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Pressure Groups and Political Parties


 

Das Links-Rechts-Schema als politischer Code

Oliver Nessensohn

Nov. 2002

 

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Allgemeine einleitende Worte zum Thema
1.2
Fragestellung
1.3
Relevanz der Fragestellung
1.4
Aufbau der Arbeit

2. Geschichte der Links-Rechts-Unterscheidung

2.1 Ursprung
2.2
Weiterverbreitung

3. Logik der Richtungsbergriffe

4. Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen

4.1 Aussagekraft
4.2
Grenzen der Unterscheidung

5. Das Links-Rechts-Schema als politischer Code

5.1 Anforderungen an ein Kommunikationsmedium
5.2
Klassen und Typen von Bedeutungselementen
5.3
Die strukturelle Eigenschaft der Generalisierung
5.4
Die strukturelle Eigenschaft der Limitation
5.5
Die strukturelle Eigenschaft der binären Schematisierung

6. Wertindikatoren und Wahlverhalten bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 1995

6.1 Die Suche nach guten Indikatoren
6.2
Die Vorhersagekraft der Indikatoren

7. Gründe und Bedeutung einer politischen Unterscheidung 

7.1 Gründe für eine Unterscheidung
7.2
Bedeutung der Unterscheidung

8. Analytische Brauchbarkeit der Links-Rechts-Dimension

9. Nationaler politischer Wandel in einer sich denationalisierenden Welt

9.1 Die Transformation der Möglichkeiten und Kosten im Zuge der Denationalisierung
9.2 Gewinner und Verlierer der Denationalisierung
9.3
Die politische Artikulation des neuen
strukturellen Gegensatzes

9.3.1 Politische Artikulierung der peripheren Rechten
9.3.2
Politische Artikulierung der peripheren Linken

10. Diskussion und Schlussfolgerungen

11. Zusammenfassung

12. Literaturverzeichnis

 

1. Einleitung

1.1 Allgemeine einleitende Worte zum Thema

Die auf die Französische Revolution zurückgehenden politischen Richtungsbegriffe „rechts“ und „links“ sind auch nach 200 Jahren offenbar nicht wegzudenken. Jedenfalls erfreuen sie sich in der politischen Alltagssprache wie in der Publizistik und Wissenschaft nach wie vor weiter Verbreitung. Unverdrossen wird die politische Landschaft mit ihrer Hilfe vermessen. Allen Einwänden, Bedenken, Fragezeichen zum Trotz erscheinen die Formeln als Passepartout politischer Selbstverordnung. „Rechts“ und „links“ sind aber auch zwei gegensätzliche Begriffe, die zur Bezeichnung des in hohem Mass konfliktgeladenen Gegensatzes von Ideologien und Bewegungen angewandt werden. Dieser Gegensatz bezieht sich sowohl auf das Denken als auch auf die politischen Aktionen.

Erfreuen sich die Richtungsbegriffe möglicherweise nur deshalb so grosser Beliebtheit, weil ihre inhaltlichen Aussagen derart unbestimmt sind? Schlägt sich in ihnen das menschliche Bedürfnis nach Eindeutigkeit und einfacher Zuordnung nieder? Was ist von der These Walter Laqueurs zu halten, „rechts“ und „links“ würden „um so problematischer, je weiter man sich in Zeit und Raum vom Europa des neunzehnten Jahrhunderts entfernt“? [1] Solche Fragen stehen im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen.

Inhalt

1.2 Fragestellung

In meiner Arbeit versuche ich der Links-Rechts-Unterscheidung nachzugehen. Wieso hat dieses Schema so tiefe Wurzeln im allgemeinen Bewusstsein geschlagen? Besitzt diese Unterscheidung auch heute noch eine Relevanz oder ist diese Einstufung bereits überholt?

Unter dem Druck sich globalisierender Problemlagen und als Reaktion auf damit zusammenhängende zunehmende Steuerungsdefizite nationalstaatlich verfasster Demokratien lässt sich eine zunehmende Ausdifferenzierung von Politik feststellen. Diese Entwicklungen haben auch gravierende Konsequenzen für den Bereich politischer Partizipation, Mobilisierung und Einstellungen. Kann man also behaupten, dass die Links-Rechts-Unterscheidung überholt ist oder wird sich dieses Gegensatzpaar auch weiterhin aufrechterhalten?

Inhalt

1.3 Relevanz der Fragestellung

Seit ihrer Herausbildung im späten 18. Jahrhundert ist die Unterscheidung zwischen „links“ und „rechts“ stets mehrdeutig und nur schwer auf die politischen Realitäten beziehbar gewesen, und doch hält sie sich hartnäckig. Die Geschichte der politischen Gruppierungen und Parteien zeigt, welche unaufhörlichen Kämpfe diese Aufteilung ausgelöst hat. Ausserdem haben die Begriffe „links“ und „rechts“ im Laufe der Zeit ihre Bedeutung geändert. Ein flüchtiger Blick auf die Geschichte des politischen Denkens zeigt, dass die gleichen Vorstellungen in manchen Epochen und Kontexten als „links“, in anderen als „rechts“ galten. Beispielsweise wurden die Verfechter von marktwirtschaftlichen Theorien im 19.Jahrhundert am linken Rand des Spektrums angesiedelt, während man sie heute normalerweise auf dem rechten verortet. Die Behauptung, dass die Links-Rechts-Unterscheidung überholt ist, wurde 1890 von Gewerkschaftlern und Propagandisten des „solidarisme“ aufgestellt. Seitdem kehrt sie regelmässig wieder. Jean-Paul Sartre argumentierte in den sechziger Jahren in diesem Sinne. Die These wurde aber genauso häufig von der Rechten zuzuordnenden Personen vorgetragen.

Der Gegensatz von „rechts“ und „links“ stellt ein typisches Denkmuster in Dyaden dar, welche die verschiedensten Deutungen psychologischer, soziologischer, historischer und auch biologischer Art erfuhr. Beispiele dazu kennt man aus allen Bereichen des Wissens. In der Soziologie gibt es die Dyade zwischen Gesellschaft und Gemeinwesen, in der Ökonomie zwischen Markt und Plan, im Rechtswesen zwischen Privatbereich und Öffentlichkeit, in der Philosophie zwischen Transzendenz und Immanenz und im politischen Bereich ist „rechts“ und „links“ nicht die einzige, aber auf sie stösst man überall. [2]

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1.4 Aufbau der Arbeit

Meine Arbeit ist eine theoretisch orientierte Studie, die zuerst versucht geschichtliche Bezüge herzustellen um dann auf verschiedene empirische Studien einzugehen. Danach werde ich zudem versuchen einen Ausblick zu wagen, wie sich der Links-Rechts-Gegensatz in Zukunft entwickeln könnte. In einem ersten Teil meiner Arbeit gehe ich auf die Entstehung der Links-Rechts-Unterscheidung ein. Danach beschäftige ich mich mit der Logik der Richtungs-begriffe, ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Leistungsgrenzen. In einem weiteren Schritt werde ich die Untersuchung von Fuchs und Klingemann darstellen, die den semantischen Raum des Links-Rechts-Schemas zu rekonstruieren versuchen. Eine weitere empirische Studie von Grunberg und Schweissguth versucht zu klären mit welchen Wertindikatoren man die politische Einstellung messen kann. Sie untersuchten spezielle Indikatoren, die für das Verständnis der politischen Orientierung und des Wahlverhaltens der französischen Wähler besonders von Bedeutung zu sein scheinen. Mit einer Arbeit von Bobbio stelle ich die Gründe und Bedeutung einer politischen Unterscheidung dar. Danach wird die analytische Brauchbarkeit der Links-Rechts-Dimension anhand der Selects-Studie die Schloeth 1995 vorgenommen hat, untersucht. Zum Schluss möchte ich auf die politischen Folgen der Globalisierungsprozesse eingehen. Es entstehen neue strukturelle Konfliktlinien, welche politisch artikuliert werden und den traditionellen Gegensatz von Links und Rechts überformen können. Womit sich eine grundsätzliche Neustrukturierung der politischen Akteurskonstellationen bildet. Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung und einem Fazit zu den wichtigsten Erkenntnissen.

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2. Geschichte der Links-Rechts-Unterscheidung

2.1 Ursprung

Das Aufkommen der Links-Rechts-Unterscheidung im Sinne politischer Richtungsbegriffe wird auf die französische Nationalversammlung von 1789 zurückgeführt. Dadurch blieb die Sitzordnung nicht länger das Spiegelbild festgefügter gesellschaftlicher Hierarchien, sondern brachte bald die Dynamik politischer-ideologischer Auseinandersetzungen zum Ausdruck. Es entstand eine Spaltung in zwei gegnerische Lager der Nationalversammlung: „le côté gauche“ mit entschieden revolutionärer Stossrichtung und „le côté droite“ mit mehr zurückhaltenden, der Monarchie freundlich gesinnten Vorstellungen. Bald wurden die räumlichen Adjektive „links“ und „rechts“ substantiviert und man sprach nun einfach von „la droite“ und „la gauche“. Innerhalb dieser Lager bildeten sich wiederum Flügelgruppen: „l’extrémité gauche“ und „l’extrémité droite“.

Die sich allmählich ausbildenden Sprachkonventionen konnten sich jedoch aufgrund der turbulenten Entwicklung der Revolution nicht fest verwurzeln. Die Machtübernahme der Jakobiner hatte eine rigorose Beschneidung des als legitim geltenden politischen Spektrums zur Folge. Zu Beginn der Restaurationsphase wirkte die Erlahmung noch fort. Nach den Wirren der ersten hundert Tage erneuerte sich das politische Leben im Jahre 1814 rasch. Erst jetzt konnte sich die bereits im ersten Jahr der Grossen Revolution entfaltete, an der parlamentarischen Sitzordnung anknüpfende Geographie revitalisieren. Dies geschah aber in etwas veränderten Formen: Zwischen die Lager der „Rechten“ und der „Linken“ trat eine auf Ausgleich setzende, gemässigt-monarchisch orientierte Mitte („centre“). Man sprach nach wie vor von den „extrémités“, nun aber auch von „extrême gauche“ und „extrême droite“. Bereits vor 1820 gehörte das Kontinuum extrême droite - droite modérée - centre droite - centre gauche - gauche modérée - extrême gauche (Ultraroyalisten - gemässigte Konservative - Liberale - Radikale/Demokraten - Sozialisten) zum festen politischen Sprachgebrauch.

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2.2 Weiterverbreitung

Die französische politische Geographie mit ihren Richtungsbezeichnungen übte beträchtliche Ausstrahlungskraft auf weite Teile Europas aus. Seit 1848 zum Beispiel bestimmt die Links-Rechts-Unterscheidung die Sitzordnung deutscher Parlamente. Das ist bis in die Gegenwart so geblieben. Das Selbstverständnis und die Position im Links-Rechts-Gefüge konnten erheblich auseinandergehen, aber Rechte und Linke lernten voneinander und übernahmen gegnerische Programmelemente: Bleiben wir in Deutschland und betrachten die Hitlerbewegung. Sie fügte nach dem Ersten Weltkrieg Bausteine sozialistischen Ursprungs in ihr rassistisch-national-imperiales Ideengebäude ein. Die Kommunisten beuteten unter Stalin die integrativen Wirkungen nationalistischer und antisemitischer Lehren für die Stabilisierung des Sowjetstaates aus. Da es zu intensiven Austauschprozessen zwischen den verschiedenen Strömungen und auch zu einem Bedeutungswandel der Richtungsbegriffe gekommen ist, wird heutzutage der analytische Wert der Links-Rechts-Unterscheidung vielfach angezweifelt. Zumal die Übergänge der Lager fliessend und ihre Konturen verschwommen sind. Empirische Untersuchungen zeigen aber, dass die Unterscheidung der Strömungen für die politische Selbstverortung der Wahlbevölkerung kaum an Bedeutung eingebüsst hat. Offenbar erbringt diese Zweiteilung Leistungen, auf die schwer zu verzichten ist [3]. Bevor Stärken und Schwächen der Richtungsbegriffe erörtert werden, erscheint ein Blick auf die ihnen innewohnende Logik angebracht.

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3. Logik der Richtungsbegriffe

Ein Grund weshalb die Links-Rechts-Unterscheidung so tiefe Wurzeln im allgemeinen Bewusstsein geschlagen hat, liegt wohl daran, dass sie psychologisch an elementaren Raumwahrnehmungsmuster anknüpft. Wie der Turiner Rechtsphilosoph Norberto Bobbio ausgeführt hat, handelt es sich bei den politischen Richtungsbegriffen im logischen Sinne um eine der antithetischen Dyaden, wie sie in vielen wissenschaftlichen Disziplinen verbreitet sind: Krieg und Frieden, Freundschaft und Feindschaft, Demokratie und Diktatur, Privatsphäre und Öffentlichkeit lauten einige der bekanntesten. Die Elemente der Dyade sind

zum einen erschöpfend und zum anderen ausschliesslich. Sie sind erschöpfend, weil sie den Anspruch erheben, die gesamte Menge der durch sie bezeichneten Gegenstände zu erfassen. Die Begriffe „links“ und „rechts“ erstrecken sich auf das gesamte Universum politischer Ideen, Programme, Ideologien und Doktrinen. Ausschliesslich sind sie, weil eine Idee entweder links oder rechts ist. Sie will alle politischen Entwürfe einander eindeutig zuordnen.

Die Dyade wird zur Triade, wenn man sich den Links-Rechts-Gegensatz als Strecke mit zwei extremen Enden und einer Mitte denkt. Sie erweitert sich zur Pentiade, wenn neben den extremen Positionen auch gemässigte rechts und links der Mitte gedacht werden. Während der Restaurationsepoche in Frankreich stellte man sich das politische Spektrum sogar als Hexade vor. Ebenfalls dienen „links“ und „rechts“ innerhalb dieses Modells nicht nur zur absoluten, sondern auch zur relativen Positionsbestimmung: Programm X ist entweder rechts oder links, im Verhältnis zu Programm Y jedoch zugleich weiter rechts oder weiter links angesiedelt. [4]

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4. Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen

4.1 Aussagekraft

Als Instrument politikwissenschaftlicher Analyse weist die Links-Rechts-Unterscheidung gravierende Schwächen auf, so dass ihre Verwendung nur mit Vorsicht ratsam erscheint. Sie wird dem Anspruch, alle politisch-ideologischen Orientierungen eindeutig zuordnen zu können, nicht gerecht. Für die heutige politische Diskussion wesentliche Themenbereiche, wie die Ökologieproblematik, entziehen sich einer klaren Unterscheidung. Ursprünglich war die Umweltfrage eine Domäne der Konservativen. Von den Nachfolgebewegungen der „68er“ wurde sie mit linken Gesellschaftstheorien verbunden. Inzwischen haben sich so gut wie alle politischen Kräfte der Problematik angenommen. Allenfalls die Art der vorgeschlagenen Lösungen lässt eine Zuordnung als stärker „links“ oder „rechts“ zu. Doch sind die Grenzen auch hier fliessend.

Den Richtungsbegriffen sind nämlich zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Bedeutungen zu eigen. Zudem wurde „rechts“ und „links“ auch in verschiedenen Ländern mit wechselnden Inhalten verknüpft. Ursprünglich „linke“ Forderungen, wie das allgemeine Wahlrecht, fanden Eingang in die Programmkataloge der (demokratischen) „Rechten“. „Rechte“ und „Linke“ sind und waren stets interagierende Kräfte. Programme sowie Aktions- und Organisations-formen blieben aufeinander bezogen. Sie entstanden zumeist als Reaktion auf das Verhalten der Gegenseite. Oft schiebt sich auch eine mittlere Kraft zwischen zwei Hauptkontrahenten.

Mitunter entstehen an den Flügeln Bewegungen von grossem Eigengewicht, die zu einer Gravitationsverschiebung im politischen Kräftesystem führen und die Fronten zwischen den ehemaligen Hauptkontrahenten abschwächen. Die Aussagekraft der Richtungsbegriffe ist also sehr beschränkt. Zudem trifft auf sie zu, was für die meisten Schlüsselbegriffe der politischen Sprache gilt. Sie dienen als Kampfvokabeln der politischen Streitparteien. Das Selbst-verständnis politischer Strömungen und Bewegungen verbindet sie jeweils mit positiven oder negativen Inhalten. [5]

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4.2 Grenzen der Unterscheidung

Für die politisch-geographische Vermessung des freiheitlich-demokratischen Spektrums hat die Links-Rechts-Dimension viel an Bedeutung eingebüsst. Alle grossen Parteien, die sich den Grundprinzipien konstitutioneller Demokratie verpflichtet fühlen, tragen dem Gleichheitsprinzip in ihrer Programmatik Rechnung. Die Links-Rechts-Unterscheidung gewinnt dann an Brisanz, wenn das Prinzip der Gleichheit verabsolutiert oder umgekehrt negiert wird. Im Bereich der politischen Extremismen scheinen die Richtungsbegriffe einen Teil ihrer Unterscheidungsfähigkeit bewahrt zu haben. Weiterhin gilt die Ablehnung fundamentaler Menschengleichheit als ein zentrales Definitionsmerkmal der extremen Rechten. Die Ablehnung dieses Prinzip hat seit der französischen Revolution sehr unterschiedliche Gestalt angenommen: Die Betonung ererbter Rangunterschiede zwischen den „Ständen“ bei gleichzeitiger Ranggleichheit von Aristokratien verschiedener Nationalität, wie dies bei den Legitimisten und Ultraroyalisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzutreffen ist, steht in sonderbarem Gegensatz zu jüngeren nationalistischen Lehren, die den Angehörigen der eigenen Nation Gleichrangigkeit zubilligen, den Mitgliedern von Fremdnationen hingegen Unterlegenheit und Minderwertigkeit bescheinigen. Gleichgeblieben aber ist der antiegalitäre Affekt, der bestimmten Menschengruppen unausweichlich als Träger minderer Rechte erscheinen lässt.

Bei linksextremen Doktrinen wird die Gleichheitsforderung statt dessen betont, ja verabsolutiert und auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt. Rechts- und Links-extremismus lassen sich mithin anhand ihres ganz verschiedenen Gleichheitsverständnisses voneinander unterscheiden. Die Links-Rechts-Dichotomie beweist an den Flügeln des politischen Spektrums grössere Trennschärfe als im Mittelfeld. Die beiden „Lager“ des Rechts- und des Linksextremismus weisen aber ihrerseits gravierende Divergenzen auf und erscheinen politisch-ideologisch keineswegs geschlossen. Man beachte nur die Unterschiede zwischen Kommunisten und Anarchisten oder zwischen Monarchisten und Faschisten. Die typologische Unterscheidung nimmt demnach nur eine sehr grobe Unterscheidung vor. Zudem sind die extremen Flügel des politischen Spektrums ebensowenig wie das Mittelfeld unberührt von wechselnden politischen Konstellationen und Entwicklungen geblieben. [6]

Was Helmut Schmidt zu Anfang der sechziger Jahre mit Blick auf die problematisch gewordene Links-Rechts-Unterscheidung und die politischen Auseinandersetzungen gesagt hat, gilt auch für die wissenschaftliche Diskussion von heute noch: „Lasst uns in der politischen Auseinandersetzung nicht mit verschwommenen, diffus gewordenen Begriffen und Begriffsnamen arbeiten, sondern konkret und greifbar sagen, was wir wollen, wie, wann, unter welchen Bedingungen, warum wir es wollen, zu wessen Nutzen, auf wessen Kosten, unter Inkaufnahme welcher Nebeneffekte oder Nachteile. Und ebenso umgekehrt: was wir nicht wollen.“ [7]

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5. Das Links-Rechts-Schema als politischer Code

Dieter Fuchs und Hans D. Klingemann versuchten in ihrer Untersuchung den semantischen Raum des Links-Rechts-Schemas auf der Grundlage einer offenen Frage nach dem subjektiven Verständnis von Links und Rechts zu rekonstruieren. Sie gehen davon aus, dass räumliche Metaphern die effizientesten Formen der Vereinfachung differenzierter Sachverhalte sind und somit geeignete Mechanismen der Reduktion von Komplexität darstellen. Gerade in so hochkomplexen politischen Systemen wie sie die westeuropäischen Demokratien darstellen sind komplexitätsreduzierende Mechanismen notwendig. Für die Autoren ist deshalb das Links-Rechts-Schema nicht überflüssig geworden, sondern bleibt ein funktionales Erfordernis in einer komplexen politischen Welt. Dem einzelnen Bürger wird dadurch die Orientierung in einer vielfältigen und sich schnell wandelnden Umgebung erleichtert.

Die Autoren ergänzen nun diese Funktionsbestimmung um eine systemische Perspektive. Sie halten sich an Niklas Luhmann, der Sozialsysteme als Kommunikationssysteme betrachtet. Daraus ergibt sich das Problem der Herstellung langer und schneller Kommunikationsketten und der Stabilisierung von Kommunikationsstrukturen. Luhmann führt nun für die funktionale Lösung dieses Problem die generalisierten Kommunikationsmedien ein, die eine erfolgreiche Kommunikation auch bei nicht-identischem Verständnis der Beteiligten ermöglicht. Dadurch wird die an sich unwahrscheinliche Kommunikation möglich gemacht. Das Links-Rechts-Schema hat die Funktion eines solchen generalisierten Kommunikationsmedium im politischen Bereich oder die Funktion eines politischen Codes. Es wird als Mechanismus der Reduktion von Komplexität betrachtet, das aus der Individualperspektive vor allem eine Orientierungsfunktion und aus der Systemperspektive vor allem eine Kommunikations-funktion aufweist.

Unsere Autoren beziehen ihre nachfolgende Analyse hauptsächlich auf die Kommunikationsfunktion des Links-Rechts-Schemas. Es wird der Frage nachgegangen, welche Eigenschaften das Schema haben müsste, um ihre Kommunikationsfunktion erfüllen zu können. Dann wird versucht empirisch zu klären, ob diese Eigenschaften auch tatsächlich vorliegen. Die Datenbasis bilden repräsentative Erhebungen, die im Rahmen der Political-Action-Studie in den Niederlanden, der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten erhoben wurden.

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5.1 Anforderungen an ein Kommunikationsmedium

Das Links-Rechts-Schema ist zunächst einmal ein formales räumliches Schema, das mit Bedeutungen versehen oder angefüllt werden muss. Unter Bezugnahme auf Luhmann sollten die Bedeutungen bestimmte strukturelle Eigenschaften haben. Diese werden als „symbolische Generalisierung“, „Limitation“ und „binäre Schematisierung“ bezeichnet. Symbolische Generalisierung bedeutet eine Verallgemeinerung von Sinnorientierungen, die es ermöglichen, eine Vielfalt konkreter Bedeutungen kommunikativ aufeinander beziehbar zu machen. Ohne dass dabei langwierige und riskante Abstimmungsprozesse nötig wären. Damit aber keine zu hohe Beliebigkeit des Gemeinten entsteht, führte Luhmann die Limitation und die binäre Schematisierung ein. Limitation bezieht sich auf eine Begrenzung des Bedeutungsfeldes, d.h. nicht alles darf mit der Verwendung des Links-Rechts-Schemas gemeint sein. Die Bedeutungen die zugelassen werden, sollen binär codiert sein in dem Sinne, dass es für jeden inhaltlichen Aspekt zwei Versionen gibt, die eindeutig entweder dem Symbol „Links“ oder dem Symbol „Rechts“ zugeordnet werden. Beispiele dafür wären Progressiv-Konservativ oder Arbeit-Kapital. [8]

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5.2 Klassen und Typen von Bedeutungselementen

Über die Aggregation des individuellen Verständnisses der Befragten wird der semantischen Raum von Links und Rechts rekonstruiert. Durch offene Fragen wird versucht, die Bedeutung von Links und Rechts für die einzelnen Befragten herauszufinden. Alle sprachlich manifesten Assoziationen, die in den Antworten der Befragten enthalten waren, werden vercodet. Das Kategorienschema wurde in enger Anlehnung an das sprachliche Material entwickelt und in zwei Ebenen von Bedeutungselementen unterschieden, nämlich in Typen und Klassen. Auf der Grundlage der Verteilung der Klassen der Links-Rechts-Bedeutungselemente wird zuerst versucht, die theoretisch geforderte strukturelle Eigenschaft der symbolischen Generalisierung empirisch zu überprüfen [9]. In den Tabellen 1, 2 und 3 im Anhang sind die Klassen und Typen von linken und rechten Bedeutungselementen aufgeführt. Ebenso die generalisierte Bedeutung der Klassen.

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5.3 Die strukturelle Eigenschaft der Generalisierung

Bedeutungselemente sind generalisiert, wenn sie potentiell auf eine Vielzahl konkreter Phänomene beziehbar sind. Solche generalisierten Bedeutungselemente sind zunächst einmal Vereinfachungen. Sie sind je nach situativen Anforderungen respezifizierbar, was die Erfüllung der geschilderten Orientierungs- und Kommunikationsfunktion ermöglicht. Alle Bedeutungselemente, die eine Bezugnahme auf Werte, Ideologien, Gruppen und Parteien vornehmen werden als generalisiert betrachtet. Klassen nicht-generalisierter Bedeutungs-elemente sind also nur „spezifische Aspekte“, welche bezug nehmen auf bestimmte Politiker und bestimmte Themen. Ebenfalls können sie ein „affektives Verständnis“ sein, bei welchem sich überhaupt kein inhaltliches Element identifizieren lässt.

In der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden sind zu beiden Zeitpunkten, 1974 und 1979/80, etwa 90% aller Bedeutungselemente generalisiert. In den Vereinigten Staaten ist das Ausmass erheblich geringer und bewegt sich zu beiden Zeitpunkten um die 75%. [10]

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5.4 Die strukturelle Eigenschaft der Limitation

Die Beliebigkeit der inhaltlichen Verwendung des Links-Rechts-Schemas wird durch die strukturelle Eigenschaft der „Limitation“ und der „binären Schematisierung“ begrenzt. Fuchs und Klingemann operationalisierten die Limitation durch die einfache prozentuale Aufsummierung der zehn meistgenannten Typen von Bedeutungselementen an allen Typen von Bedeutungselementen. Diese zehn Typen umfassen in den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland sowohl bei Links als auch bei Rechts mehr als die Hälfte aller Bedeutungselement. In den Vereinigten Staaten liegt der Prozentsatz unter 50%, was bedeutet, dass der semantische Raum etwas inhomogener ist.

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5.5 Die strukturelle Eigenschaft der binären Schematisierung

Die binäre Schematisierung setzt eine Eindeutigkeit des semantischen Raumes fest, die die Möglichkeit von Missverständnissen beim kommunikativen Austausch abstrakter Symbole verringert. Die Bedeutungselemente müssen eine zweiwertige Logik aufweisen, im Sinne einer Zuordnung entweder zu Links oder zu Rechts, aber nicht gleichzeitig zu beiden. Die Überprüfung des tatsächlichen Ausmasses der Binarität des Bedeutungsfeldes von Links und Rechts wird durch die Aggregation der individuell genannten Bedeutungselemente ermöglicht. Wenn alle Nennungen eines bestimmten semantischen Elements nur Links oder nur Rechts zugeordnet werden, dann ist die Binarität 100% (Eindeutigkeit oder perfekte Binarität) und wenn die Hälfte der Nennungen zu Links und die Hälfte zu Rechts zugeordnet werden, dann ist die Binarität 50% (unentschieden oder Nicht-Binarität).

Die Typen von Bedeutungselementen weisen in den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland fast durchwegs eine ausgeprägte binäre Struktur auf, d.h. sie werden zu einem Grad von 90% und mehr entweder Links oder Rechts zugeordnet. Die stärksten Abweichungen ergeben sich bei den Typen „Radikal“ sowie „Demokratie/Diktatur“, da die Assoziation dieser Begriffe sowohl mit Links als auch mit Rechts eine historische „Unklarheit“ wiedergibt. Es gibt und gab faktisch radikale oder extreme Ideologien, Systeme und Bewegungen, die in der politischen Rhetorik als Links bzw. Rechts bezeichnet werden oder sich selbst damit bezeichnen. In diesen Abweichungen erkennen die Autoren einen Hinweis auf den historisch voraussetzungsvollen Prozess der Herausbildung eines generalisierten Kommunikationsmediums mit den beschriebenen strukturellen Eigenschaften. Die relativ geringen Binaritäten der Bedeutungselemente in den Vereinigten Staaten können vor diesem Hintergrund interpretiert werden. Das würde heissen, dass diese entweder auf einer gegenüber den anderen beiden Staaten diffuseren politischen Konfliktstruktur beruhen oder aber darauf, dass das funktionale Äquivalent zu Links-Rechts in den Vereinigten Staaten Liberal-Konservativ ist. [11]

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6. Wertindikatoren und Wahlverhalten bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 1995

In diesem Abschnitt versuche ich die Stichhaltigkeit, die Tragweite und die Natur einer gewissen Anzahl von Indikatoren, die klassischer Bestandteil der Forschungen zum politischen Verhalten sind, aufzuzeigen. Es werden speziell Indikatoren untersucht, die für das Verständnis der politischen Orientierung und des Wahlverhaltens der französischen Wähler besonders von Bedeutung zu sein scheinen. Die Werte werden hier als Ergebnis vielfältiger, komplexer Einflussfaktoren betrachtet, wozu die subjektiv wahrgenommenen Interessen, der politische Diskurs und die Stellungnahme in den Medien gehört. Die Analyse der Beziehungen zwischen den Indikatoren und dem Wahlverhalten zielt nicht darauf ab letzteres zu erklären, sondern konzentriert sich vor allem auf die Indikatoren selber.

Die Untersuchung stützt sich hauptsächlich auf die Analyse einer Fragebogenuntersuchung, die das CEVIPOF und die Sofres 1995 anlässlich der französischen Präsidentschaftswahlen durchgeführt hat. [12]

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6.1 Die Suche nach guten Indikatoren

In diesem Abschnitt möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, was man unter einem für die poltische Einstellung „guten“ Indikator versteht. Ein solcher Indikator erfüllt drei Kriterien. Erstens ist er ein gutes Instrument zur Vorhersage individueller politischer Entscheidungen; er ist beispielsweise mit der Wahlentscheidung beim ersten oder zweiten Wahlgang einer Präsidentschaftswahl statistisch sehr eng verbunden. Zweitens ist der Indikator eine wichtige Dimension für das Verständnis und die Erklärung politischer Verhaltensweisen. Und drittens misst der Indikator die fragliche Dimension in befriedigender Weise; d.h. die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass die Antworten der Befragten in Bezug auf diesen Indikator ihre tatsächlich Position auf der untersuchten Dimension korrekt wiedergibt. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet können verschiedene Indikatoren derselben Dimension von unterschiedlichem Wert sein. Grundberg und Schweisguth haben nun mit Hilfe dieser drei einfachen Kriterien versucht, die Eigenschaften von bestimmten Indikatoren zu testen, die sie unter den Fragen der CEVIPOF-SOFRES-Untersuchung von 1995 ausgewählt hatten.

In Tabelle 4 im Anhang sind die 28 ausgewählten Indikatoren enthalten, gestaffelt vom besten bis zum schlechtesten Prädiktor des Wahlverhaltens beim zweiten Wahlgang. Analysiert man Fragen aus Meinungsumfragen als Indikatoren für bestimmte Dimensionen, so sieht man sich mit zwei grundlegenden Problemen konfrontiert. Das erste Problem besteht in der Schwierigkeit, jede Frage als Indikator einer einzigen Dimension zu betrachten. Die Analyse zeigt, dass bestimmte Fragen in der Tat stark mit einer bestimmten Dimension zusammenhängen, dass sie aber gleichzeitig in mehr oder weniger engem Zusammenhang mit anderen Dimensionen stehen. Das methodologische Konzept der Eindimensionalität ist sicherlich fruchtbar, vorausgesetzt man vergisst dabei nicht, dass es sich hier um ein Ideal handelt, das niemals erreicht wird. Die verschiedenen Dimensionen sind intellektuelle Konstrukte die mit Hilfe verschiedener statistischer Methoden unterschieden werden. Sie werden anhand empirischer Fakten induktiv gewonnen und sollten niemals verdinglicht, sondern ganz im Gegenteil ständig in Frage gestellt werden.

Das zweite Problem besteht darin, dass die Antworten der Befragten nicht allein das Ergebnis einer „infrastrukturellen“ Strukturierung ihres Wertesystems sind, sondern dass die Fragen auch mit dem gegenwärtigen und vergangen Zustand der politischen Diskussion zusammenhängen. Sie stehen nicht nur mit der politischen Nachfrage, sondern auch mit dem politischen Angebot in Zusammenhang. [13]

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6.2 Die Vorhersagekraft der Indikatoren

Die vier Indikatoren, die an der Spitze der Tabelle 4 im Anhang aufgeführt sind, stehen in engem Zusammenhang mit der Stimmabgabe für Jacques Chirac. Sie sind alle abhängig von Themen, die im Mittelpunkt der politischen Diskussion der jüngsten Zeit standen: Privatisierung, Privatschule, Einwanderer und Wettbewerbsfähigkeit. Danach kommen Indikatoren zu Themen, die zur Zeit der Wahlen gar keine oder kaum eine Rolle in der Diskussion gespielt haben, die jedoch mit dem Wahlverhalten beim zweiten Wahlgang eng zusammenhängen: Gewerkschaften, Todesstrafe, Glaubenspraxis, Katholizismus, Schule/Disziplin, Einstellung zu den USA, Autorität, Leben nach dem Tod oder Status der Frau.

Einige Schlussfolgerungen scheinen sich aus der Untersuchung der Ergebnisse ziehen zu lassen. Stellungnahmen der Kandidaten kurz vor den Wahlen haben nur geringen Einfluss auf das tatsächlich Wahlverhalten. Die Anhänger der Todesstrafe zum Beispiel stimmten für Jacques Chiracs, trotz seiner persönlichen Ablehnung, viel stärker als die Gegner der Wiedereinführung der Todesstrafe. Es scheint sich somit zu bestätigen, dass die relativ stabilen Wertesysteme der Wähler bei ihrem Wahlverhalten eine grosse Rolle spielen, ungeachtet der punktuellen, gelegentlichen Stellungnahmen der politischen Akteure. Die Indikatoren, die auf einem im Bewusstsein der Wähler verwurzelten ideologischen System beruhen und gleichzeitig Gegenstand einer breiten politischen Diskussion sind, scheinen dagegen einen politischen Effizienzbonus zu besitzen. [14]

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7. Gründe und Bedeutung einer politischen Unterscheidung

7.1 Gründe für eine Unterscheidung

Der italienische politische Philosoph Norberto Bobbio verteidigt in seinem Buch den Sinn der Unterscheidung von Links und Rechts angesichts einer Flut von Arbeiten, die diesen Gegensatz für ungebräuchlich erklären - und die diesmal eher aus dem linken als dem rechten Lager stammten. Ich möchte nun auf Bobbios Argumente eingehen. Die Kategorien von Links und Rechts haben ihm zufolge deshalb immer noch einen so grossen Einfluss auf das politische Denken, weil die Politik notwendigerweise als Widerstreit angelegt ist. Politik ist gleichbedeutend mit dem Streit zwischen entgegengesetzten Ansichten und Programmen. Auch wenn es sich ändern mag, was „auf der Linken“ und was „auf der Rechten“ liegt, kann nicht zur gleichen Zeit auf der Linken und der Rechten sein. Die Unterscheidung polarisiert.

Solange die verschiedenen Parteien oder politische Ideologien etwa den gleichen Einfluss besitzten, argumentiert Bobbio, werde die Relevanz der Unterscheidung zwischen Links und Rechts von kaum jemand in Frage gestellt. Zu Zeiten aber, in denen einer der beiden Pole so stark wird, dass nur noch er „im Spiel“ zu sein scheint, haben beide Seiten ein Interesse, sie in Frage zu stellen. Der mächtigeren Seite liegt, wie seinerzeit Margaret Thatcher daran, zu behaupten, dass es keine Alternative gibt. Und die schwächere Partei bemüht sich normalerweise, da ihre Thesen unpopulär geworden sind, einige der Ansichten ihrer Opponenten zu übernehmen und als ihre eigenen auszugeben. Die klassische Strategie des Schwächeren kann als Versuch einer Synthese der Gegensätze interpretiert werden. Es wird versucht, das Rettbare der eigenen Position zu retten, indem man die gegnerische Position zu sich herüberzieht und damit neutralisiert. [15]

Laut Bobbio ist das grundlegenste Merkmal, das in den Unterscheidungsversuchen immer wieder kehrt, die Einstellung zur Gleichheit. Die Linke tritt für eine grössere Gleichheit ein während für die Rechte die Gesellschaft unausweichlich hierarchisch ist. Gleichheit ist ein relativer Begriff, sie ist immer mit der Frage verbunden: Gleichheit zwischen wem, in Bezug auf was und in welchem Masse? Wenn diese drei Variablen miteinander kombiniert werden, erhält man, wie sich leicht erahnen lässt, eine riesige Zahl unterschiedlicher Arten egalitärer Aufteilungen. [16]

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7.2 Bedeutung der Unterscheidung

Die politische Rechte und die politische Linke sagen von sich, dass sie die alte Links-Rechts-Unterscheidung überwinden beziehungsweise Elemente aus ihr zu einer neuen und lebendigen Perspektive vereinen. Die politische Rechte streifte sich beispielsweise in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sturz des Faschismus neue Kleider über. Um zu überleben, mussten rechte Parteien einige der Werte der linken übernehmen und den Wohlfahrtsstaat im Grundsatz anerkennen. Die Linke strebt eine Minderung von Ungleichheit an. Aber dieses Ziel kann ganz unterschiedlich bestimmt werden. Die Linke möchte keineswegs alle Ungleichheiten beseitigen, und die Rechte will sie nicht in jedem Falle aufrechterhalten. Der Unterschied hängt vom Kontext ab [17]. In einem Land mit einer Einwanderungswelle beispielsweise kann sich der Kontrast zwischen Links und Rechts in der Antwort auf die Frage ausdrücken, in welchem Umfang den Einwanderern grundlegende Bürgerrechte und materieller Schutz gewährt werden.

Globalisierung und die Auflösung des Kommunismus haben die Konturen von Links und Rechts verändert. In den Industriestaaten gibt es keine nennenswerte extreme Linke. Aber es gibt eine extreme Rechte, die sich zunehmend durch die Ablehnung der Globalisierung definiert. Dieser allgemeine Trend verbindet rechte Politiker wie Pat Buchanan in den USA, Jean-Marie Le Pen in Frankreich und Pauline Hanson in Australien. Die extreme Rechte propagiert den wirtschaftlichen und kulturellen Protektionismus. Buchanans Parole lautet „America first“, und vertritt somit eine isolationistische Politik und ein hartes Durchgreifen gegen Immigranten als die richtige Alternative zum „Globalblabla“. Die Links-Rechts-Unterscheidung besteht weiterhin, entscheidend für die Sozialdemokratie ist aber, ob sie für alle politischen Bereiche noch so umfassend gültig ist wie früher. Sind wir, wie Bobbio nahezulegen scheint, bloss in einer Übergangsphase, nach der sich die Kategorien Links und Rechts wieder in alter Stärke behaupten werden, oder hat eine qualitative Veränderung ihrer Bedeutung stattgefunden?

Giddens bemerkt dazu, dass sich eine solche Veränderung bereits vollzogen hat. Da mit dem Ableben des Sozialismus als eine Theorie der Wirtschaftssteuerung für die absehbare Zukunft zumindest eine der wichtigen Scheidelinien zwischen Links und Rechts verschwunden ist. Heute hat niemand mehr eine Alternative zum Kapitalismus zu bieten, zur Debatte steht nur noch, in welchem Masse und auf welche Weise der Kapitalismus begrenzt und gezähmt werden sollte. Eine ganze Reihe von Problemen und Möglichkeiten sind in den Vordergrund getreten, bei denen das Links-Rechts-Schema bedeutungslos geworden ist. Dazu zählen unter anderem ökologische Fragen, aber auch der Wandel von Familie und Lohnarbeit, von persönlicher und kultureller Identität. Wie sollen wir uns angesichts der Hypothese der Erderwärmung verhalten? Inwieweit soll Arbeit das Zentrum des menschlichen Lebens bleiben? Wie soll die Zukunft der Europäischen Union aussehen? Keine dieser Fragen lässt sich eindeutig im Links-Rechts-Schema einordnen. [18]

Inhalt


8. Analytische Brauchbarkeit der Links-Rechts-Dimension

Daniel Schloeth stellt in seiner Analyse fest, dass eine Erosion der langfristigen Parteibindungen stattfindet und damit ein zunehmender Einfluss von Einstellungen zu politischen Issues und Kandidierenden auf den Wahlentscheid einher geht. Diverse Langzeitstudien ergaben für die USA, Grossbritannien, Deutschland, die Niederlande und weitere Staaten eine klare Zunahme des Issue Voting. Verglichen mit den 50er Jahren hatten die Wählenden zu mehr Issues unterschiedliche und oft recht starke Überzeugungen und sie nahmen die unterschiedlichen Haltungen der Parteien zu den Issues wahr.

Die politische Links-Rechts-Einstufung wird als eine Art „super issue“ beschrieben; als generelle Aussage der befragten Person über ihre Stellung zu den Issues, die ihr am wichtigsten sind. Die wichtigsten Issues wechseln von Land zu Land, die Links-Rechts-Einstellung sei aber ein vergleichbares Mass zu den Ansichten einer Person. Zudem habe im Zeitvergleich die Bedeutung der Links-Rechts-Einstellung zugenommen. Noch 1969 hatten Butler und Stokes argumentiert, dass die meisten Wählenden keinen Sinn für links und rechts besässen. 1976 anerkannten Budge et al., dass die meisten Befragten sich und Parteien auf der Links-Rechts-Achse verorten können. Es sei aber wahrscheinlicher, dass Wahlabsichten die politischen Position beeinflussten als umgekehrt. 1995 machte Klingemann deutlich, dass die Bürgerinnen und Bürger Westeuropas keine Probleme haben, ihre Policy-Positionen in Links-Rechts-Begriffen auszudrücken. Ebenso sei es ihnen möglich, die Parteien auf dieser Dimension zu lokalisieren, wie ich in Kapitel 5 bereits dargestellt habe.

Gemäss bisheriger Auffassung habe die Parteiidentifikation oft einen starken Einfluss auf Issue-Haltungen, während die Bedeutung des umgekehrten Weges minimal sei. Mit der Zunahme des Issue-Voting sei man sich klargeworden, dass Issues die Kraft besitzen, Parteibindungen zu verändern. Neuere Studien zeigten, dass der kausale Einfluss von Issues beim Wechsel der Parteiidentifikation wesentlich sei. [19]

Ebenfalls stützt die Selects-Studie über die Nationalratswahlen 1995 die Ansicht, dass es sich bei der Links-Rechts-Skala allen Einwänden zum Trotz um ein funktionierendes Denkschema handele. Die Studie zeigte, dass sich im national repräsentativen Sample 88 Prozent der Wählenden, und von den Wählenden der sechs grössten Parteien gar 95 Prozent, auf der Links-Rechts-Skala verorten konnten. Ebenfalls hat die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung auf der Links-Rechts-Dimension in der Schweiz seit Anfang der 1970er Jahre zugenommen und ist heute so verbreitet wie in Frankreich, Deutschland oder Italien. [20]

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9. Nationaler politischer Wandel in einer sich denationalisierenden Welt

Die politischen Folgen von Globalisierungsprozessen sind vielfältig. Einerseits eröffnen diese Prozesse neue Kanäle politischer Repräsentation auf supranationaler Ebene und neue Möglichkeiten transnationaler, internationaler und supranationaler politischer Mobilisierung. Andererseits haben diese Prozesse tief greifende politische Folgen auf der nationalen Ebene bewirkt. Aus der nationalen Perspektive handelt es sich dabei um „Denationalisierungs-prozesse“.

Der Beitrag von Kriesi konzentriert sich auf die Wirkungen wirtschaftlicher, kultureller, militärischer und politisch-administrativer Denationalisierungsprozesse auf die politische Landschaft in nationalen Räumen. Das Argument wird im Rahmen des westeuropäischen Kontextes entwickelt. [21]

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9.1 Die Transformation der Möglichkeiten und Kosten im Zuge der Denationalisierung

Aus der Entstrukturierung der nationalen Grenzen ergibt sich eine Ethnisierung der Politik, d.h. eine erhöhte Bedeutung kultureller Unterschiede für die Verteilung von Ressourcen, für die Bildung von Identitäten und für die politische Mobilisierung. Eine Veränderung der Intensität ethnischer Konkurrenz um wertvolle Ressourcen - Arbeitsplätze, Wohnungen oder Heiratspartner - führt zu kollektiven Aktionen, die sich an ethnischen Grenzen orientieren. So nimmt der ethnische Konflikt speziell dann zu, wenn sich Schranken, welche die ethnischen Kontakte und die ethnische Konkurrenz bisher begrenzten, aufzulösen beginnen. In Einwanderungsländern werden ethnisch andersartige Bevölkerungsgruppen zu Symbolen potentieller Bedrohung der kollektiven Identität und des Lebensstandards der Einheimischen.

Die Theorie ethnischer Konkurrenz sagt voraus, dass unter Bedingungen zunehmender Bedrohung dominante Gruppen mit Ausschlussmassnahmen reagieren. Einwanderung ist allerdings nicht die einzige Form von zunehmender ethnischer Konkurrenz. In einer sich globalisierenden Welt, in der die nationale Wettbewerbsfähigkeit gross geschrieben wird, kommen die westeuropäischen Bevölkerungen auch unter einen Konkurrenzdruck, der von weit entfernten Bevölkerungen ausgeht.

Die Senkung und Entflechtung nationaler Grenzen hat nicht für alle Mitglieder der westeuropäischen Nationalstaaten dieselben Folgen. Für einige unter ihnen beinhaltet die zunehmende Konkurrenz zwischen ethnisch definierten Gruppen neue Bedrohung und Probleme. Für andere Kategorien von Menschen schafft derselbe Prozess aber neue Möglichkeiten. Sie erhalten neue Arten von Lebenschancen in der Form von „Austrittsoptionen“ oder einer Ausweitung von Handlungsräumen. Mit andern Worten es gibt Gewinner und Verlierer dieses Prozesses innerhalb ein und derselben nationalen Bevölkerung. Die Transformation der Möglichkeiten und Kosten im Zuge der Denationalisierung stellt das Rohmaterial für die Neustrukturierung des politischen Prozesses in den verschiedenen nationalen Räumen dar. Sie schafft neue Präferenzen, Interessen, Werte und Identitäten auf der individuellen und kollektiven Ebene. [22]

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9.2 Gewinner und Verlierer der Denationalisierung

Es gibt viele Faktoren, welche die strukturellen Möglichkeiten der Individuen mit Bezug auf den neuen Gegensatz bestimmen. Kriesi hebt drei hervor - das Bildungsniveau, den Wirtschaftssektor und die Region.

Das individuelle Bildungsniveau ist eine zentrale Ressource im Kontext einer sich globalisierenden Welt. Das „kulturelle Kapital“ der Bildung übernimmt in zunehmendem Masse die Rolle der klassischen Produktionsmittel für die Berufskarriere. Einerseits hat sie eine „liberalisierende“ Wirkung, d.h. sie führt zu einem allgemeinen Wandel politischer Wertorientierungen in Richtung „libertärer“ Position. Sie trägt zu kultureller Toleranz und Öffnung bei; sie verschafft die Sprachkompetenz, welche ihrerseits den Zugang zu anderen Kulturen öffnet. Andererseits ist höhere Bildung auch immer wichtiger für den beruflichen Erfolg. Sie erwirkt nicht nur den Zugang zu Sprachkenntnissen, sie schafft auch Zugang zu den spezialisierten Fähigkeiten, welche innerhalb und ausserhalb der nationalen Grenzen marktfähig sind. Die wenig Gebildeten und Unqualifizierten hingegen enden in schlecht bezahlten, oft unstabilen Berufspositionen, welche keine oder nur begrenzte Perspektiven für berufliche Mobilität bieten. Sie werden am ehesten direkt bedroht durch die Einwanderung ausländischer Arbeiter aus weniger entwickelten Ländern im Süden und Osten. Sie sind nicht in den Genuss des „liberalisierenden“ Effekts der Bildung gekommen und haben deshalb tendenziell eher autoritäre und provinzielle Orientierungen - wodurch sie unter den Wählern rechtsradikaler Parteien stark übervertreten sind.

Sektorzugehörigkeit ist eine zweite Determinante der individuellen Positionierung in Bezug auf den neuen struktruellen Gegensatz. Exportorientierte Sektoren (inklusive Finanzsektor und Tourismus) profitieren von der Beseitigung wirtschaftlicher Grenzen, während binnenmarktorientierte Sektoren (inklusive öffentlicher Sektor, Handwerk und Landwirtschaft) mit verschärfter Konkurrenz konfrontiert werden, wenn die Schlagbäume fallen. Der exportorientierte Sektor kennt aber nicht nur Gewinner. Aufgrund von Delokalisierungen der Produktionsstätten in Niedriglohnländer kann es geschehen, dass auch Beschäftigte in diesen Sektoren zu Verlierern werden.

Die individuellen Lebenschancen sind drittens auch stark durch territoriale Aspekte geprägt. Die Öffnung der Weltmärkte und die zunehmende nationale Konkurrenz bewirken, dass nationalen Regierungen weniger willens und in der Lage sind, Ressourcen in Programme der territorialen Redistribution zugunsten von Randregionen zu stecken. Lokalismus und Ethnizität stellen dann zwei Seiten derselben Medaille dar, von denen jede als defensive Reaktion auf die zunehmende Globalisierung verstärkt werden kann. Die unterschiedlichen strukturellen Bestimmungsfaktoren der individuellen Möglichkeiten und Kosten, die mit der Beseitigung nationaler Grenzen verbunden sind, ergeben heterogene politische Potentiale auf beiden Seiten - weder Gewinner noch Verlierer bilden homogene Gruppen innerhalb eines nationalen Raumes. Dies bedeutet, dass ihre Organisation durch nationale politische Akteure schwierig ist. [23]

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9.3 Die politische Artikulation des neuen strukturellen Gegensatzes

Menschen formen Präferenzen mit Bezug auf die Öffnung der Grenzen. Diese Präferenzen entsprechen den Auswirkungen, welche die Grenzöffnung auf ihre materiellen Lebenschancen hat. Ganz allgemein kann davon ausgegangen werden, dass die Gewinner die Integration unterstützen, während sich die Verlierer für nationale Unabhängigkeit einsetzen werden. Aufgrund der Heterogenität ihrer jeweiligen Zusammensetzung können wir jedoch nicht davon ausgehen, dass die Präferenzen, welche aufgrund des neuen Gegensatzes gebildet werden, eng mit den traditionellen politischen Gegensätzen in der nationalen Politik verbunden sein werden. Der neue Gegensatz verläuft vermutlich vielmehr quer zur traditionellen Links-Rechts-Achse und trägt zu ihrer Entstrukturierung bei.

Die grossen politischen Parteien haben bislang eine eher undifferenzierte Position in Bezug auf diesen neuen Gegensatz eingenommen. Sie sind verunsichert, weil sie erstens in der Frage der Integration intern gespalten sind, weil sie zweitens als Euro-Familie aufgrund ihrer unterschiedlichen Einbettung in die jeweiligen nationalen politischen Konfigurationen gespalten sind, und weil sie drittens nicht in der Lage sind, eine Option zu formulieren, welche es ihnen erlauben würde, eine tragfähige Allianz unterschiedlicher sozialer, sektorialer und territorialer Interessen zu bilden. Demzufolge werden Bevölkerungseinstellungen durch die grossen politischen Parteien nicht deutlich strukturiert. Im Allgemeinen neigen die grossen Parteien sowohl links wie rechts jedoch dazu, die Folgen des wirtschaftlichen Denationalisierungsprozesses als unvermeidbar und sogar vorteilhaft für die Aufrechterhaltung ihrer etablierten Positionen zu betrachten. So hat eine Analyse der grossen Parteifamilien auf EU-Ebene - der Sozialdemokraten, der Liberalen und der Christdemokraten - in der Periode 1976 bis 1994 ergeben, dass alle drei in Richtung auf eine gemässigte Pro-Integrationsposition konvergieren.

Kriesi schlägt nun als allgemeine Hypothese vor, dass in Westeuropa die grossen Parteien erstens dazu neigen, ein Programm für die Gewinner zu formulieren, d.h. ein Programm, das für die Förderung der Integration eintritt. Zweitens bevorzugen die grossen Parteien auf der Rechten eine „negative Integration“, die sich für eine Beseitigung der Grenzen und anderer Hindernisse einer freien internationalen Konkurrenz einsetzt. Grosse Parteien auf der Linken unterstützen Schritte in Richtung einer „positiven Integration“, worunter man einen Prozess der Rekonstruktion von Systemregulation auf supranationaler Ebene versteht. Diese Hypothese geht davon aus, dass Links und Rechts keineswegs überholte Begriffe sind, sondern dass sich der neue Gegensatz in den Links-Rechts-Gegensatz einordnen und ihn dabei einmal mehr umformen wird.

Die peripheren politischen Akteure sind es, welche ein Programm für die Verlierer formulieren, wobei die peripheren Akteure der Rechten für mehr kulturellen Protektionsimus und die peripheren Akteure zur Linken für mehr wirtschaftlichen Protektionismus bzw. für mehr „positive“ Integration im wirtschaftlichen Bereich eintreten als die entsprechenden zentralen Akteure auf beiden Seiten des politischen Spektrums. [24]

9.3.1 Politische Artikulation der peripheren Rechten

Die Bewegungen der radikalen Rechten haben ein ideologisches Paket geschnürt, dass bisher am erfolgreichsten an die Interessen und Ängste der Verlierer appelliert hat. Ihre zentralen Kennzeichen sind die Fremdenfeindlichkeit oder gar ihr Rassismus, die sich in ihrer Opposition gegen die Präsenz von Immigranten in Westeuropa äussert, und ihr populistischer Appell an das weit verbreitete Ressentiment gegen die grossen politischen Parteien und die etablierten politischen Eliten. Sie baut auf die Ängste der Verlierer vor der Beseitigung nationaler Grenzen und auf ihren starken Glauben an einfache Lösungen. Einige der radikalen rechten Parteien propagieren manchmal auch neoliberale Elemente, wie individuelle Leistungsfähigkeit, den freien Markt und eine drastische Reduktion des Staatshaushaltes.

Der Erfolg dieser Formel der radikalen Rechten übt eine starke Anziehungskraft auf etablierte Parteien auf der Rechten aus und trägt zur Entstrukturierung des rechten Lagers bei. Der Aufstieg der österreichischen FPÖ und der Schweizerischen Volkspartei illustrieren diesen Punkt. Ihr Programm verknüpft national-populistische Elemente mit neoliberalen Ideen. Diese spezifische Mischung von Liberalismus mit Fremdenfeindlichkeit entspricht der neuen Form des Sozialdarwinismus. Der Herrschaft der Starken, welche versucht, die Privilegien der einheimischen Bevölkerung gegen alle Einmischungen von aussen zu verteidigen. Diese Verteidigung der Privilegien erlaubt es diesen Parteien, nicht nur die Verlierer, sondern auch einen Teil der Gewinner der Beseitigung nationaler Grenzen zu mobilisieren. [25]

9.3.2 Politische Artikulation der peripheren Linken

Auf der Linken finden wir ebenfalls periphere politische Akteure, welche die Verlierer verteidigen, obwohl bis jetzt mit weniger Erfolg als die radikale Rechte. Die alte kommunistische Linke tendiert dort, wo es sie noch gibt, zum wirtschaftlichen, aber nicht kulturellen Protektionismus. Die neue Linke, d.h. die Grünen und die Reste der neuen sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre, sowie ein neuer Typ von transnationalen sozialen Bewegungen tendieren eher dazu, das Phänomen der Globalisierung zu akzeptieren und für „positive Integration“ zu mobilisieren - wirtschaftlich und kulturell. Demokratisierung supranationaler Regime und Subsumierung der wirtschaftlichen Integration unter soziale, kulturelle und politische Kontrollen sind die Schlüssel ihrer Programme.

Während die erfolgreiche Formel zur Rechten wirtschaftlichen Liberalismus (d.h. „negative Integration“) mit kulturellem Protektionismus kombiniert, könnte die erfolgreiche Formel zur Linken in einer Kombination von gemässigter wirtschaftlicher Liberalisierung mit voller Unterstützung „positiver Integration“ in kultureller, sozialer und politischer Hinsicht bestehen. [26]

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10. Diskussion und Schlussfolgerungen

Eine egalitäre Politik strebt nach Beseitigung all jener Hindernisse, die Männer und Frauen weniger gleich machen. Ein überzeugender historischer Beweis für die bereits dargelegte These, derzufolge das kennzeichnende Merkmal der Linken der Egalitarismus ist, lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass eines, wenn nicht gar das Hauptanliegen der historischen Linken (der Kommunismus ebenso wie der Sozialismus) darin bestand, das Privateigentum zu beseitigen. Nicht nur im vergangenen Jahrhundert, sondern schon seit der Antike wurde das Privateigentum als das grosse Hindernis für die Gleichheit unter den Menschen angesehen. Sogar die Politik der Verstaatlichung, die die Wirtschaftspolitik der sozialistischen Parteien über lange Zeiträume hinweg kennzeichnete, wurde im Namen eines Gleichheitsideals durchgeführt, wenngleich nicht in dem positiven Sinn, wonach es die Gleicheit vermehren, sondern in dem negativen, wonach es eine Quelle der Ungleicheit zu beseitigen galt. Dass die Diskriminierung zwischen Reichen und Armen als Hauptursache für die Ungleichheit angesehen wird, schliesst nicht aus, dass es auch noch andere Gründe für Diskriminierung gibt, etwa die zwischen Männern und Frauen, zwischen handwerklicher und geistiger Arbeit, zwischen höher entwickelten und wenige entwickelten Völkern.

Als die Utopie von der Gleicheit zum ersten Mal in die Geschichte eintrat, verkehrte sie sich in ihr Gegenteil. Doch ist das Problem der Ungleichheit unter den Menschen und den Völkern dieser Welt unverändert geblieben. Mehr noch haben die Dimensionen des Problems über jedes vorstellbare Mass hinaus dramatisch zugenommen. Der historische Kommunismus ist gescheitert, doch die Herausforderung, die er dargestellt hat, ist geblieben. [27]

Links und Rechts sind nicht absolute und über die Zeit hinweg konstante Begriffe. Die Richtungsbegriffe werden im Alltagsgebrauch immer wieder neu definiert und stehen daher im Streit der Meinungen. Das Gegensatzpaar hat im Vergleich zum Europa des 19.Jahrhunderts an Bedeutung verloren auch durch das Aufkommen neuer politischer Bewegungen, die sich nur schwer in das herkömmliche Schema einfügen. Für die heutige politische Diskussion wesentliche Themenbereiche, wie die Ökologieproblematik, entziehen sich einer klaren Unterscheidung. Sie spielt aber immer noch eine Rolle, gerade wenn es darum geht die strukturellen Potentiale für die politische Mobilisierung in Folge von Denationalisierungsprozessen, zu nutzen. Die politische Mobilisierung dieser Potentiale kann sowohl auf die kulturellen wie auf die wirtschaftlichen Aspekte setzten, welche die neuen Gegensätze konstituieren. Je nachdem, welche Aspekte betont werden, ergeben sich unterschiedliche politische Programme zu ihrer Mobilisierung. Sowohl der „dritte Weg“ der sozialdemokratischen Parteien als auch die Mobilisierung der radikalen Rechten kann als Versuch interpretiert werden, die sich aus der Denationalisierung ergebenden strukturellen Potentiale politisch zu artikulieren. Die politischen Gegensätze werden sich dann wohl auch noch stärker auf die EU-Ebene verlagern, wo jede Fraktion versuchen wird ihre Vorstellungen in supranationale Regelungen zu artikulieren.

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11. Zusammenfassung

Die Begriffe „links“ und „rechts“ verdanken ihren Ursprung der Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung im Sommer 1789 und finden seither in einer immer grösseren Zahl von Ländern zur Etikettierung von politischen Einstellungen, Ideologien, Programmen von Individuen, Parteien oder Regimes Verwendung. Den Richtungsbegriffen sind zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Bedeutungen zu eigen. Zudem wurde „rechts“ und „links“ auch in verschiedenen Ländern mit wechselnden Inhalten verknüpft. Ursprünglich „linke“ Forderungen, wie das allgemeine Wahlrecht, fanden Eingang in die Programmkataloge der (demokratischen) „Rechten“.

Die Analyse von Fuchs und Klingemann versuchte zu demonstrieren, dass sich die theoretisch geforderten strukturellen Eigenschaften des semantischen Raumes von Links-Rechts auch empirisch auffinden lassen. Der semantische Raum von Links-Rechts setzt sich aus einem begrenzten Repertoire von generalisierten Bedeutungselementen zusammen, die weitgehend binär codiert sind. Das Links-Rechts-Schema erfüllt damit empirisch die Kriterien, um es als ein generalisiertes Kommunikationsmedium bzw. als einen politischen Code einstufen zu können. Die Analyse des semantischen Raumes von Links-Rechts bezog sich auf die Bevölkerung insgesamt. Es wurden generalisierte politische Standpunkte erfasst, die sich in individuell verschiedener Form auf eines oder mehrere Elemente des semantischen Raumes beziehen und durch die grundlegenden politischen Konfliktlinien der jeweiligen Gesellschaft definiert sind. Die Autoren erwarten deshalb systematische Variationen der Links-Rechts-Selbsteinstufung mit politischen Einstellungen weniger für alltägliche und schnell wechselnde Einstellungen, sondern vor allem für Einstellungen, die in einem direkten und sichtbaren Bezug zu den grundlegenden politischen Konfliktstrukturen stehen. Die Untersuchung von Grunberg und Schweissguth bestätigte, dass die relativ stabilen Wertesysteme der Wähler bei ihrem Wahlverhalten eine grosse Rolle spielen, ungeachtet der punktuellen, gelegentlichen Stellungnahmen der politischen Akteure. Die Indikatoren, die auf einem im Bewusstsein der Wähler verwurzelten ideologischen System beruhen und gleichzeitig Gegenstand einer breiten politischen Diskussion sind, scheinen dagegen einen politischen Effizienzbonus zu besitzen.

Norberto Bobbio argumentiert, dass die Kategorien von Links und Rechts immer noch einen so grossen Einfluss auf das politische Denken haben, weil die Politik notwendigerweise als Widerstreit angelegt ist. Solange die verschiedenen Parteien oder politische Ideologien etwa den gleichen Einfluss besitzten, wird die Relevanz der Unterscheidung zwischen Links und Rechts von kaum jemand in Frage gestellt.

Zu Zeiten aber, in denen einer der beiden Pole so stark wird, dass nur noch er „im Spiel“ zu sein scheint, haben beide Seiten ein Interesse, sie in Frage zu stellen. Die schwächere Partei bemüht sich normalerweise, da ihre Thesen unpopulär geworden sind, einige der Ansichten ihrer Opponenten zu übernehmen und als ihre eigenen auszugeben. Globalisierung und die Auflösung des Kommunismus haben die Konturen von Links und Rechts verändert. In den Industriestaaten gibt es keine nennenswerte extreme Linke. Aber es gibt eine extreme Rechte, die sich zunehmend durch die Ablehnung der Globalisierung definiert. Die Links-Rechts-Unterscheidung besteht weiterhin, entscheidend für die Sozialdemokratie ist aber, ob sie für alle politischen Bereiche noch so umfassend gültig ist wie früher. Sind wir, wie Bobbio nahezulegen scheint, bloss in einer Übergangsphase, nach der sich die Kategorien Links und Rechts wieder in alter Stärke behaupten werden, oder hat eine qualitative Veränderung ihrer Bedeutung stattgefunden?

Giddens bemerkt dazu, dass sich eine solche Veränderung bereits vollzogen hat. Da mit dem Ableben des Sozialismus als eine Theorie der Wirtschaftssteuerung für die absehbare Zukunft zumindest eine der wichtigen Scheidelinien zwischen Links und Rechts verschwunden ist. Heute hat niemand mehr eine Alternative zum Kapitalismus zu bieten, zur Debatte steht nur noch, in welchem Masse und auf welche Weise der Kapitalismus begrenzt und gezähmt werden sollte.

Hanspeter Kriesi analysierte die Restrukturierung der nationalen politischen Räume Westeuropas in einer sich denationalisierenden Welt. Der Prozess der „Denationalisierung“ im Sinne einer „Europäisierung“, was zur Bildung eines neuen politischen Zentrums führt, stellt für die politischen Akteure eine grosse Herausforderung dar. Nationale Kontext-bedingungen - die Grösse eines Landes, seine wirtschaftliche Entwicklung, sein soziokulturelles Erbe und die darauf basierenden Ausprägungen von politischer Gemeinschaft, Staatsbürgerschaft und Nationalität - prägen die politische Artikulation neuer struktureller Konfliktlinien, die sich im Gefolge der Denationalisierung herausbilden. In den Vordergrund treten die Interessengegensätze zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern. Sie bilden sich entlang von zentralen Faktoren wie dem individuellen Bildungsniveau, der Zugehörigkeit zu export- oder binnenmarktorientierten Wirtschaftssektoren, von lokalen und regionalen Gegebenheiten sowie der Integration oder des Ausschlusses von transnationalen Netzwerken heraus.

Die Politisierung der neuen Konfliktdimension „Integration vs. Unabhängigkeit“ überformt den traditionellen Gegensatz von Links und Rechts und führt zu einer grundsätzlichen Neustrukturierung der politischen Akteurskonstellationen. Die grossen Parteien neigen dazu, ein Programm für die Globalisierungsgewinner zu formulieren. Die peripheren politischen Akteure, zu denen neben Parteien und Interessenverbänden auch die sozialen Bewegungen zu zählen sind, vertreten zumeist die Interessen der Globalisierungsverlierer.

Die politische Linke wendet sich gegen eine sozio-ökonomische Denationalisierung. Die politische Rechte, insbesondere national-populistische Bewegungen, mobilisiert gegen eine sozio-kulturelle Denationalisierung im Gefolge der Migration.

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12. Literaturverzeichnis

Bobbio, Norberto, (1994): Destra e sinistra. Ragioni e significati di una distinzione politica. Roma: Donzelli. Dt. Übersetzung (1994): Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung. Berlin: Wagenbach.

Fuchs, Dieter/Klingemann, Hans D., (1989): Das Links-Rechts-Schema als politischer Code. Ein interkultureller Vergleich auf inhaltsanalytischer Grundlage. In: Haller, Max/Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim/Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft, Verhandlungen des 24. Deutschen, des 11. Oesterreichischen und des 8. Schweizerischen Kongresses für Soziologie in Zürich 1988. Frankfurt/New York: Campus, S. 484-498.

Giddens, Anthony, (1999): The third way. The renewal of social democracy. Cambridge: Polity. Dt. Übersetzung (1999): Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt: Suhrkamp.

Grunberg, Gérard/Schweissguth, Etienne, (1997): Wertindikatoren und Wahlverhalten bei den Präsidentschaftswahlen. In: Frankreich-Jahrbuch 1996: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Geschichte, Kultur. Opladen: Leske + Budrich, S. 169-187.

Backes, Uwe/Jesse, Eckhard, (1997): Die Rechts-Links-Unterscheidung - Betrachtungen zu ihrer Geschichte, Logik, Leistungsfähigkeit und Problematik. In: Jahrbuch Extremismus & Demokratie: (E&D), Jg. 9 (1997). Baden-Baden: Nomos, S. 13-38.

Kriesi, Hanspeter, (2001): Nationaler politischer Wandel in einer sich denationalisierenden Welt. In: Klein, Ansgar/Koopmans, Ruud/Geiling, Heiko (Hrsg.): Globalisierung, Partizipation, Protest. Opladen: Leske + Budrich, S. 23-44.

Laqueur, Walter, (1997): Faschismus. Gestern - heute - morgen. Berlin: Propyläen

Schloeth, Daniel, (1998): Vor die Wahl gestellt. Erklärungen des Wahlverhaltens bei den Eidgenössischen Wahlen 1995. Bern: Haupt.

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Fussnoten  

[1] Walter Laqueur, S. 18.
[2] Bobbio, S. 12f.
[3] Backes/Jecke, S. 14-19.
[4] Backes/Jesse, S. 19f.
[5] Backe/Jesse, S. 28-30.
[6] Backe/Jesse, S. 32f.
[7] Ebd., S. 37f.
[8] Fuchs/Klingemann, S. 484f.
[9] Fuchs/Klingemann, S. 488.
[10] Ebd., S. 492.
[11] Fuchs/Klingemann, S. 494-497.
[12] Grunberg/Schweissguth, S. 169f.
[13] Grunberg/Schweissguth, S. 170-172.
[14] Ebd., S. 172-174.
[15] Bobbio, S. 11, 20.
[16] Ebd., S. 74.
[17] Bobbio, S. 76f.
[18] Giddens, S. 52-58.
[
19]
Schloeth, S. 61f, 64.
[20] Schloeth, S. 186.
[21]Kriesi, S. 23.
[22] Kriesi, S. 26f.
[23] Kriesi, S. 28-31.
[24] Kriesi, S. 32-35.
[25] Kriesi, S. 35f.
[26] Kriesi, S. 36f.
[27] Bobbio, S. 87-89.

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Last update: 06 Mrz 17

 

Editor

  Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut
der Universität Zürich

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