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Ausdünnung
der politischen Mitte? Ideologische
und sachpolitische Bewegungen in der Zürcher Parteienlandschaft Zürich,
März 2001 Der Kanton Zürich weist ein
ideologisch besonders polarisiertes Parteienspektrum auf, und die Divergenzen
haben sich (vor allem durch den Rechtskurs der kantonalen SVP) seit 1989 noch
stärker akzentuiert. Andererseits sind in der Sachpolitik (zumindest auf
lokaler Ebene) auch Annäherungsprozesse in Gang gekommen, die sich auf die
zukünftige Parteienkooperation positiv auswirken könnten. Was
ist „in Wirklichkeit" dran an der Behauptung, die SVP habe sich in der Blocher-Aera zu einer viel weiter rechtsstehenden Partei
entwickelt, während die FDP ins politische Mittelfeld gerückt sei oder im
Zuge etatistischer Neigung sich gar der SP
angenähert habe. Allzu viel Wahlkampftaktik ist im Spiel, wenn gegnerische
Parteien einander mit dem Vorwurf ideologischer Abdrift konfrontieren; allzu
nahe liegt die Versuchung, solche Diagnosen an tagespolitischen Einzelthemen
(statt am längerfristigen Strom laufender Entscheidungsarbeit) festzumachen;
allzu grell wird die Position einzelner Führungspersonen und formeller und
formelle Spitzengremien gewichtet, ohne das Meinungsbild in den Gemeinden und
bei den Durchschnittsmitgliedern zu bedenken, und allzu dürftig und ungenau
sind meist die Informationen darüber, wie es denn früher eigentlich war. Weit
zuverlässigere Aufschlüsse bietet der Blick auf die Ergebnisse zweier
empirischer Untersuchungen, die - in fast identischer Form - im Herbst 1989
und im Winter 2002/03 durchgeführt worden sind. Es handelte sich dabei um
schriftliche Befragungen, in die alle Präsidenten und Präsidentinnen der
(rund 5000) Ortsparteien in der Schweiz einbezogen worden sind. Aus dem
Kanton Zürich haben sich in beiden Fällen rund 360 Lokalsektionen aus über
130 Gemeinden mitbeteiligt. Die Informanten wurden darin unter anderem
aufgefordert, ihre Gemeinde- Kantonal- und Bundespartei auf einer
Links-Rechts-Skala zu lokalisieren, über die innerhalb ihrer aktiven
Anhängerschaft vorherrschende Position zu verschiedenen sachpolitischen
Fragen Auskunft zu geben und die innerhalb ihrer Partei bestehenden
Konfliktfronten (z. B. zwischen Alters-, Geschlechts- oder Berufsgruppen) zu
benennen. Die nach wie vor ungebrochene Aktualität des Links-Rechts-Schemas
wird allein schon darin deutlich, dass sich 1989 wie 2002 nur knapp zwei
Prozent der Informanten ausserstande (bzw. nicht willens) zeigten, ihre
Partei auf der Zehnerskala zu verorten. Viele Linksverschiebungen - und eine (halbwegs)
korrektive SVP... Aus
dem Vergleich der Skalaeinstufungen (vgl. Tabelle) geht hervor, dass
insbesondere auf Bundesebene sowohl die bürgerlichen Parteien wie die SP und
die Grünen markante Linksverschiebungen vollzogen haben - natürlich mit
Ausnahme der SVP, die sich konträr dazu dem extrem rechten Pol angenähert
hat. So hat der Grad ideologischer Polarisierung (gemessen am Skalenabstand
der extremsten Parteien) in der Schweizerischen Bundespolitik heute ein
beträchtlich höheres Ausmass als in den meisten anderen westlichen Ländern
angenommen. Noch dramatischer ist der Polarisierungsgrad im Kanton Zürich, wo
sich eine überdurchschnittlich linke SP und die rechteste Kantonalpartei der
SVP (ausser Schwyz) gegenüberstehen. Andererseits haben sich im
Beobachtungszeitraum hir geringere ideologische
Wandlungen als auf Bundesebene vollzogen: die Wanderung nach links (bzw. zur
Mitte) blieb weitgehend auf die FDP beschränkt, in der die Zahl extrem
rechter Sektionen (mit einem Skalenwert von 8 oder mehr) um fast 50%
abgenommen hat. Die CVP; EVP und SP haben ihre Positionen beibehalten (bzw.
eher ein wenig nach rechts verschoben). Die ideologische Distanz zwischen der
FDP und SVP ist zwar nach wie vor gering; aber angesichts ihrer früheren
extremen Nähe wird verständlich, dass dieser historisch ungewohnte
Divergenzprozess momentan Anlass zu mannigfachen Verunsicherungen und
Irritationen bietet. Durchweg gering sind die Veränderungen auf der lokalen
Ebene: ein Hinweis darauf, dass manch prononcierte und forcierte strategische
Kursänderungen auf Kantons- und Bundesebene bei der ungleich
"trägeren" lokalen Parteibasis wohl keine ausreichende Stütze
finden. Bemerkenswerterweise haben sich die Kantonalparteien der FDP wie auch
der CVP ihrer kommunalen Basis stark angenähert, während die Kluft innerhalb
der SVP sogar noch zugenommen hat. Verschiebungen
der Zürcher Parteien auf dem Links-Rechts-Spektrum 1989-2002 (aus der Sicht
der lokalen Sektionspräsidenten) *
*
Durchschnittliche Rangierung eigenen Gemeinde-, Kantonal- und Bundespartei
auf einer Skala von 1 (extrem links) bis 10 (extrem rechts). Die logische
Mitte liegt also bei 5.5. Eine
detailliertere Analyse auf der Ebene konkreter
sachpolitischer Einstellungen zeigt, dass sich hinter diesen teils stabilen,
teils veränderlichen ideologischen Selbstverordnungen vielfältige (und in
jeder Partei andersartige) Meinungsverschiebungen verbergen. Die
FDP hat ihre Geschlossenheit vor allem im Kern ihrer ordnungs- und
finanzpolitischen Positionen bewahrt. Nach wie vor sind fast alle ihre
Sektionen der Ansicht, dass der Kampf gegen zunehmende staatliche
Reglementierung und höhere Steuerlasten den Vorrang habe, dass der
„Finanzplatz Schweiz" (inkl. Die Beibehaltung des Bankgeheimnisses) prioritäre Förderung verdiene, und dass eine „Schweiz
ohne Armee" undenkbar sei. Andererseits manifestiert sich ihre
Distanzierung von früheren rechten Positionen aber darin, dass die
Gleichstellung von Mann und Frau breitere bei einem grösseren Prozentsatz der
Sektionen Unterstützung gewonnen hat (von 68 auf 80%), und dass über die
staatliche Kulturförderung, den Kernenergieausstieg und über den Vorrang
wirtschaftlicher Interessen gegenüber dem Umweltschutz vermehrt geteilte
Meinungen bestehen. Daneben stehen aber manche Politikbereiche, wo sie heute
konservativere Meinungen als 1989 vertritt. So verschliessen sich heute 76%
(!) der Sektionen (im Vergleich zu 46% vor 13 Jahren) der philanthropischen
Forderung, dass „mehr für Asylsuchende getan werden müsse.": und 63%
(43%) dem Anliegen, dass überhaupt irgendwelche sozialen Anliegen eine
vermehrte öffentliche Förderung verdienen. 70% der Ortsparteien (früher 50%)
zeigen gegenüber Mieterschutzanliegen eine ablehnende Meinung, und im
Umweltbereich hat zwar die Förderung des öffentlichen Verkehrs und
verkehrsberuhigter Wohnzonen an Unterstützung gewonnen. Auf der andern Seite
aber hat sich der Prozentsatz der Sektionen, die dem Schutz des Orts- und
Landschaftsbildes keine Priorität zumessen, von 19 auf 29% erhöht.
Gegenläufig dazu hat die Förderung des kommunalen Wirtschaftswachstums
(wieder) dramatisch an Unterstützung hinzugewonnen: von 60 auf 94%. Die
CVP bestätigt in wachsendem Umfang ihren Ruf mangelnder innerer Kohärenz,
denn abgesehen von der Gleichstellung der Geschlechter (Zustimmungszunahme
von 73 auf 92%) und der Förderung des lokalen Wirtschaftswachstums (von 59
auf 91%) gibt es keine sachpolitische Frage, bei der mehr als 80% der
örtlichen Sektionen miteinander in Uebereinstimmung
sind. Am ehesten mag sich noch hinsichtlich der „Verringerung der
Steuerbelastung" und der „Förderung des öffentlichen Verkehrs" zu
einer dezidierten Haltung durchringen, wo der Prozentsatz zustimmender
Sektionen im dreizehnjährigen Beobachtungszeitraum von 85% (bzw. 88%) auf 75%
sank. Ihr linker Flügel wurde insofern gestärkt, als es heute mehr Sektionen
gibt, die Im gewerkschaftlichen Sinne) für einen erhöhten Einfluss der
Arbeitnehmer votierten (von 22 auf 34%) dem Kernenergieausstieg zustimmen
(von 3 auf 36%) und für verstärkte öffentliche Kulturförderung eintreten (von
44 auf 56%). Daneben
gibt es allerdings auch Bewegungen nach rechts, dank denen die die
Berührungsflächen und Verständigungsbrücken zwischen der CVP (bzw. einigen
ihrer Teile) und der FDP zugenommen haben. So sind mehr Ortsparteien als
früher der Ansicht, dass der „Finanzplatz Schweiz" und das kommunale
Wirtschaftswachstum Förderung verdiene und dass Umweltschutz nicht auf Kosten
der Wirtschaft betrieben werden dürfe (von 42 sauf 58%), und weniger als 1989
teilen die Meinung, dass der Schutz der Mieter ausgebaut werden müsse (25%
statt 43%) oder dass eine vermehrte Hilfe für Asylsuchende notwendig sei (12
statt 31%). Zahlreicher als in allen andern Parteien sind bei der CVP auch
die Ortssektionen, die sich infolge unvereinbarer
Standpunkte verschiedener Anhängergruppen nicht zu einer einheitlichen
Parteimeinung durchringen können – wobei Auseinandersetzungen zwischen
Männern und Frauen in besonders auffälliger Weise zugenommen haben. Die
SP ist nach wie vor in vieler Hinsicht ideologisch kohärent geblieben,
indem sie praktisch monolithisch für die Gleichstellung der Geschlechter, den
Schutz der Arbeitnehmer, den Ausbau der Sozialleistungen, die
Umweltverträglichkeit aller wichtigen staatlichen Entscheidungen sowie für
den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und verkehrsberuhigter Massnahmen
eintritt. In vielen anderen Sachbereichen sind hingegen ursprünglich
festzementierte linke Positionen aufgebrochen. Nur noch 79% (früher: 100%)
votieren für vermehrten Mieterschutz und 63% (früher 83) für erhöhte
Hilfeleistungen an Asylanten, nur noch 80% (früher 88) befürworten den
Kernenergieausstieg; gerade noch 29% (vorher 39%) sind gegen eine
Verminderung staatlicher Regulationen; und vor allem: nur noch 37% (statt
86%) stehen der Förderung des „Finanzplatzes Schweiz" ablehnend
gegenüber (während in immerhin 53% (vorher 11%) aller Sektionen „geteilte
Meinungen" (!) darüber bestehen. Parallel zu bürgerlichen Parteien hat
sich auch das Engagement für den Ortsbild- und Landschaftsschutz verringert
(von 87 auf 57%), das Einstehen für mehr kommunales Wachstum (wohl als Folge
des überall drohenden Arbeitsplatzabbaus) hingegen verstärkt. Nur im Bereich
der Steuerpolitik., wo sich nun neuerdings 66% (im
Vergleich zu 46%) der SP-Sektionen gegen eine Verringerung der
Steuerbelastung aussprechen, hat sich die Frontstellung gegenüber den
bürgerlichen Parteien verschärft. Als Folge dieser „revisionistischen"
Trends haben viele SP-Sektionen eine verstärkte interne Polarisierung zu
ertragen, die in vermehrten Konflikten zwischen jüngeren und älteren, linken
und weniger linken, sowie grünen und weniger grünnen
Mitgliedergruppen ihren Ausdruck findet. Die
SVP schliesslich ist die einzige der grösseren Parteien, die in den
vergangenen 13 Jahren ihren inneren Zusammenhalt auf einem breiten Spektrum
sachpolitischer Felder gesteigert hat. So teilen momentan 94% der
Lokalsektionen (früher 68%) das Anliegen, dass die Steuerbelastung verringert
werden müsse, 89% (früher 85%) sind gegen zusätzliche staatliche
Reglementierungen 81% (früher nur 37%) opponieren gegen jeglichen Ausbau der
Sozialleistungen und 95% (früher nur 57%) lehnen jegliche Mehrhilfe an
Asylanten ab. In keiner anderen Partei ist also die ideologische Verschiebung
auf der Links-Rechts-Achse derart eng mit entsprechenden Positionsänderungen
auf sachpolitischer Ebene korreliert. Andererseits ist aber auch nicht zu
verkennen, dass sich der auffällige steuerpolitische Schulterschluss mit der
FDP keineswegs automatisch auf alle anderen Politikbereiche überträgt., gibt
es doch beachtlich zahlreiche SVP-Sektionen, die dem Einstehen für den
„Finanzplatz Schweiz" und der Förderung des kommunalen
Wirtschaftswachstums nicht zustimmend gegenüberstehen, oder innerlich uneinig
darüber sind, ob der Arbeitnehmereinfluss gesteigert werden sollte (52) oder
der Mieterschutz auszubauen sei (37%), ob Umweltschutz auch auf Kosten der
Wirtschaftlichkeit betrieben werden solle (36%) oder ob die Gleichstellung
der Geschlechter (38%) und die verkehrsmässige Beruhigung der Wohnquartiere
(44%) anzustrebende Ziele seien. In derartigen Abweichungen von der FDP mag
durchaus eine gewisse „Volksnähe" der SVP zum Ausdruck kommen, die ihren
gegenwärtige Breitenerfolg bei den Wählern erklärt. Ins selbe Bild passt auch
das (nur für 2002 verfügbare) Ergebnis, dass nur 56% aller SVP-Sektionen
einer verstärkten Besteuerung höherer Einkommen ablehnend gegenüberstehen
(gegenüber 89% (!) bei der FDP). Schlussfolgerungen Gesamtschweizerisch
macht es aufgrund der vorgeführten Ergebnisse durchaus Sinn,.
von einem sehr breit getragenen politischen Linkstrend politischer Parteien
zu sprechen, gegenüber denen allen sich die SVP – als eine wohl überaus
systemnotwendige Korrektivbewegung – immer prononciertere
Rechtspositionen artikuliert. (Vor allem dürfte es ausser der Schweiz wenige
westliche Länder geben, in denen eine so weit links stehende politische Kraft
wie die SPS derart zentral am politischen Regierungsapparat mitbeteiligt
ist.) Im
Kanton Zürich herrscht einerseits bereits länger als anderswo eine sehr
ausgeprägte ideologische Polarisierung, zu der in den letzten Jahren allerdings
die linken Parteien keinen zusätzlichen Beitrag geleistet haben. Immerhin hat
auch hier – trotz der Verschiebung der FDP gegen das Zentrum – eine gewisse
Ausdünnung der politischen Mitte stattgefunden, die eindrücklich in einer
Verringerung von Ortssektionen mit Skalenwerten von
5 oder 6 (von 31 auf 23%) sichtbar wird. Dementsprechend stellen sich
interessante Fragen nach den Folgewirkungen der zunehmenden Polarisierung für
die Stabilität unseres politischen Systems: etwa für die Funktionsfähigkeit
der Exekutivgremien, in denen diese wachsenden Divergenzen andauernd
ausgetragen und „kleingearbeitet" werden müssen. Dabei
kann die Einsicht nützlich sein, dass auf der konkreteren Ebene
sachpolitischer Einzelfragen zwischen durchaus auch vielfältige Frontaufweichungen
und Konvergenzprozesse stattgefunden haben. die zukünftig für eine bessere
interparteiliche Verständigung genutzt werden können. So steht der sich gegen
die Mitte hin positionierenden FDP eine Sozialdemokratie gegenüber, die heute
ein wirtschaftfreundlicheres Gesicht als vor 13 Jahren zeigt und sich weniger
eindeutig mit gewissen „grünen" Anliegen identifiziert. |