dass aber seine Sicht der Evolution Erweiterungen braucht. Wiederum wird eine Synthese notwendig. Viele Teilfragen der Evolution sind noch nicht befriedigend beantwortet." (Wuketits 1988: 170f.)

Ich vermag nicht zu beurteilen, ob Teilhard einen Wegbereiter zu einer neuen Betrachtungsweise in der Evolutionsgeschichte war. Es wäre auch etwas vermessen, so etwas zu behaupten. Ich schlage vor, dass man Teilhard als Lichtfunke in der Erklärung der Welt betrachten soll, der vielleicht ein kleines Etwas dazu beiträgt, wie die Welt später einmal verstanden wird.

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6 Bibliographie

Benz, Ernst: Schöpfungsglaube und Endzeiterwartung. Antwort auf Teilhard de Chardins Theologie der Evolution. Nymphenburger Verlagshandlung GmbH. München, 1965.

Bowler, Peter: Herbert Spencers Idee der Evolution und ihre Rezeption. In: Engels, Eve-Marie (Hrsg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main, 1995.

Delfgaauw, Bernard: Teilhard de Chardin und das Evolutionsproblem. Verlag C.H. Beck. München, 1971 (3. Auflage).

Dodson, Edward O.: The Phenomenon of Man Revisted. A Biological Viewpoint on Teilhard de Chardin. Columbia University Press. New York, 1984.

Hemleben, Johannes: Teilhard de Chardin. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Reinbek bei Hamburg, 1987.

Teilhard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos. Verlag C.H. Beck. München, 1959.

Wuketits, Franz M.: Evolutionstheorien. Historische Voraussetzungen, Positionen, Kritik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt, 1988.

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Last update: 31 Jan 15

 

Editor:

 

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich

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