Bibliographische Zitation:
Geser Hans: Zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und politischer Agitation. Zur vielseitigen (aktuellen) und zukünftigen Bedeutung religiöser Organisationen In: Sociology in Switzerland: Sociology of Religion. Online Publikationen. Zürich, 1997 http://socio.ch/relsoc/t_hgeser2.htm


 

Zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und politischer Agitation

Zur vielseitigen aktuellen (und zukünftigen) Bedeutung religiöser Organisationen

Prof. Dr. Hans Geser
Zürich 1997

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Inhalt

1. Einleitung

2. Organisationen als mesosoziologische Akteure

3. Die besondere Affinität des Christentums zur Mesoebene und zu formalen Organisationen

4. Die "organisatorische Hochrüstung" moderner Religionen

5. Effekte innerer und äusserer religiöser Stabilisierung

6. Funktionen der Traditionssicherung und Konservierung

7. Funktionen religiöser Strukturierung und Standardisierung

8. Ausschöpfung endogen-religiöser Quellen gesellschaftlicher Autonomie

9. Management von Dissens und kulturellem Wandel

10. Religiöse Organisationen als kultureller "Variety Pool"

11. Schlussfolgerungen

Fussnotenverzeichnis

Literatur


"The consensus among historians is that science won the nineteenth century. Religion appears to be winning the twentieth, but doubts exist about the quality of that religion." (Ernest L. Fortin 1994: 163).

 

1. Einleitung

Dem modernen Individuum, das sich in fast allen seinen Lebensbereichen (Arbeit, Politik, Medizin, Bildung u.a.) freiwillig von den Produkten und Dienstleistung grosser Organisationen abhängig macht, ist es nicht im selben Masse selbstverständlich, im religiösen Bereich den grossen Kirchen eine ähnlich überlegene Leistungskompetenz zuzusprechen (vgl. Wuthnow 1993: 5f.; Bellah 1991b). Genau umgekehrt hat sich hier seit der Reformation eine gewisse Regression auf undifferenziertere Strukturformen (z.B. lokale Kongregationen oder bibellesende "Selbsthilfegruppen") vollzogen - oder gar ein Rekurs auf "kleinhandwerkliche" Individualproduktionen, wie sie in den berühmten Dikta Thomas Jefferons "I am a sect myself" und Thomas Paines "My mind is my temple" ihren (frühbürgerlichen) Ausdruck finden.

Andererseits gilt - nicht nur für Deutschland - uneingeschränkt der Satz Daibers, dass "Religion ohne die Präsenz der christlichen Kirchen...nicht denkbar" sei (Daiber 1995: 41). Viel mehr als das: man darf davon ausgehen, dass die meisten Gläubigen (und auch Indifferente) die gesellschaftliche Präsenz der Religion durch die religiösen Organisationen hinreichend gewährleistet finden, und dass sie es den Repräsentanten dieser Anstalten überlassen, im öffentlichen Diskurs explizit religiöse Argumente zur Geltung zu bringen.

Ebenso trifft auch für Europa die von Wallis und Bruce in den USA gemachte Feststellung zu, dass sich explizit religiöses Handeln (insbesondere kultischer Art) immer ausschliesslicher auf Gottesdienste und andere kirchlich organisierte (und in Kirchenräumen stattfindende) Veranstaltungen beschränkt (Wallis/Bruce 1992). Auch die Katholiken haben sich diesem im Protestantismus schon immer vorherrschenden Trend angeschlossen, indem sie im Vergleich zu den 50er Jahren sehr viel seltener Tisch- und Nachtgebete sprechen, Kreuzwege abschreiten, an Zimmerwänden Kruzifixe mit geweihten Palmzweigen aufhängen, sich mit Weihwasser bekreuzigen oder in irgendeiner anderen privaten Weise ihre konfessionelle Kultur zum Ausdruck bringen (vgl. z.B. Lübbe 1986: 91ff.).

A fortiori gilt für nichtpraktizierende Gläubige, dass sie nur noch anlässlich äusserst formeller institutioneller Veranstaltungen (Taufen, Heiraten, Beerdigungen) mit Religion in Berührung kommen und in religiöses Handeln einbezogen werden[1].

Im folgenden wird argumentiert, dass - zumindest im christlichen Bereich - die religiöse Sphäre heute immer ausschliesslicher zu einer mesosozialen Sphäre wird, innerhalb der formale Organisationen eine wachsende Determinationskraft entfalten. Es wird zu zeigen versucht, dass dadurch einerseits konservierende und stabilisierende, andererseits aber auch innovativ und dynamisierende Auswirkungen auf Religion und Gesellschaft entstehen.

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2. Organisationen als mesosoziologische Akteure

Organisationen sind Sozialsysteme mit der Fähigkeit, ihre inneren Strukturen und Prozesse und ihr äusseres Handeln zumindest teilweise durch kollektiv verbindliche Entscheidungen zu steuern und dadurch den Status eines überindividuellen Akteurs gewinnen (vgl. Geser 1990).

Diese Leistung setzt normalerweise eine Beschränkung auf ein mesosoziales Niveau der Systembildung voraus, das sich von der Makroebene der Gesellschaft (und ihrer institutionellen Ordnungen) einerseits und der Mikroebene der Individuen (und ihrer informellen Gruppen) andererseits gleichermassen deutlich differenziert.

Die Distanzierung von der Makroebene geschieht beispielsweise dadurch, dass Organisationen ihre Jurisdiktion auf spezifische Mitgliederbestände begrenzen und ihre Ressourcen auf spezifische Zielsetzungen fokussieren. Und zur Abschirmung gegenüber der Mikroebene dienen formalisierte Regel- und Sanktionsstrukturen, die den Teilnehmern partialisierte Rollen zuweisen und gewährleisten, dass individuelle Teilnahmemotivationen und kollektive Systemziele relativ unabhängig voneinander variieren (vgl. z.B. Türk 1978: 125ff.).

Trotzdem sind Organisationen "ianusgesichtig" in dem Sinne, dass sie in ihrer Legitimierung und Ressourcenbeschaffung auf eine Hinordnung zur einen oder anderen Ebene zwingend angewiesen bleiben.

Wenn sie sich "abwärts" zur Mikroebene hin orientieren, erhalten sie den Charakter von Assoziationen, die ihr Ziel vorrangig in der Förderung der Mitgliederinteressen sehen. Bei Aufwärtsorientierung auf die Makroebene werden sie umgekehrt zu Institutionen, die sich in den Dienst übergreifenderer gesellschaftlicher Werte und Zielorientierungen (Bildung, Wissenschaft, nationale Verteidigung u.a.) stellen und im Extremfall mit einer institutionellen Ordnung koinzidieren (z.B. die Armee mit dem Militär oder der Staat mit dem herrschenden Regime und dessen Verwaltung).

Diese beiden Spannungsverhältnisse (zwischen Autonomie und Abhängigkeit einerseits und zwischen assoziativer und institutioneller Orientierung andererseits) bewirken, dass Organisationen grundsätzlich relativ inkonsistente und unkalkulierbare Akteure sind, die im Parallelogramm widerstrebender Kräfte hin- und hergerissen werden. So weiss man von Gewerkschaften, dass sie von einer assoziativ-bewegungshaften zu einer institutionell-korporatistischen Orientierung wechseln können (vgl. z.B. Streeck 1981); und Grosskonzerne sehen sich von der kritischen Öffentlichkeit plötzlich in eine beschwerliche Rolle gesamtgesellschaftlicher Mitverantwortlichkeit gedrängt (vgl. z.B. Miles 1987).

Moderne Gesellschaften beziehen unzweifelhaft einen grossen Teil ihrer endogenen Dynamik daraus, dass sie besonders zahlreiche und potente Organisationen besitzen, die sich in den erwähnten Ambivalenzlagen befinden. Die Risiken werden dadurch erhöht, dass viele Organisationen als "juristische Personen" analog zu Individuen mit zahlreichen verfassungsmässigen Grundrechten ausgestattet sind und sich - vor allem wenn sie international tätig sind - aus der makrosozialen Kontrolle des Territorialstaats zunehmend emanzipieren (vgl. z.B. Coleman 1974; Geser 1990).

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3. Die besondere Affinität des Christentums zur Mesoebene und zu formalen Organisationen

Im religiösen Bereich nun ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass zwischen Makro- und Mikroebene überhaupt genügend Raum für die Entfaltung formal organisierter Sozialsysteme besteht, oder dass die bestehenden Religionen überhaupt Kollektivierungen entstehen lassen, die disponiert sind, sich in solch mesosozialen Zonen anzusiedeln.

In den Termini Robert Bellah's ist dazu ein fortgeschrittener Zustand religiöser Evolution erforderlich, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Sphäre des Sakralen aus dem Totum der Natur und der menschlichen Lebenswelt hinreichend ausdifferenziert ist und die numinosen Mächte nicht mehr als weltimmanente, sondern als transzendente Wesenheiten wahrgenommen werden. In dem Masse, wie dies zutrifft, wird die Kommunikation mit dem Sakralen sowie die Gewinnung religiösen Heils schwierig und risikoreich - so dass intervenierende Instanzen wie z.B. Priester und Kirchen notwendig werden (vgl. Bellah 1991a).

In die gleiche Richtung wirkt die Tendenz, den Weg zum religiösen Heil immer ausschliesslicher als einen rein individuellen Weg zu konzipieren, der am besten (bzw. überhaupt nur) ausserhalb aller bestehenden Lebensgemeinschaften begangen werden kann; denn dies gibt religiösen Organisationen unter gewissen Bedingungen die Chance, über den Zugang zum Sakralen gar eine monopolistische Kontrolle zu gewinnen[2].

Aber auch mit dem Erscheinen der grossen Universalreligionen ist kein einheitlicher Zuwachs an religiöser Organisiertheit verbunden, weil diese sich in ihren Affinitäten zur sozialen Mikro-, Meso- und Makroebene fundamental voneinander unterscheiden.

So ist die religiöse Organisationsbildung innerhalb des Islams dadurch beschränkt, dass dieser von seinem Ursprung an dazu konzipiert war, als Medium makrosozialer Integration (zwischen arabischen Beduinenstämmen) zu dienen. Dementsprechend richtet sich auch der moderne islamische Fundamentalismus darauf, den Staat als Implementationsorgan für die Errichtung einer religiösen Gesellschaftsordnung in Anspruch zu nehmen, in der sich das moralische und rechtliche Leben integral am selben konstitutiven Prophetenschrifttum orientiert (Bellah 1991b: 146ff.).

Am anderen Extrempunkt befindet sich der Buddhismus, wo im Zentrum des religiösen Lebens höchst mikroskopische Lehrer-Schüler-Verhältnisse vorherrschend geblieben sind, und wo der eskapistische Heilsweg es letztlich erfordert, aus allen realen sozialen Beziehungen innerlich zu emigrieren.

Zwischen diesen beiden Polen nimmt das Christentum eine interessante, überaus komplizierte Mittelstellung ein. Zum einen gehört es sicher zu den "akkomodativen" Religionen, weil es - im diametralen Gegensatz zum Islam - im stabilen institutionellen Rahmen des IMPERIUM ROMANUM entstanden ist und von Anfang an nie darauf ausgegangen ist, kompetitiv oder substitutiv zu dieser Ordnung eine umfassende gesellschaftsbildende Kraft zu entfalten (Fortin 1994: 147ff.) In Erwartung des nahenden Reiches Gottes hat Jesus es sowieso nie nötig gefunden, dem römischen Recht ein christliches Recht und der autochthonen jüdischen eine alternative christliche Lebenspraxis gegenüberzustellen. Stattdessen hat er sich auf die Elaboration eher weltenthobener ethischer Prinzipien (Bergpredigt) konzentriert, die sich später nicht nur für eine flächendeckende Implementierung in gesellschaftlichen Moral- und Rechtsordnungen, sondern auch als normative Leitprinzipien christlicher Kirchenorganisation als wenig geeignet erwiesen haben.

Vielmehr liegt der Schwerpunkt der christlichen Liebesethik einerseits im Mikrokosmos lokaler Lebensgemeinschaften, wie sie etwa im Urchristentum zum Erblühen kamen, und andererseits im universalen Makrokosmos der gesamten Menschheit, der die Reichweite aller territorialen Herrschaftssysteme - und aller denkbaren Organisationen ohnehin - bei weitem transzendiert.

Auf der anderen Seite hat gerade diese Spannweite zwischen Lokalismus und Kosmopolitismus jenen Raum geschaffen, in dem sich die Kirche entfalten konnte, ja entfalten musste, um die Vermittlung zwischen diesen denkbar weit auseinanderliegenden Sphären zu übernehmen.

So hat sich die katholische Kirche als eine äusserst polymorphe und polyvalente Organisation ausgebildet, die gleichzeitig immer ganz "Lokalkirche" und ganz "Weltkirche" sein will - und es darüber versäumte, im ähnlichen Vollsinne jemals bedingungslos "Staatskirche" zu werden.

Im Vergleich zum Koran (oder Talmud) ist die Textbasis des Neuen Testaments also vergleichsweise wenig instruktiv: so dass immer zusätzliche selektive Interpretationsleistungen und Gewichtungen notwendig sind, um eine konkrete christliche Glaubenslehre und Lebenspraxis zu begründen.

Diese Selektionen sind darauf ausgerichtet,

1) die idealisierte christliche Liebesethik mit der Realität irdischer Rechts- und Moralvorstellungen zu vermitteln, und

2) die spannungsvoll-widersprüchlichen Imperative nach zentripetaler lokaler Gemeinschaftlichkeit und nach zentrifugalem universalem Kosmopolitismus miteinander in ein Verhältnis zu setzen.

Diese doppelte Indeterminiertheit und Ambiguität der Offenbarungsschriften erzeugt also einen sehr weiten Spielraum für die Entfaltung

a) von Einzelpersonen, die eine von ihnen selbst erzeugte Interpretation christlichen Daseins artikulieren;

b) von religiösen Vereinigungen, die regelmässig den Charakter von Organisationen erhalten, weil sie versuchen, eine bestimmte Version von Christlichkeit im Medium kollektiv verbindlicher Entscheidungen zu definieren und zu implementieren.

Des weiteren ist dafür gesorgt, dass sich häufig eine Mehrzahl christlicher Vereinigungen mit unterschiedlichen Deutungsmustern gegenüberstehen und sich in ihrer wechselseitigen Wahrnehmung und Interaktion der Kontingenz (d.h. der Nichtselbstverständlichkeit) ihrer Selektionen noch deutlicher innewerden. Dadurch wiederum steigt das Ausmass, in dem sie zu "Organisationen" werden, weil durch autoritative Entscheidungen in Geltung gesetzt werden muss, was nicht mehr als Tradition in unbefragt-alternativloser Weise gilt.

Und drittens schliesslich ist damit zu rechnen, dass allen christlichen Organisationen eine gewisse Disposition zur endogenen Dynamik und zu unberechenbaren Wandlungen eigen ist, weil einmal getroffene Selektionen nur unvollständig gegen alternative Interpretationen (die biblisch gleich gut begründbar sind) abgeschirmt werden können.

Daraus folgt, dass selbst christliche Kirchen mit universalem Integrationsanspruch nicht zuverlässig zur Legitimierung politischer Herrschaft (oder sonstwie zur Stabilisierung der Gesamtgesellschaft) beitragen können, sondern die ihnen zugehörige Nische eher auf der Mesoebene vorfinden, wo sie über hinreichend Raum für pluralistische Vervielfältigung verfügen und zu einem (mittelmässig bedrohlichen) Faktor gesellschaftlicher Dauerbeunruhigung werden können.

Charakteristischerweise hat es die Kirche nur zu Zeiten mangelhafter politischer Zentralgewalt (d.h. im Früh- und Hochmittelalter) vermocht, substitutiv dazu eine gewisse makrosozial-territoriale Ordnungsrolle zu entfalten - immer mit Anleihen am Römischen Recht und anderen Normbeständen, die nicht aus biblischen Ursprüngen hergeleitet waren. Mit dem Erstarken des (absolutistischen und später bürgerlichen) Staats sind hingegen die frühchristlichen Akkommodationstendenzen wieder in den Vordergrund getreten und haben zu jenen relativ konformistischen Arrangements geführt, wie man sie im Staatschristentum des Protestantismus und im Cäsaropapismus der orthodoxen Kirche besonders deutlich sieht.

In diesem Kontext hat auch die Augustinische "Zwei-Reiche-Theologie", die eine scharfe Aussegregation der religiösen Sphäre innerhalb einer grundsätzlich säkularen Natur und Gesellschaft statuiert, bei Luther eine (historisch überaus folgenreiche) Reaktualisierung erfahren.

Aber unabhängig von konfessionellen Glaubensschattierungen ist allein schon mit der organisatorischen Konstitutionsform (d.h. auch in der katholischen Kirche) eine Selbstlimitierung der religiösen Sphäre mitgesetzt, als deren Korrelat dann die übrige Welt (=Natur, Mensch und Gesellschaft) jenen Grad vollkommener Säkularität zugewiesen erhält, der für die Modernisierungsprozesse der vergangenen 400 Jahre die "infrakulturelle" Voraussetzung bildet (vgl. z.B. Dupré 1994; Gabriel 1989: 52ff.; Stark/Bainbridge 1985: passim)[3].

Während mit dem Begriff "Staatskirchentum" ein Zustand bezeichnet ist, in dem die Kirchen nach wie vor in die institutionelle Makrostruktur einer Gesellschaft eingebettet sind (und deshalb gegenüber den Anliegen ihrer Mitgliederbasis nur mässig responsiv sind), hat sich in den USA eine "assoziative Kirchlichkeit" entwickelt, die - selbst bei episkopal strukturierten Denominationen - letztlich auf kongregationalistischen Konstitutionsprinzipien beruht[4].

Vielleicht repräsentieren die USA dadurch einfach den Finalzustand einer Entwicklung, die auch in anderen christlichen Ländern in den nächsten Jahren immer wahrscheinlicher wird: dass religiöse Organisationen völlig auf die Mesoebene zurückgebunden werden, indem sie keine staatliche Protektion und keine politischen Mitbestimmungsrechte mehr geltend machen können[5].

In den USA wird diese Zurückbindung wohl dadurch erleichtert, dass auf der Makroebene eine gegenüber allen Konfessionen verselbständigte nationale Zivilreligion existiert, die aufgrund ihrer konsensualen Basis keiner kirchlichen Organisation (auch keiner "Institutionskirche" im Sinne Daibers) bedarf (Bellah 1991c)[6]. In Europa wird sie demgegenüber dadurch behindert, dass die "offiziellen Volkskirchen" mangels einer davon unabhängigen Zivilreligion nach wie vor stark als Träger gesamtgesellschaftlich relevanter Werte (und Dienstleistungen) in Anspruch genommen werden. Anders gesagt: ein seiner "offiziellen" Kirchen entledigter Staat würde als areligiöse Institution zurückbleiben, die auf eine völlige Positivität ihrer Normsetzungen (mit allen Risiken, die man aus der Geschichte des 20. Jh. kennt) verwiesen wäre (vgl. z.B. Koch 1995).

Generell ergibt sich der Schluss, dass sich die unbestritten hohe Bedeutung formaler Organisation im Christentum nicht aus einer primären positiven Einstellung zur Mesoebene, sondern eher indirekt

a) aus dem Zwang zur Mediatisierung mikro- und makrosozialer Orientierungsformen (bzw. deren Eingrenzung);

b) aus dem Zwang zur Spezifizierung einer nicht hinreichend strukturierten Offenbarungsgrundlage ergibt.

Damit scheint das Christentum die ihm gemässe gesellschaftliche Präsenz in einem dauerhaft unstabilen Zustand "mittlerer mesosozialer Institutionalisiertheit" zu finden, der im nordamerikanischen Pluralismus der Kirchen, Denominationen und Sekten seine historisch bisher klarste Realisierungsform gefunden hat.

Der doppelte Vorteil einer derartigen Strukturform besteht darin, dass das Christentum

a) in mesosozialen "Rückzugsnischen" immer noch gute Überlebenschancen findet, wenn es als staats- und gesellschaftsintegrierende Institution keine Anerkennung mehr geniesst[7];

b) aus den immensen Leistungskapazitäten moderner Organisationsformen Nutzen ziehen kann, um auf neue Weise seine Tradition zu sichern und gegenüber dem gesellschaftlichen Umfeld Autonomie und Einflusschancen zu gewinnen.

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4. Die "organisatorische Hochrüstung" moderner Religionen

Im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung gewinnen auch die Religionen bessere Möglichkeiten, ihre identitätsstiftenden Merkmale, inneren Strukturverhältnisse und äusseren Aktivitäten im Medium formalisierter Organisation zu verankern und sich dadurch von der Spontaneität informeller Prozesse und der alternativenlosen Einbindung in Traditionen zu emanzipieren. Immer drastischer werden dadurch die Unterschiede zwischen strukturarmen (z.B. mystisch-introvertierten) Vereinigungen, die jedes Eindringen formaler Organisation als Bedrohung und Entfremdung empfinden, und den grossen Kirchen, die sich im Medium der Bürokratie neue Dimensionen ihrer Innenkonsolidierung und gesellschaftlichen Präsenz erschliessen.

Während beispielsweise adventistische Sekten angesichts der bald bevorstehenden Ankunft des Reichs Gottes wenig Bedarf nach stabiler Organisationsbildung verspüren (vgl. Burkart 1980), scheint die katholische Kirche umgekehrt mehr als 1500 Jahre auf die modernen Instrumente formaler Organisation "gewartet" zu haben, um sich endlich in der ihr gemässen Weise verwirklichen zu können. So hat sie erst im Zuge ihrer Vollbürokratisierung (im Laufe des 19. Jahrhunderts) jene Grade an päpstlicher Führungsautorität und an weltweiter Homogenität ausprägen können, der im Mittelalter und der frühen Neuzeit zwar proklamiert werden konnten, aber technisch und sozio-strukturell noch nicht realisierbar waren (vgl. z.B. Gabriel 1989). Ebenso hat sie erst durch die Gründung vieler neuer Bistümer und Ortspfarreien, durch den Einsatz moderner Massenmedien sowie durch die Förderung zahlloser konfessioneller Vereinigungen (Parteien, Gewerkschaften, Jugendverbände, Frauenvereine u.a.) erstmals jene flächendeckende Präsenz in allen Regionen und jene umfassende Eingliederung aller Volksschichten realisiert, die ihrem universalen volkskirchlichen Integrationsanspruch nun endlich einigermassen entsprach (vgl. Altermatt 1989 u.a.).

Nur durch den Einsatz moderner Kommunikations- und Transporttechnologien schliesslich hat sie in diesem Jahrhundert den Status einer Weltorganisation erreicht, die an internationalen Konferenzen verbindlich ihre Stimme geltend machen kann und nur darauf wartet, um als handlungsfähiger "Global Player" an den weltweiten Unternehmungen des 21. Jahrhunderts zu partizipieren.

Viele andere christliche Vereinigungen haben im Aufbau formaler Organisation ein Mittel gefunden, um den biblischen Auftrag der Missionierung wirksamer zu erfüllen. Das vielleicht erfolgreichste Beispiel dafür bilden die Vereinigten Staaten, wo es eindeutig den Rekrutierungsaktivitäten zahlreicher religiöser Organisationen zu verdanken ist, dass der Anteil der Kirchenmitglieder von ca. 10% am Ende des 18. Jh. bis über 60% um 1980 stieg (vgl. Caplow/Bahr/Chadwick 1983) und der Grad an religiöser Partizipation ein Niveau erreicht hat, das nur noch mit demjenigen Irlands oder Polens verglichen werden kann (vgl. Warner 1993)[8].

Diese Expansion und zunehmende kausale Bedeutung des Faktors "Organisation" legt nahe, für die Erklärung des neueren religiösen Wandels ein theoretisches "Angebotsmodell" heranzuziehen, das dem "nachfrageorientierten" Denken gängiger Säkularisierungstheorien widerspricht.

So liesse sich beispielsweise argumentieren, dass das, was als "Säkularisierung" registriert wird, in Wahrheit nicht auf sinkendem religiösem Interesse, sondern auf einem wachsenden (Über-)Angebot religiös-organisatorischer Teilnahmemöglichkeiten beruht, das keine im gleichen Mass gesteigerte Nachfrage findet.

Konkreter gesprochen: Wenn vorindustrielle Gesellschaften als "tief christlich" angesehen werden, wird meist vergessen, dass die faktischen Grenzen der Christlichkeit kaum sichtbar werden konnten, weil für grosse Teile der (insbesondere ruralen) Bevölkerung kein Angebot an Gottesdiensten oder religiöser Unterweisung bestand (vgl. z.B. Brown 1992; Altermatt 1989: passim).

Erst seit es überall Kirchen und Gottesdienste gibt, kann religiöse Nichtpartizipation dem Individuum als freiwillige Handlung zugerechnet (und allenfalls als Indikator für subjektive religiöse Indifferenz) gedeutet werden.

Ebenso bedenkenswert ist die Vermutung, dass nicht der Verlust an religiösen Überzeugungen der Grund ist, warum die religiöse Partizipation in Zeiten rascher Industrialisierung und Urbanisierung oft sinkt, sondern die Tatsache, dass religiöse Organisationen Zeit brauchen, um mit neu immigrierten Bevölkerungen Kontakte zu knüpfen und Angebote zu entwickeln, die ihrer veränderten Lebenssituation und Bedürfnislage Rechnung tragen (Brown 1992).

Schliesslich stellt sich die Frage, ob vielleicht auch die virulenten modernen Erscheinungen des Antiklerikalismus und Agnostizismus gar nicht aus einer wachsenden Religions- und Kirchenferne entstanden sind, sondern aus dem verständlichen Streben, der wachsenden organisatorischen Präsenz und Handlungspotenz der Kirchen ein Korrektiv entgegenzusetzen.

Anders gesagt: wenn sich die organisatorische Hochrüstung der Kirchen auf der Basis einer ungebrochenen mittelalterlichen Frömmigkeit vollzogen hätte, hätten sie eine in keiner anderen historischen Periode erreichte Einflussstellung erhalten und gar die Gefahr einer theokratischen Herrschaftsform (z.B. nach dem von Calvin vorgeführten Modell) heraufbeschworen.

Oder noch anders gesagt: heute sind bewusste Anstrengungen forcierter Säkularisierung (sowohl auf der Ebene der Politik und des Rechts wie auch auf dem Niveau individueller Gesinnungen) notwendig, um den kirchlichen Einfluss in jenen Grenzen zu halten, die sich in vormoderner Zeit allein schon aus den quantitativen Begrenzungen und den qualitativen Leistungsschwächen der technischen und organisatorischen Mittel ergab.

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5. Effekte innerer und äusserer religiöser Stabilisierung

Mittels formaler Organisationen gewinnen Religionen bessere Möglichkeiten innerer und äusserer Stabilisierung, die in dem Masse, wie sich der sozio-kulturelle Wandel beschleunigt, von immer grösserer Bedeutung werden.

Die innere Stabilisierung geschieht dadurch, dass die Mitgliedschafts- und Teilnahmemotivationen der Mitglieder immer weniger auf deren konsensualer Zustimmung zu den formalen Glaubensinhalten, Zielsetzungen und Aktivitäten des Gesamtsystems, sondern auf einer Vielzahl davon unabhängiger Interessen und Werthaltungen beruhen (vgl. z.B. O'Dea 1961).

In dem Masse, wie konfessionelle Glaubensunterschiede an Relevanz verlieren, scheint immer mehr die partikuläre religiöse Organisation (bzw. deren lokale Filialstelle) der Fokalpunkt zu sein, um den sich subjektive Gefühle der Zugehörigkeit und kollektive Formen der Gemeinschaftlichkeit kristallisieren (vgl. z.B. Demerath/Hammond 1969: 196).

In historischer Sichtweise fällt auf, dass die christlichen Konfessionen ihre Transformation in "Organisationskirchen" ausgerechnet in jenen Zeitepochen (zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert) vorangetrieben haben, als es infolge der Säkularisierung und des sich generell beschleunigenden sozio-kulturellen Wandels immer weniger möglich wurde, sich auf glaubensmässig abgestützte (d.h. auf Konsens mit den Systemzielen beruhende) Mitgliedschaftsmotivationen zu verlassen (vgl. Daiber 1995; van Dülmen 1994)[9].

Wie vertiefte kirchensoziologische Studien regelmässig zeigen, verbergen sich hinter der erstaunlichen zeitlichen Stabilität der Mitgliederbestände immense Verschiebungen in den Motivationslagen, die in kürzlichen Prozessen des Wertewandels und den gesellschaftlichen Megatrends der "Individualisierung" und der "Pluralisierung" ihre Ursache haben (vgl. z.B. Zulehner 1993: passim).

"Between 1924 and 1977 the given reasons for church attendance and involvement shifted markedly from obedience to pleasure. Middletownians go to church because it is personally rewarding rather than because God commands it" (Wallis/Bruce 1992:20)[10].

Methodologisch folgt daraus, dass Kirchenaustrittsziffern (und selbst Quoten des Gottesdienstbesuchs) relativ uninformative Indikatoren darstellen, die keine validen Rückschlüsse auf Wandlungen auf der Ebene religiöser Einstellungen gestatten.

Die äussere Stabilisierungswirkung religiöser Organisationen entsteht dadurch, dass es ihnen durch Diversifikation gesellschaftlich relevanter Aktivitäten und Leistungen gelingt, auch bei Aussenstehenden (bzw. in der allgemeinen Öffentlichkeit) in verschiedenster Weise Legitimation zu gewinnen (vgl. Geser 1995).

"Infolge von Bürokratisierung und Differenzierung wird die Kirche zu einem gesellschaftlichen Teilsystem, das relativ unabhängig von der Motivation der Mitglieder seine Leistungen erbringt. Von daher entsteht eine Form der Akzeptanz der Kirchen, die sich relativ ausschliesslich auf deren gesellschaftliche Funktionalität abstützt, ohne dass eine persönliche christliche Motivation vorzuliegen braucht"(Daiber 1995: 75).

So wurde beispielsweise die jüngste Volksinitiative zur Trennung von Kirche und Staat im Kanton Zürich ( im Herbst 1995) wohl deshalb mit grosser Mehrheit verworfen, weil breite kirchenferne Bevölkerungskreise geneigt waren, den Kirchen zumindest aufgrund ihrer diakonischen Wohlfahrtsleistungen oder ihres Beitrags zur Wahrung wertvoller kultureller Traditionen Respekt zu zollen (und ihre traditionelle Alimentierung mit allgemeinen Steuermitteln gerechtfertigt zu finden)[11].

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6. Funktionen der Traditionssicherung und Konservierung

Es ist eine generelle Erfahrung, dass alte, aus der alltäglichen Lebenswelt verschwindende Formen der Kultur und des sozialen Umgangs immer mehr auf den schützenden Kontext formaler Organisation angewiesen sind, um überhaupt noch zu überleben. So kommt es, dass das Latein heute praktisch nur noch im Literargymnasium eine Nischenexistenz fristet, und dass die untergegangene Welt des traditionellen Handwerks nur noch in Volkskundemuseen erlebbar wird.

In der Religion ist das nicht anders: Je weniger darauf Verlass ist, dass religiöse Glaubenslehren, Moralvorstellungen und Lebenspraktiken über informelle Mechanismen (z.B. familiärer Sozialisation) reproduziert werden, desto ausschliesslicher kommt den Kirchen die Funktion zu, diese Tradierung sicherzustellen.

Dies bedeutet dann logischerweise, dass die Chancen erfolgreicher religiöser Tradierung immer enger mit den Leistungskapazitäten der entsprechenden konfessionellen Kirchenorganisationen korrelieren.

Immer grösser werden hier die Unterschiede zwischen den hoch differenzierten Kirchen reicher Länder, die zur Bewahrung ihres (kunsthistorischen, intellektuellen und liturgischen) Erbes gigantische materielle und organisatorische Ressourcen einsetzen können, und den strukturarmen und unbemittelten religiösen Vereinigungen, deren Überlebenschancen direkt von ihrer Verankerung in informellen Lebenswelten abhängig bleiben.

Als Bewahrer religiöser Traditionen verfügen die heutigen Kirchen - ähnlich wie Museen oder universitäre "Orchideenfächer" - über eine neue gesellschaftlichen Legitimationsgrundlage, die für unser extrem "historistisches" Zeitalter spezifisch ist (vgl. z.B. Lübbe 1986) und sich - ähnlich wie die Anerkennung diakonischer Leistungen - auch auf religiös indifferente Bevölkerungssegmente erstreckt.

Im Vergleich zu Museen kommt hinzu, dass Kirchen sich ja keineswegs nur auf die schiere Konservierung abgestorbener Kulturmuster beschränken, sondern selber immer noch funktionsfähige Repräsentanten dieser alteuropäischen Kultur darstellen, die es als ihre Aufgabe ansehen, solche Traditionen lebendig zu halten und mit den Bedingungen der modernen Gesellschaft zu vermitteln.

Diese durch Mischehen, mütterliche Berufstätigkeit, Scheidungen und andere Faktoren reduzierte Sozialisationsleistung der Familie kann allerdings die paradoxe Folge haben, dass sich die Bedingungen für die Reproduktion religiöse Traditionen relativ verbessern. Dies hängt damit zusammen, dass der Zerfall der Familie vor allem die intergenerationelle Übermittlung von Irreligiosität gefährdet: weil die Übermittlung religiösen Unglaubens noch viel ausschliesslicher an familiäre Kontexte gebunden ist, und weil es vor allem die weniger religiösen Familien sind, die von Scheidungen oder anderen Sozialisationshindernissen betroffen sind:

"We ... know that irreligion in the US replicates itself across generations less effectively than active religious preference. Though the proportion of 'nones' has roughly tripled since the 1950s, nones tend to generate additional nones less efficiently than Protestants, Catholics or Jews do their own kind.

Men are more likely to lack religion than women, but religiously indifferent fathers are particularly poor in passing on their indifference to their offspring" (Warner 1993: 1077).

Ebenso gilt die Asymmetrie, dass selbst kleinste religiöse Gruppen dank schlagkräftiger Organisation spürbare politische und gesellschaftliche Wirkungen entfalten können, während atheistische Strömungen selbst bei grösster Ausbreitung wenig Bedeutung erlangen, weil sie keine Basis bieten, auf der handlungsfähige Organisation aufbauen können (vgl. z.B. Green 1994: 90ff.).

Weil die verbleibende religiöse Erziehung in Familien oft durch einen diffusen "alltäglichen Ökumenismus" (Altermatt) gekennzeichnet ist, hängt vor allem die Transmission konfessionsspezifischer Eigenheiten heute praktisch völlig von kirchlichen Anstrengungen ab. Im Fall der katholischen Kirche erweist sich der dramatisch zunehmende Priestermangel hier als besonderes Handikap, weil er es erschwert, genau diese fundamentale Aufgabe zu erfüllen.

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7. Funktionen religiöser Strukturierung und Standardisierung

Beim diffusen Gerede von der "Individualisierung" und der "Pluralisierung der Lebensstile" wird häufig vernachlässigt, dass die dabei anwachsende persönliche Autonomie sich weitgehend darauf beschränkt, zwischen vorgefertigten Produkten und Dienstleistungen von Organisationen (z.B. Konsumgütern, Parteilisten oder Fernsehprogrammen) eine Wahl zu treffen - und nicht darin, solche Angebote durch selbstfabrizierte Schöpfungen zu konkurrenzieren oder zu ersetzen (vgl. z.B. Meyer 1986; Buchmann 1989: 22ff.)

Je vielfältiger und wechselhafter meine Aktivitäten und sozialen Milieus, desto mehr bin ich in jedem einzelnen Bereich auf vorstandardisierte Leistungsangebote und Verhaltensmuster angewiesen, die ohne grossen Informationsaufwand identifizierbar und ohne besondere Kenntnisse und Fähigkeiten verstehbar (bzw. praktizierbar) sind.

So entsteht auch im religiösen Bereich allein schon aus der zunehmenden Diversifikation der Rollensets und der anwachsenden Variabilität persönlicher Biographien (vgl. z.B. Berger/Berger/Kellner 1975) eine zunehmende Disposition, sich auf die formalisierten Glaubensweisen, Rituale und normativen Verhaltensrezepte religiöser Organisation abzustützen, anstatt aus eigener Kraft zu einer persönlich geprägten Gottesbeziehung vorzustossen.

Anstelle des (vor allem im reformierten Protestantismus geforderten) "vollmündigen Gesinnungschristen" entsteht deshalb viel häufiger der "Auswahlchrist", der sich nach eigenem Gusto mit Versatzstücken aus verschiedenen Konfessionen versorgt oder zusätzlich auch Elemente aus dem "New Age", der Scientology oder der Hare Krishna in sein synkretistisches Religionsverständnis integriert (vgl. z.B. Bibby 1987, Roof 1993; Altermatt 1989; Barker 1994)[12].

Verliert das Religiöse überdies zugunsten anderer Rollenfelder an Gewicht, profitieren die Kirchen doppelt, weil sie dann weniger qualifizierte Kritik befürchten müssen und es ihnen deshalb selbst ohne besondere Anpassungsleistungen leicht gelingt, mit ihren traditionellen (überwiegend aus vormoderner Zeit stammenden) Angeboten konkurrenzlos zu bleiben.

So ziehen religiöse Organisationen paradoxerweise Nutzen daraus, dass immer mehr Menschen immer weniger religiöse Sozialisation erfahren und als Erwachsene weder fähig noch motiviert sind, sich eigenaktiv mit religiösen Glaubenslehren auseinandersetzen und sich in ihren alltagsweltlichen Aktivitäten an religiösen Normen und Verhaltenspraktiken zu orientieren. Sie regredieren dadurch zu religiösen Konsumenten, die in gewissen Zentralbereichen ihrer (individuellen und sozialen) Existenz immer unausweichlicher von den standardisierten, niederschwellig zugänglichen Angeboten der etablierten Kirchen abhängig sind.

Wenn das religiöse Engagement nur zu einem festtäglichen passiven Gottesdienstbesuch ausreicht, liegt es beispielsweise nahe, eine traditionell-katholische Orchestermesse zu besuchen. Oder wenn man seiner Hochzeit über das trockene zivile Ritual hinaus Glanz und Würde verleihen will, gibt es kaum eine Alternative, als eine traditionell-kirchliche Eheschliessung stattfinden zu lassen[13].

So zeigen selbst sehr areligiöse Bevölkerungen (wie z.B. in den neuen Bundesländern Deutschlands) eine ungebrochene Tendenz, zumindest bei ihrer Beerdigung (erstaunlich häufig aber auch bei Hochzeit und Kindstaufe) die Dienstleistungen der Kirchen in Anspruch zu nehmen (vgl. z.B. Daiber 1995).

Im Bereich solcher Basisriten können die Kirchen davon profitieren, dass sich zu ihren traditionellen Ritualen bisher kaum säkulare Konkurrenzangebote herausgebildet haben. Insbesondere fehlt es an nichtkirchlichen Umgangsformen mit Sterben und Tod, mit der Folge, dass die meisten Toten ungeachtet ihrer vorgängigen Distanz zu Kirche und Religion nach wie vor kirchlich bestattet werden.

Ähnlich bequem ist es, die Kirchen zur Entlastung eigener moralischer Verantwortlichkeiten in Anspruch zu nehmen, indem man mühevolles ethisches Handeln an sie delegiert. So haben die kirchlichen Hilfswerke nicht zuletzt deshalb ihre Bedeutung bewahrt, weil sie es den durchschnittlichen Katholiken oder Protestanten ermöglichen, sich bei ihren philanthropischen Engagements mit der anspruchslosen Rolle des Geldspenders zufriedenzugeben und sich im Vertrauen darauf, dass es für gute Zwecke verwendet wird, ohne aktiveres Engagement ein gutes Gewissen zu verschaffen.

Ebenso können sowohl natürliche wie auch juristische Personen das Gefühl bekommen, ihrer umfassenderen "sozialen Verantwortung" allein schon durch die - erzwungene - Ablieferung ihrer Kirchensteuer Genüge zu tun - und daraus die Berechtigung ableiten, sich im übrigen umso kompromissloser an ihren eigenen Individual- oder Unternehmensinteressen zu orientieren.

Interessanterweise machen sich gerade fundamentalistische Kreise ein ausgesprochen funktionalistisches Religionsverständnis zu eigen, wenn sie den zunehmenden "Werteverlust" unserer Gesellschaft beklagen und mit der Begründung, dass die Kirchen für den moralischen Zusammenhalt der modernen Sozialordnung unverzichtbar seien, für eine Stärkung kirchlich-religiöser Präsenz und Mitsprache kämpfen[14].

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8. Ausschöpfung endogen-religiöser Quellen gesellschaftlicher Autonomie

Wenn religiöse Organisationen in modernen Gesellschaften als Quelle unberechenbar-eigensinnigen Handelns und als Agenzien sozio-kulturellen und politischen Wandels in Rechnung zu stellen sind, beruht dies grossenteils darauf, dass sie in einer Zeit, wo praktisch alle anderen Akteure entweder dem Schwerefeld staatlicher Kontrolle und Subventionierung oder der Abhängigkeit von der Wirtschaft unterliegen, nach wie vor über eine gewisse Unabhängigkeit verfügen (vgl. Zald/McCarthy 1987: 77).

Generell verfügen alle Religionen über eine schwer angreifbare Autonomiebasis, die nicht von der Kontrolle über Herrschaftsmittel oder materielle Ressourcen (und auch nur beschränkt von immateriellen Prestigefaktoren) abhängig ist. Vielmehr beruht sie auf ihrem Potential, gewisse Prämissen des Handelns oder Unterlassens (Weltbilder, Werte, Normen u.a.) mit endogen erzeugten Letztbegründungen auszustatten und sie damit externen Rechtfertigungs- und Legitimationszwängen zu entziehen.

Daraus entstehen solange wenig Probleme, als diese externen Begründungszwänge ohnehin fehlen, weil die Religion mit dem kulturellen System der Gesamtgesellschaft koinzidiert. In diesem Falle kann sie bekannterweise eine gesellschaftsintegrative Funktion erfüllen, indem sie die Legitimation von Setzungen verstärkt, die bereits von anderen Sphären (z.B. seitens der politischen Herrschaft) mit inappellabler Geltung ausgestattet sind.

Ganz anders ist es im modernen liberalen Rechtsstaat, der mit seinen Prinzipien der Glaubens- und Gewissensfreiheit Raum schafft, damit sich auf mesosozialer Ebene nebeneinander verschiedenste religiöse Gruppen entfalten (und miteinander in Beziehung treten) können. Hier kann es leicht geschehen, dass beispielsweise politische Diskurse blockiert werden (oder in offene Handgreiflichkeiten übergehen), weil jede beteiligte Gruppierung auf ihren je eigenen - untereinander inkommensurablen - Letztbegründungen insistiert[15].

Unzweifelhaft gibt es in unserer Gesellschaft eine generalisierte Tendenz, religiös begründeten Meinungen und Handlungen mit Respekt und einem Vorschuss an Vertrauen zu begegnen: vielleicht weil wir Religiosität - trotz vielfältiger historischer und aktueller Gegenbeispiele - mehr mit Moral als mit Unmoral, mehr mit Menschlichkeit als mit Unmenschlichkeit, und mehr Frieden als mit Krieg in Verbindung bringen.

Dies kommt auf rechtlicher Ebene darin zum Ausdruck, dass wir im Katalog der Grundrechte eine allgemeine "Religionsfreiheit" statuieren, ohne explizit zu definieren, auf welche religiösen Bekenntnisse sie sich erstreckt.

Ebenso werden beispielsweise Militärdienstverweigerer, die "religiöse" Gründe geltend machen, moralisch weniger verurteilt als jene, die "ethische" oder gar "politische" Motive angeben. Schliesslich werden Einkommen und Vermögen religiöser Vereinigungen und Kirchen häufig von der Steuer befreit, weil man ihnen irgendeine Form von "Gemeinnützigkeit" unterstellt.

Mit anderen Worten: die Hochschätzung für das Religiöse überträgt sich in einen pauschalen Respekt für Handlungen, die von den Akteuren als "religiös motiviert" gekennzeichnet werden.

Naheliegenderweise versuchen viele Individuen, problematische oder vollends deviante Handlungen als "religiös" auszugeben, um den Schutz der Religionsfreiheit in Anspruch zu nehmen oder wenigstens der vollen Schärfe des Strafgesetzes (und der öffentlichen Ächtung) zu entgehen[16].

Aus denselben Gründen muss dauernd mit dem Aufkommen dubioser Gruppierungen gerechnet werden, die ungerechtfertigterweise den attraktiven Status einer "religiösen Vereinigung" anstreben, um aus dem allgemeinen Respekt, der allen Religionen gezollt wird (und/oder aus den handgreiflichen rechtlichen Privilegien wie z.B. Steuerfreiheit, die damit verbunden sind) Nutzen zu ziehen (Zald/MacCarthy 1987: 77).

So bedurfte es eines Urteils des Deutschen Verfassungsgerichts, um der Church of Scientology die Qualifikation einer religiösen Gemeinschaft abzusprechen, als die sie sich selbst versteht und nach aussen gern darstellen möchte. Die etwas hilflos-diffuse Begründung dafür lautet, es reiche nicht aus, sich selbst zur Religionsgemeinschaft zu erklären; sondern der `geistige Gehalt' und das `äussere Erscheinungbild' müsse einer solchen Gemeinschaft entsprechen[17]. Diese Begründung ist - insbesondere aus angelsächsischer Sicht - deshalb problematisch, weil sie ein Vorrecht des Staates impliziert, aus seinem (an der Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung orientierten) Blickwinkel über innere und äussere Merkmale, die eine Religion aufweisen müsse, zu entscheiden: ein Standpunkt, der wohl das Auftreten zahlreicher historisch bedeutsamer Religionen erschwert oder verunmöglicht hätte.

Dank ihrer privilegierten Sonderstellung können religiöse Gemeinschaften auch leicht instrumentalisiert werden, um über korrupte Praktiken einen Schleier zu legen.

So sind in Japan praktisch alle politischen Parteien eng mit religiösen Sekten verflochten, weil diese dank ihrer rechtlichen Sonderstellung (Steuerfreiheit, Schutz vor judikativer Kontrolle u.a.) als "Waschanlagen" für illegale Geldzuwendungen benutzt werden können[18]. Das Interesse der Parteien an der Existenz derart autonomer religiöser Gruppierungen hat dazu geführt, dass 1995 etwa 184'000 (!) Sekten aufgrund des Religionsgesetzes Steuerfreiheit genossen[19]. Selbst im Falle der hochkriminellen AUM-Sekte mussten zuerst vielerlei gesetzliche Hemmnisse aus dem Weg geräumt werden, um sie für ihren Giftgasanschlag auf die U-Bahn von Tokio zur Rechenschaft zu ziehen[20].

Zumindest in den Vereinigten Staaten stellt man fest, dass religiöse Organisationen verschiedenster Provenienz die den religiösen Sektor generell zustehenden Privilegien solidarisch verteidigen, wenn sie einer einzelnen Gruppe verweigert werden:

"Thus, when Reverend Sun Myung Moon appealed his tax fraud conviction to the Supreme Court, many mainline religious groups supported his appeal since they did not relish losing their ability to shield their financial dealings from government intervention (Zald/McCarthy 1987: 77).

So kommt es, dass sich auch höchst konservative religiöse Kräfte für die Erhaltung jener Freiräume verwenden, innerhalb denen sich dann auch Gruppierungen mit durchaus progressiven Zielsetzungen entfalten können.

Generell operieren die meisten religiösen Organisationen (und damit assoziierten Amtsträger, Amtsstellen u.a.) unter der beneidenswerten Voraussetzung, dass ihnen sowohl Anhänger wie Aussenstehende ein hohes Vertrauen entgegenbringen. Dadurch wird es ihnen erleichtert, nach innen ohne grossen Kontrollaufwand ein hohes Niveau an innerer Kooperation zu entfalten und nach aussen hin in sehr autonomer Weise tätig zu werden.

Dazu gehört beispielsweise, dass sie nach eigenen Gesichtspunkten oft relativ umfangreiche Finanzmittel verwalten, ohne darüber nach innen oder nach aussen Rechenschaft ablegen zu müssen.

So kontrollieren allein die 26 katholischen Bischöfe Deutschlands Vermögenswerte von insgesamt ca. 80 bis 100 Mio. DM, ohne an einen formellen Etat gebunden zu sein und ohne dass eine transparente Rechnungslegung und ein qualifiziertes Controlling erfolgt[21].

Ebenso wird den Ortspfarrern häufig die Kompetenz zugestanden, die Einnahmen sonntäglicher Gottesdienstopfer oder andere Spendenmittel ad personam zu verwalten - um ad hoc in völlig unbürokratischer Weise Bedürftigen unter die Arme zu greifen oder um beliebige kirchennahe Vereinigungen punktuell zu unterstützen.

Aus analogen Gründen sind schliesslich auch die internationalen kirchlichen Hilfswerke in der Lage,

a) sehr autonom über die Verwendung der ihnen zugehenden Spendengelder zu befinden,

b) mit einem relativ geringen Aufwand an administrativer Kontrolle auszukommen, weil den Mitarbeitern (aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur selben Konfession) zugetraut wird, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln und die ihnen anvertrauten Mittel seriös zu verwalten.

Hinzu kommt, dass Gläubigen ihr Spendeverhalten häufig auf eine rein gesinnungsethische oder expressive Motivation[22] abstützen und es völlig der empfangenden Organisation überlassen, in verantwortungsethischer Hinsicht über Festlegung spezifischer Ziele und Mitteleinsätze zu entscheiden.

Aus all diesen Gründen gewinnen diese Hilfswerke grosse Spielräume, um sich zum Beispiel bei ihren Engagements in der Dritten Welt von spezifischen Kenntnissen leiten zu lassen, die den Spendern zu Hause nicht zugänglich sind, oder um politische Vereinigungen und Bewegungen zu unterstützen, mit deren Zielsetzungen diese Spender mehrheitlich nicht einverstanden wären[23].

Demgegenüber stehen säkulare Entwicklungshilfswerke unter wachsendem Druck, ihre Engagements und Aktivitäten mit den Präferenzen der Spender in Übereinstimmung zu halten, da sie sonst kaum mehr Zuwendungen erhalten[24].

Die unabhängige Vertrauensstellung religiöser Organisationen wird naheliegenderweise dort besonders relevant, wo die Legitimation der politischen Zentralgewalt brüchig ist und/oder wo es an alternativen nicht-staatlichen Autoritäten fehlt.

Zum Beispiel übernehmen kirchliche Instanzen gegenüber unorganisierten und diskriminierten Bevölkerungsgruppen in der Dritten Welt häufig die Aufgabe, deren politische Interessen und Forderungen zu artikulieren und/oder oder sie beim Aufbau eigener Vereinigungen und Pressure Groups zu unterstützen.

Die Kirche kann dabei die Funktion eines idealen Katalysators spielen, weil sie sich in diesem Kollektivierungsprozess nie derart engagiert, dass sie ihre religiöse, d.h. letztlich völlig ausserhalb des säkular-politischen Handelns begründete Identität verliert. Vielmehr behält sie ihre grundsätzliche Unabhängigkeit, die es ihr dann ermöglicht, im von ihr ausgelösten politischen Sturmwind relativ unbehelligt zu bleiben:

"Im Jahre 1974 organisierte Ruiz auf Aufforderung des damaligen Gouverneurs von Chiapas einen Kongress, in welchem Vertreter von über 300 indianischen Gemeinden ihre Probleme diskutierten. Dieser Kongress spielte eine Schlüsselrolle bei der Organisierung der indianischen Bevölkerung. In den folgenden Jahren begannen die Indios ihre eigenen Organisationen zu bilden, oftmals unter der Führung von Delegierten des Kongresses von 1974, während die Kirche nun eine mehr passive, beratende Rolle einnahm"[25].

Dank seiner Unabhängigkeit konnte sich Bischof Ruiz über viele Jahre hinweg die Chance wahren, als Vermittler zwischen den Indios und der Regierung Anerkennung zu finden[26].

Aber auch in der politischen Arena hochentwickelter Länder vermögen religiöse Organisationen dank ihrer allseitigen Unabhängigkeit einen Einfluss zu entfalten, der mit der Begrenztheit ihrer finanziellen und personellen Mittel in einem oft verblüffenden Missverhältnis steht.

So gelangt man insbesondere in den USA zum Schluss, dass die meisten grossen Sozialbewegungen der vergangenen Jahrzehnte entweder in religiösen Organisationen ihre Wurzel hatten oder zumindest phasenweise von der Unterstützung solcher Organisationen stark abhängig waren.

Dies gilt einerseits für rechtskonservative Bewegungen wie die "Moral majority" Jerry Falvells, für die fundamentalistische "Antievolutionsbewegung" oder das gegen die Liberalisierung der Abtreibung gerichtete "Pro life movement. Die beiden letzteren werden in hohem Umfang von lokalen Parochialgemeinden getragen und sind dadurch in der Lage, an unzähligen verschiedenen Punkten (z.B. in einzelnen Staaten, Städten, Schulen oder Kliniken) ihren Einfluss geltend zu machen (vgl. Warner 1993: 1068; McLeod 1992; Zald/McCarthy 1987: 77)[27]. Ein weiteres Beispiel dafür bildet das amerikanische "Sanctuary movement", das sich auf die Bereitschaft unzähliger örtlicher Religionsgemeinschaften abstützten konnte, illegal Eingewanderten Kirchenasyl zu gewähren (Yarnold 1991: 17-46).

Andererseits gilt dies genauso für liberal-progressive Bewegungen wie das "Civil Rights Movement" oder das "Gay Movement" der Homosexuellen, deren Führer sich überraschend häufig aus protestantischen Pfarrern und Predigern rekrutierten (Warner 1993: 1069):

"Churches provided the (civil rights) movement with an organized mass base; a leadership of clergymen largely economically independent of the larger white society and skilled in the art of managing people and resources; an institutionalized financial base through which protest was financed; and meeting places where the masses planned tactics and strategies and collectively committed themselves to the struggle" (Morris 1984: 4).

Mit ihrer Verankerung in religiösen Eliten und Organisationen haben viele dieser Bewegungen eine Legitimitätsbasis erhalten, die es ihnen erleichtert hat, auch ohne Gewaltandrohung bei den säkularen Machtinstanzen Gehör und Respekt zu finden (Yarnold 1991: 29).

Als Agenten kollektiver Mobilisierung, Artikulation und Organisierung haben sich die Kirchen vor allem für jene diskriminierten Bevölkerungsgruppen (wie z.B. Schwarze der amerikanischen Südstaaten) als bedeutsam erwiesen, die über keine anderen Mittel der Selbstorganisation verfügten - und dabei progressive, ja revolutionäre Entwicklungen begünstigt, die mit dem Konservativismus ihrer eigenen Lehren in einem teilweise erstaunlichen Widerspruch standen:

"Thus numerous empirical studies attest that the black church is historically conservative and a resource for social change, it contributes both to group solidarity and personal well-being" (Ellison 1991).

In ähnlich paradoxer Weise hat die konservative Baptistenkirche die gewerkschaftliche Organisation Appalachischer Kohlearbeiter begünstigt, weil sie diesen den einzigen Raum zur Verfügung stellte, in dem sie sich unabhängig vom Einfluss ihres Arbeitgebers versammeln konnten (Billings 1990).

Derartige Beispiele zeigen, dass religiöse Organisationen allein schon als Plattformen sozialer Begegnung vielerlei indirekte und ungeplante Wirkungen auf Politik und Gesellschaft ausüben, die mit ihren manifesten Glaubensinhalten und Morallehren in keinem Sinnzusammenhang und Kausalverhältnis zu stehen brauchen (vgl. Sherkat/Ellison 1991).

Auch bei ihren bewusst intendierten Unterstützungsaktionen pflegen sich religiöse Organisationen aber meist gegen die von ihnen selbst miterzeugten politischen Kontroversen abzuschirmen, indem sie sich nicht selber in der Bewegung exponieren, sondern eigenständig agierende Bewegungsgruppen initiieren (bzw. mit Hilfe von Sammelaktionen, Bereitstellung von Infrastruktur und andere indirekte Massnahmen unterstützen, (Zald/McCarthy 1987: 70ff.).

Mit dem Konzept des "half-way house" umschreiben Zald und McCarthy diese bemerkenswerte Bereitschaft vieler religiöser Organisationen, vielerlei Bewegungsgruppen temporäre Heimstatt und logistische Unterstützung zu gewähren, ohne dadurch selber Teil dieser Bewegungen (und damit: politisch angreifbar) zu werden:

"What is distinctive about movement halfway houses is their relative isolation from the larger society and the absence of a mass base. Such institutions may serve a repositories of information about past movements, strategy and tactics, inspiration and leadership" (Zald/McCarthy 1987: 74)

Im Gegensatz etwa zu Interessenverbänden ist für religiöse Organisationen charakteristisch, dass sie ihre Ressourcen und Handlungskapazitäten wahlweise für eine im Prinzip beliebige Vielfalt verschiedener Ziele und Aktivitäten einsetzen können, weil sie ihre Identität nicht an spezifischen empirischen Zwecken festgemacht haben, sondern auf einem abstrakteren Niveau religiöser Werte und Doktrinen, die mit dem Ob und Wie diesseitsorientierter Aktivitäten in keinem eindeutigen Zusammenhang stehen.

Deshalb konstituieren sie eine allgemeine Plattform, von der wechselnde soziale Bewegungen mit unterschiedlichsten (politischen, humanitären oder kulturellen) Zielsetzungen ihren Ausgang nehmen oder ihre Unterstützung beziehen können (vgl. z.B. Geser 1991a).

Bezeichnenderweise stellt man bei christlichen Kirchen, Denominationen und Sekten gemeinhin fest, dass Grad und Richtung politischer Aktivierung ziemlich unabhängig vom Inhalt theologischer Glaubenslehren variieren:

"Recent experiences with black fundamentalists and white evangelicals suggest that groups may very quickly move from a position of strong aversion to involvement in worldly pursuits to a deep involvement. Theological principles are apparently not a very reliable guide to such involvement" (Zald/MacCarthy 1987: 69)[28].

Generell können selbst gut etablierte Kirchen nicht vorbehaltlos zu jenen "entrenched organizations" gerechnet werden, die sich in jeder Hinsicht in ihre säkulare Umwelt einfügen. Vielmehr gehören sie zumindest aspektweise der Sphäre jener "fringe organizations" an, die der positiven staatlichen Rechtsordnung religiös-naturrechtlich fundierte Forderungen gegenüberstellen und durch Parteinahme für randständigere Bevölkerungssegmente eine "inklusivere" Gesellschaftsordnung erzwingen (Yarnold 1991: 17ff.)[29].

Mit ihren autonomen Interventionen können religiöse Organisationen bewirken, dass sich der Aufstieg und Niedergang mancher sozialer Bewegungen relativ unabhängig von Wandlungen in den Werthaltungen, Unzufriedenheiten und Forderungen in der Bevölkerung vollzieht. So hat sich beispielsweise in den 70er Jahren ein Anwachsen antifeministischer Gruppierungen und in den 80er Jahren ein politisch bedeutsamer Einflusszuwachs rechtsevangelikaler Strömungen vollzogen, ohne dass sich das Anhängersubstrat solcher Bewegungen in der Bevölkerung quantitativ verändert hätte (Zald/McCarthy 1987: 74).

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9. Management von Dissens und kulturellem Wandel

Religionsgemeinschaften müssen sich in modernen Gesellschaften in wachsendem Masse auf formale Organisation abstützen, weil es anders nicht möglich ist, im Zuge der zunehmenden Heterogenität und Wandelbarkeit religiöser Vorstellungen und Handlungsweisen ihre innere Einheit und äussere Handlungsfähigkeit zu bewahren.

Generell sind religiöse Kollektive stärker als die meisten säkularen Sozialsysteme davon bedroht, im Zuge des kulturellen Wandels all ihre Konsens- und Stabilitätsgrundlagen zu verlieren, weil es für sie weniger transkulturell gesicherte Verankerungen gibt, auf die sie ihre Integration abstützen konnten.

Wenn beispielsweise Wirtschaftsunternehmungen oder öffentliche Dienstleistungsbetriebe ihre habitualisierten Werthaltungen und Ideologien aufgeben, wird nicht viel passieren, weil sie bei der Erbringung ihrer empirischen Zwecke nach wie bevor an vielerlei objektive Sachgesetzlichkeiten gebunden sind, die eine berechenbare Kontinuierung ihrer technisch-organisatorischen Strukturen und Verfahrensabläufe garantieren.

Im Falle von Schulen oder Armeen sind mit einem ähnlichen Traditionsverlust bereits erheblich tiefgreifendere Folgen verknüpft, weil angesichts der problematischen Mittel-Zweck-Beziehungen des pädagogischen Handelns (sowie der geringen Messbarkeit seiner Effekte) sehr viel höhere Freiheitsgrade bestehen, um Ziele und Handlungen von der ideellen Ebene her zu determinieren[30].

Im religiösen Bereich sind mit der Verabschiedung von Traditionen die grössten Risiken verbunden, weil es angesichts der transzendenten Zwecke und der Unverifizierbarkeit der Mittel-Zweck-Relationen überhaupt keine sachgesetzlich verankerten Normen oder Handlungen gibt, die von derartigen Wandlungen unbetroffen wären. Bereits bescheidene Abweichungen von hergebrachten Traditionen können hier bewirken, dass alle Elemente des Glaubens, der Moral oder der Liturgie in den Strudel beliebiger Um- und Neudeutungen und endloser Kontroversen einbezogen werden.

Daraus folgt unmittelbar, dass die Überlebensfähigkeit und innere Kohärenz religiöser Sozialsysteme in Zeiten erhöhter kultureller Pluralisierung und rascheren kulturellen Wandels in kritischer Weise an den Aufbau von Strukturen gebunden ist, die den Bedarf nach innerem Konsens reduzieren: d.h. an den Aufbau von formeller Organisation.

Ex negativo zeigt sich dieser Zusammenhang darin, dass sich informelle religiöse Gruppierungen (z.B. Sekten) besonders stark an fundierende Traditionen anzuklammern pflegen: weil sie völlig auf Konsens begründet sind und deshalb jedes Eindringen von Divergenz und Wandel als Reduktion ihrer Kohäsion (bzw. als Grund für Fission oder Selbstauflösung) erfahren (vgl. z.B. Scanzoni 1965).

In diesem Zusammenhang kann der religiöse Fundamentalismus als eine Strategie verstanden werden, trotz drohendem Traditionsverlust und fehlender Organisation eine gesicherte Konsensbasis zu gewinnen, indem man auf die buchstabengetreue Auslegung Heiliger Offenbarungsschriften rekurriert. Dieser "Skripturalismus" (Geertz) garantiert, dass Gläubige unterschiedlicher Provenienz und Vorbildung zu identischen Auslegungen gelangen, weil das adäquate Textverständnis nicht von subtileren Interpretamenten abhängig ist, die einer institutionellen Vermittlung bedürftig wären und dem Risiko kultureller Divergenzen und Wandlungen unterliegen.

So kann der moderne Islam seine - geographisch äusserst extensive - Einheit heute nur aus der Rückwendung zu einer kompromisslos wortgetreuen Koranauslegung gewinnen, weil er über keine Organisationen verfügt, die ihm eine davon relativ unabhängige religiöse Identität verbürgen könnte.

Die immensen Risiken einer solchen Strategie bestehen allerdings darin, dass das Überleben der Religion einseitig am Konsens über spezifische Regeln und Verhaltensweisen festgemacht wird, so dass sie ihre Adaptationsfähigkeit an lokale Gegebenheiten und sozio-kulturelle Entwicklungen verliert.

Im diametralen Gegensatz dazu profiliert das Christentum nicht etwa trotz, sondern gerade wegen seiner etablierten Kirchenstrukturen als eine überaus evolutionsfähige Religion, innerhalb der der Umgang mit Dissens und Wandel nicht nur als unvermeidliches Übel toleriert wird, sondern immer stärker gar zur eigentlichen Hauptaufgabe avanciert.

Dies hängt damit zusammen, dass die konfessionellen Kirchen

a) einerseits ihre Konsenspflichten an relativ abstrakten theologischen Differenzierungen festgemacht haben, die heute als nicht mehr besonders relevant empfunden werden;

b) andererseits als Rahmenorganisationen fungieren, die ohne Verlust ihrer institutionellen Identität in der Lage sind, einer Vielzahl divergierender Glaubensformen und Praktiken Heimstatt zu gewähren[31].

Auf theologischer Ebene kann man beispielsweise feststellen, dass Zeitgeistströmungen wie der Existenzialismus, die Psychoanalyse, der revolutionäre Marxismus, der Ökologismus und Feminismus in manchen kirchlichen Kreisen nicht nur Gehör gefunden haben, sondern sogar in besonders radikaler (z.B. utopistisch überhöhter) Ausprägung vertreten werden - während gleichzeitig die Verpflichtung aufrechterhalten bleibt, sie mit den Grundlagen des Evangeliums in explizite Verbindung zu setzen und mit den traditionellen Gegebenheiten der Theologie einerseits und der kirchlichen Organisation andererseits konsistent zu integrieren.

Und auf pastoraler Ebene lässt sich konstatieren, dass traditionelle Rollenbilder des Pfarrers (als "Seelsorger", "guter Hirte" u.a.) unter dem Einfluss der modernen Humanwissenschaft und des Wohlfahrtsstaats durch neue Rollenkonzepte (z.B. "professioneller Nachbar" oder "sozialer Betreuer") überlagert worden sind, ohne deswegen ausrangiert zu werden und aus dem Gesichtskreis zu verschwinden (vgl. Hesser 1980).

Drittens fällt auf, dass sich der Schwerpunkt religiöser Aktivitäten immer mehr auf das Niveau der lokalen Pfarrgemeinde verschiebt (Marty 1993: 17ff; Wuthnow 1993: 21), und dass die partikuläre Kultur der ansässigen Bevölkerungsgruppen in der Gottesdienstliturgie (z. B. in Gesang, Kleidung, Tanz, Bildern, Sprachdiktion usw.) immer ungehinderter zur Geltung kommt (Roof 1993b: 159)[32]. Die segmentäre Differenzierung in eine Vielzahl relativ unabhängiger Lokalgruppen stellt für eine religiöse Organisation eine sehr bedeutsame Innovationsquelle dar: weil vielerlei Innovationen mit wenig Aufwand und Risiko zuerst in lokalen Subsystemen erprobt werden können, bevor sie - allenfalls - auf der überlokalen Ebene Eingang finden[33].

Schliesslich besteht kein Zweifel, dass zusätzlich zu den traditionellen Lokal- und Volkskulturen (dazu querverlaufende Gruppendifferenzierungen an Bedeutung gewonnen haben, die an zugeschriebenen Merkmalen des Geschlechts (Feminismus!), des Alters ("Jugendreligionen") oder des sozio-ökonomischen Status ("Kirche der Armen") festmachen oder sich entlang ideologischer Polarisierungen ("Konservative" vs. "Progressive") ausgebildet haben (vgl. z.B. Marty 1993).

Die Vielfalt solcher - etwa an der Kunterbuntheit moderner Kirchentage sichtbar werdender - Gruppenbildungen bedeutet, dass die traditionellen interkonfessionellen Spaltungen durch meist sehr viel virulentere intrakonfessionelle Fronten der Auseinandersetzung überlagert werden[34].

Korrelativ dazu verlieren die binnenkonfessionell verbindenden Formen und Inhalte religiösen Lebens an relativem Gewicht. Im Gefolge solcher Entwicklungen könnte die Kirche leicht zu einer schieren Rahmenorganisation werden, deren einzige Aufgabe noch darin besteht, den verschiedenen Subgruppen bei der Durchführung ihrer eigenen Aktivitäten helfend und begleitend zu Seite zu stehen.

Ähnlich wie momentan der Sozialhilfesektor[35] könnten in Zukunft auch die Kirchen durch eine Vielzahl informellerer "Selbsthilfegruppen" kolonisiert werden, die seitens des professionellen Personals zwar eine gewisse "Animation", organisatorische Betreuung oder theologische Artikulationshilfe, nicht mehr aber eine pastorale Führung und Unterweisung im konventionellen Sinne erfahren.

Als Folge ihrer Disposition, Altes und Neues unvermittelt aufeinandertreffen zu lassen, ohne die dadurch entstehenden Widersprüche im vornherein zu eliminieren, sind tendieren religiöse Organisationen dazu, auf Dauer

1) überdurchschnittlich konfliktive Institutionen zu sein, die damit zurechtkommen müssen, dass gleichzeitig über vielerlei Fragen Meinungsverschiedenheiten grundsätzlichster Art ausgetragen werden;

2) überdurchschnittlich explizite Institutionen zu sein: weil die genannten Kontroversen zur Folge haben, dass "Bewahrer" wie "Reformer" genötigt sind, ihre Positionen klar zu artikulieren, um sie miteinander in Verbindung zu setzen.

Konfliktivität und Explizität wiederum sind günstige Voraussetzungen für eine dauerhafte endogene Dynamik: allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die mit dem Dissens verknüpften Spannungen innerhalb des Systems verbleiben und nicht dadurch verschwinden, dass dissentierende Einzelne oder Gruppen emigrieren[36].

Unter solchen Bedingungen verschärfen sich diese innerkirchliche Spannungen natürlich in dem Masse, als die sozio-kulturellen Wandlungen vielfältiger und rascher werden und die Ansprüche auf unversehrte Bewahrung der identitätsstiftenden religiösen Grundlagen und Traditionen an Intensität gewinnen.

So hat das Zweite Vatikanische Konzil die katholische Kirche keineswegs von einem alten in einen neuen Konsenszustand befördert, sondern einen Dauerkonflikt zwischen konservativeren und progressiveren "Flügeln" induziert, der quer zur konventionellen Spaltung zwischen Laien und Klerus verläuft und den Anlass bildet, sich der Kontingenz katholischer Glaubens-, Denk- und Handlungstraditionen ständig bewusst innezuwerden (vgl. z.B. Kim 1980; Helbling 1995; Hornsby-Smith 1989: passim).

"Aktiver Katholik" zu sein bedeutet heute: im Spannungsfeld zwischen "Progressiven" und "Konservativen", das Diözesen, Kirchgemeinden und konfessionelle Vereinigungen (ja sogar manche Familien) zu spalten droht, andauernd Stellung beziehen zu müssen - und jene konsensualen "Fundamentals" immer weniger identifizieren zu können, die mich - über das rein formale Faktum der organisatorischen Mitgliedschaft hinaus - mit allen anderen Katholiken des Erdkreises verbinden.

Diese wachsende Absorption durch Binnenkonflikte hat zur Folge,

1) dass die Kirchen jeglicher Provenienz immer mehr "mit sich selber beschäftigt" sind und immer mehr Mühe bekunden, auch nur in grundsätzlichen Fragen Konsens zu erzeugen und nach aussen "mit einer Stimme" zu sprechen[37].

2) dass quer zu den Kirchen verlaufende Allianzen (z.B. Jugend- und Frauenvereinigungen) entstehen, die zwar keinen generellen Ökumenismus entstehen lassen, immerhin die traditionellen interkonfessionellen Konflikte in den Hintergrund treten lassen.

Die innere Dauerpolitisierung der Kirche verstärkt wiederum auf allen Ebenen die Strukturprinzipien formaler Organisation, weil nun immer mehr Dinge, die früher zu den alternativenlosen Selbstverständlichkeiten zählten, als problematische Entscheidungsfragen behandelt werden müssen, die einer geregelten formalen Beschlussfassung bedürfen und nur mittels formaler Organisationsautorität in Geltung gesetzt werden können.

Als Triebkräfte endogener Selbstdynamisierung und -evolution werden religionsinterne Konflikte vor allem in den organisatorisch gut ausgebauten Kirchen wirksam, die über klar ausdifferenzierte formale Regelwerke, Autoritätsstrukturen und Kontrollmechanismen verfügen.

So muss der katholischen Kirche insofern ein überdurchschnittliches Evolutionspotential zugeschrieben werden, als

- angesichts des hohen Formalisierungsgrades der Dogmen und Normen präzis erkennbar ist, welche Festlegungen gelten und in welchem Diskrepanzverhältnis zur kircheninternen Realität und zur gesellschaftlichen Umwelt sie stehen;

- aufgrund der zentralistischen Autoritätsverhältnisse tatsächlich gewisse Hoffnungen berechtigt sind, dass zukünftige Päpste und Bischöfe signifikante Wandlungen bewirken könnten - viel eher als in Kirchen und Sekten mit dezentraler Machtverteilung, wo sich der Wandel ungesteuert als Resultate vieler voneinander unabhängiger Einzelkräfte ergibt[38].

Selbst Hoffnungen auf grundsätzliche Demokratisierung erscheinen nicht völlig unberechtigt, wenn man bedenkt, dass die Kirche als Folge ihrer Bürokratisierung seit dem 19. Jahrhundert jenen absolutistischen Staatsordnungen ähnlich geworden ist, die sich (wie z.B. England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert) als fruchtbarer Boden für das Erscheinen erfolgreicher Demokratisierungsbewegungen erwiesen haben.

Die dabei wirksame "Dialektik" besteht darin, dass zentralistische Herrschaftssysteme sich als Zielscheiben politischer Reform- oder Umsturzbewegungen besonders gut eignen, weil in ihnen besonders deutlich hervortritt, wer für die unbefriedigenden aktuellen Verhältnisse verantwortlich ist und welche Bastionen der Macht erobert werden müssen, um Veränderungen durchsetzen zu können.

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10. Religiöse Organisationen als kultureller "Variety Pool"

Wenn man die grossen kulturellen Ideen, die unsere Gesellschaft prägen, an ihre historischen Ursprünge zurückverfolgt, gelangt man in sehr zahlreichen Fällen zum Schluss, dass sie ihre Geburt und ihre ersten Entwicklungsphasen im Milieu der Religion vollzogen haben.

So lässt sich beispielsweise vertreten, dass in der biblischen Vorstellung von der göttlichen Ebenbildlichkeit jedes Menschen (und der persönlichen Beziehung jedes Menschen zu Gott) die Wurzeln jener Werte der individuellen Selbstbestimmung und der unveräusserlichen Menschenrechte zu suchen sind, die unsere säkulare Gesellschaft seit der Renaissance und der Aufklärung zunehmend durchdringen[39].

Ebenso erscheint evident, dass gewisse Normen rationalisierter Arbeit und Produktion zuerst in den Klöstern praktiziert wurden, bevor sie im säkularen Industrialisierungsprozess wirksam geworden sind; dass in der universalen christlichen Liebesethik bereits gewisse Ideen kosmopolitischer Solidarität vorweggenommen sind, die heute angesichts wachsender globaler Interdependenzen eine zunehmende reale Bedeutung gewinnen; und dass die englischen Puritaner bei der Entwicklung des demokratischen Liberalismus Pionierdienste geleistet haben[40].

Umgekehrt gilt auch, dass vielerlei kulturelle Ideen in der Religion ihre letzte Zufluchtsstätte finden, wenn sie in der säkularen Gesellschaft (momentan oder für immer) keine Realisierungschancen mehr finden.

In diesem Sinne haben die frühmittelalterlichen Klöster antiken Kulturtraditionen einen "Überwinterungsort" geboten, für die erst im Spätmittelalter wieder ein breiteres, auch den säkularen Raum einbegreifendes Interesse entstand; vorchristliches Wissen über magisch-alchemistische Praktiken hat sich bereits seit Jahrhunderten in religiöse Geheimbünde zurückgezogen; und in ihrer formalen Autoritätsstruktur konserviert die katholische Kirche bis heute gewisse Elemente absolutistischer Herrschaft, die sich in der Politik längst als unhaltbar erwiesen haben[41].

Unter den unwirtlichen Bedingungen repressiver politischer Herrschaft werden Forderungen nach Freiheit, Menschenwürde und Gerechtigkeit in religiöse Chiffren gekleidet und in dieser vermummten Weise am Leben erhalten; und in der völlig unauffälligen, unangreifbaren Form individueller Frömmigkeit oder friedlicher Gottesdienstversammlungen werden Ideen gehegt, die schon morgen als schreiende öffentliche Anklagen manifest werden und in eine revolutionäre Umsturzbewegung einmünden können[42].

In dem Masse nun, wie eine Religion formale Organisation ausbildet, nimmt ihre Fähigkeit zu, derartige Funktionen der kulturellen Geburtshilfe und Früherziehung einerseits und der kulturellen Asylierung andererseits zu erfüllen.

Der erste Grund dafür liegt darin, dass ihre Toleranz für kulturelle "Extravaganzen" zunimmt, weil weniger Konsens benötigt wird, um ihren inneren Zusammenhalt wie auch ihre externe Legitimation sicherzustellen (vgl. 9.). Mit anderen Worten: Mit Hilfe von Organisation wächst ihre Fähigkeit, sowohl ihrer gesellschaftlichen Umwelt wie auch ihrer Mitgliederbasis relativ unabhängig gegenüberzustehen und kulturelle Muster zu betreuen, die (momentan) weder in der umliegenden Gesellschaft noch im Kreise ihrer Gläubigen sehr viel Interesse oder Zustimmung finden.

Der zweite Grund entsteht dadurch, dass ihre Fähigkeiten zur Pflege vielfältiger (auch exotischer) Kulturmuster anwächst, weil vielerlei interne Rollen, Amtsstellen oder Arbeitsgruppen installiert (und mancherlei externe Instanzen oder Gruppierungen unterstützt) werden können, die auf den Umgang mit spezifischen Topoi ausgerichtet sind.

Schon angesichts der turbulenten heutigen Kirchentage, bei denen die immense Streubreite religiöser Glaubensinterpretationen und religiös inspirierter Werthaltungen, Zielsetzungen und Aktionsformen in einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Gruppenversammlungen, Poster Sessions, Work shops und Ad-hoc-Zusammenkünften deutlich wird, fällt es nicht schwer, überzeugendes Illustrationsmaterial zu dieser These zu finden.

Ähnliche Schlussfolgerungen ergeben sich aus der Beobachtung, dass die sozial-revolutionäre Rhetorik seit dem Niedergang der kommunistischen Bewegung und Staatenwelt fast nur noch in kirchlichen Kreisen (z.B. in der Befreiungstheologie) weitergepflegt wird, und dass fast nur noch in den Missionszeitschriften von jener Solidarität mit den Armen der Dritten Welt die Rede ist, die vor dreissig Jahren noch ein Generalthema der neulinken Jugendbewegung war.

Generell scheint es nach dem Verschwinden alternativer politisch-ökonomischer Gesellschaftsordnungen mehr als jemals gewissen Kreisen innerhalb der Kirchen anheimgestellt, der unumschränkten Dominanz der bürgerlichen Marktwirtschaft Vorbehalte entgegenzusetzen[43] und auch gewisse Traditionen des utopistischen Zukunftsdenkens am Leben zu erhalten, die im kurzfristigen Pragmatismus der säkularen Gesellschaft momentan nur noch auf Unverständnis oder sarkastische Ablehnung stossen[44]. In analoger Weise gilt dies wohl auch für den modernen Islamismus, der teilweise substitutiv zum Kommunismus die Funktion hat, herrschende politisch-wirtschaftliche Eliten mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zu konfrontieren.[45]

Ebenso scheinen die Ideologien totalitärer Führung und Kontrolle, die - in ihrer faschistischen und kommunistischen Variante - auf Makroebene sämtlich Schiffbruch erlitten haben, momentan in gewissen religiösen Organisationen eine - bedrohlich erscheinende - Rückzugsbasis zu finden. Nur in extremen Sekten findet man noch, dass sich Individuen auf die kompromisslose Einhaltung striktester kollektiver Normen verpflichten, ihre Identität in Prozeduren der Gehirnwäsche (z.B. des scientologischen "Auditing") demontieren lassen oder gar auf Geheiss ihres "Führers" gemeinsam Selbstmord begehen.

Vielleicht kommt in unserer zunehmend "postmaterialistischen" Gesellschaft einmal die Zeit, wo sich auch jene Normen strikter ökonomischer Rationalität und Gewinnsucht wieder in den religiösen Umkreis zurückziehen, von dem sie - wenn man Webers These vom protestantischen Ursprung des Kapitalismus folgt - historisch ihren Ausgang genommen haben[46].

Andererseits mögen wir in Zukunft die Entstehung völlig neuer, auf die Transformation unserer Gesellschaftsordnung ausgerichteter sozialer Bewegungen erleben, bei deren Analyse wir dann wiederum zum Schluss gelangen, dass ihre Ideen und Forderungen im religiösen Milieu bereits seit Jahrhunderten vorgenommen worden waren.

Im Sinne der Evolutionstheorie konstituiert die Religion deshalb immer stärker jenen "variety pool" von Ideologemen, Werten, Normen, Weltbildern, Aktionsformen und sozialen Strukturformen, die in den aktuellen säkularen Lebenswelten und Institutionen der Gesellschaft keinen Platz finden, in Zukunft aber für die Selektion neuer Alternativen zur Verfügung stehen[47].

Jede funktionale Analyse der Religion in der modernen Gesellschaft greift deshalb zu kurz, wenn sie nur deren Leistungsbeiträge zur Aufrechterhaltung der momentan bestehender säkularen Kultur und Gesellschaft einbezieht. Vielmehr muss die Perspektive derart ausgeweitet werden, dass die Religion als Konstitutionsfaktor unserer gegenwärtigen und als möglicher Gestaltungsfaktor unserer zukünftigen Gesellschaft ins Blickfeld rückt.

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11. Schlussfolgerungen

Die These, dass christliche Religiosität immer stärker im Medium formaler Organisation stattfinde, lässt sich auf eine Fülle empirischer Beobachtungen und theoretischer Argumentationen stützen.

In empirischer Hinsicht fällt beispielsweise auf, wie sehr sich das religiöse Leben in den Vereinigten Staaten heute an organisierte Strukturen bindet: also in einem Land, dessen Immigranten häufig vor den überformalisierten Staatskirchen Europas geflohen sind und ihre religiösen Strukturen in spontan-autonomer Weise ab ovo neu gebildet haben.

Auf theoretischer Ebene ist die These vor allem deshalb attraktiv, weil sie sich mit völlig verschiedenartigen, ja gegensätzlichen Auffassungen über das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft (und dessen evolutivem Wandel) als kompatibel erweist.

Je nachdem, ob man eher ein langsames Erlöschen, ein defensives Sicheinfügen, eine autonome Selbstbehauptung oder gar eine offensive Expansion christlicher Religiosität für wahrscheinlich hält, kann zwischen vier Theoriemodellen unterschieden werden:

1) Das "Rezessionsmodell" besagt, dass christliche Religiosität zunehmend auf formale Organisation als letzte Rückzugsbasis angewiesen sei, weil sie ausserhalb dieser Kontexte keine Überlebenschancen mehr besitze. Dieses Modell ist gut vereinbar mit der Beobachtung, dass sich ein immer umfangreicherer Anteil religiöser Kult- und Sozialisationshandlungen in organisierten Kontexten vollzieht, und dass religiös passivierte Bevölkerungskreise immer ausschliesslicher nur noch bei hoch formalisierten Veranstaltungen mit Religion in Beziehung treten.

2) Das "Akkommodationsmodell" geht davon aus, dass Religionen wie alle anderen gesellschaftlichen Institutionen der formalen Organisation bedürfen, um unter den komplexen und variablen Umweltbedingungen der modernen Gesellschaft ihren inneren Zusammenhalt und ihre äussere Handlungsfähigkeit zu erhalten. Diese zweite Perspektive beleuchtet vor allem den Aspekt, dass formal organisierte Religionen in der Lage sind, Systemziele und Mitgliedermotivationen voneinander zu dissoziieren und ihre gesellschaftliche Legitimation auf glaubensunabhängige Kriterien (z.B. die Erbringung diakonischer Funktionsleistungen) abzustützen.

3) Das "Artikulationsmodell" beruht auf der Prämisse, dass Religionen grundsätzlich autonome Akteure sind und das Medium formaler Organisation dazu benutzen, um ihrer Identität und ihren Zielsetzungen auf neue Weise Ausdruck zu verleihen. Diese dritte Sichtweise macht vor allem verständlich, warum sich verschiedene Konfessionen - je nach den Inhalten ihrer Lehre - im Gebrauch formal-autoritativer Entscheidungsprozeduren und im Grad ihrer Bürokratisierung stark - und tendenziell zunehmend - voneinander unterscheiden.

4) Das "Progressionsmodell" schliesslich behauptet, Religionen würden durch "organisatorische Aufrüstung" ein neues Niveau innerer Dynamik und äusserer Aktivität erreichen, das es ihnen ermöglicht, in verstärktem Umfang gesellschaftlich präsent zu sein und in kompetenterer, vielseitiger und wirkungsvollerer Weise auf die gesellschaftliche Umwelt Einfluss zu nehmen. Es kann sich beispielsweise auf die Beobachtung stützen, dass die Kirchen erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts die organisatorischen Mittel erworben haben, um ihre Parochialstrukturen flächendeckend auszudehnen, die unteren (und ruralen) sozialen Schichten hinlänglich zu integrieren und um in den verschiedenen Funktionsbereichen der Gesellschaft (Industrie, Bildung, Wissenschaft, Massenmedien u.a.) ihre Stimme zur Geltung zu bringen. Ebenso liesse sich darauf verweisen, dass religiöse Organisationen in zahlreichen sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte eine bedeutsame Rolle gespielt haben, und in manchen Ländern - zumindest indirekt - auch vom Vertrauensverlust säkularer Akteure (insbesondere politischer Regimes) profitieren.

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Inhalt


Fussnotenverzeichnis

[1] Zu diesem Rückzug des Religiösen in die Kirchen gehört auch, dass Laien über immer weniger religionsbezogenes Wissen verfügen und kaum mehr religiöse (Erbauungs-)schriften lesen, die in vergangenen Jahrhunderten teilweise von grösster (individueller und kollektiver) Bedeutung waren (Wallis/Bruce 1992). Dies alles impliziert allerdings nicht, dass die Religion auch in ihrer Prägekraft für säkulares Handeln (z.B. im moralischen Bereich) ihre Prägekraft verliert. Religiös determiniertes Handeln wird (im Unterschied zum explizit religiösen Handeln) nach wie vor darin manifest, dass Einstellungen zur Abtreibung, zur Ehescheidung oder zu Strafrechtssanktionen u.a. bekanntlich nach wie vor stark mit religiös-kirchlichen Bindungen korrelieren.

[2] Leider fehlt bei Bellah der - für einen funktionalistisch orientierten Soziologen sehr naheliegende - Gedanke, dass diese religiösen Eliten und Organisationen (wenn sie einmal da sind) aus Motiven ihrer Bestandessicherung und Machterweiterung bestrebt sein müssen, diese evolutiven Prozesse der Ausdifferenzierung und Transzendentierung des Sakralen eigenständig weiter voranzutreiben. Auch in diesem Aspekt - der im vorliegenden Papier nicht weiterverfolgt werden soll - erweisen sich religiöse Organisationen als Katalysatoren von Wandlungsprozessen, die letztlich gar die gesellschaftliche Verankerung der Religion akut gefährden können: weil der Gottesbegriff derart abstrakt wird, dass er ausserhalb subtilster, komplexester theologischer Argumentationen nicht mehr zuverlässig vermittelt werden kann.

[3] Selbst die katholische Kirche hat sich im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) dazu durchgerungen, die "Autonomie der Politik" anzuerkennen und damit einen von den Protestanten schon Jahrhunderte vorher vollzogenen Schritt nachzuvollziehen (vgl. Altermatt 1996: 106).

[4] vgl. zur Unterscheidung zwischen "Institutionskirche" und "Gruppenkirche": Daiber 1995: 14ff.).

[5] Urs Altermatt weist mit Recht darauf hin, dass sich dieses Trennungsmodell heute von den USA immer stärker auf die westeuropäischen Staaten ausbreitet und seit den Umbrüchen von 1989 sogar im orthodoxen Raum Fuss zu fassen beginnt (Altermatt 1996: 108).

[6] Der Gott dieser Zivilreligion entspricht in seiner unitarischen Konturlosigkeit ungefähr dem Gottesbegriff jener Bevölkerungsmehrheit, die in einschlägigen demoskopischen Umfragen einen Glauben an ein "höheres Wesen" dokumentiert (vgl. z.B. Daiber 1995: 43). Da über 95% der Amerikaner zumindest in dieser konfessionell unverbindlichen Weise "gläubig" sind, darf sich diese nationale Zivilreligion tatsächlich auf eine sehr beeindruckende Konsensgrundlage stützen (vgl. Glogg 1993: 78).

[7] Ein Beispiel für diese Argumentationsweise liefert McLeod, der die vergleichsweise niedrige Religiosität der Berliner Bevölkerung darauf zurückführt, dass die Lutheranische Staatskirche simultan mit dem sie protegierenden politischen Regime an Legitimation verlor (McLeod 1992, vgl. auch Wilson 1992: 206).

[8] In jüngerer Zeit hat sich dieser organisierte Verkündigungseifer amerikanischer Denominationen auf die globale Ebene (seit 1989 insbesondere auch in die Territorien der exkommunistischen Länder) verlagert. Mit einem Personalaufgebot von ca. 135'000 betreibt der amerikanische Protestantismus heute das weitaus grösste Missionierungswerk in der ganzen Geschichte des Christentums (vgl. Walls 1991).

[9] Bereits die Erfahrungen mit den Täufern und anderen radikalen Reformationsgruppen des 16. Jahrhunderts haben die Eliten belehrt, dass eine auf Glaubenskonsens beruhende Religiosität mit untragbaren Risiken verbunden ist. An deren Stelle sind - als extremster Gegensatz - die obrigkeitlich verordneten - Territorialkirchen entstanden, die ihre "Anhänger" in ähnlich zugeschrieben-motivloser Weise wie Staaten ihre Bürger an sich binden (vgl. van Dülmen 1994) Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist zutiefst geprägt von christlichen Gruppen, die diesem Staatskirchentum entflohen sind im Bestreben, in ihrer Heimat eine assoziative (d.h. auf Glaubenskonsens errichtete) Religiosität zu rekonstituieren.

[10] Wichtig ist hier die Implikation, dass Prozesse der "Individualisierung" mit der Beibehaltung, ja sogar Verstärkung religiöser Gruppensolidarität und organisatorischer Kohärenz durchaus vereinbar sind: nämlich insofern, als sich diese autonomen subjektiven Bedürfnisse konvergent auf das Erleben von Gemeinschaftlichkeit und Konsensualität richten.

[11] Dies geht zumindest aus den zahlreichen schriftlichen Diskussionbeiträgen zur Vorlage in der "Neuen Zürcher Zeitung" hervor, die im Vorfeld der Abstimmung erschienen sind. Auffallend oft wurde hier auch - von verschiedensten politisch-weltanschaulichen Positionen aus - argumentiert, die Kirchen würden gesellschaftlich fundierende Werte und Normen kultivieren und artikulieren, die für die Stabilität der politisch-rechtlichen Ordnung innerhalb des Kantons (bzw. der Schweiz insgesamt) unverzichtbar seien.

[12] Ein typisches aktuelles Beispiel dafür ist der "Auswahlkatholik", bei dem sich die ungebrochene Treue zum lokalen Pfarreileben mit einer dezidierten Ablehnung kirchlicher Lehrautorität - insbesondere in moraltheologischer Hinsicht - verbindet (Altermatt 1989: passim). So sind heute ca. 50% aller amerikanischen Katholiken der Meinung, man könne ein "guter Katholik" sein, ohne die päpstlichen Lehren über Geburtenkontrolle, Abtreibung, Ehescheidung oder Priesterzölibat anzuerkennen (vgl. Glogg 1993: 79).

[13] Die überaus geringe Attraktivität der protestantischen Kirchen (in den meisten Ländern West- und Mitteleuropas) mag wohl damit zusammenhängen, dass sie mit ihrer Verweisung auf eine am persönlichen Gewissen orientierten Gottesbeziehung diesen Strukturierungsbedürfnissen zu wenig Rechnung tragen und sich deshalb mit den (eher "katholischen") Funktionsbedingungen moderner Persönlichkeitssysteme in ein immer grösseres Spannungsverhältnis setzen. Die erfolgreichere Strategie bestände sicher darin, einerseits strukturiertere Zugänge zu konzipieren und andererseits durch eine Verbreiterung der Angebotspalette dem Individuum mehr Wahlmöglichkeiten zu verschaffen.

[14] Vgl. "Kulturkampf für eine abendländische Gemeinschaft" (Neue Zürcher Zeitung vom 16.10.1995: 14). Diese Vorstellung, dass die Kirchen - selbst wenn man selber nichts mit ihnen zu tun haben will - für Gesellschaft und Staat funktional bedeutsam seien, scheint auch unter der jüngeren Generation keineswegs abzunehmen. So haben in der kantonalzürcherischen Abstimmung vom Herbst 1995 70% der jüngsten Altersgruppe (unter 35 Jahren) gegen die Trennung von Kirche und Staat gestimmt, bei der mittleren Kohorte (36 bis 54 Jahre) hingegen nur 57% (vgl. "Die Beweggründe für Ja oder Nein", Neue Zürcher Zeitung, 20. 10. 1995: 55).

[15] Ebenso kann das Grundrecht Meinungs- und Redefreiheit erheblich unterminiert werden, wenn es jeder religiösen Gruppierung gelingt, unter dem Titel der "religiösen Toleranz" ihre je eigenen Vorstellungen von "Blasphemie" durchzusetzen (vgl. Green 1994: 103ff.).

[16] Zum Beispiel kann eine totalitäre Diktatur, die sich "fundamental-islamisch" nennt, zumindest im muslimischen Raum auf mehr Unterstützung hoffen als eine, die sich zum vornherein mit einer rein säkularen Symbolik präsentiert.

[17] vgl. "Scientology Church in Deutschland keine Kirche" (Neue Zürcher Zeitung vom 23. März 1995: 19).

[18] vgl. "Änderung des Religionsgesetzes in Japan" (Neue Zürcher Zeitung vom 18. Oktober. 1995: 5).

[19] vgl. "Neues Religionsgesetz in Japan in Kraft" (Neue Zürcher Zeitung vom 9. Dezember. 1995: 2).

[20] dito.

[21] Quelle: Telext im SAT1 vom 29. Dezember 1996.

[22] z.B. auf die Motivation, zwecks innerer Läuterung Opferbereitschaft zu üben oder der "Solidarität mit den Armen dieser Welt" Ausdruck zu verleihen.

[23] So hat sich beispielsweise die überkonfessionell-kirchliche Aktion "Brot für alle" in der Schweiz für eine politische Volksinitiative zum Verbot der Waffenausfuhr eingesetzt und damit eindeutig eine der Mehrzahl ihrer (eher konservativen und wirtschaftsfreundlichen) Spender widersprechende Position bezogen.

[24] So beispielsweise im Fall der Schweizerischen "Helvetas" (vgl. Tochtermann/Rucht 1989).

[25] vgl. "Die Kirche im Kreuzfeuer des Chiapas-Konflikts" (Neue Zürcher Zeitung vom 11. März 1995: 11).

[26] dito.

[27] Durch Abstützung auf derartige Lokalgruppen erhalten soziale Bewegungen eine vom Erfolg oder Misserfolg ihrer Zielerreichung ziemlich unabhängige Integrationsbasis: weil die Partizipation dieser Gruppen auf Motivationskräften (sozialer und religiöser Art) beruht, die mit den spezifischen Bewegungszielen keine inhaltliche Verknüpfung haben. Des weiteren bewirken sie, dass sich die Expansion einer Bewegung sehr rasch vollziehen kann, weil sich manche Lokalgruppen ihr "en bloc" anschliessen. Ein historisches Beispiel dafür bildet das amerikanische "Antisaloon-Movement" (=Teil der Prohibitionsbewegung), dem sich zwischen 1905 und 1915 nicht weniger als 20'000 zusätzliche religiöse Lokalgruppen angeschlossen haben (Zald/MacCarthy 1987: 71).

[28] Ein bedeutsames Beispiel dafür ist die katholische Kirche Südamerikas, die seit den 60er Jahren von einer konservativ-staatserhaltenden Institution zu einer teilweise sehr progressiven "Bewegungskraft" mutiert hat, ohne dass in den offiziellen Doktrinen (der globalen Gesamtkirche) ein entsprechender Wandel stattgefunden hätte (vgl. z.B. Navarro 1991).

[29] Die grundsätzliche Unberechenbarkeit christlicher Organisationen entsteht dann dadurch, dass es immer viel zu viele entrechtete Gruppen gibt, die wahlweise zum Ziel christlichen Engagements werden können. Die christliche Liebesethik enthält keine Orientierungen, die für die Selektion (bzw. die zeitliche Sequenzierung) solcher Adressaten hilfreich wären. Ähnliche Unberechenbarkeiten entstehen aus der Unbestimmtheit der christlichen Lehre in Fragen von Krieg und Frieden (Marty 1991: 47ff.).

[30] Dies hat dann zur Folge, dass sich organisatorische Reformen relativ unabhängig von aktuellen Ereignissen und Entwicklungen vollziehen und oft nicht in der Institution selbst entstehen, sondern von aussen (z.B. vom politischen Umfeld) an sie herangetragen werden, (zum Fall der Schule vgl. Geser 1991b, zum Beispiel der Armee vgl. Roghmann/Zieger 1977:157).

[31] "Skripturalisierung" und "Organisierung" sind also zwei funktional äquivalente Möglichkeiten, um eine Religion, die nicht mehr auf Innerlichkeit und ungefragte Tradition abgestützt werden kann, im Medium veräusserlichter Regel- und Struktursetzungen zu stabilisieren. Während die Religion im ersten Fall aber in die Sackgasse irreversibler Verfestigung gerät (und allenfalls noch mit Gewalt durchgesetzt werden kann), wird sie im zweiten Fall wandelbaren Akteuren anvertraut, die die Farben der jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt manchmal nicht nur chamäleonartig widerspiegeln, sondern oft noch zusätzlich akzentuieren.

[32] Dafür sind zum Teil dieselben nüchternen Gründe wirksam, die auch in der Politik zu einer Stärkung der Regionen und Gemeinden gegenüber dem Nationalstaat (bzw. zu einer Auflösung grösserer in kleine Staaten) führen: nämlich der zunehmende Wunsch kritisch gesinnter Bürger, die Verwendung ihrer Steuergelder überwachen und beeinflussen zu können. Zum zweiten scheint sich dieser Trend zur lokalen Abkapselung und Introversion auch aus weniger rationalen Motiven zu nähren: etwas aus dem zunehmenden Bedürfnis nach "ganzheitlichem Gemeinschaftserleben", wie es - wenn überhaupt - am ehesten im konkreten lokalen Pfarreileben erfahrbar wird (Marty 1993: 18).

[33] So hat sich der Einbezug homosexueller Männer und lesbischer Frauen in den Klerus bei den meisten amerikanischen Denominationen zuerst auf lokaler Ebene vollzogen, während die zentralen Leitungsorgane erst in späteren Phasen genötigt wurden, sich mit diesem "Problem" zu konfrontieren ("Trickle-up Effekt") (vgl. Haeberle 1991: 1991: 88).

[34] Generell lässt sich beobachten, dass das ideologische Links-Rechts-Schema, das sich seit seinem Ursprung in der französischen Revolution im polititischen Bereich immer mehr ausgebreitet hat, nun auch im religiöskirchlichen Bereich zunehmend Eingang findet. Es führt dazu, dass einerseits hoch strukturierte binnenkonfessionelle Konflikte und andererseits ebenso deutlich konturierte interkonfessionelle Allianzen entstehen (Wuthnow 1988; Warner 1993: 1'066) So stellt man - insbesondere in Frauen - und Sexualfragen - zunehmend eine "Ökumene der Konservativen" fest, die oft sogar auf nichtchristliche (z.B. islamische und jüdische) Gruppierungen übergreift (vgl. Green 1994: 102ff.). Insofern binnen- und interkonfessionelle Spaltungslinien gleichzeitig virulent sind, ist gemäss Lipset's Theorie des "criss cross" damit zu rechnen, dass sie sich wechselseitig moderieren und damit insgesamt eher konfliktdämpfend wirken.

[35] vgl. zu den aktuellen Entwicklungen in der Sozialhilfe: Olk 1985: 122ff; Oppl 1989: 35ff.).

[36] Im Lichte dieser Argumentation muss der katholischen Kirche - in paradoxem Widerspruch zum manifesten Konservativismus des zentralen Apparats - ein besonders hohes Potential für zukünftigen endogenen Wandel zugesprochen werden, weil auch einflussreiche Exponenten mit stark dissentierenden Positionen (Küng, Drewermann u.a.) eine ausgeprägte Neigung zeigen, selbst beim Erfahren schärfster offizieller Kritik innerhalb der Kirche zu verbleiben.

[37] Aus offiziell-kirchlicher Sichtweise kann man leicht zur Schlussfolgerung gelangen, dass eine zentralisierte geistliche Autorität gerade deshalb immer unverzichtbarer sei, weil es zunehmend utopisch wird, auf einen in der demokratischen Meinungsbildung erarbeiteten Konsens zu hoffen.

[38] Letzteres gilt im besonderen für die Zwinglianisch-Reformierten Landeskirchen der Schweiz, die über kein verbindliches Bekenntnis und keine episkopale Führung verfügen. Dementsprechend besitzen sie auch nicht den Status einer juristischen Person, die mit eigenen Rechten ausgestattet wäre und als Zurechnungsadressat für kollektive Entscheidungen und Handlungen in Anspruch genommen werden könnte.

[39]Zu den christlichen Wurzeln des individualisierten und schöpferischen Menschenbildes des Renaissance vgl. z.B. Heller 1982.

[40]Zur Bedeutung des Puritanismus für die historische Genese der liberalen Demokratie (vgl. Bellah 199d: 68).

[41] Weil die innovativen Funktionen der Religionen meist nur in der Retrospektive identifizierbar sind, entsteht bei jeder Momentaufnahme die optische Täuschung, dass sie sich einseitig bloss mit der Konservierung traditioneller (und teils gar hoffnungslos veralteter) kultureller Bestände befassen würden.

[42] Man denke hier an den Fall der ehemaligen DDR, wo die evangelische Kirche bei der "subinstitutionellen" Transmission liberal-demokratischer Werttraditionen zeitweise von grosser Bedeutung war, und wo aus den bekannten "Leipziger Montagsgottesdiensten 1989 ein immer breitere Kreise ziehender Volksaufruhr entstand.

[43] für die katholische Kirche vgl. z.B. die radikal-antibürgerliche Konzeption von Johann Bapist Metz (1980).

[44] Oder anders gesagt: das von Karl Marx auf die säkulare Ebene übertragene utopisch-sozialrevolutionäre Denken flieht in den Umkreis messianisch-eschatologischer Religion zurück, von der es historisch seinen Ausgang genommen hat.

[45] So beispielsweise in Usbekistan (vgl. "Rückkehr des Islams im usbekischen Ferganatal" (Neue Zürcher Zeitung, 31. Januar 1995: 9).

[46] Als richtungsweisend dafür mag ebenfalls die "Scientology" gelten, die ein äusserst affirmatives Verhältnis zu den Erwerbsprinzipien der liberalen Marktwirtschaft kultiviert und ökonomische Ausbeutungsverhältnisse legitimiert, die im säkularen, von Ideen des solidarischen Wohlfahrtsstaats durchdrungenen, Gesellschaftsraum nicht mehr zu rechtfertigen wären (vgl. "Die wirtschaftliche Dimension von Scientology" (in: Neue Zürcher Zeitung vom 6. Februar 1995: 14).

[47] Zum Konzept des kulturellen "variety pool" vgl. Campbell 1965.

Inhalt

Last update: 25 Okt. 20

 

Editor:

 

Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich

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