Soziologisches Institut der Universität Zürich
Sociology in Switzerland
Lehrstuhl Prof. Dr. Geser
Politik und Parteien im Wandel (Homepage)

Politik und Parteien im Wandel

Ergebnisse einer Längsschnittsstudie bei 2'500 lokalen Parteisektionen (1989 - 2003)

Online Publikationen


Einbruch der Mitte und Linksdrift der Frauen

Aktuelle ideologische Megatrends in der Schweizer Bevölkerung

September 2007

Hans Geser

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Bibliographische Zitation:
Geser Hans: Einbruch der Mitte und Linksdrift der Frauen. In: Sociology in Switzerland; Politik und Parteien im Wandel. Online Publikationen.
Zürich, Sept. 2007. http://socio.ch/par/ges_15.html


Zusammenfassung

Ergebnisse aus den "World Values Surveys" von 1989, 1996 und 2007 zeigen, dass sich immer geringere Prozentanteile der Schweizer Bevölkerung in der Mitte der Links-Rechts-Achse verorten. Während die Männer eher nach rechts gerückt sind, hat bei den Frauen eine deutliche Verschiebung nach Links stattgefunden: mit der Folge, dass die Schweiz heute eine grössere ideologische Geschlechterpolarisierung als praktisch alle anderen 70 Länder aufweist, die am WVS teilgenommen haben. Die grössten Divergenzen und Polarisierungen bestehen auf höheren Bildungsniveaus, so dass die politische Mitte heute stärker als früher von weniger gebildeten Schichten getragen wird. Die Veränderungen sind in erster Linie auf Einstellungswandlungen mittlerer Alterskohorten, nicht auf den Einfluss neu hinzukommender Jungwähler, zurückzuführen.

 


Grundsätzlich kann man aus Verschiebungen der Parteistärken nicht unbedingt auf gleichläufige Gesinnungswandlungen in der Bevölkerung schliessen, denn es könnte auch sein, dass sich einfach die Stimmbeteiligung ihrer jeweiligen (konstanten) Wählerklientelen verändert. So ist nicht zum vornherein klar, ob sich beispielsweise im Rückgang der Mitteparteien tatsächlich eine ideologische Polarisierung der Stimmbürgerschaft widerspiegelt, oder ob der Zuwachs der Grünen in breiteren Sympathien für ökologische Anliegen seine Ursache hat.

Tatsächlich liefern aber die Ergebnisse zweier soeben fertig gestellter Bevölkerungsumfragen ("World Values Survey" (WVS) und "European Social Survey" (ESS) Hinweise darauf, dass sich in der Schweizer Bevölkerung in den letzten Jahren vor allem bei den Frauen und den mittleren Alterskohorten auf der Links-Rechts-Dimension markante Veränderungen vollzogen haben, die auch für die Parteienlandschaft der Zukunft prägend sein dürften. Der WVS ist eines der grössten internationalen Gemeinschaftsprojekte, das seit Anfang der 80er Jahre dem Ziel gewidmet ist, über die Bevölkerungen möglichst zahlreicher (momentan ca. 80) Staaten vergleichbare Längsschnittdaten zu sammeln. Die hierzulande in den Jahren 1989, 1996 und 2007 durchgeführten Umfragen bieten somit vielfältige Möglichkeiten, politische Einstellungswandlungen innerhalb der Schweiz nachzuzeichnen und mit analogen Entwicklungen in anderen Ländern zu vergleichen.

Als erstes fällt auf, wie sehr die Links-Rechts-Achse als ideologische Orientierungsdimension auch in niedrigeren und politisch wenig Schichten an Bedeutung gewonnen hat: denn der Anteil der Befragten, die sich überhaupt auf ihr einordnen (können), hat seit 1989 von 80 auf 91Prozent zugenommen. Zweitens fällt auf, dass der Anteil der Mittepositionen (5 oder 6) von 48 auf 39% zurückgegangen ist, während das linke Lager von 24 auf 33% expandiert hat und rechts der Mitte nur kleinere, statistisch nicht interpretierbare Wandlungen zu verzeichnen sind. Während die Schweiz des Jahres 1989 im europäischen Vergleich noch als relativ zentristisches Land bezeichnet werden konnte, hat sie heute bezüglich Links-Rechts Polarisierung zumindest ins Mittelfeld vorgeschoben (und sich umso stärker vom Nachbarstaat Österreich – dem unpolarisiertesten Land Westeuropas – entfernt).

Tabelle 1: Prozentverteilung von Frauen und Männern auf der Links-Rechtsachse 1989,1996 und 2007
(World Values Surveys; nur Schweizer Bürger(innen))

 

 

Männer

Frauen

links

mitte

rechts

links

mitte

rechts

Schweiz 1989

25.1

45.4

29.5

22.1

51.1

26.8

Schweiz 1996

26.6

45.9

27.4

29.2

51.7

18.4

Schweiz 2007

26.6

38.3

35.1

37.1

40.8

22.1

Frankreich 1999

40.1

37.4

22.4

35.0

44.5

20.4

Deutschland 1999

33.1

39.1

27.8

32.7

47.3

20.0

Italien 1999

33.8

35.5

30.7

29.9

45.0

25.1

Österreich 1999

21.4

59.5

19.0

18.0

63.2

18.8

Niederlande 1999

33.8

37.4

28.8

39.4

42.1

18.5

Israel 2001

40.6

26.9

32.5

43.1

28.4

28.4

Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass vor allem die Frauen – die 1996 noch eine Hauptstütze der Mittepolitik waren - für diese drastische Hinwendung zum linken Pol verantwortlich sind, während bei den Männern umgekehrt nur der Anteil Rechtsorientierter signifikant zugenommen hat. Vor allem im jüngsten Zeitraum (nach 1996) hat sich die ideologische Divergenz der beiden Geschlechter offensichtlich dramatisch verstärkt (vgl. Tabelle 1). Mit Ausnahme der Niederlande weist heute kein anderes europäisches Land einen ähnlich hohen Linksanteil bei den Frauen auf – und innerhalb aller 80 Länder des WVS wird dieser Prozentsatz nur noch von Israel (wo allerdings auch ein starker Rechtsflügel existiert) leicht übertroffen.

Mit ihrer hohen ideologischen Polarisierung der Geschlechter scheint die Schweiz eine weltweite Sonderstellung einzunehmen, die nur noch in Mazedonien annähernd erreicht wird und vor allem mit allen unseren Nachbarländern kontrastiert, wo es überall die Männer sind, die sich häufiger links von der Mitte placieren.

Besonders hohe Ausmasse hat die ideologische Kluft neuerlich bei den Gruppen mit höherer (=tertiärer) Bildung angenommen, wo einem dramatischen Linkstrend der Frauen eine fast ebenso deutliche Rechtsdrift der Männer gegenübersteht. Dies kontrastiert mit den mittleren Bildungsschichten, wo beide Geschlechter ihre Flucht aus der Mitte in beide Richtungen vorgenommen haben, und den ungebildeteren Bevölkerungsgruppen, wo die stabilsten Verhältnisse bestehen (Tabelle 2).

Tabelle 2: Links-Rechts-Selbsteinstufung: 1996 und 2007: nach Geschlecht und Bildung
(World Values Surveys; nur Schweizer Bürger(innen))


 

 

1996

2007

 

Bildung:

links

mitte

rechts

links

mitte

rechts

Männer

tief

23.1

46.2

30.8

28.6

39.6

31.8

mittel

21.7

51.2

27.1

29.1

35.1

35.8

hoch

40.2

33.1

26.8

26.6

38.4

35.0

Frauen

tief

24.5

49.1

26.4

29.3

49.2

21.5

mittel

29.4

55.1

15.5

38.2

37.2

24.6

hoch

43.5

37.0

19.6

58.5

28.0

13.6

Als Folge dieser Entwicklungen haben sich die Männer aller Bildungsstufen in ihren politischen Positionen stark angenähert, während zwischen Frauen unterschiedlicher Schulstufen dramatische Klüfte aufgebrochen sind, die auf die Chancen einer politischen "Gender Solidarity" wohl einen negativen Einfluss haben.
Bemerkenswert ist auch, dass Männer mit höherem Einkommen zu konservativeren Einstellungen neigen, während Frauen unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage auf derselben Linksposition verharren. Dies weist darauf hin, dass die Männer – traditionsgesinnter, wie sie sind – noch stärker dem hergebrachten ökonomischen Verständnis von rechts und links ("bürgerlich" vs. "sozialistisch") verhaftet sind, während die Frauen ihre ideologische Position eher mit postmaterialistischen Fragen (z. B. der Frauen-, Umwelt- oder Ausländerpolitik) verbinden, die mit der sozialen Klassenproblematik in keinem direkten Zusammenhang mehr stehen.

Natürlich ist die Frage naheliegend, ob diesen Divergenzen in der Skaleneinordnung auch gleichläufige Unterschiede bei den sachpolitischen Einstellungen entsprechen. Tatsächlich zeigt sich anhand vorläufiger Analysen, dass Frauen häufiger als Männer dazu tendieren, Massnahmen zum Ausgleich der Einkommen zu unterstützen, den Trend zur Privatisierung staatlicher Unternehmen zu stoppen, verstärkte staatliche Kontrollen des individuellen Verhaltens sowie gleiche Bildungschancen für Frauen und Männer zu befürworten oder die Bevorzugung von Männern oder Einheimischen bei der Stellenvergabe abzulehnen. Ebenso zeigen sie eine ausgeprägtere Skepsis gegenüber den Vorzügen des Wettbewerbs, während andererseits bei Einstellungen zu Patriotismus und Entwicklungshilfe keine Unterschiede erkennbar sind.

Von grösster Bedeutung für die politische Zukunft der Schweiz ist die Frage, ob die genannten Verschiebungen auf das Absterben älterer und das Hinzukommen jüngerer Alterskohorten oder auf biographisch bedingte Gesinnungswandlungen zurückzuführen sind. Wie aus Figuren1 und 2 hervorgeht, ist beides bei Männern und Frauen in sehr unterschiedlichem Ausmass der Fall.

 

So ist die Netto-Rechtsdrift bei den Männern praktisch ausschliesslich darauf zurückzuführen, dass konservative Gesinnungen in fast allen Jahrgangsgruppen (mit Ausnahme derjenigen zwischen 1957 und 66) eine grössere Verbreitung gewonnen haben. Die Jungwähler haben umgekehrt – analog zu den Frauen - dazu beigetragen, den linken Flügel auf Kosten der politischen Mitte zu verstärken.

Symmetrisch dazu ist die verstärkte Linkstendenz bei den Frauen auf entsprechende ideologische Verschiebungen bei den Jahrgängen 1947-66 zurückzuführen, die allerdings durch den erhöhten Rechtsdrall älterer Frauen (Jahrgang 1937-46) und der jüngeren Kohorten (ab 1967) eine gewisse Kompensation erfahren haben.

So muss man schliessen, dass die die ideologische Polarisierung der Geschlechter in erster Linie in Gesinnungswandlungen bestehender Wählersegmente ihre Ursache hat – während nachwachsende jung Wählergruppen eher zu ihrer Abschwächung als Verstärkung beizutragen scheinen.

Das Gewicht all dieser Entwicklungen ist umso beachtlicher, als sie von einer generellen Steigerung des politischen Interesses begleitet sind. So hat der Prozentsatz der Befragten, die sich als "politisch sehr interessiert" bezeichnen, zwischen 1996 und 2007 von 11 auf 25% (bei Frauen: von 8 auf 20%) zugenommen, während der Anteil ohne jegliches Interesse um fast die Hälfte (von 13 auf unter 7%) sank.
Deshalb ist damit zu rechnen, dass sich hinter der Verschiebung ideologischer Standorte nicht bloss ein gedankenloser Modetrend, sondern ein reflektierte, an sachpolitische Einstellung geknüpfte Neuorientierung verbirgt. Der Einbruch der politischen Mitte könnte eventuell auch als Folge des gestiegenen politischen Interesses verstanden werden: denn es sind immer die politisch besonders Uninformierten, die – aus ratloser Verlegenheit – jeweils bevorzugt die Skalenmitte wählen.

 


Schlussfolgerungen

Die vorgeführten Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass sich in den ideologischen Einstellung der Schweizer Bevölkerung in den vergangenen Jahren erhebliche Wandlungen stattgefunden haben, die in Zukunft wohl noch deutlicher als bisher in Verschiebungen der Parteistärken zum Ausdruck kommen könnten.

Erstens hat sich – zumindest bei gebildeteren Schichten - bei beiden Geschlechtern eine Abwendung von der politischen Mitte vollzogen, zu der praktisch alle Altersgruppen beigetragen haben.

Zweitens zeigt sich, dass die Frauen überwiegend nach links und die Männer zu grösseren Teilen nach rechts abgewandert sind: so dass sich zwischen den Geschlechtern eine – im internationalen Vergleich ungewöhnliche - ideologische Polarisierung aufgebaut hat, wie sie früher nur zwischen sozialen Klassen oder konfessionellen Gruppen bestand.

Drittens wird deutlich, dass die schärfsten Geschlechterdivergenzen in den höher gebildeten Bevölkerungssegmenten bestehen, die innerhalb Parteien, Öffentlichkeit und politischen Behörden überdurchschnittlich tonangebend sind. Hier vor allem entstehen heute Zerreisproben aufgrund der Schwierigkeit, das jeweils andere Geschlecht vom Charme biertellergrosser Steuererklärungen zu überzeugen oder für die Vorzüge staatlich subventionierter Kinderkrippen zu begeistern.

Dementsprechend sind es heute die weniger gebildeten Wählerschichten, bei denen die politische Mitte noch ihre bisher verlässlichsten Stützen findet und die politische Verständigung der Geschlechter momentan noch am aussichtsreichsten scheint.